Mira Bluhm
Totenstille
und andere Kurzgeschichten
Text Copyright © 2014 by Mira Bluhm
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Inhaltsverzeichnis
Ficus Benjamini Vita 4
Totenstille 13
Der Hochzeitstag 28
Schwebezustand 32
»Du bist zu groß geworden für unsere Wohnung. Man hatte uns erzählt, dass du nicht höher als einen Meter fünfzig werden würdest. Sieh dich an. Du konntest seit Monaten deine Äste nicht mehr ausstrecken und reißt dir ständig die Blätter an den Möbeln ab.« Er ließ die Zweige nach unten hängen und schüttelte sich, als wollte er mir widersprechen. »In der Gärtnerei hast du genug Platz und kannst mit anderen Lebendpflanzen spielen. Dort hast du es besser als hier.«
Ruth warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu, doch meine Entscheidung stand fest. Als wir Benjamin, einen Ficus Benjamini Vita, vor fünf Jahren gekauft hatten, waren Lebendpflanzen in Europa gerade legalisiert worden. Wir waren begeistert von der Idee, eine Pflanze als Haustier zu halten, allerdings war die Haltung von Benjamin schwieriger, als wir sie uns vorgestellt hatten. Es reichte nicht, ihn regelmäßig zu gießen, zu streicheln und mit ihm Gassi zu gehen. Er war eifersüchtig, wenn wir etwas ohne ihn unternahmen, und wenn er nicht genug Aufmerksamkeit bekam, wurde er aggressiv. Erst richtete sich seine Aggressivität nur gegen unsere normalen Zimmerpflanzen. Er warf sie vom Fensterbrett, zertrümmerte ihre Töpfe, verteilte die Erde auf dem Boden und rieb sie in die Teppiche. Später griff er auch Ruth und mich an. Er prügelte auf uns ein, sodass seine Zweige Striemen auf unseren Armen und Beinen hinterließen. Nun war er über zwei Meter hoch und wir hatten Angst. Als wir im Radio hörten, dass immer mehr Leute ihre Lebendpflanzen in die Gärtnereien zurückbrachten oder am Straßenrand aussetzten, beschlossen wir, auch Benjamin abzugeben. Trotz allem, was er uns angetan hatte, hatte Ruth Gewissensbisse. Aber wenn wir uns in unserem eigenen Zuhause wieder sicher fühlen wollten, musste ich die Sache durchziehen.
Ich schlang meine Arme um seinen Topf und trug ihn zum Auto. Ruth legte die hintere Sitzreihe um und ich schob Benjamin in den Kofferraum. Anstatt sich zu wehren, wie ich befürchtet hatte, ließ er ein paar Blätter fallen.
Ruth schlug den Kofferraumdeckel zu und zog mich am Arm zurück zum Hauseingang. »Thomas, denkst du wirklich, wir tun das Richtige? Wenn er kein Ficus Benjamini wäre, sondern ein Hund, würdest du ihn dann auch ins Tierheim bringen, wenn er nicht artig ist? Ich meine doch nur ... Früher hast du dich über Menschen beschwert, die sich Hunde anschaffen, nur um sie später wieder abzugeben. Ich habe das Gefühl, was wir hier tun, ist kein Stück besser. Schau doch, wie traurig Benjamin jetzt ist. Wir haben ihm gezeigt, dass sein Verhalten Konsequenzen hat, und wenn wir noch einmal vernünftig mit ihm reden und ihm erklären, dass er sich in Zukunft benehmen muss, bessert er sich vielleicht. Gib ihm noch eine Chance.«
»Nein. Wir haben ihm schon zu viele Chancen gegeben. Er wird immer größer. Wenn seine Äste noch dicker werden, bricht er uns bei seinem nächsten Wutanfall alle Knochen. Dass wir wieder ein ruhiges Leben führen können, ist wichtiger als die verletzten Gefühle einer Pflanze.«
Fest entschlossen, die Angelegenheit hinter mich zu bringen, stieg ich ins Auto und ließ den Motor an. Ruth setzte sich auf den Beifahrersitz, schlug die Tür zu und ließ den Sicherheitsgurt einrasten. Während der ganzen Fahrt betrachtete sie ihre Hände, mit denen sie sich abwechselnd die Oberschenkel und die Unterarme massierte. Benjamin stellte sich tot, und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich ihn für eine gewöhnliche Zimmerpflanze gehalten. Als wir in der Gärtnerei ankamen, rührte er sich noch immer nicht, und ließ sich ohne Gegenwehr in den Verkaufsraum tragen.
»Entschuldigen Sie bitte, wir möchten diesen Ficus Benjamini Vita zurückgeben. Er ist uns über den Kopf gewachsen, und wir wären sehr dankbar, wenn Sie ihn bei sich aufnehmen würden.«
Die Verkäuferin steckte die Schnittblumen, die sie gerade in der Hand hielt, in eine frische Vase, schritt langsam auf Benjamin zu und streichelte ihm mit gespreizten Fingern durch die Blätter, als wollte sie ihn kämmen. »Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, im Moment geben viele Menschen ihre Pflanzen bei uns ab. Erst heute Morgen war eine Frau mit ihrer fünfjährigen Tochter hier. Die Kleine war vollkommen aufgelöst. Ihre Venusfliegenfalle hatte ihren Hamster gefressen. Sie weinte und stammelte: ›Haustiere dürfen andere Haustiere nicht fressen, stimmt‘s, Mami?‹« Sie drehte sich um und deutete mit dem Finger auf das Glashaus. »Sehen Sie den Kaktus dort drüben? Der hätte seinem Besitzer beinahe das Auge ausgestochen.
Wenn man mit seiner Pflanze nicht mehr zurechtkommt, ist es besser, sie abzugeben, bevor jemand ernstlich verletzt wird. Unser Personal bekommt eine spezielle Schulung und Ihr kleiner Liebling wird hier gut versorgt. Sie haben alles richtig gemacht.«
Ruth entspannte sich ein wenig, presste aber zur Sicherheit missbilligend die Lippen aufeinander.
»Seien Sie vorsichtig, er ist aggressiv und schlägt mit seinen Ästen um sich.« Ich zog einen Zwanzigeuroschein aus der Tasche und presste ihn der Verkäuferin in die Hand. »Haben Sie vielen Dank. Meiner Frau setzt der Abschied von Benjamin trotz allem zu und wir sind froh, ihn in guten Händen zu wissen.«
Ruth redete den restlichen Nachmittag nicht mit mir. Weil ich keine Lust hatte, die Diskussion von Neuem anzufachen, ließ ich sie schmollen. Bis sie am Abend auf der Couch in Tränen ausbrach.
»Weißt du noch, als wir Benjamin bekommen haben?« Sie beugte sich zum Beistelltisch vor und zog ein Taschentuch aus der Box, in das sie sich mehrmals schnäuzte, bevor sie es zwischen ihren Fingern rollte. »Er war so niedlich. Jeden Abend, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, wartete er schon an der Tür auf mich. Er schmiegte sich an meine Beine und wich mir nicht mehr von der Seite, bis wir mit ihm in den Park gingen. Anschließend war er immer so müde, dass er sofort einschlief.«
Ich legte meinen Arm um sie und streichelte ihr durchs Haar. »Natürlich weiß ich das noch, mein Schatz. Aber du weißt doch auch, dass die Situation in letzter Zeit untragbar geworden ist, oder?«
Sie nickte und schnäuzte sich noch einmal in das zerfledderte Taschentuch. »Ich weiß, wir hätten ihn nicht behalten können. Ein Ficus Benjamini ist kein Haustier.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2014
ISBN: 978-3-7309-9110-7
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