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Kapitel 1

Draußen graut der Morgen. In der kleinen Stadt irgendwo in den östlichen Landen Europas ist es still. Der Fluss fließt langsam und leise durch die kalte, dunkle Ebene, und irgendwo ist der erste Hahn erwacht und begrüßt den nahenden Morgen mit einem Krähen. Wendet man den Blick, so sieht man nichts außer den wenigen kleinen und eng aneinandergepressten Häusern niedriger Bauweise, die weiß oder grau gekalkt sind. In der Mitte der kleinen Stadt, die eigentlich nur ein zu groß geratenes Dorf ist, steht ein Brunnen. Hier treffen sich am frühen Abend und des Nachts die Jugendlichen der kleinen Stadt, um die erste billige Zigarette zu rauchen, und das erste oder derzeit aktuelle Mädchen unauffällig zu küssen.

Fährt man die Straße, die aus der kleinen Stadt führt, gen Norden weiter, so kommt man nach einer Stunde Autofahrt über eine dunkle, eng mit Bäumen bewachsene Allee, zu der nächsten Stadt, die etwas größer als unsere zuerst betrachtete Stadt ist. Hier gibt es Laternen, die den Straßen des Nachts kümmerliches Licht schenken, und eine Polizeistation, in der rund um die Uhr zwei Beamte sitzen und Karten spielen oder sonst etwas tun, um die Zeit zu verbringen, schließlich ist hier draußen, in der Provinz, nichts los.

Wendet man jedoch seinen Wagen am Dorfplatz mit dem Brunnen, und fährt zurück nach Süden, dann wird man erneut nach wenigen Metern hinter dem Ortsrand an diesem Zaun vorbeikommen, der völlig unverhofft einige hundert Meter Straßengraben, Wiese und ein paar Bäume einzäunt. Es ist kein gewöhnlicher Zaun, sondern ein großer, starker, und würde man anhalten und den Motor abstellen, so würde man vermutlich das leise Surren der Elektrizität hören, die verhindert, daß jemand Unbefugtes, Kinder aus dem Dorf oder so, den Zaun erklimmt oder sich sonst jemand für das interessiert, was sich zum Beispiel in dem niedrigen Betonbau abspielt, der sich, würde man den schmalen Fußweg, der am Zaun beginnt, einige Minuten entlanggehen, hinter diesem Zaun verbirgt. Auf der Rückseite dieses Flachbaus, von uns aus gesehen, beginnt eine asphaltierte Straße, die zu einem Tor führt, an dem Tag und Nacht ein mürrisch blickender Mann mit einer schlecht sitzenden Uniform sitzt. Dort fahren die LKWs aus und ein, die jede Woche montags kommen und Fässer und Kisten für die Männer bringt, die in dem Flachbau arbeiten. Was dort gearbeitet, hergestellt oder verarbeitet wird, weiß niemand aus der kleinen Stadt. Dort arbeitet niemand aus der Stadt. Die Arbeiter kommen aus der nächsten größeren Stadt, die bereits zuvor beschrieben worden ist, so sagt man in unserer Stadt.

Heute jedoch kommen keine LKWs, heute herrscht Stille auf dem Gelände, und fast überall ist es dunkel. Der Mann, der gerade aus seinem Wagen steigt und mit der Taschenlampe in der Hand in den Flachbau geht, scheint jedenfalls zu wissen, was er tut, er ist nicht fremd hier. Auch sein Schlüssel findet seinen Weg in das Schloss, und so ist er schnell in dem Flachbau. Sein Weg führt ihn die Treppe hinab in den Keller, durch eine Metalltür, eine weitere Treppe hinab, durch die Feuerschutztür, noch vier Stufen nach unten und durch eine weitere Sicherheitstür, bis er im Labor steht. Mit der Linken schaltet er das Licht ein, und die Neonröhren flackern auf, erhellen den Raum mit sterilem, weißen Licht, das von den Armaturen und Laborgeräten zurückgeworfen wird, und dem Raum dadurch ein unscharfes, weltfremdes Bild darstellt.

Der Mann dagegen, der in dem Käfig am Ende des Raums auf ein paar zerschlissenen Decken kauert, zuckt zusammen und stöhnt leise auf, als es im Laboratorium hell wird und er die Schritte des Mannes mit der Taschenlampe näher kommen hört. Dieser lacht leise, als er die Taschenlampe auf einem Tisch ablegt und mit einem Schlüssel das Vorhängeschloss des Käfigs öffnet. Der Mann im Käfig rappelt sich auf, seine schmutzige Kleidung, die sicher irgendwann einmal sehr teuer gewesen ist, ist verdreckt und riecht unangenehm nach Schweiß und kaltem Blut. Seine Augen sind verquollen von den Schlägen, die er bekommen hat, und doch schaut er seinem Besucher klar und beinahe kühl entgegen.

„Ich wusste, daß Sie kommen würden“, sagt er, und es klingt eher wie eine Frage, wie ein ‚Was soll jetzt geschehen?’. „Nun, Professor“, erwidert der Mann, der soeben den Käfig geöffnet hatte, mit starkem französischen Akzent. „Sie geben mir die Formel, und ich überlege mir, wo Sie mir nützlich sein können... oder sie geben mir die Formel nicht, und ich töte erst ihre Frau, dann ihren Sohn und zum Schluss Sie.“ Der Mann im Käfig nickt. „In Ordnung. Sie haben gewonnen.“ Der Franzose nickt.

„Kommen Sie.“Zwei Tage später steht der gleiche Mann aus dem Käfig in frischen, sauber gewaschenen Hosen und mit einem weißen Kittel im Labor und erklärt anderen Männern im weißen Kittel, wie man ein chemisches Verfahren zur Analyse von biochemischen Werkstoffen am sinnvollsten anwendet, als der Franzose den Raum betritt. Auch heute trägt er einen langen schwarzen Mantel und dunkelbraune handgefertigte Schuhe. Er schaut dem Professor einen Moment zu, nickt dann. „Professor Ogotschev, könnte ich Sie wohl einen Moment sprechen?“, bittet er höflich. Dieser schaut verwundert hoch, entschuldigt sich dann bei den Lernenden. „Natürlich, ich erkläre nur gerade die sinnvolle Anwendung von Dünnschichtchromatographie.“ Der Franzose lächelt, und es ist ein unverbindliches Lächeln... irgendwie gefährlich. „Lassen Sie uns ein Stück spazieren gehen“, schlägt er vor, und lenkt seine Schritte zusammen mit dem Professor nach draußen in Richtung Elektrozaun. „Ich habe mir überlegt, wie Sie mir in Zukunft am meisten nützlich sein können“, plaudert er, während der Professor ihm gar nicht zuzuhören scheint. Dem Schlag des Franzosen kann er nicht ausweichen, er stürzt schwer und schreit leise, als er auf dem harten Stein aufschlägt. Das „Plopp“ des Schalldämpfers ist das letzte, was er in diesem Leben hört, das „nämlich tot“ des Franzosen ist schon nicht mehr von seiner Welt.

Je größer die Not der Menschen in einem Landstrich ist, desto bereitwilliger finden sich Leute, die gegen ein kleines Bakschisch gesetzlich oder moralisch verbotene Dinge für andere tun – zum Beispiel eine Leiche verschwinden lassen.

Kapitel 2

Draußen zwitschern die Vögel. Es ist heiß, doch nicht zu heiß. Ein typischer Junivormittag. Innen ist es still, man hört nur das sachte Ticken der großen Uhr, die über der Tür hängt, und ab und an ein unterdrücktes Schaben.

„Nun?“ Felix’ Stimme klingt undefinierbar, wie immer. Sonor, väterlich, beschützend, so sehr, daß ich am liebsten aufstehen und mich bei ihm verkriechen würde. Gelassen, als käme seine Ruhe inmitten aus der tiefen, rauhen See, und doch weiß ich, weil ich ihn schon länger kenne, daß dem nicht so ist, denn wenn der Angesprochene gleich keine passende Antwort auf Felix’ Frage findet, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird Felix’ Stimme schneidend und bohrt nach, um die Wahrheit ans Licht zu bringen, oder aber er wird zynisch, und verhöhnt den Angeklagten ob seiner bisherigen, deutlich erkennbar gelogenen Aussagen. Und wenn das der Fall ist, dann möchte ich mich nur sehr ungern bei ihm verkriechen, sondern lieber ganz weit weg sein, und beten, daß ich nie, nie, niemals Ziel seines Spotts werde.

Der Angeklagte hingegen hat Glück, denn er scheint sich entschlossen zu haben, zu reden. Mal sehen, was er uns diesmal für eine Geschichte auftischt. Hey, meine Leute machen nur ihre Arbeit - aber die machen sie verdammt gut. Und die Polizei ermittelt nicht nur in DIESEM Fall, sondern schätzungsweise in 3 Millionen anderen auch noch - gleichzeitig. Also, wie zum Henker, kommt diese Rechtsanwältin auf die Idee, meine Ermittlungsarbeit wäre fehlerhaft?

„Herr Richter, ich sag’s ja bereits“, fängt der Angeklagte in weinerlichem Ton aufs Neue an. „Ich bin unschuldig und meine Anwältin hat’s auch schon gesagt.“ Dabei schaut er seiner Anwältin entgegen, die ihm beruhigend zunickt. „Von wegen unschuldig“, brumme ich. Dabei rutscht mir dieser Kommentar eher unbeabsichtigt heraus. Aber wer A sagt, der muss auch B sagen, denke ich und lehne mich genießerisch zurück, bevor ich meinen ersten Giftpfeil abschieße... meinen ersten Trumpf opfere. „Natürlich sind Sie unschuldig, Herr Weber“, grinse ich süffisant, noch bevor die Anwältin wirklich reagieren kann. „Aber Sie können dem Gericht sicher auch erklären, warum Sie dann ausgerechnet dem Zeugen Peppel das Autoradio angeboten haben, das - rein zufällig, versteht sich - keine halbe Stunde vorher in der Taunusstraße aus einem Auto gestohlen worden ist, nachdem irgendjemand das Auto zuvor aufgebrochen hatte.“

Das mit dem Zeugen war der Anwältin neu, und ich sehe, wie sie schluckt. Hach, ist das herrlich... ich liebe diesen Erfolgsrausch, die Sucht, die sich einstellt, wenn man voll auf der Gewinnerschiene ist. Nein, sie wusste nicht, daß wir denjenigen, der im Protokoll der Polizei als „unbekannter Zeuge“ benannt ist, längst ermittelt haben. Und was für Augen wird sie erst machen, wenn sie erfährt, daß es sich um einen Polizeikommissar aus Saarbrücken handelte, der zufällig seinen Bruder in Frankfurt besuchte. Und daß ihr Mandant ausgerechnet das Auto dieses Polizeikommissars aufgebrochen hatte, der sein eigenes Autoradio natürlich sofort wiedererkannt hatte.

„Herr Staatsanwalt“, und die Augen des Angeklagten irren dabei durch den Raum, „ich schwöre Ihnen, ich weiß von überhaupt gar nichts.“ Ich zucke mit den Schultern und kann mir mein süffisantes Grinsen dabei nicht verkneifen. „Keine weiteren Fragen, Herr Richter.“

Felix schaut die Anwältin an, die hektisch in ihren Unterlagen kramt, vermutlich, um Zeit zu gewinnen, und dann leise, fast unmerklich den Kopf schüttelt. „Gut. Dann können Sie jetzt neben Ihrer Anwältin Platz nehmen, Herr Weber.“ Und zu mir gewandt: „Herr Staatsanwalt, ich würde gerne die Verhandlung für einige Minuten unterbrechen, und eine kurze Pause machen. Vielleicht überlegt Herr Weber sich inzwischen, ob er uns nicht doch noch was zu sagen hat. Dann kann seine Anwältin sich nämlich noch einmal in Ruhe mit ihm besprechen.“ Ich nicke knapp. „Einverstanden.“ Die junge Anwältin nickt. „Dann unterbreche ich die Verhandlung für fünfzehn Minuten.“ Felix steht auf, nickt mir fast unmerklich zu, und geht durch den hinteren Eingang nach draußen.

Ich stehe auf, nehme demonstrativ den Apfel, den ich mitgebracht habe, aus meiner Aktentasche, und verlasse den Gerichtssaal gemächlichen Schrittes durch die Tür, ohne dem Angeklagten auch nur einen Blick von mir zu gönnen. Ich verachte solche Leute. Wenn man Mist baut, dann soll man auch dazu stehen. Und nicht versuchen, dumm rumzulügen. Lügende Kleinkriminelle sind nervig.

Draußen stecke ich den Apfel erst mal in die Tasche meiner Robe. Ich habe nicht vor, ihn zu essen, nicht jetzt zumindest. Ich bleibe auch nicht hier stehen, um zu rauchen, oder so. Ich lenke meine Schritte in Richtung Personaltoilette, weil ich die leichte Kopfbewegung von Felix so gedeutet habe, daß er gerne mit mir reden möchte. Als ich in den Vorraum der Toilette komme, steht da Richter Hornbostel und begrüßt mich in seinem breiten Bayerisch. „Grüß Gott, Kollege Edel. Lang nicht mehr g’sehn, san’s im Urlaub g’wesen?“ Ich halte kurz inne, schüttele den Kopf. „Guten Morgen, Herr Kollege. Nein, ich habe erst ab nächster Woche Urlaub. Vier Wochen, die ich mit meiner Freundin zu Hause verbringen werde. Ist auch dringend notwendig geworden“, fahre ich fort. „Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen“, bitte ich ihn, denn ich habe jetzt keine Lust, mich hier über meine „Freundin“ Marianne auszulassen. Ich muß nämlich pinkeln, und außerdem ist Marianne nicht meine Freundin, sondern meine beste Freundin. Die Frau, die ich mitnehme, wenn meine Kollegen auf ihren Treffen gerne ihre Ehefrauen mitbringen. Meine Schein-Freundin sozusagen.

Also gehe ich durch die Tür und trete ans nächste freie Becken, öffne die Hose und ... zucke zusammen, als Felix sich hinter mir räuspert. „Keine Angst, Kollege Edel“, raunt Felix mir zu. „Wir sind ganz unter uns, ich habe extra in jeder Kabine nachgesehen.“ - „Verdammt, Felix“, rege ich mich auf, „irgendwann krieg ich nen Herzinfarkt, wenn Du mich so erschreckst.“ Ich genieße seine Hände auf meinen Schultern, diese unauffällige Zärtlichkeit, die er mir zukommen lässt. Mehr würde ich allerdings nicht zulassen, denn jeden Moment kann ein anderer Kollege in die Toilette kommen und uns sehen.

Felix ist im Kollegenkreis geoutet und dennoch akzeptiert, aber ich? Ich nicht, und ich denke gar nicht daran. Nein, das kommt nicht in Frage. Allein die Befangenheit, die entstehen könnte, wenn herauskäme, daß wir gelegentlich mehr als nur ein kollegiales Verhältnis zueinander haben.

Man stelle sich mal die Gerüchte vor... Richter Felix Wild und Staatsanwalt Marc Edel, das „Dream-Team des Amtsgerichts Frankfurt“, der Richter mit der niedrigsten Berufungsquote und der Staatsanwalt mit dem höchsten Ermittlungsergebnis... beide schwul! Wie lange es dauern würde, bis irgendein Vögelchen ausplaudern würde, daß wir ab und zu gemeinsam weggehen und auch schon miteinander geschlafen haben? Jedenfalls würden wir nicht mehr zusammen arbeiten dürfen, von wegen der Befangenheit. Felix’ Chef, der Amtsgerichtsdirektor, sieht dessen Schwulsein locker. Meine Chefin, die Generalstaatsanwältin Häberlein dagegen, ist eine zweiundsechzigjährige, sehr konventionell denkende Frau - glaube ich. Ehrlich gesagt, habe ich Angst vor einem Outing. Und es käme bestimmt auch nicht so gut an.

„Du hast ab nächste Woche Urlaub eingetragen, hab ich gesehen“, lenke ich unser Gespräch in weniger verfängliche Bahnen. Felix grinst. „Du hast vier Wochen frei... was soll ich denn in der Zeit hier machen, ohne meinen wichtigsten Partner? Und außerdem...“ Er beugt sich zu mir nach vorne und seine Stimme wird leiser, verführerischer, privater. „Außerdem wollte ich Dich fragen, ob Du vielleicht mit mir in Urlaub fahren möchtest? Zum Beispiel an die Nordsee, einfach mal schauen, wo wir ein Zimmer kriegen, und vorher noch ein paar Tage Hamburg?“ Seine Nase streift meine Wange, nur ganz sachte, aber ich bekomme sofort eine Erektion. „Felix.....“, flüstere ich. „Mhmmmm?“, brummt er zurück. „Die Viertelstunde ist gleich um“, sage ich, um überhaupt etwas zu sagen, und um ihn zu dämpfen. „Laß uns wieder zurückgehen, und das letzte Verfahren für heute zu Ende bringen“, schlage ich vor. „Danach könnten wir in der Stadt irgendwo Kaffee trinken gehen und darüber reden.“

„Okay“, grinst Felix und lässt mich los. „Ein einfaches ‘Ja’ hätte mir auch genügt. Bis gleich, Herr Kollege.“ Ich lehne mich gegen die Wand und lausche seinen Schritten, die sich entfernen. Als ich das Wasser im Vorraum rauschen höre, schließe ich meine Hose und gehe ebenfalls nach draußen, um mir die Hände zu waschen. Dann kehre ich in den Gerichtssaal zurück, wo die junge Anwältin ihrem Mandanten inzwischen klar gemacht zu haben scheint, daß seine Lügen ihm auch nicht mehr helfen. Jedenfalls ist er voll geständig. Schade eigentlich, denn den in einem Nebenraum wartenden Zeugen hätte ich ganz gerne noch aufgerufen.

So bleibt Felix jedoch trotz des einschlägigen Vorstrafenregisters des Angeklagten Weber nur bei der Verhängung von hundert gemeinnützigen Arbeitsstunden wegen Hehlerei als Auflage zum Erhalt seiner Bewährungsfrist und stellt das sonstige Verfahren wegen Einbruch in das Fahrzeug gegen ihn ein. Ein ausgesprochen mildes Urteil, stelle ich fest. Aber Felix hat gute Laune, und er hat auch allen Grund dazu. Schließlich habe ich mich breitschlagen lassen, ein paar Tage mit ihm zu verbringen. Ohne Angst, daß uns jemand von den Kollegen oder unseren „Kunden“ händchenhaltend oder knutschend sieht.

Also ein ziemlich positiver Tag, und das noch anstehende „Kaffeetrinken“ gleich hebt meine Laune noch um ein paar Grad mehr an.

„Du siehst süß aus, wenn Du sauer bist.“ Ich schürze die Lippen und nippe an meinem Latte Macchiato. „Felix“, mahne ich ihn. „Du weißt ganz genau, daß ich dieses Geturtel in der Öffentlichkeit nicht möchte.“ Er zieht die Stirn in Falten. „Da ist doch nichts dabei“, brummt er. Seine Stimme ist so beruhigend, so einschläfernd, daß ich schon wieder am liebsten - nein ! „Du musst mich auch verstehen! Ich kann es mir einfach nicht leisten, daß irgendjemand mich mit Dir sieht, wenn wir mehr als nur Kollegen darstellen. Mein Job, und vor allem mein Ruf sind in Gefahr.“ Ich schaue Felix dabei in die Augen und offenbare ihm meine ganze Verletzlichkeit.

Er seufzt. „Wir könnten morgen früh mit dem ICE nach Hamburg fahren und uns im Maritim am Hauptbahnhof ein Zimmer nehmen. Dann genießen wir Hamburg ein paar Tage, sehen, was sich entwickelt, und nehmen uns dort nen Leihwagen und fahren einfach mal Richtung Norden. Was hältst Du davon?“ Ich nicke zustimmend. „Ich habe zwar noch nicht großartig gepackt, aber wir könnten uns um eins am Hauptbahnhof treffen.“

Natürlich freue ich mich auf den geplanten Urlaub, auch wenns sehr kurzfristig für mich ist. Zum Glück habe ich keine Verabredungen getroffen, außer dienstags zum Juristenstammtisch im „Doctor Flotte“ an der Bockenheimer Warte, wo Marianne und ich regelmäßig zusammen hingehen. Und da Marianne eh im Moment durch ihren Job in der Agentur wenig Zeit für mich hat, könnte ich eigentlich schon mal ein paar Tage wegfahren. Zumal ich Felix wirklich lieb habe. Wenn wir denn Zeit füreinander haben, in der wir unbeschwert miteinander umgehen können, was in Frankfurt nur sehr schlecht möglich ist. Und natürlich fällt es mir auch nicht gerade leicht, dieses berufliche Miteinander-Umgehen wegzustecken, aber ich habe eine perfekte Programmierung meiner selbst dafür entwickelt.

Aber grundsätzlich... ist Felix mein absoluter Traummann. Groß, größer als ich mit meinen einssiebzig, sportlich, muskulös, mit dunkelbraunen Haaren, grauen Augen und einem absolut umwerfenden Lächeln. Ich dagegen bin blond, sehr sportlich und sehr schlank. Wir passen vom Äußerlichen überhaupt nicht zusammen. Dafür umso besser ineinander, denke ich und grinse ein wenig schmutzig. Der Sex mit Felix war bisher immer außergewöhnlich, auch wenn wir in den viereinhalb Jahren seit unserer gemeinsamen Referendariatszeit, die wir uns jetzt kennen, viel weniger Sex hatten als man sich das vielleicht vorstellen kann.

Damals war Felix noch mit Toni zusammen, der jetzt nur noch sein Mitbewohner ist in dem Häuschen in Bornheim, das die beiden zusammen gekauft hatten, bevor ihre Beziehung in die Brüche ging. Toni ist für Felix sowas wie Marianne für mich... „the best friend“. Sie sind beide im Frieden auseinandergegangen, und deswegen wohnen sie auch heute noch zusammen. Ja, und damals hatten Felix und ich auch unseren ersten Sex, was sich noch drei-, vier Mal wiederholt hat. Ich hoffe insgeheim, daß wir in unserem ersten gemeinsamen Urlaub, wenn man mal von den Einen-Abend-Trips nach Köln oder so absieht, die „zehn“ voll machen. Ich freue mich wirklich darauf.

 

 

 

 

Kapitel 3

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir erreichen in Kürze Hamburg Hauptbahnhof.“ Die Stimme des Zugchefs klingt blechern aus dem Lautsprecher im Abteil, und ich schubse Felix, der seit Göttingen leise schnarcht, vorsichtig mit dem Ellenbogen an. „Wir sollten aussteigen“, schlage ich vor, als wäre ich an allem völlig unbeteiligt. Felix ist süß, wenn er schläft, und ich reiße mich zusammen. Nein, ich werde ihm nicht die Haarsträhne, die vorwitzig in seine Stirn gerutscht ist, mit der Hand wegstreifen. Stattdessen räuspere ich mich, stehe auf und greife mir meine Koffer, während der Zug über die Elbbrücke rollt. Das bedeutet, wir sind wirklich gleich am Hauptbahnhof.

Felix ist inzwischen auch wachgeworden und hat seinen Koffer in der Hand. „Dann mal los“, grinst er. Auf dem Bahnsteig als erstes... Seeluft. Nicht so extrem wie an der Küste, aber trotzdem salzhaltiger und frischer als in Frankfurt. Ich bleibe einfach stehen, atme tief durch. Hinter mir Unruhe, Gemurmel. Wahrscheinlich versperre ich gerade den halben Bahnsteig, aber das stört mich nicht. Am liebsten würde ich „Hallo, Hamburg“ rufen, aber dann würde man mich wahrscheinlich gleich für verrückt halten. Also atme ich noch einmal tief ein und aus, und folge dann Felix, der oben auf dem Querbahnsteig angehalten hat und auf mich wartet, auf die Rolltreppen. „Taxi?“, frage ich ihn, ohne mir anmerken zu lassen, daß gerade der ganze Stress der vergangenen Tage von mir abfällt.

„Brauchen wir nicht“, erwidert Felix. „Ich hab uns ein Doppelzimmer im Maritim bestellt, da können wir hinlaufen.“ Und so geschieht es.

„Endlich!“ Felix lässt sich mit einem Stoßseufzer auf das breite Bett unseres Zimmers fallen. Einfach so, in Klamotten. Ich kann froh sein, daß er seinen Koffer vorher abgestellt hat. Ich schließe die Tür, nicht ohne dem Pagen vorher ein Trinkgeld in die Hand gedrückt zu haben, und lege meinen Mantel über einen Stuhl, stelle den Koffer ab und ziehe meine Schuhe aus. „Bist Du etwa müde?“, stichele ich Felix an. Der richtet sich auf, streift seinen Pulli ab und schiebt die Slipper von den Füßen, tritt sie aus dem Bett, und kuschelt sich in die Kissen. „Mir ist halt danach“, flüstert er. „Und das Bett ist herrlich weich...“, schnurrt er verführerisch. Dabei schaut er mich aus großen Augen an. „Sag mal, Marc...?“, raunt er mir zu. „Mhm?“, antworte ich ihm. „Darf ich Dich heute abend ausführen?“, fragt er mich. „So richtig, meine ich... Separee mit Kerzenlicht, ein Menü, anschließend noch ein Glas Wein? Oder wär Dir ein Kneipenbummel lieber?“ Ich schüttele unwillig den Kopf. Mir ist nicht nach trauter Zweisamkeit, jedenfalls nicht heute und nicht jetzt. Mir ist nach rausgehen, Party und Alkohol, und das sage ich Felix auch. „Ehrlich gesagt... möchte ich heute am liebsten die Szene Hamburgs mit Dir unsicher machen.“ Das bedeutet, ich möchte jedem zeigen, was für einen gutaussehenden Mann ich an meiner Seite habe, belanglose Gespräche mit noch unwichtigeren Leuten führen, mich im Alkohol verbrüdern und mit gutem Gewissen nach Hause gehen, diese Leute aller Wahrscheinlichkeit nach nie wieder sehen zu müssen. Aber vorher ist mir nach Duschen, um den Staub der Reise vom Körper zu waschen. Also lege ich meinen Koffer auf den Tisch, öffne ihn und ziehe eine frische Boxershorts aus ihm hervor, bevor ich meine Jeans ausziehe und sie achtlos zu Boden fallen lasse. Mein Poloshirt werfe ich auf einen der beiden Stühle im Zimmer, die Socken auch, und dann gehe ich ins Bad, dusche ausgiebig und trockne mich in den flauschigen weichen Handtüchern, die uns das Maritim großzügigerweise zur Verfügung stellt, ab, bevor ich meine Boxershorts anziehe und ansonsten so, wie der Herrgott mich erschaffen hat, in unser Zimmer zurückkehre, wo Felix sich offensichtlich ebenfalls seiner Hose entledigt hat, jedenfalls hängt seine Hose neben meiner auf den beiden Stühlen. Felix selbst liegt auf dem Rücken im Bett und hat die Bettdecke bis zum Kinn gezogen. Ich ignoriere ihn vollständig und lege mich ebenfalls ins Bett, krieche unter die Decke. Felix hat recht, das Bett ist wirklich sehr bequem.

„Sag mal“, höre ich Felix’ Stimme von rechts. „Hattest Du eigentlich schon immer so weiche Haut?“ Ich drehe mich um, schaue in seine Augen. „Ich kann mich gar nicht daran erinnern“, fährt Felix scheinheilig fort, während seine Rechte sanft über meine Schulter fährt, was mich erschaudern lässt. „Aufhören“, stöße ich zwischen den Zähnen hervor, die ich vor Schreck und im Überschwang der Gefühle zusammengebissen habe. „Hey...“ Felix klingt beruhigend. Vermutlich würde jedes Pferd ihm vertrauen, wenn er diesen Ton anschlägt. „Kleiner....“ Ich hasse es, wenn man mich „Kleiner“ oder „klein“ nennt, und Felix weiß das auch. Wahrscheinlich will er mich wütend machen. Soll er nur versuchen, mich zu ärgern. Ich weiß aber auch, was Felix am meisten ärgert, nämlich wenn ich jetzt einfach einschlafe.

Ich lege meinen linken Arm um Felix’ Oberkörper, schaue ihn aus großen Augen an und lächele dann glücklich, bevor ich die Augen schließe und so tue, als wäre ich eingeschlafen. Natürlich stört Felix mich nicht, und er lässt auch meinen Arm genau da, wo er liegt. Es dauert seltsamerweise nicht lange, da bin ich wirklich eingeschlafen.Wach werde ich vom Duft eines herrlichen Abendessens, das Felix wohl aufs Zimmer bestellt hat, und das auf dem Tisch bereitsteht, während dieser eine Flasche Rotwein entkorkt. „Du brauchst Dich nicht umzuziehen“, rät Felix mir. „Später, wenn wir ausgehen, kannst Du Dich genügend aufbrezeln. Außerdem... kann ich so sehen, was ich all die Zeit versäumt habe.“ Felix ist ganz Grandseigneur, Kavalier der alten Schule. Natürlich macht es mich an, wie charmant er mit mir umgeht. Aber es löst meine Hemmungen nicht, und ich hoffe, daß der Alkohol das tut. Und wenn die erste heiße Nacht gelaufen ist, dann ist wieder einmal ein Knoten geplatzt und ich kann unsere Nähe genießen – bis wir wieder in Frankfurt sind und der Traum ein Ende hat.

Ich habe schon oft darüber nachgedacht, mich einfach versetzen zu lassen. Ein anderes Gericht, meinetwegen in Wiesbaden, Darmstadt, oder zum Landgericht... und schon wäre das Problem vorbei. Ich müsste mich dann nur noch outen, und schon könnte ich mit Felix ganz offiziell eine Beziehung führen. Dumm nur, daß auch in diesem Fall ein Makel an uns beiden kleben blieb. Denn wer würde uns denn glauben, daß wir nicht schon vorher etwas miteinander gehabt hätten – mal ganz davon abgesehen, daß das ja eigentlich auch so ist – und uns völlig unvoreingenommen sehen? Und die Gerüchte, was unsere jeweilige Quote betrifft, die man uns natürlich auch neidet, möchte ich eigentlich gar nicht hören. Nein, auch eine Versetzung kommt für mich nicht in Frage. Lieber verstecke ich mich mein halbes Leben lang.

 

 

Kapitel 4

as Essen ist übrigens ausgesprochen lecker, und Felix verliert dabei kein weiteres Wort über unsere Abendplanung. Dafür mustert er mich mit Blicken, die mich schier ausziehen würden, wenn ich denn noch mehr am Leib tragen würde als meine Boxershorts. Für einen kurzen Moment kommt mir der Gedanke, daß es wahrscheinlich am besten wäre, wenn Felix mich jetzt einfach auf den Tisch legen und dann verwöhnen würde... das hätte zwei Vorteile: Erstens, meine Befangenheit und der Zwang, nicht aufzufallen, wären vermutlich verschwunden, und zweitens hätte ich nachher, wenn wir in der Szene unterwegs sind, eine besondere Ausstrahlung, dieses spezielle Glitzern in den Augen, das nur ein Mann haben kann, der kurz zuvor Sex hatte, anstelle dieses Ausdrucks unbefriedigter Gefühle in meinem Blick.

Aber das passiert natürlich nicht, und ich frage mich, wann Felix in meiner Gegenwart das letzte Mal so richtig zügellos und wild gewesen ist, statt höflich, charmant und zuvorkommend. Wahrscheinlich vor zwei Jahren, als wir den letzten Urlaub miteinander verbracht haben. Um genau zu sein, war es Zufall, wirklich. Ich hatte einen last-minute-Flug nach Tunesien gebucht, weil ich dann doch keine Lust hatte, zu Hause zu bleiben, und traf Felix im Hotel. Ich wusste, daß er nach Tunesien fliegen würde, aber ich wusste natürlich nicht, in welche Stadt oder gar in welches Hotel. Hätte ich das gewusst, ich hätte sicher darauf geachtet, zumindest ein anderes Hotel zu buchen. Und natürlich konnte ich ihm nicht widerstehen, aber zum Glück waren die zehn Tage schneller vorbei als ich befürchtet hatte. Nicht daß ich mich noch an diese Zeit und deren Umstände gewöhnt hätte. „Das walte Hugo“, sage ich leise und grinse dabei. Felix schaut mich fragend an, sagt aber nichts. Natürlich war ich froh, daß ich mich nicht an diese Zärtlichkeiten, dieses hemmungslose Ausleben meiner Gefühle und Empfindungen, diese – Liebe? – gewöhnt habe. An was man sich nicht gewöhnt hat, das muß man sich auch nicht abgewöhnen. Und, wie ich bereits festgestellt habe, ich kann in Frankfurt auf gar keinen Fall mit Felix näheren Kontakt haben. Ich darf es nicht, es würde uns beide nur unnötig gefährden, und vor allem würde es uns beiden weh tun. Das ist nämlich das schlimmste daran: Wir können nicht miteinander... aber wir können auch nicht ohne uns. Es geht schlicht und einfach nicht. Wenn ich mit einem anderen Richter arbeiten muß – und auch das kommt regelmäßig vor – dann zieht sich jeder Termin ins Endlose, weil es schlicht und einfach keinen Spaß macht. Weil es langweilig ist, und vielleicht auch, weil ich mir nie die Mühe gemacht habe, die anderen achtzehn Kollegen richtig kennenzulernen. Und das bedeutet dann, daß ich eben nicht weiß, wie diese oder jene Geste des Herrn Vorsitzenden zu deuten ist, eine Angewohnheit, die mir bei Felix schon sehr geholfen hat. Es gab Tage, an denen ich in einer Sitzung im Geiste eingeschätzt habe, wie Felix auf bestimmte Situationen reagiert... und ich hatte eine Trefferquote von fast einhundert Prozent.

„Entspann’ Dich.“ Felix’ leise Stimme an meinem linken Ohr reißt mich unsanft in die Realität zurück. „Hast Du nicht eben noch am Tisch gesessen?“, frage ich mehr verwundert als erschrocken. „Mhm“, erwidert er, „habe ich. Dann bin ich aufgestanden und habe mich neben Dich gestellt, nachdem Du bestimmt eine halbe Minute lang mit sehr nachdenklichem Gesicht mitten im Zimmer gestanden hast und ich den Eindruck hatte, Du würdest möglicherweise meine Unterstützung beim Nachdenken benötigen... oder was auch immer.“ Sein freches Grinsen zeigt, daß er sehr wohl weiß – oder zu wissen glaubt – was in meinem Kopf vorgeht. Hoffentlich täuscht er sich nicht. Hoffentlich handelt er lieber. Ich muß mich sehr zusammenreißen, um nicht vor Erleichterung aufzuseufzen, als Felix seine beiden Hände auf meine Schultern legt und mich sanft zum Bett bugsiert, wo er mich vor sich setzt und beginnt, meine Schultern und den Nacken vorsichtig zu massieren.

„Sag’ doch was, wenn Du eine Massage brauchst“, wirft Felix mir in gespielt vorwurfsvollem Ton vor, während er mit gekonnten Griffen meine in zahlreichen Stunden, die ich gebeugt über Akten an meinem Schreibtisch saß, angesammelten Verspannungen löst und ich am liebsten leise brummen würde, weil das genau die Empfindung ist, die dieses wohlige Gefühl in mir auslöst. Normalerweise müsste ich diese Berührungen jetzt mit einem „es geht schon, Kollege, vielen Dank auch“, abwehren, geht mir durch den Kopf, aber das kleine Teufelchen, das auf meiner Schulter sitzt, piekst mich mit seinem Speer, es nicht zu sagen, und mich stattdessen nach hinten gegen Felix zu lehnen, der diese Aktion mit seiner hochgezogenen rechten Augenbraue zu kommentieren scheint, während er mit dem Massieren aufhört, und stattdessen seine Arme um meinen Brustkorb legt, mich an sich zieht. „Kann es sein, daß Du in letzter Zeit nicht allzu viele Streicheleinheiten bekommen hast?“, fragt er mich leicht ironisch. „Von wem denn?“, antworte ich ihm frustriert. „Du weißt doch genau, daß da nichts läuft bei mir. Außerdem sind die meisten Kollegen wesentlich weniger freigiebig mit zufälligen Berührungen. Außer einem Schulterklopfen oder einem Händedruck ab und zu ist da nichts drin, Du bist der einzige, der wesentlich großherziger mit mir umspringt.“ Ich hoffe nur, daß Felix meine Verbitterung über die Tatsache, daß mich ansonsten auch nicht wirklich ein Mensch liebt, nicht herausgehört hat. Ja, es handelt sich um einen Vorwurf, sogar um einen relativ offenen, denn ich halte nichts davon, mich zu verstecken. Aber er zielt nicht auf Felix, und deswegen möchte ich nicht, daß er sich diesen Schuh anzieht.

„Was ist denn mit Marianne?“, fragt Felix scheinbar interessiert. „Marianne ist ne gute Freundin, das weißt Du doch. Oder gehst Du etwa noch mit Toni ins Bett?“ erwidere ich scharf, weil mir die Frage überhaupt nicht gefällt. Mir geht gerade auf, daß diese Frage ohne weiteres auch doppeldeutig gemeint gewesen sein kann... Marianne liebt mich nämlich, auf ihre Art und Weise. Die meisten Menschen würden sagen, daß sie mich gut leiden kann, oder mich platonisch sehr mag. Aber tatsächlich ist ein Unterschied zwischen „lieben“ und „lieb haben“. Hat man einen Menschen lieb, dann ist es eine freundschaftliche, platonische Liebe, liebt man einen Menschen, kann das eine partnerschaftliche oder sexuelle Liebe sein. In genau dem Moment, wo man sich ernsthaft überlegt, ob man mit diesem Menschen, seinem Gegenüber, sein Leben verbringen möchte, „liebt“ man. Liebe ist sowieso ein seltsames Ding. Alles, was ich kenne, gelernt habe, alles, was mein Leben ausmacht, hat mit Vernunft zu tun. Liebe dagegen ist anders. Liebe hat mit dem Kopf, aber auch mit dem Herzen und der Seele zu tun, nicht mit dem Körper oder dem Geschlecht. Aus Vernunftgründen kann man nicht lieben, nicht einmal mögen. Gefühle haben auch nichts mit der Vernunft zu tun, wird mir gerade klar. Aber mich liebt keiner... und der, der mich vermutlich lieben könnte und den ich auch lieben könnte – oder zumindest versuchen könnte, es zu tun –, den darf ich nicht lieben, genauso wenig wie er mich lieben darf.

„Toni ist ein Freund, aber natürlich umarmen wir uns ab und zu“, gibt Felix zu. „Das ist etwas anderes. Ich könnte mit Toni gar nicht mehr schlafen. Dazu kenne ich ihn zu gut, und dafür ist inzwischen so ein starkes Gefühl von Vertrautheit da, daß das gar nicht mehr ginge. Ich vermute mal, wir könnten auch heute noch zusammen in einem Bett schlafen, Arm in Arm, ohne daß etwas passieren würde“, vermutet Felix. Ich nicke, räuspere mich dann. „Was meinst Du?“, frage ich. „Soll ich lieber nen Anzug anziehen oder was Lockeres, Sportives?“

Felix grinst. „Zieh an, was Du möchtest“, schlägt er mir vor. „Wo Du bist, ist sowieso der Mittelpunkt des Abends. Du könntest vermutlich in einem alten Sack auftauchen und würdest alles Interesse auf Dich ziehen.“ Ich verdrehe die Augen, weil ich nicht zugeben möchte, wie sehr mich dieses einfache Kompliment freut. Dann winde ich mich aus Felix’ Griff und gehe zum Tisch, öffne den Koffer, ziehe meine enge Jeans, in der mein Hintern besonders gut zur Geltung kommt, sowie ein knappes T-Shirt heraus. „Und was ziehst Du an?“, frage ich Felix, der mir mit gefälligem Blick zuschaut, wie ich mich anziehe, und mit den Schultern zuckt. „Es ist warm draußen“, erwidert er leise. Ich werde ein graues Muscle-Shirt und meine Cargohose anziehen. Dann falle ich neben Dir auch nicht so sehr auf“, grinst er.

Keine zwanzig Minuten später sind wir bereits in der Langen Reihe auf dem Weg zum „Cafè Blasa“, wo wir unseren Rundgang durch die Szene beginnen wollen.

Kapitel 5

„Die starren uns alle an“, grinst Felix, als wir an dem kleinen Tisch in der Ecke Platz genommen haben, der einzige, der noch frei ist. Alle anderen Tische sind besetzt, was dafür spricht, daß das „Blasa“ nicht nur guten Kaffee zubereitet und über einen ausgezeichneten Konditor verfügt, wie im Internet auf deren Seite zu lesen war, sondern daß es darüber hinaus ein beliebter Szenetreffpunkt ist. Und richtig, hier ist wirklich ein breiter Querschnitt der schwulen Szene vertreten, vom älteren Schwulen, der hier gemütlich seine Tasse Tee oder Kaffee trinkt, über den Biker oder Ledermann, der sich sein Bier schmecken lässt, bis hin zum Studenten und den Jungtucken ist hier jede Gruppierung vertreten – und alle sitzen einträchtig an den marmornen Tischen, auf Stühlen oder Sofas, reden, lachen oder mustern die anderen Gäste mehr oder minder verstohlen.

Natürlich hat man uns sofort als Auswärtige und „Frischfleisch“ klassifiziert, als wir das „Blasa“ betreten haben, hat uns gemustert, mit Blicken ausgezogen, in Schubladen gesteckt, vermeintliches Interesse oder vorgebliches Desinteresse demonstriert oder uns einfach nur überheblich wegignoriert. Aber genauso selbstverständlich sind natürlich auch eine Menge Leute deutlich sichtbar an uns interessiert, und diese nutzen jetzt jede Gelegenheit, einen Blick von uns zu erhaschen oder gar aufzufangen und zu halten, um später möglicherweise ins Gespräch und damit zu dem zu kommen, was sie alle suchen und wollen: Sex. Es geht nicht um Emotionen, sondern um Triebbefriedigung, ausschließlich. Darum, daß man den Ruf des Körpers befriedigen möchte, obwohl man den Ruf fehlinterpretiert hat. Denn nicht der Körper hat gerufen, sondern das Herz oder die Seele. Nach Nähe, nach Wärme, nach Geborgenheit – nicht nach Sex. Aber die kurze Befriedigung, das kurze Glück, das sich nach einer Nummer einstellt, wird dann meist mit dem Gesuchten verwechselt – und da es langfristig nicht den gewünschten Erfolg erzielt, kompensiert man dieses Unglück meist mit anderen Dingen... Alkohol, Drogen, etc.

Warum fragt eigentlich keiner nach, warum die Selbstmordrate bei Schwulen so hoch ist? Ich meine, das weiß ich ja aus dem Bericht des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, den ich von Amts wegen regelmäßig zugeschickt bekomme. Darin steht, wenn man zwischen den Zeilen lesen kann, daß sich jeder 3. Schwule über 40 schlicht und einfach umbringt. Jeder dritte Schwule!!! Und ich meine, das passiert einfach so. Entweder durch die tatsächliche Selbstmordhandlung wie von-der-Brücke-springen etc., oder durch Drogen, Alkohol, Tabletten usw. Am liebsten würde ich diese Jungtucke, die mich völlig fasziniert anstarrt, am Kragen packen, von ihrem Stuhl hochziehen, meine Hand links und rechts in ihr teilrestauriertes Gesicht schlagen und fragen, ob er sich auch in schätzungsweise zwanzig Jahren umbringt, weil ihn keiner mehr anschaut, weil alle Schwulen so verdammt oberflächlich geworden sind, wie er aussieht... aber das lasse ich besser bleiben. Körperverletzung, Paragraph 223 Strafgesetzbuch, „wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“. Daß der Versuch strafbar ist, ist einer der Gründe, weswegen ich mich nur zu einem wütenden Blick hinreißen lasse, den dieses Viech aber falsch deutet und sich jetzt wahrscheinlich denkt, ich hätte ihm zugelächelt oder so.

Ich nehme neben Felix auf dem Sofa Platz, rücke an ihn heran und lehne meinen Rücken gegen seine Brust, demonstriere Nähe und Einigkeit, was den frustrierten Gesichtern der meisten Anwesenden zufolge nicht das ist, mit dem sie gerechnet haben. Als Felix seine Arme um meinen Oberkörper schlingt und mich einfach nur hält, während der Kellner uns jeweils ein Pils bringt, sind die Blicke unserer Beobachter bereits auf ihr nächstes Opfer umgeschwenkt, uns würdigen nur noch ein paar Schüchterne, Unverzagte eines Blickes.

Ich genieße Felix’ Berührung und Nähe, als sich vor uns jemand räuspert. Ich sehe hoch und erblicke das nächste „Opfer“ der Gaffenden, einen jüngeren Blondschopf, vielleicht 25 Jahre alt, groß, sportlich, schlank, auffallend gutaussehend, der in aufreizenden Klamotten steckt und uns schüchtern und dennoch cool anlächelt. „Sorry, Jungs, ist hier noch frei?“ Felix nickt. „Klar“, sagt er und deutet mit einer Handbewegung auf den freien Stuhl. Ich schaue mich um und stelle fest, daß inzwischen bis auf unseren Tisch wirklich nichts mehr frei ist. „Danke... Eine Cola bitte“, sagt der junge Mann zu dem Kellner, der sofort zu uns an den Tisch geeilt ist, ganz so, als handele es sich bei unserem Gegenüber um einen VIP, oder als sei der Kellner rattenscharf auf den Neuankömmling. Sogar Felix zieht eine Augenbraue nach oben, um seine Verwunderung auszudrücken, schweigt aber sonst, während sein rechter Daumen sanft über mein Brustbein streicht. Als der Kellner die Cola bringt und dabei sein vermutlich bestes und freundlichstes Lächeln zum besten gibt, beginnt die Situation, mich langsam zu amüsieren.

„Sag mal“, frage ich unseren Neuankömmling, als der Kellner gegangen ist, „Du bist öfter hier, kann das sein?“ Mein Gegenüber grinst frech und zeigt mir eine Reihe strahlend weißer Zähne. „Ab und zu“, erwidert er. „Warum Ryan, ich meine die Saftschubse, mich so anhimmelt, weiß ich selber nicht. Wahrscheinlich findet er mich scharf. Sein Problem“, winkt er ab. „Ich bin übrigens Ben.“ Ben. Cooler Name. Passt zu ihm, finde ich. „Marc“, stelle ich mich vor und deute nach hinten. „Und das ist Felix, ein guter Freund.“ Ich nehme an, daß Felix genickt hat, oder so, ich kann es zwar nicht sehen, aber so unhöflich ist er nicht. „Hi“, sagt Ben und lächelt uns an, nimmt einen Schluck von seiner Cola. „Ihr seid nicht aus Hamburg, oder?“, fragt er. „Nein. Wir kommen aus Frankfurt und machen Urlaub“, entgegnet Felix mit seiner leisen, leicht spöttisch klingenden Stimme, um gleich die nächste Frage vorweg zu nehmen. „Aus Frankfurt am Main, nehme ich an“, schlussfolgert Ben. Ich nicke. „Brandenburger sprechen meist anders... eher berlinerisch geprägtes Hochdeutsch. Icke und so, vastehste?“, füge ich hinzu, um zu demonstrieren, daß ich seinen Gedankengang verstanden habe. Ben lächelt, senkt den Kopf, aber seine Augen sagen mir, daß er sich kein bisschen schämt, sondern darüber hinaus ein ganz durchtriebenes Miststück ist.

„Du bist aus Hamburg?“, nimmt Felix mir das Wort aus dem Mund. „Ja“, Ben nickt und strahlt Felix an, als würde soeben die Sonne aufgehen. „Vielleicht kannst Du uns ja ein paar Tipps geben, wohin wir heute noch gehen könnten, um die Szene kennenzulernen.“ Ben nickt langsam. „Kommt drauf an, worauf Ihr so steht, Jungs. Es gibt alles, von Lederläden über Stricherbars bis hin zu „normalen“ Kneipen und Cafés. Was hättet Ihr gerne?“, fragt Ben völlig unverfroren und mustert uns dabei ausgiebig. Dabei fällt mir auf, daß diese gnadenlose Coolness in Verbindung mit der plötzlich zur Schau gestellten Distanzlosigkeit irgendwie seltsam ist. Ich meine, als er zu uns an den Tisch kam, schien er schüchtern und zurückhaltend, und jetzt plötzlich fragt er uns, worauf wir stehen, und das, ohne mit der Wimper zu zucken. In Ordnung, er sieht gut aus, und er weiß das, da bin ich mir sicher. Außerdem ist er so angezogen, daß man das gar nicht übersehen kann. Wie gesagt, irgendwas ist seltsam an ihm, und das, obwohl meine Intuition mir sagt, daß er als Mensch, als Person, absolut stimmig ist. Ich würde auch sicher herausfinden, was das ist. Die Frage ist nur, ob das für eine kurze Zufallsbekanntschaft überhaupt notwendig ist. „Also, mir wäre ein ganz normales Lokal am liebsten, in dem man sowohl ausgelassen feiern kann, oder aber sich einfach nur still und heimlich in eine Ecke verkrümeln kann. Eins, in dem man an der Theke mitten im prallen Leben sitzen kann, aber in dem man sich genauso gut unterhalten kann. Dazu noch ein gemischtes Publikum aller Altersklassen, nette Musik und aufgeschlossene Gäste. Die typische Stammkneipe halt“, schlage ich vor, weil ich mir nicht vorstellen kann, mit Felix in eine Lederbar oder einen Stricherladen zu gehen. „Da gibts immer noch ne Menge. Ist Euch mehr nach Kneipe oder nach Darkroom?“, fragt uns unser Gegenüber unverblümt. „Nach Kneipe“, erwidert Felix an meiner Statt.„Okay“, grinst Ben. „Also, ich geh nachher noch ins ‘Manuels’. Sind zwar auch ein paar Jungs da, die ihr Geld dort verdienen, aber die sind sehr unauffällig. Ihr könnt ja gleich mitkommen, wenns Euch nicht stört, daß wir zu dritt wahrscheinlich dauernd angegafft werden“, schlägt er uns vor. Angegafft worden sind wir heute abend schon genug, aber scheinbar ist das in der schwulen Szene so. Und dieser Ben ist auf jeden Fall ein netter angenehmer Mensch, und er sieht auch nicht so aus, als würde er uns bei passender Gelegenheit das Portemonnaie aus der Tasche ziehen. Das wäre nicht sein Stil, stelle ich bei einem kurzen Blick über seine Kleidung fest. Er ist gepflegt, scheint auf seinen Körper zu achten, was gegen den Konsum härterer Drogen spricht, und er kann sich benehmen, so viel steht schon mal fest. Er weiß, was sich gehört. Schließlich hat er gefragt, ob der Platz bei uns noch frei sei, anstatt sich einfach hinzusetzen, wie die meisten Menschen seines Alters es einfach getan hätten. Ich habe genug mit Heranwachsenden zu tun. Sie kommen in mein Büro, meistens in Begleitung ihrer Verteidiger, und lassen sich einfach auf die Stühle fallen, ohne meine einladende Handbewegung oder ein „Setzen Sie sich doch“ abzuwarten. Er würde das nicht tun, mal abgesehen davon, daß ich glaube, daß er niemals in die Situation kommen würde, bei mir im Büro für irgend einen Mist zu Kreuze kriechen zu müssen.

„Was meinst Du?“, reißt Felix mich aus meinen Überlegungen.„Nichts dagegen“, erwidere ich und lächele Ben an, der zurücklächelt, wie vorhin scheu und gleichzeitig durchtrieben. Ich hoffe nur, er denkt nicht, daß ich etwas von ihm will. Habe ich ihn wirklich so angelächelt? Ich bin verwirrt, und diese Verwirrung steigt noch, als Felix dem Kellner winkt und uns „zum Kennenlernen“ eine Runde Erdbeer-Limes bestellt. Die beiden stoßen an, und dann zwinkert Felix mir zu. „Prost, mein Süßer“, raunt er mir zu, und dann trinken wir. Ein paar Runden später verlassen wir das „Blasa“ und machen uns auf den Fußweg von der Langen Reihe zum Hansaplatz, wo sich das „Manuels“ befindet. Ein paar enge schmale Treppenstufen nach unten, und schon sind wir mittendrin im Geschehen. Die Bar ist wie schlauchartig und hat rote Wände mit goldenen Leuchtern. Links ist eine Ausbuchtung, in der eine Sitzecke und ein paar Spielautomaten stehen, rechts die Theke mit Barhockern, und am Ende, ein Stück hinter der Tür zu den Toiletten, ist dann eine Spiegelwand mit fünf Sitzplätzen auf einer Bank davor. Und genau dorthin führt uns Ben, genauer gesagt in die rechte Ecke, in der Felix und ich uns an die Bar setzen, während Ben sich auf den Platz in der Mitte begibt und uns auffordernd anlächelt. Felix nickt anerkennend. „Gefällt mir, scheint ein guter Tip sein“, grinst er und Ben grinst zurück.

Impressum

Texte: Juan Santiago
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle, die unseren Freunden gut dienen - und für meinen Hasen Cardon!

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