Text Copyright © 2015 by Mira Bluhm
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Klara
Als der Vogel zum ersten Mal mit dem Flügel schlug, fiel das Licht aus. Bei dem Versuch, im Dunkeln in seinen Käfig zu fliegen, streifte er Klara mit einer Kralle am Kopf und riss ihr ein Büschel Haare aus.
»Verdammte Scheiße, schon wieder das Licht!« Klara holte das Handy aus ihrer Hosentasche, drückte ein paar Mal den Einschaltknopf und tastete sich im Schein des Displays die Treppe hinunter. »Oma! Der FI ist schon wieder rausgeflogen! Geh bitte in den Keller zum Sicherungskasten und schalt ihn wieder ein!«
»Wie geht‘s Rupert?«
»Der lebt! Oder so ähnlich ...«
»Was hast du gesagt, Klara Schätzchen?«
»Er lebt, Oma, er lebt!«
Die Sache mit dem Licht nervte. Wenn statt Omas Kakadu endlich Innocenz vor ihr auf dem Gartentisch lag, musste alles klappen. Es gab keine zweite Chance für den ersten Eindruck.
Sie seufzte, stieg die Treppe wieder hinauf und lauschte Ruperts panischem Flügelschlagen, als er in einen Dachbalken krachte, völlig orientierungslos einmal im Kreis flog und anschließend wieder in demselben Dachbalken landete. Die Glühbirne flackerte kurz, dann leuchtete sie stabil. Klaras Augen brauchten einen Moment, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Als Oma erfahren hatte, dass Hundert-Watt-Birnen verboten werden würden, hatte sie einen Vorrat angelegt, der für drei Leben reichte. Dem Umstand hatten sie es zu verdanken, dass eine einzelne russische Lampe genügte, um den Dachboden auszuleuchten.
Der Raum hatte den Charme kontrollierter Verwahrlosung. Der Estrich war so staubig, dass man seine Socken wegwerfen musste, wenn man den Fehler beging, hier ohne Schuhe rumzulaufen. Zwischen den Dachbalken hing die Dämmwolle in Fetzen herab und das Giebelfenster war so dreckig, dass es sich farblich nicht von den Betonziegeln unterschied. Aber der grüne Gartentisch, der neben dem Fenster stand, und auf dem ein in Leder gebundenes Buch aufgeschlagen lag, der Ohrensessel im 60er-Jahre-Design, in dem ein halber Pullover darauf wartete, von Oma fertiggestrickt zu werden, und die frisch eingestreute Voliere, die von einem der Balken hing, verrieten, dass der Raum genutzt wurde.
Klara liebte den Geruch von abgestandener Luft, modrigem Bauholz und Dämmwolle, der ihr schon im Flur entgegenschlug, wenn sie die ausziehbare Treppe nach unten klappte. Das war der Geruch von Freiheit. Hier oben war sie die Herrin über Leben und Tod und nichts und niemand, der oder das gestorben war, würde seine ewige Ruhe finden, wenn Klara etwas Anderes im Sinn hatte.
»Rupert, mein Lieber, du lebst!« Omas Stimme überschlug sich vor Freude, und sie klatschte begeistert in die Hände, während sie die Treppe hinauf eilte. »Letzten Herbst war er sechsundfünfzig Jahre alt. Ich habe ihn schon so lange, ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun sollte. Und sich in meinem Alter noch einen jungen Vogel anzuschaffen, wäre grob fahrlässig. Der überlebt mich um Jahrzehnte!«
»Rupert überlebt dich jetzt auch um Jahrzehnte, Oma. Und die Haltung von Zombies ist immer grob fahrlässig. Aber es freut mich, wenn ich dir was Gutes tun kann.«
Oma nahm ihr Gesicht in beide Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Du bist meine Lieblingsenkelin. Nicht so wie Paul, der ist zu nichts nütze. Vierundzwanzig, immer noch nicht verheiratet, und nur Computerspiele im Kopf. Das Zeug macht die Leute doch verrückt.«
»So verrückt find ich‘s gar nicht, ein Geschäft für gebrauchte Computerspiele aufzumachen. Wenn ich mir das Haus anschaue, das er sich unlängst hat bauen lassen, würde ich schätzen, dass er ganz gut verdient.«
»Ist doch egal, was er damit verdient. Du hast eine Gabe, Klara, die kann man mit Geld nicht aufwiegen.« Sie warf einen Blick die Treppe hinunter, wo ein dreibeiniger Hund mit kahlen Stellen ungeduldig auf und ab lief und sich mit der grüngefleckten Zunge über die Nase leckte. »Was würde ich nur ohne Wasti und Rupert machen. Klara, die Leute werden dir die Tür einrennen und dir alles dafür bezahlen, dass du ihre Haustiere wieder lebendig machst.«
»Es geht mir nicht ums Geld, Oma. Ich will den Menschen helfen. Aber dazu brauche ich eine ordentliche Ausbildung.«
»Die kriegst du, mein Spatz. Ich hab die Rücksitze aus dem Auto genommen und Schaufeln, Spitzhacken, Butterbrote und Thermoskannen mit leckerem Früchtetee eingepackt. Mit Honig, so wie du ihn magst. Der Herr Pfarrer ist im Wellnessurlaub. So eine gute Gelegenheit, unbemerkt auf dem Friedhof zu werken, bekommen wir so schnell nicht wieder.«
Klara
Klara lehnte sich gegen einen Grabstein und nippte an ihrem Tee. »Und du bist dir ganz sicher, dass der da drunter liegt?«
»Hundertprozentig. Normalerweise werden die Gräber nach dreißig Jahren aufgelassen und neu vergeben, außer, es gibt noch Hinterbliebene, die weiter dafür bezahlen. Aber das Grab vom Innocenz von Berghoff wollte niemand haben. Der Pfarrer konnte es voriges Jahr an einen zugezogenen Wiener verkaufen. Wie‘s der Teufel haben wollte, ist der ein paar Wochen später gestorben. Herzinfarkt, wenn ich mich richtig erinnere. Das wünscht man keinem, aber für den Friedhof ist es gut. Seine Frau pflegt das Grab schön, jetzt ist die Lücke weg. Die hat herausgestochen, obwohl der Totengräber regelmäßig den Grabstein abgespritzt und den Rasen gemäht hat.«
»Ahja.« Klara betrachtete die Stiefmütterchen, die sorgfältig in drei Reihen auf dem Grab gepflanzt waren. »Und du bist dir wirklich ganz sicher? Wir nehmen jetzt das Grab von dem armen Mann auseinander? Das seine arme Witwe so liebevoll hergerichtet hat?«
»Na, jetzt oder nie. So schnell haben wir die Gelegenheit nicht wieder.«
Klara zuckte mit den Achseln, trank ihren Tee aus, stellte den leeren Becher auf einen benachbarten Grabstein und fing damit an, die Stiefmütterchen vorsichtig auszugraben und zur Seite zu legen. Nachdem sie damit fertig war, nahm sie den Spaten und schaufelte die Blumenerde in die schmalen Lücken zwischen den Gräbern.
Zu Anfang passte sie gut auf die Blumen und die anderen Gräber auf, und versuchte, die Kollateralschäden so gering wie möglich zu halten. Allerdings nur, bis die Blumenerde abgetragen war und Klara mit ihrem Spaten den ersten Stein traf. In der Erwartung, in weichen Humus zu stechen, hatte sie die Schaufel viel zu fest in die Erde getrieben und die Vibrationen des Metallblattes, das auf Stein knallte, setzten sich bis in ihre Schulter fort. Ab da wurde das Graben zur Qual; der Boden war steinig, teils klumpig, teils bröselig, und pappte fester zusammen als Omas Semmelknödel. Klara wurde immer ungeduldiger und achtete nicht mehr darauf, wohin sie die Erde warf, Hauptsache, runter von Innocenz.
»Sag mal, wie tief ist das denn noch?«
»Eineinhalb Meter bestimmt. Bis zum ersten Sarg.« Oma nahm ihr die Schaufel aus der Hand und reichte ihr stattdessen die Spitzhacke. »Nimm die hier, lockere damit die oberen zwanzig bis vierzig Zentimeter auf, und dann trag sie mit der Schaufel ab. Das geht doch gleich viel besser.«
Oma hatte recht. Das ging tatsächlich besser. Es war immer noch mühsam und schweißtreibend, aber Klara hatte endlich wieder das Gefühl, dass sie an Tiefe gewann. Als sie Holz unter dem Schlag ihrer Spitzhacke bersten hörte, überkam sie ein Triumphgefühl, das man nur nach erfolgreicher Verrichtung körperlicher Arbeit verspürte.
»Oma, reichst du mir mal das Abschleppseil? Ich lege die Griffe links und rechts frei, knote das Seil an und du ziehst den Sarg vorsichtig mit dem Auto raus.«
»Ich kann den nicht einfach so aus dem Loch ziehen, dazu musst du hier vorne noch graben und den Rand abschrägen, damit wir eine Rampe bekommen.«
Klara wischte sich den Schweiß aus der Stirn, seufzte und grub weiter. »Mir tut jetzt schon alles weh; morgen werde ich so schlimmen Muskelkater haben, dass ich nicht mal meine Kaffeetasse heben kann.«
»Morgen wirst du so damit beschäftigt sein, mit Innocenz über Nekromantie zu debattieren, dass du von deinem Muskelkater gar nichts merken wirst. Wie lange ist es jetzt her, dass du das Buch gefunden hast?«
»Vier Jahre.«
»Ich weiß noch, als ich dich mit dem Maulwurf erwischt habe.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7706-1
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