Text Copyright © 2015 by Mira Bluhm
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Lektorat: Rebecca Marcelle Jung
Cover Design by Christa Holland, www.paperandsage.com
May legte das Paket neben sich auf den Boden. Das Seidenpapier klebte an ihren nassgeschwitzten Fingern. Während sie sich die Schuhe mit beiden Händen von den Füßen zog, bemerkte sie, dass das Papier blasse Blümchen und Marienkäfer auf ihre Handflächen gestempelt hatte.
»Mary-Sue, bist du zu Hause?«
May zuckte. Wenn ihre Mutter sie mit ihrem vollen Namen rief, bedeutete das nichts Gutes. Sie wollte den letzten Abend in der alten Wohnung für sich, aber Mama stresste schon seit Wochen und ließ ihr keine Zeit, die Flut schlechter Nachrichten zu verdauen.
Mama streckte ihren Kopf aus der Tür zu dem, was bis gestern ihre Küche gewesen war. »Du hättest schon vor einer Stunde zu Hause sein sollen. Wir haben viel zu tun. Morgen um 10 müssen wir dem Vermieter den Schlüssel übergeben, bis dahin muss die Wohnung leer sein. Sieh zu, dass du ins Bett kommst, sonst schaffen wir das nie rechtzeitig.«
»Wir haben nichts mehr auszuräumen. Es ist doch schon alles weg.«
Mama zog eine Augenbraue hoch. »Dann willst du in Zukunft also in einem Bett ohne Matratze schlafen und dir die Zähne mit dem Finger putzen?« Sie stupste mit den Zehen eine Kiste an, die im Flur an der Wand stand. »Über die DVDs und deinen mp3-Player freuen sich die Nachmieter bestimmt.«
»Mehr als über meine Zahnbürste.« May hob das Geschenk auf und verschwand in ihrem Zimmer.
Es war seltsam, hier zu sein. Die Wohnung, die ihr ganzes Leben ihr Zuhause gewesen war, war fremd geworden. Jedes Geräusch hallte wie in einer Tropfsteinhöhle und die Möbel hatten weiße und braune Kratzer in den türkisen Wänden hinterlassen. Wo das weiße Himmelbett mit dem Bettkasten voller Tagebücher und alter Bravo-Zeitschriften gestanden hatte, lag nur noch die nackte Matratze auf dem Boden. Mit einem Schlafsack darauf, damit die Bettwäsche sauber war, wenn sie in der neuen Wohnung ankamen.
Unter dem Fenster standen noch zwei Umzugskartons aufgereiht, und daneben eine quadratische Box aus Holzimitat, die mit dem Union Jack bemalt war. Die hatte Papa ihr von einer London-Reise mitgebracht. Später hatte sie herausgefunden, dass er sie gar nicht in London gekauft hatte, sondern in einem Möbelhaus am Stadtrand, weil er vergessen hatte, in London etwas zu besorgen. Sie mochte sie trotzdem, weil sie wusste, dass Papa sich damit Mühe gegeben hatte.
Sie ging hinüber, setzte sich auf den Boden und öffnete den Deckel. Hier bewahrte sie alle Dinge auf, die Mama nicht mehr wollte. Die Fotos von ihrem letzten gemeinsamen Urlaub, bevor Papa gesagt hatte, dass er sich scheiden lassen wollte. Die Karte, die er ihr aus Spanien geschickt hatte, nachdem er dorthin gezogen war, um bei seiner neuen Freundin zu leben. Die Fotos von seinem neuen Haus und seinem Hund. Aber auch das letzte Klassenfoto und die Collage, die ihre Mitschüler für sie gebastelt hatten, als sie erfahren hatten, dass May umziehen musste.
In der Mitte der Collage hatte Holly ein Herz auf das regenbogenfarbige Papier gemalt, in das sie ein Foto von ihnen beiden geklebt hatte. Als May das Herz mit dem Finger nachzeichnete, spürte sie, wie ihre Augen zu brennen anfingen. Sie rollte die Collage vorsichtig zusammen und legte sie zu den restlichen Erinnerungsstücken in die Kiste. Dann klappte sie den Deckel zu und nahm sich vor, die Box morgen bei sich auf dem Beifahrersitz zu behalten, damit sie beim Umzug nicht verloren ging.
Sie drehte das Licht ab, schaltete die Taschenlampe an ihrem Handy ein, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und machte es sich im Schlafsack bequem, so gut es ging. Dann öffnete sie vorsichtig das Päckchen, das Holly ihr zum Abschied geschenkt hatte. Ein rosaroter Aktenordner kam zum Vorschein. Auf die Innenseite hatte Holly im Graffitistil »Für May« gemalt.
Holly hatte ihr schon von dem Manuskript erzählt, das sie geschrieben hatte, aber nie erlaubt, dass sie es las. Holly meinte, sie könnte es lesen, wenn es fertig war. May war enttäuscht gewesen, dass es nicht vor ihrem Umzug fertig geworden war. Nun hatte Holly es doch noch geschafft.
In dem Moment wurde May klar, dass sie ihre beste Freundin für lange Zeit nicht mehr wiedersehen würde. Zum ersten Mal, seit sie von der Scheidung ihrer Eltern erfahren hatte, kullerte ihr eine Träne übers Gesicht. Sie wischte sie weg und begann im Licht der Taschenlampe zu lesen.
»Wir können es uns nicht leisten, dich durchzufüttern.« Tante Elisabeth sah sie streng über ihren Teller hinweg an, und Raven spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte. Sie legte die Gabel neben den Teller und wischte sich den Mund ab, obwohl sie gerade erst angefangen hatte, zu essen.
»Wir wissen, dass dir die Nachricht über den Tod deines Vaters schwer zugesetzt hat, Liebes«, fuhr Onkel Nigel fort und klang dabei, als würde er mit einem kleinen Kind reden, »aber wir leben in schweren Zeiten und dein Papa ist nicht der einzige, der sein Leben für das Vaterland lassen musste. Die Geschäfte laufen schlecht in diesen Tagen.«
Sie hatte gewusst, dass das passieren würde. Seit ihre Mutter vor drei Jahren im Kindbett gestorben war, hatte sie gewusst, dass Onkel Nigel und Tante Elisabeth versuchen würden, sie loszuwerden, sollte ihr Vater nicht aus dem Krieg heimkehren. Sie hatte gehofft, dass er eines Tages aus dem Zug steigen, sie in die Arme nehmen und mit ihr ein neues Leben anfangen würde. Oder dass die Nachricht seines Todes erst eintraf, nachdem sie volljährig geworden war.
Seit der Postbote ihr am Montagvormittag gesagt hatte, es läge ein Brief für sie bereit, den sie selbst in der Poststelle abholen sollte, wartete sie auf diesen Moment. Den Moment, in dem ihr Onkel und ihre Tante ihr eröffneten, was sie nun mit ihr vorhatten.
Es schien, als hätten sie selbst nicht mit solch einer Nachricht gerechnet. Diese lag schon einige Tage zurück. Offenbar hatten Onkel Nigel und Tante Elisabeth Zeit gebraucht, um zu überlegen, was geschehen sollte. Heute war also der Tag gekommen, an dem sie es verkündeten.
»Wir wollen, dass du eine gute Erziehung erhältst«, fuhr Onkel Nigel fort, als hätte er diese Rede einstudiert. »Deswegen haben wir entschieden, dich in eine katholische Einrichtung für verwaiste Mädchen zu bringen. Dort bekommst du die Zuwendung und Fürsorge, die du in deiner Situation so dringend benötigst.«
Raven starrte auf das trockene Fleisch und das Kürbisgemüse, das unberührt auf ihrem Teller lag. »Ihr wollt mich ins Waisenhaus stecken.«
Tante Elisabeth ließ das Besteck auf ihren Teller fallen und warf die Serviette obenauf. »Es ist zu deinem eigenen Besten.«
Raven starrte immer noch auf ihren Teller, dann nickte sie und stand auf, um nach oben in ihr Zimmer zu gehen. Dabei warf sie keinen Blick zurück auf ihren Onkel und ihre Tante, denen ihre Mutter ihr einziges Kind anvertraut hatte. Ihre Mutter und ihre Tante mochten Schwestern sein, doch sie hatten nichts gemeinsam.
Sie schloss die Zimmertür hinter sich und nahm den braunen Koffer aus dem Kasten, mit dem sie vor drei Jahren hier angereist war. Sie öffnete ihn und zog den Reißverschluss im Innenfutter auf. Vorsichtig fasste sie hinein, holte die Briefe und Bilder heraus und legte sie vor sich auf den Boden.
Das Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Ein Foto von ihr und ihren Eltern bei der Weltausstellung. Ein Foto von ihrem Vater in Uniform. Drei Briefe, die ihr Vater ihr aus dem Krieg geschickt hatte. Eine gepresste Blume auf einem Zettel mit einem selbstgeschriebenen Gedicht ihrer Mutter, das ihr diese nur wenige Wochen vor ihrem Tod geschenkt hatte.
Sie las die Briefe und das Gedicht, obwohl sie alles auswendig kannte, dann faltete sie alles sorgfältig zusammen und legte es wieder zurück in das Fach. Zum Schluss nahm sie den Teddybären vom Bett, den ihre Mutter für sie genäht hatte, und packte ihn gemeinsam mit zwei Kleidern, zwei Nachthemden und zwei paar Strümpfen in den Koffer. Für mehr hatte sie keinen Platz, aber sie hatte auch das unbestimmte Gefühl, dass sie nicht mehr brauchte.
May deutete auf den Teddybären. »Darf ich?« Als Raven nickte, nahm sie ihn vorsichtig in den Arm und strich über die feinen, gleichmäßigen Nähte. »Der ist wunderschön.«
»Danke. Hat meine Mutter selbst genäht.«
»Ich weiß.« Sie gab den Teddy an Raven zurück, die ihn sich auf den Schoß setzte wie ein kleines Kind. »Das Leben ist ungerecht, oder? Ich meine, dass deine Tante lebt, und deine Mutter und dein Vater ... Da wird man richtig wütend.«
Raven schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Wenn es draußen regnet und du dich ärgerst, wird davon das Wetter nicht besser. Es geht dir bloß schlechter, weil du dich geärgert hast.« Sie blinzelte die Tränen weg und nahm May in den Arm. »Nein, ich bin nicht wütend. Ich habe bloß Angst vor dem, was auf mich zukommt.«
»Hast du schon mal drüber nachgedacht, abzuhauen? Einfach aus dem Fenster klettern. Bis deine Tante und dein Onkel bemerken, dass du nicht mehr da bist, sitzt du längst im Zug.«
»Und was dann?«
»Dir einen Job suchen, eine Wohnung, alles hinter dir lassen und ein neues Leben anfangen.«
»Du denkst, das ist so einfach?«
»Nein. Aber wenn du es wirklich willst, packst du das schon.« May öffnete den Schrank und legte warme Kleider, Wollstrümpfe und einen dicken Mantel auf das Bett. »Versuchen wir‘s?«
Raven schlug die Decke zurück, stand auf und zog die Sachen an, die May für sie bereitgelegt hatte. Dann nahm sie den gepackten Koffer. »Versuchen wir‘s. Aber es sind nicht nur meine Tante und mein Onkel, hier wohnt auch Personal. Wie schleichen wir uns raus?«
May nahm ihr den Koffer aus der Hand und warf ihn aus dem offenen Fenster, sodass er geräuschlos auf dem Rasen neben der Auffahrt landete. Dann kniete sie sich aufs Fensterbrett. »So, wie ich hereingekommen bin. Durchs Fenster.« Sie winkte Raven zu sich heran. »Die Fugen zwischen den Backsteinen sind so grob, dass du dich daran festhalten und hinunterklettern kannst. Keine Angst. Das ist ganz einfach.« Sie drehte sich mit dem Gesicht zur Mauer und begann den Abstieg. Dabei lächelte sie Raven aufmunternd zu. Erst als diese ebenfalls mit dem Gesicht zum Haus auf dem Fensterbrett kniete und mit dem linken Fuß halt suchend über die Backsteine fuhr, konzentrierte May sich auf ihren eigenen Abstieg.
Abgesehen davon, dass ihre Knöchel schmerzten und ihre Fingerkuppen aufgerieben waren, kamen sie heil unten an. Raven sah prüfend auf ihre Hände und May hielt ihre grinsend zum Vergleich daneben. Nachdem Raven ihren Koffer aufgehoben hatte, rannten sie die Auffahrt hinunter, bis sie außer Sichtweite waren.
Es war so dunkel, dass die Büsche am Straßenrand bedrohlich ihre langen Schatten auf die beiden Mädchen warfen. Weil sie sich fürchteten, hielten sie sich in der Mitte der Straße. Um diese Uhrzeit fuhren hier keine Autos. Immer wieder stolperten sie über die tiefen Schlaglöcher, die der Regen ausgespült hatte.
»Wohin gehen wir?«, fragte Raven, die so müde war, dass sie Mühe hatte, mit May Schritt zu halten.
»Zum Hafen. Wir müssen uns beeilen, um noch vor Sonnenaufgang dort zu sein.«
Der Weg in die Stadt schien sich ewig hinzuziehen. Als endlich die Lichter der Straßenlaternen vor ihnen auftauchten, seufzte May erleichtert auf. Ihre Füße schmerzten und als die asphaltierte Straße in das Stöckelpflaster der Innenstadt überging, brannten ihre Fußsohlen bei jedem Schritt. Es fühlte sich an, als wären ihre Schuhe voller Salz, das ihr langsam die Haut von den Knochen scheuerte.
Bald konnten sie das Meer riechen. Nur wenig später schälten sich die Umrisse der großen Frachtschiffe aus der Dunkelheit. May steuerte direkt auf die Parkbank zu, die etwas abseits auf der Promenade stand. Der Lichtkegel der nächstgelegenen Straßenlaterne reichte gerade weit genug, um schemenhaft den Mann erkennen zu lassen, der auf der Bank saß und nervös Steine ins Wasser warf.
»Aber das ist ... Unmöglich.« Raven ging auf den Mann zu und blieb vor ihm stehen. »Papa?«
»Gottseidank!« Er sprang auf, umarmte Raven und gab ihr einen Kuss. »Tante Elisabeth hat mich nicht zu dir gelassen. Ich wollte es morgen nochmal versuchen, aber jetzt bist du ja hier.«
May lächelte, drehte sie sich um und verschwand.
»Zieh dir andere Schuhe an.«
May stellte ihre Füße enger zusammen, um die Löcher an den Innenseiten ihrer Chucks zu verbergen. »Ich hab keine Anderen.«
»Du hast eine ganze Schachtel voller Schuhe. Die muss hier irgendwo sein.« Mama bog die Deckel einiger Kartons zurück, die im Flur an den Wänden aufgereiht standen, und warf in jeden einen prüfenden Blick. »Vielleicht in deinem Zimmer.«
»Nein, die Kartons in meinem Zimmer hab ich schon alle aufgemacht. Da waren sie nicht drin.«
Mama ging trotzdem in Mays Zimmer, um das zu überprüfen. Sie vertraute ihr nicht, aber diesmal hatte May nicht gelogen. Die Schuhe waren nicht da.
»Dazu haben wir jetzt keine Zeit, Mama. Wir müssen los.«
Mama schnappte sich den Autoschlüssel, der ganz oben auf einem Stapel Kartons lag, und öffnete hastig die Tür, um May vor sich her ins Treppenhaus zu schieben. »Wo willst du das alles einräumen? Du hast zu viel Zeug. Beim Auspacken siehst du gleich durch, was du wegwerfen kannst.«
May rannte die Stufen hinunter und joggte über den Parkplatz. »Dann müssen wir eben einen Teil in den Keller räumen.«
Sie setzten sich ins Auto. Mama startete den Motor und bog mit einem halsbrecherischen Manöver auf die Straße, bevor sie May einen mitleidigen Blick zuwarf.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.01.2015
ISBN: 978-3-7368-7189-2
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