Wolfram Jakob & Sabine Nies
Intuition
Sarah Konstein - 1. Fall
Donnerstag gegen 13.00 Uhr
Vielleicht war es ganz gut, dass ihr jetzt auch noch der Bus genau vor der Nase weggefahren war. Der Fußmarsch nach Hause würde das überschüssige Adrenalin abbauen, und das hatte sie bitternötig. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so wütend gewesen war. Diese Ungerechtigkeit hatte sie tief verletzt. Wie konnte diese Frau es wagen, so mit ihr zu reden?
Entschlossen wandte Martina Leipolz dem Gebäude der rechtswissenschaftlichen Fakultät den Rücken zu und machte sich auf den Heimweg.
Es war ein strahlender Sonnentag und ungewöhnlich warm für Mitte März. Die Außentische der Cafés waren gut besetzt, in der Fußgängerzone drängten sich die Menschen. Vielleicht sollte sie sich auch einfach eine Auszeit gönnen und bei einem großen Eisbecher versuchen, sich wieder zu beruhigen. Aber sie hatte noch so viel zu tun.
Es war schon fast halb drei, und eigentlich hatte sie schon um ein Uhr die Uni verlassen wollen. Aber dann hatte sich die Vergabe der Hausarbeitsthemen ewig hingezogen, und wieder war ihr von Frau Professor Diebig das langweiligste und gleichzeitig arbeitsintensivste Thema zugeteilt worden. Und niemanden hatte es wirklich gewundert, dass die heiß begehrten Fallbearbeitungen ausschließlich hübsche, junge Männer bekommen hatten.
Eine Frau, die bekanntermaßen andere Frauen diskriminierte, eine Ungeheuerlichkeit! Und man konnte absolut nichts dagegen machen.
Martina hatte innerlich gekocht, und wider alle Vernunft war sie der Professorin in ihr Büro gefolgt, hatte sich beschwert und ein anderes Thema verlangt. Keine gute Idee so kurz vor dem Examen, sie wusste es, aber alles konnte sie sich doch nicht gefallen lassen! Aber auf das, was dann folgte, war sie nicht vorbereitet gewesen.
Frau Diebig war ganz ruhig geblieben, hatte lächelnd dagesessen und sah aus, als würde sie innerlich triumphieren.
„Frau Leipolz, sie glauben wohl, nur weil ihr Vater hier mal Dekan war, genießen Sie irgendwelche Vorrechte. Das können Sie bei mir ganz schnell vergessen. Sie sollten lernen, sich ein bisschen zurückzunehmen und nur durch ihre Leistung zu überzeugen. Das ist hier kein Wunschkonzert, sondern eine Universität!“
Bei dem Gedanken an die Szene traten Martina schon wieder die Tränen in die Augen, genau wie vorhin im Büro. Das Schlimmste war, dass sie es nicht geschafft hatte, nach außen hin kühl zu bleiben. Die Professorin hatte sie demütigen wollen, und das war ihr auch ganz hervorragend gelungen. Und leider hatte sie es durch Martinas Reaktionen auch bemerkt.
Dass ihr Vater im Kreis seiner Kollegen keine sonderliche Beliebtheit genossen hatte, konnte sie ja noch nachvollziehen. Seine oft überhebliche Art und seine Verachtung für alles, was er als Schwäche interpretierte, hatten ihr selbst oft genug das Leben schwer gemacht.
Sie war sogar froh gewesen, als ihre Eltern vor zwei Jahren weggezogen waren. Die zweihundert Kilometer, die nun räumlich zwischen ihnen lagen, schaffte ihr auch eine innere Distanz, die ihr gut tat und ihr erst bewusst machte, wie sehr sie unter der Bevormundung ihres Vaters gestanden hatte. Aber sie hatte aus seiner vormaligen Stellung an der Uni nie auch nur den geringsten Vorteil gezogen. Das hätte sie nie gewollt, und auch er hätte ihr das nie zugestanden.
Die Vorwürfe der Professorin waren total aus der Luft gegriffen, aber das zu wissen half auch nicht wirklich, es war trotzdem verletzend und ungerecht.
Aber gut, sie hatte keine große Wahl, sondern musste wohl oder übel die Demütigung schlucken. Sich zu beschweren war sinnlos, sie hätte nicht einmal gewusst, bei wem, und sie wollte eine gute Note auf die Hausarbeit.
Außerdem lag ein freies Wochenende vor ihr. Sie musste noch packen, dann würde sie sich gleich auf den Weg zu ihren Eltern begeben und die Uni bis zum Sonntag einfach hinter sich lassen. Ihre Mutter feierte am Samstag ihren 60. Geburtstag und Martina hatte versprochen, bei den Vorbereitungen für die große Party zu helfen. Die Abwechslung konnte ihr nicht gelegener kommen.
Als sie in die Straße einbog, an deren Ende der Wohnblock lag, in dem sie eine Zweizimmerwohnung hatte, stieß sie fast mit Lisa zusammen, die mit einer vollen Einkaufstüte aus dem türkischen Laden an der Ecke kam. Lisa wohnte im selben Haus und studierte ebenfalls Jura, aber das waren auch schon alle Gemeinsamkeiten, die Martina entdecken konnte.
Lisa war so unsicher und hatte so gar kein Selbstbewusstsein, sie machte sich ständig Sorgen um irgendwas, hatte tausend Ängste, die vollkommen irrational waren. Sie hatte im gemeinsamen Waschkeller des Hauses sogar einen Baseballschläger deponiert, um sich gegen einen eventuellen Angriff wehren zu können. Wer um alles in der Welt sollte ihr denn in einem Wäschekeller auflauern?
Und trotzdem hatte Martina immer wieder ein schlechtes Gewissen, weil sie auf die schüchternen Versuche von Lisa, sich mit ihr anzufreunden, nie einging und es deshalb stets bei einer lockeren Bekanntschaft geblieben war.
„Hi Martina, wie geht es dir denn? Ich habe dich die ganze Woche noch nicht gesehen.“ Lisa lächelte erfreut.
„Geht so, habe ziemlich Stress an der Uni. Und jetzt habe ich es auch echt eilig. Ich fahre heute Abend übers Wochenende zu meinen Eltern und muss vorher noch eine Menge erledigen. Und du, wie geht es dir? Du hast eingekauft, kochst du mal wieder für deinen Bruder?“
Das kam ja auch noch dazu, dieser komische Penner-Bruder von Lisa, der immer mal wieder auftauchte und verschwand. Sie wollte gar nicht wissen, in was für krumme Angelegenheiten der verwickelt war, was Anständiges hatte der wahrscheinlich noch nie auf die Reihe gebracht. Aber Lisa schien unglaublich an ihm zu hängen und sich sogar noch zu freuen, wenn er mal wieder vor ihrer Tür stand, sich bekochen und bedienen ließ und seine Schwester nach Strich und Faden ausnutzte.
„Nein, ich habe Tobi schon länger nicht mehr gesehen. Sein Handy ist kaputt, weißt du, da erreiche ich ihn nicht und er kann mich auch nicht anrufen.“
Klar, als würde der sich bei ihr melden, wenn er nicht dringend Geld oder sonst was brauchen würde.
Gemeinsam gingen die beiden die Straße entlang. Martina spürte, wie sie langsam hungrig wurde. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen.
„Sollen wir noch einen Kaffee trinken, bevor du fährst?“
Die Frage von Lisa hörte sich so an, als würde sie schon mit einer Absage rechnen. Martina packte wieder das schlechte Gewissen.
„Ja, warum nicht. Laß uns doch gleich rüber zum Kiosk gehen. Ich wollte mir sowieso noch ein Stück Pizza holen.“
„Ach nein, da lieber nicht. Da lungern die ganze Zeit so komische Männer rum, und immer, wenn ich vorbeigehe, brüllen sie mir irgendwelche blöden Sprüche hinterher. Eigentlich mache ich immer einen großen Bogen um das Kiosk, wenn ich ehrlich sein soll.“
Klar, das war typisch Lisa. Die waren doch harmlos, wenn man sie einfach ignorierte, hörten sie gleich auf. Und die Kioskbesitzerin war wirklich nett. Aber gut, verstehen konnte sie Lisa schon.
„Ja, okay, mich nerven sie auch manchmal, aber so schlimm finde ich sie auch wieder nicht. Du Lisa, lass uns nächste Woche in der Stadt einen Kaffee trinken. Heute wird mir das zu knapp. Ist das in Ordnung?“
„Natürlich, kein Problem. Ich muss sowieso noch lernen.“ Martina konnte die Enttäuschung auf Lisas Gesicht sehen. Aber sie hatte jetzt wirklich keine Zeit mehr, noch mal zurück in die Stadt zu laufen.
„Du, ich melde mich Montag oder Dienstag. Du kannst natürlich auch anrufen, du hast ja meine Nummer.“
„Ja, bis dann.“
Lisa hob kurz die Hand und lief weiter auf das Haus zu. Martina überquerte die Straße und stellte sich beim Kiosk an, fest entschlossen, sich in der nächsten Woche wirklich mit Lisa zu treffen.
Donnerstagnachmittag
„So. Das war`s. Erledigt.“
Endlich hatte Sarah ihren Bericht fertig gestellt und drückte Strg und P, um den Drucker in Gang zu setzen. Das Verfassen der Dokumentation fiel ihr immer noch schwer. Ihre Lieblingsbeschäftigung würde es nie werden, aber es gehörte nun mal dazu. Jetzt hatte sie es geschafft.
Sie streckte ihren schlanken, gut trainierten Körper, während der Drucker ratterte. Die Büroarbeit und das damit verbundene Sitzen am Schreibtisch behagte ihr gar nicht. Viel lieber war sie unterwegs und bewegte sich. Sie freute sich auf den baldigen Feierabend. Dann wollte sie das schöne Wetter nutzen. Seit einer Woche lag kein Schnee mehr und die Märzsonne zog sie nach draußen zum Joggen. Gerade, als sie den fertigen Bericht auf den Schreibtisch ihres Vorgesetzten legte, betrat dieser das Büro.
„Na? Fleißig gewesen?“
Georg Leitinger nahm ihr die Papiere aus der Hand und überflog sie.
„Hm. Dann ist dieser Fall ja auch abgeschlossen.“
Er nickte Sarah, die ihn um fast einen Kopf überragte, zu.
„Sehr gut.“
„Dann könnten wir ja mal pünktlich Feierabend machen?“, fragte Sarah vorsichtig.
In der letzten Woche arbeiteten sie stets bis tief in die Nachtstunden. Stundenlanges Sitzen im Auto bei den endlosen Überwachungen strengten sie schon deshalb an, weil sie Probleme hatte, ihre langen Beine bequem unter zu bringen.
„Hm. Von mir aus“, brummelte ihr Chef.
„Hauen Sie schon ab. Den Bericht kann auch ich zur Staatsanwaltschaft bringen.“
„Oh super“, freute sich Sarah.
„Dann bin ich jetzt weg. Schönen Feierabend.“, schnappte sich ihre Jacke von der Stuhllehne und verließ das Büro.
Leitinger sah vom Fenster aus in den Hof und beobachtete wie Sarah sich auf ihr Rad schwang und davon radelte. Ihm gefiel die junge Kollegin, die mit ihrer frischen und offenen Art neuen Schwung in seine Abteilung gebracht hatte. Stets war sie gutgelaunt, hatte für jeden ein freundliches Wort. Selbst ihm hatte sie schon öfters ein Schmunzeln entlockt. Eine ganze Weile noch stand er am Fenster und schaute in die Landschaft. Er verspürte keine Lust auf zu Hause. Was sollte er auch da? Seit der Scheidung vor zehn Jahren, fühlte er sich in seiner Wohnung nicht mehr wohl. Er schaffte es einfach nicht, so etwas wie Gemütlichkeit zu erschaffen. Etwas, was Gerda ohne jegliche Anstrengung gelang. Irgendwie konnte er sie ja verstehen. Abgesehen von den unregelmäßigen Dienstzeiten war sie in dauernder Sorge um seine Gesundheit, besser gesagt um sein Leben gewesen.
Als er vor zehn Jahren zum zweiten Mal angeschossen worden war und tagelang auf der Intensivstation gelegen hatte, traf Gerda eine Entscheidung. Sie hatte seine Gesundung abgewartet und gehofft, dass Georg kürzer treten und sich für den Innendienst einteilen lassen würde. Aber er muste ja unbedingt wieder in seine alte Stellung zurück. Immer ganz vorne dran dabei sein.
Sie hatte ihm die Pistole auf die Brust gesetzt, ihm gesagt: „Unsere Ehe oder dein Dienst.“ So richtig ernst hatte er dies nicht genommen, war sofort wieder in einen neuen Fall verstrickt. Dann kam er eines Abends nach Hause und seine Frau war ausgezogen. Einfach weg. Auf den Küchentisch war ein Zettel gelegen: „Du weißt warum!“ Es sich so angefühlt, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. In Wahrheit hatte er Gerdas Auszug bis heute nicht verarbeitet.
Zwar wusste er im Grunde, dass es das Beste sei, wenn er sich Hilfe, Unterstützung suchen würde, aber dazu fand er nie die Zeit, verschob es immer wieder. Am Liebsten war es ihm, wenn er einen kniffeligen Fall zu lösen hatte. Da ging er dann völlig drin auf und plagte sich nicht mit diesen quälenden Gedanken und Selbstvorwürfen herum.
Mit Grauen dachte er daran, dass es nur noch ein paar Jahre dauerte, bis seine Pensionierung anstand. Er hatte schon überlegt, dann als Sicherheitschef einer Firma zu arbeiten oder gar eine Detektei auf zu betreiben. Irgendeine Aufgabe wollte er auch dann noch haben.
Den Film, der vor seinem inneren Auge zum wiederholten Male aufstieg, in dem er sich als Kunden bespitzelnden Kaufhausdetektiv sah, verscheuchte er wieder einmal.
Na ja, bis dahin würde ihm schon noch was einfallen, hoffte er. Er schob die Gedanken beiseite und begab sich ebenfalls auf den Heimweg.
Donnerstagnacht, 1 Uhr
Auf diesen Tag hätte sie getrost verzichten können. Als hätte das Gespräch mit der Professorin nicht schon gereicht, aber nein, der Nachmittag war genauso furchtbar weitergegangen. Jetzt war es ein Uhr nachts.
Martina stand im Wäschekeller ihres Wohnblocks und legte die letzte Ladung Wäsche aus dem Trockner zusammen. Wenigstens musste sie um diese Zeit keinen Smalltalk mit den Nachbarinnen halten, und die Geräusche von Waschmaschine und Wäschetrockner störten niemanden, denn ihre eigene Wohnung lag genau über dem Kellerraum. Trotzdem nur ein kleiner Trost, denn eigentlich hatte sie um diese Zeit tief und fest im Gästezimmer ihrer Eltern schlafen wollen, um fit für den nächsten Tag zu sein. Und ihre Mutter hatte ihr versprochen, zum Abendessen ihre Lieblingsspeise zu zubereiten, was sowieso schon außergewöhnlich war, denn das Kochen war nicht gerade eine ihrer Leidenschaften. Lieber beschäftigte sie sich mit ihren Kunstausstellungen und hatte seit Martinas frühen Kindertagen für die häuslichen Aufgaben und die Versorgung der Familie eine Hilfe angestellt. Leisten konnte sie es sich, sie war ausgesprochen erfolgreich mit ihrer Galerie.
Aber eben deshalb hatte Martina sich auf den Abend mit ihren Eltern gefreut, doch nachdem sie nachmittags zuhause ein paar Sachen gepackt hatte und sich gerade auf den Weg machen wollte, hatte ihr Handy geklingelt. Sie hatte sogar kurz überlegt, es einfach zu ignorieren und loszufahren, doch die Neugier war größer gewesen, als sie die Nummer von Leon erkannte.
Sie beide waren Partner bei einer Projektarbeit, deren Fertigstellungstermin nun auch immer näher rückte. Martina hatte ihren Teil so gut wie erledigt, während Leon wie gewöhnlich alles erst auf die letzte Sekunde in Angriff nahm.
„Hi Martina, es tut mir wirklich leid, aber ich bin krank. Ich schaffe es nicht, meine drei Kapitel zu schreiben.“
Das konnte ja wohl nicht wahr sein.
„Wie bitte, spinnst du? Wir müssen Ende nächster Woche abgeben. Jetzt stress dich mal rein, das kannst du doch noch schaffen.“
„Ich kann wirklich nicht, mich hat es total erwischt, eine richtige Grippe. Ich habe total hohes Fieber, da geht gar nichts.“
Gut, Ruhe bewahren, keine Panik.
Schließlich konnte er für seine Krankheit tatsächlich nichts. Was aber auch keinen Deut daran änderte, dass der Abgabetermin feststand und es nur eine Gemeinschaftsnote gab, egal, wer die Arbeit erledigt hatte.
„Okay, dann schick mir einfach, was du schon hast, ich mache es fertig.“
Am anderen Ende der Leitung trat eine Pause ein, und Martina kannte Leon gut genug, um zu wissen, was das bedeutete.
„Du hast noch gar nichts geschrieben, stimmt’s?“
„Weißt du….“
Martina hatte einfach aufgelegt. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag hätte sie am liebsten losgeheult, doch auch diesmal zwang sie sich, die Tränen zu unterdrücken. Sie brauchte jetzt einen klaren Kopf, anders war das alles gar nicht zu schaffen. Zuerst hatte sie ihre Mutter angerufen und ihr gesagt, dass sie erst am nächsten Vormittag kommen würde. Und jetzt war es ihre Mutter gewesen, die nach einem kurzen „Wie du meinst“ aufgelegt hatte, ohne Martina auch nur die Chance zu einer Erklärung zu geben.
Das war unfair, sie konnte doch nun wirklich nichts für die Absage von Leon, aber andererseits hatten sich ihre Eltern den Abend extra freigehalten und ihre Mutter hatte sicher schon Vorbereitungen für das Essen getroffen. Es war verständlich, dass sie sauer war, aber musste sie deshalb einfach auflegen? Martina hatte diese Gedanken entschlossen beiseitegeschoben. Sie würde morgen mit ihrer Mutter reden und sich entschuldigen, wenn es sein musste, jetzt gab es anderes zu tun. Den Rest des Nachmittags und den Abend hatte sie mit Literaturrecherche, dem Lesen digitaler Dokumente im Internet und dem Erstellen eines Grobkonzepts für Leons Teil der Projektarbeit verbracht und war nur zwischendurch kurz in den Keller gegangen, um zwei Maschinen Wäsche zu waschen und den Trockner anzuschalten.
Während sie die letzten Kleidungsstücke zusammenfaltete, hatte sie nur noch Gedanken an ihr warmes, weiches Bett. Sie war so müde, dass ihr jede Bewegung schwerfiel.
Durch das Kellerfenster waren irgendwelche Geräusche zu hören, wahrscheinlich Katzen auf Beutejagd. Hoffentlich lieferten sie sich nicht wieder ihre Revierkämpfe, das Miauen war einfach nervtötend. Martina nahm eine Bluse aus dem Trockner und wollte sie gerade zu den anderen Sachen legen, als das Quietschen der Kellertür sie herumfahren ließ.
Ein Mann wankte herein, sichtlich betrunken, und durch das helle Neonlicht geblendet blieb er kurz vor Martina stehen. Verdammt, wer hatte denn die blöde Kellertür nicht abgeschlossen? Alles in ihr verkrampfte sich, instinktiv wich sie zwei Schritte zurück und erstarrte dann. Der Mann hatte jetzt auch sie gesehen und ein geiles Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als würde er sich über die unerwartete Begegnung mit einer jungen Frau freuen. Die Starre fiel von Martina ab. Irgendwoher kannte sie diesen Kerl doch. Klar, das war einer der Typen, die immer am Kiosk rumhingen. Einer der besonders lauten, die kein weibliches Wesen ohne einen ihrer dämlichen Anmachsprüche vorbeigehen lließen. Das war nur ein blöder, besoffener Idiot, weiter nichts. Und klar, es ging auch schon los.
„Hey, Süße, so spät noch so fleißig? Komm zu mir, Schätzchen, ich weiß eine tolle Belohnung für dich.“
Martina spürte, wie sich in ihr eine ungeheure Wut ausbreitete. Nicht auch das noch, nicht nach diesem Tag. Dieser Widerling sollte sie einfach in Ruhe lassen.
„Verpiss dich, du besoffenes Schwein! Mach, dass du hier rauskommst, oder ich brüll das ganze Haus zusammen, du Arschloch!“
Überrascht blieb der Mann stehen. Diese Reaktion hatte er offensichtlich nicht erwartet. Aber er ließ nicht locker.
„Jetzt stell dich nicht so an. Du brauchst doch mal einen Kerl, der es dir so richtig besorgt.“
Du meine Güte, wie ekelhaft war der denn?
Aber wer hätte gedacht, dass sie selbst jemals solche Ausdrücke gebrauchen würde. Ihr Vater wäre entsetzt darüber, was da gerade aus dem Mund seiner wohlerzogenen Tochter gekommen war. Aber dieser Abschaum verstand ja keine andere Sprache.
Er kam wieder einen Schritt auf sie zugewankt, aber Martina wollte die Situation einfach nur hinter sich bringen. Sie würde nach oben gehen und die Polizei anrufen, dann konnten sie ihn zum Ausnüchtern mit aufs Revier nehmen. Sie drehte sich um und zerrte die letzten Kleider aus dem Trockner.
„Komm Süße, guck doch mal, was ich alles Schönes zu bieten habe.“
„Ach, hau doch einfach ab, du Blödmann!“
Martina bückte sich, um den Wäschekorb hochzunehmen. In diesem Moment spürte sie die Hand des Mannes, der von hinten zwischen ihre Beine griff.
Martina ließ den Korb fallen und wirbelte herum. Sie registrierte noch das lüsterne Grinsen in seinem Gesicht, dann hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas in ihr explodierte.
Sie schlug und trat wild um sich, ohne zu bemerken, ob und wo sie traf. Und dann streifte ihr Blick das Regal über den Waschmaschinen, auf dem der Baseballschläger von Lisa lag. Sie hechtete darauf zu, schnappte ihn sich und holte mit voller Wucht aus. Der Mann war bei ihrem Angriff vorher zu Boden gegangen und eben dabei, sich wieder aufzurappeln. Martina sah seinen entsetzen Blick, als er die Waffe in ihrer Hand erkannte, und im selben Augenblick wurde ihr bewusst, was sie gerade tat.
Aber es war schon zu spät, ein Sekundenbruchteil später krachte der Schläger gegen die Schläfe des Mannes. Es gab ein knirschendes Geräusch, dann sackte er in sich zusammen und blieb gekrümmt auf dem Zementboden liegen.
Martina ließ den Schläger fallen und schaute wie unter Zwang auf das Blut, das sich langsam um den Kopf des Mannes ausbreitete. Oh mein Gott, was hatte sie nur getan? Das wollte sie doch nicht, das war doch keine Absicht. Was sollte sie denn jetzt machen? Sie musste einen Krankenwagen rufen, aber dann kam ja die Polizei, und was dann? Nein, sie wollte das nicht, sie wünschte, dass das alles nie passiert wäre. Sie konnte jetzt nicht nachdenken, sie musste erst mal hier weg und in ihre Wohnung, dahin, wo sie sicher war, wo sie sich beruhigen konnte.
Die Erstarrung fiel von ihr ab. Ohne weiter nachzudenken, nahm sie den Baseballschläger vom Boden auf und stopfte ihn unter die Wäsche. Dann schnappte sie den Korb und rannte aus dem Keller nach oben. Sie schloss die Wohnungstür hinter sich, drehte den Schlüssel zwei Mal herum und lehnte sich schwer atmend dagegen. Nein, sie konnte jetzt nicht handeln, sie musste erst zur Ruhe kommen, danach vermochte sie immer noch entscheiden, was zu tun war.
Freitag, 7 Uhr morgens
Das Telefon klingelte, als Sarah unter der Dusche stand. Sie war früh aufgestanden, um auch heute Morgen vor Dienstbeginn ein paar Runden durch den nahe gelegenen Park zu joggen. Sie hatte sich auf ein ausgiebiges und gemütliches Frühstück gefreut. Die noch warmen Brötchen und das Nussnougatcroissant hatte sie auf dem Rückweg von ihrem Lieblingsbäcker, der eine eigene Backstube betrieb, geholt. Die Kaffeemaschine blubberte und der Kaffeegeruch durchzog ihr kleines Apartment. Ihre Ahnung, dass aus dem Frühstück nichts werden würde, bestätigte sich, als sie den Hörer abnahm.
„Guten Morgen Frau Konstein“, meldete sich der Beamte von der Zentrale.
„Wir haben einen Toten in der Hochhaussiedlung am Stadtpark.“
„Okay“, seufzte Sarah. „Ich bin unterwegs.“
Der Beamte teilte ihr die Adresse mit:
„Kommissar Leitinger ist auch verständigt. Die Spusi dürfte schon vor Ort sein“, und legte auf.
Schnell zog sie sich an, nahm noch einen Schluck Kaffee, schob sich das Croissant in den Mund und verließ ihr Apartment.
Sarah Konstein war letzten Winter in die Mord 2 zu Kommissar Georg Leitinger gekommen. Sie hatte die Polizeischule und die Ausbildung zur Kriminalkommissarin mit Bravour bestanden und war froh gewesen, endlich in die praktische Polizeiarbeit einsteigen zu können. Warum sie für ihre erste Stelle ausgerechnet in Leitingers Mord 2 eingesetzt wurde, war ihr schleierhaft. Schließlich war die ungewöhnlich hohe Aufklärungsquote dieser Abteilung allgemein bekannt.
Mit ihrem Vorgesetzten, dem Chef, wie sie ihn von Anfang nannte, und den anderen Kollegen kam sie gut zurecht. Alle waren sehr freundlich zu ihr. Sie wurde wirklich prima in das Team aufgenommen. Nur mit Leitinger hatte sie zuerst so ihre Probleme gehabt. Doch mittlerweile wusste sie ihn zu nehmen und bezog seine Muffeligkeit nicht mehr auf sich.
***
„Und? Was haben wir?“
„Guten Morgen Herr Leitinger. So viel Zeit muss sein.“
„Ja, ja. Morgen“, murmelte der Kommissar. „Hab schlecht geschlafen und noch keinen Kaffee gehabt.“
„Dann schau`n Sie mal, was ich hier für sie habe.“
Grinsend zauberte Sarah Konstein einen Becher mit Kaffee hervor, den sie am Kiosk vor der Siedlung besorgt hatte und überreichte ihn mit einer ausladenden Geste ihrem Chef.
„Oh Danke. Sehr zuvorkommend“, Leitingers Laune hob sich sichtbar.
„Nun … was haben wir hier?“, fragte er an seinem Kaffee schlürfend.
„Also.“
Sarah prostete ihm mit ihrem Becher zu.
„Wir haben einen Toten … sieht schlimm aus.“
Sie deutete auf die Plane und schüttelte sich.
„Er heißt .... äh… hieß Egon Fischer, 53 Jahre alt.“
Und hielt eine Plastiktüte mit Personalausweis hoch.
„Er wohnte in einem der Wohnsilos hier.“
Während seine Kollegin ihn auf den aktuellen Stand brachte, sah sich Leitinger in dem Kellerraum um. Offensichtlich befanden sie sich in dem hauseigenen Wäscheräumen. An den Wänden reihten sich mehrere Waschmaschinen und Trockner auf. Darüber lagerten in den Regalen Waschmittel und Kisten mit Klammern, Wäscheleinen und anderen Utensilien. Die umgestoßenen Wäscheständer und die verstreut herumliegende Wäsche deuteten auf einen Kampf hin.
Vor einer der Waschmaschinen lag, ausgestreckt auf dem Rücken liegend, die Leiche. Abgedeckt von einer Plastikplane. Leitinger ging in die Hocke, hob die Plane ein wenig an und warf einen Blick auf den Toten. Der Anblick des zermatschten Kopfes ließ ihn zurückzucken.
„Da gewöhne ich mich nie dran.“
Mit verzerrtem Gesicht legte er die Plane zurück und wandte sich Sarah zu.
„Was wissen wir noch?“
„Er hat den … Hosenstall auf. Sein … äh … Ding hängt raus.“
„Was?“
Leitinger schaute erneut unter die Plane.
„Tatsächlich.“
Den Kopf schüttelnd stand er wieder auf.
„Hm … Mann O Mann.“
Sarah fuhr mit ihrem Bericht fort:
„Eine Bewohnerin bzw. ihr Hund hat ihn heute Morgen entdeckt und die 110 angerufen. Die Kollegen sind im Haus unterwegs und befragen die anderen Bewohner. Einige sind wohl schon arbeiten, die müssen dann später noch befragt werden.“
„Was sagt der Doc?“
„Todeszeitpunkt: Vergangene Nacht ... etwa zwischen 0 und 2 Uhr“, las Sarah von ihrem Notizblock ab.
„Todesursache: Eingeschlagener Schädel … wie man unschwer sieht … mit einem stumpfen Gegenstand, Baseballschläger würde passen, sagt der Doc… alles Weitere nach der Obduktion.“
„Hm.“ Leitinger sah sich noch einmal im Raum um, brummelte etwas Unverständliches und wandte sich zum Gehen.
„Wir sehen uns im Büro … muss erst mal frühstücken.“
„Chef?“ Sarah eilte ihm hinter her. „Da ist noch was. Schauen sie mal. Die lag da auf dem Boden.“
Sie hielt dem Kommissar eine silberne Kette mit einem Anhänger entgegen.
„Die ist hier gerissen.“
„Hm“, machte Leitinger und sah genauer hin.
„Ja stimmt. Solche Ketten gibt es wie Sand am Meer.“
Er blickte zu Sarah auf.
„Oder was meinen Sie?“
„Ja. Viele tragen so etwas.“
„Hm“, brummte Leitinger.
„Zeigen Sie es mal den Bewohnern hier. Vielleicht erkennt es ja jemand. Also… bis später. Sie machen das schon … schauen sie sich seine Wohnung an.“
Damit verließ Leitinger den Tatort und eilte dem ersehnten Frühstück entgegen.
Freitag, 7.30 Uhr
Als Martina aufwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Alles tat ihr weh, sie hatte das Gefühl, jeden Muskel ihres Körpers schmerzhaft zu spüren. Benommen schaute sie sich um. Sie saß, mit dem Rücken an der Wohnungstür, zusammengekauert in ihrem kleinen Flur, genau an der Stelle, an der sie letzte Nacht zusammengesackt war. Der Wäschekorb stand neben ihr, und während sie darauf starrte, sah sie mit einem Schlag die Ereignisse im Keller wieder vor sich.
Vor Angst krampfte sich ihr Magen zusammen. Bitte, das sollte alles nur ein Traum gewesen sein, das sollte alles nicht wirklich passiert sein. Der Mann, was war mit ihm, hatte jemand ihn gefunden und einen Krankenwagen gerufen?
Aber das viele Blut – lebte er überhaupt noch?
Martina versuchte aufzustehen, aber ihre Beine waren so steif, dass sie mehrere Anläufe brauchte, bis sie auf den Füßen stand. Die ganze letzte Nacht hatte sie hinter ihrer Tür gesessen, immer dieses Bild vor sich, wie der Mann sie fassungslos angeschaut hatte, und nur mit dem einen Gedanken, dass sie einen Krankenwagen rufen hätte müssen. Aber sie war sitzen geblieben, die Knie mit den Armen umklammert, unfähig sich zu rühren. Irgendwann war sie dann vor Erschöpfung doch eingeschlafen, und jetzt war es schon hell draußen.
Mit steifen Beinen tapste Martina ins Wohnzimmer. Ein Blick auf ihren Radiowecker zeigte ihr, dass es kurz nach sieben war. Was sollte sie nur machen? Wenn sie nur wüsste, was mit dem Mann war. Aber der Gedanke, in den Wäschekeller zu zurück zukehren, und nachzusehen, war unerträglich. Allein bei der Vorstellung überkam sie Panik. Sie hätte gleich letzte Nacht Hilfe holen müssen, warum hatte sie das denn nicht geschafft? Wie sollte sie das denn erklären? Und außerdem brachte das alles jetzt gar nichts mehr. Es konnte sowieso nicht mehr lange dauern, bis irgendein Hausbewohner zum Wäschewaschen nach unten ging.
Die paar Minuten waren jetzt auch egal.
Und wenn der Mann im Krankenhaus war, käme bestimmt auch bald die Polizei. Dann würde sie ihnen alles erzählen, es war doch Notwehr gewesen, sie konnte doch gar nichts dafür.
Aber jetzt musste sie erst mal duschen und einen Kaffee trinken, um wieder fit zu werden. Diese Zeit brauchte sie für sich, das würde doch jedem so gehen. Und knurrte der Magen, die Pizza gestern Nachmittag war die letzte feste Nahrung gewesen, die sie zu sich genommen hatte. Und wenn dann die Polizei immer noch nicht da war, würde sie anrufen. Ja, das war ein guter Plan, genau so nahm sie es sich vor zu machen.
Das war am vernünftigsten.
Martina nahm frische Wäsche aus ihrem Kleiderschrank und ging zum Bad. Erst auf dem Weg wurde ihr bewusst, dass irgendetwas anders war als gewöhnlich. Stimmen waren im Hausflur zu hören, Türen wurden geöffnet und geschlossen, von draußen ertönten laute Rufe, die sich wie Befehle anhörten. Die Angst ließ Martinas Herz laut pochen.
Haben sie ihn bereits gefunden? Ist die Polizei schon da?
Ihre Kleidungsstücke fest umklammert, schlich Martina zur Tür und legte ihr Ohr dagegen. Die Leute mussten ganz in der Nähe stehen, ihre Stimmen waren deutlich zu hören, auch wenn die einzelnen Worte nur schwer zu verstehen waren.
Martina zwang sich, ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren.
„Ja, ein Toter … alles voller Blut … nein, Wäschekeller ...“
Und jetzt eine lautere Stimme, die sie nicht kannte.
„Bitte, hier gibt es nichts zu sehen. Gehen Sie alle wieder in ihre Wohnungen, wir kommen später, um Sie alle zu befragen.“
Martina ließ ihre Kleidung fallen und rannte zum Fenster. Vor dem Haus standen zwei Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen. Menschen waren neugierig stehen geblieben, ein Polizist sprach mit ihnen und schien sie zum Weitergehen aufzufordern.
Martina fühlte, wie ihr schwindlig wurde, und klammerte sich an die Fensterbank. Sie hatte einen Menschen getötet, sie, Martina Leipolz, hatte einen Menschen getötet. Sie schnappte nach Luft, ihr Brustkorb fühlte sich so eng an, dass sie glaubte, zu ersticken. Der Mann war tot, warum war er denn gleich tot, so schnell starb man doch nicht, sie hatte doch nur einmal zugeschlagen, es konnte doch nicht sein, dass man dann direkt tot war. Das konnte doch nicht ihr passiert sein, sie konnte doch keinen Menschen getötet haben.
Mechanisch starrte Martina weiter aus dem Fenster. Ein blauer Honda hielt auf der anderen Straßenseite. Eine junge Frau stieg aus, kramte auf dem Rücksitz herum und kam dann mit zwei Kaffeebechern in der Hand auf das Haus zu. Der Polizist auf dem Bürgersteig begrüßte sie und führte sie dann nach drinnen. Kurz darauf hielt ein zweiter Wagen. Diesmal war es ein Mann, der kurz stehen blieb, sich umblickte und nach einiger Zeit ebenfalls im Haus verschwand. Die Straße war menschenleer.
Langsam beruhigte sich ihr Atem wieder etwas und der Druck auf der Brust ließ nach. Sie musste jetzt nach draußen gehen und mit den Polizisten reden.
Aber was würde dann passieren, werde ich dann verhaftet?
Das war doch alles nur ein Alptraum und nicht ihr Leben. Gestern Morgen um diese Zeit hatte sie ihre Sachen für die Uni zusammengepackt und ihre einzige Sorge war gewesen, ob sie ein gutes Thema für die Hausarbeit bekam und die Einhaltung ihrer Abgabetermine. Sie hatte sich auf ein freies Wochenende gefreut und Pläne für die nächste Woche gemacht. Das war sie, das war ihre Welt, die hatte nichts mit Polizeirevieren und Blut und Tod zu tun.
Die Angst war wieder da. Sie musste hier weg, sie hielt es keine Sekunde länger in dieser Wohnung, in diesem Haus aus. Das war alles falsch, sie wollte in ihr wirkliches Leben zurück. Gehetzt schaute sie sich um und sah die Reisetasche, die sie gestern schon fertig gepackt hatte. Ohne weiter darüber nachzudenken, zog sie eine Jacke an und schnappte sich die Tasche und ihren Schlüsselbund, der noch an der Tür hing. Im letzten Moment fiel ihr das Handy ein. Sie steckte es in ihre Jackentasche, zog die Wohnungstür hinter sich zu und verließ das Haus durch die offen stehende Haustür. Im Keller waren Stimmen zu hören, doch draußen war kein Mensch zu sehen. Ihr Auto parkte um die Ecke, sie ließ sich auf den Sitz fallen und atmete tief durch. Und jetzt? Ihre Eltern, sie musste zu ihren Eltern, da war sie sicher, da konnte sie entscheiden, was sie als Nächstes tun würde. Sie musste zur Polizei, das war klar, aber nicht jetzt, nicht heute, sie musste jetzt einfach nur nach Hause.
Freitag, vormittags
Gerade war Sarah dabei, die Bilder vom Tatort an die Pinnwand zu heften, als Leitinger vom Frühstück zurück ins Büro kam. Er setze sich auf den Bürosessel, legte die Füße auf den Schreibtisch. Den mitgebrachten Kaffee platzierte er auf seinem Bauch. Sarah hielt inne und schaute ihn abwartend an.
Leitinger winkte mit der Hand:
„Weiter machen, einfach weitermachen“ und nahm einen Schluck Kaffee.
„Ich schau Ihnen zu und Sie erzählen mir während dessen, was Sie so denken.“
Sarah zuckte mit den Schultern. „Okay“ und wandte sich wieder der Pinnwand zu.
Sie deutete auf das Bild des Toten, nahm einen Stift und kommentierte das, was sie schrieb:
„Also: Der Tote hieß Egon Fischer … 53 Jahre alt … mit eingeschlagenen Schädel … hab so etwas noch nie gesehen. Wir waren in seiner Behausung ... wie kann man nur so leben.“
Mit angewidertem Gesichtsausdruck beschrieb sie ihren Eindruck von der Wohnung des Toten.
„Eine abgewetzte Couchgarnitur, die dazu gehörigen Sessel, übersät mit Brandflecken. Auf dem Tisch stapeln sich Essensreste der letzten Wochen und überquellende Aschenbecher.“
Sie hielt Leitinger ihr Handy hin und zeigte ihm einige Fotos, die sie in der Wohnung aufgenommen hatte.
„Und erst das Bad … ekelhaft … Bestimmt schon Jahre nicht mehr geputzt worden … Das Schlafzimmer sieht aus, wie eine Müllhalde.“
Sarah überflog ihre Notizen.
„Arbeitslos … Girokonto am Limit ... schaut wohl nur Actionfilme und Pornos … Na ja … so wie es da aussah …“
Leitinger, der Kaffee schlürfend die Pinnwand betrachtete, forderte Sarah mit einer Handbewegung auf, fortzufahren.
„Dann haben wir die Kette mit dem Anhänger. Vielleicht hat den schon mal jemand gesehen.“ Sie hielt eine Plastiktüte hoch. „Noch nicht auf Fingerabdrücke untersucht.“
Sarah malte ein Fragezeichen neben das Bild von der Kette.
„Todeszeitpunkt zwischen 0 und 2 Uhr in der vergangenen Nacht. Todesursache: stumpfe Gewalt. Tatwerkzeug: Der Doc vermutet ein Baseballschläger.“
Bei der Überschrift „Motiv“ hielt sie inne und klopfte mit dem Stift gegen die Pinnwand.
„Auf den ersten Blick könnte es wie Notwehr aussehen … die offene Hose … Aber warum meldet sich die Frau nicht?“
„Hm“, machte Leitinger. „Was haben die Befragungen der Hausbewohner gebracht? Hat jemand was gesehen oder gehört?“
„Da ist die Frau, deren Hund den Toten entdeckt hat.“
Sie schaute ihre Notizen durch.
„Dann ist da noch eine Studentin, Lisa Baumann. Sie hat zwar nichts gesehen oder gehört, erzählte jedoch, ohne dass danach gefragt wurde, sie habe den gestrigen Abend gemeinsam mit ihrem Bruder in ihrer Wohnung verbracht hat.“
„Hm.“ Leitinger nippte erneut an seinem Kaffee. „Haken Sie da nach. Wissen wir was über diesen Bruder?“
„Muss ich noch recherchieren“, entgegnete Sarah. „Die anderen Bewohner haben nichts mit bekommen. Aber direkt über dem Wäscheraum wohnt noch eine Studentin, Martina Leipolz. Sie ist nach Aussage dieser Lisa Baumann zu ihren Eltern gefahren. Wir haben ihre Handynummer.“
Leitinger trank seinen Kaffee aus, nahm die Beine vom Tisch und stand auf.
„Die sollen sich mit den Fingerabdrücken beeilen und dann die Kette herumzeigen … die restlichen Bewohner befragen und so weiter. Wieso gibt diese Studentin ihrem Bruder ein Alibi?“
Im Hinausgehen drehte er sich zu Sarah um: „Gute Arbeit, Frau Kollegin“ und grinste.
„Weitermachen, einfach weitermachen.“
Sarah freute sich über das Lob. Sie ballte die Faust, nahm den Beutel mit der Kette und verließ das Büro auf dem Weg ins Labor.
Freitag, mittags
Martina saß am Esszimmertisch ihrer Eltern und faltete Papierservietten. Ihre Mutter war in die Stadt gefahren, um die Tischkarten aus der Druckerei zu holen, ihren Vater hatte sie noch gar nicht gesehen. Er hatte mehrere Sitzungen an der Uni und würde erst spät nach Hause kommen. Jetzt war es früher Nachmittag, und Martina war dankbar für die Zeit, die sie alleine verbringen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wie lange dieser Zustand, in dem sie sich gerade befand, anhalten würde, aber momentan war sie ganz ruhig und beinahe entspannt.
Das hatte heute Morgen angefangen, nachdem sie losgefahren war. Sie hatte sich gezwungen, sich ganz und gar auf den Autoverkehr zu konzentrieren, und mit jedem Kilometer, den sie sich von ihrer Wohnung entfernte, hatten die Panik und die Spannung nachgelassen. Nach der Hälfte der Strecke hatte sie an einer Raststätte angehalten und gefrühstückt. Es war ihr seltsam vorgekommen, dass sie an solch banale Sachen denken konnte, aber sie hatte sogar mit der Bedienung hinter der Theke gescherzt und sich im Waschraum mit einer Frau über die Sauberkeit der Toiletten unterhalten. All das hatte sie ganz mechanisch getan, ohne irgendetwas zu empfinden. Es war, als hätte irgendjemand einen Schalter umgelegt, der sie total von ihrer Gefühlswelt abschnitt. Der ganze Tag kam ihr surreal vor, als würde sie einen Film anschauen und diese Person, die sie selbst war, unbeteiligt beobachten, ohne jegliche Verbindung zu ihr.
Ihre Mutter hatte natürlich sofort bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte, als sie ihr morgens die Tür geöffnet hatte. Sehr seltsam, ihre Bindung war nun wirklich nicht besonders eng, aber in solchen Momenten schien ihre Mutter einen sechsten Sinn zu haben. Obwohl, so wie sie ausgesehen hatte, war das nicht verwunderlich. Sie war selbst bei einem kurzen Blick in den Garderobenspiegel bei ihrem Anblick erschrocken. Doch was hätte sie nach der letzten Nacht anderes erwarten können? Aber sie hatte die altbewährte Erklärung benutzt, mit der sich ihre Mutter normalerweise immer zufriedengab: Migräne am Abend vorher, wenig geschlafen. Früher hatte sie diese Ausrede gebraucht, wenn sie zu lange gefeiert und zu viel getrunken hatte, aber das war lediglich in den ersten beiden Semestern gewesen. Danach hatte sie den Spaß an den Studentenpartys verloren und sich ganz auf das Studium konzentriert.
Ihre Mutter schaute zwar ein wenig skeptisch, fragte aber nicht weiter nach. Zumindest schien sie keine Entschuldigung für die Absage gestern zu erwarten. Meine Güte, wenn sie doch bloß gefahren wäre, alles wäre anders gekommen! Aber das half ihr jetzt auch nicht weiter. Was geschehen war, war geschehen. Sie musste sich der Polizei stellen, das war klar, welche Konsequenzen hatte das für ihr Leben? Sie würde angeklagt werden, es würde zu einem Prozess kommen. An einem Freispruch bestand zwar eigentlich kein Zweifel, schließlich hatte es sich um Notwehr gehandelt. Aber trotzdem, wer stellt eine Rechtsanwältin ein, die einen Totschlag begangen hatte? Und dass das geheim blieb, war so gut wie ausgeschlossen. Würde man sie verhaften? Wahrscheinlich, nachdem sie einfach weggefahren war. Strafrecht war nicht ihr Spezialgebiet, aber griff da nicht schon der Tatbestand der Fluchtgefahr?
Ihr Weg war so klar vor ihr gelegen, und jetzt ging alles den Bach hinunter. Ihre Karriere, so wie sie sie sich vorgestellt hatte, konnte sie vergessen. Ein Makel würde immer bleiben. Und das alles nur wegen diesem Penner. Wie war es nur möglich, dass ein solcher Widerling ihr Leben zerstörte? Seins war sowieso unnütz gewesen, komplett sinnlos, und eine Belastung für die Gesellschaft war er auch, der Steuerzahler durfte auch noch seine Sauferei finanzieren. Und so ein Typ war schuld daran, dass sie, Martina Leipolz, eine angehende Rechtsanwältin, im Gefängnis landen würde! Gut, das wäre nur von kurzer Dauer, denn es war doch eindeutig Notwehr, daran konnte doch wohl niemand zweifeln!
Martina sah vor ihrem inneren Auge den torkelnden Mann, der schon hingefallen war, als sie nach ihm trat und schlug. Er war genauso überrascht von ihrer massiven Gegenwehr wie sie selbst. Solche Reaktionen kannte sie bei sich gar nicht. Hätte sie nicht einfach aus dem Keller fliehen und die Polizei anrufen können? Er wäre in seinem Zustand doch niemals in der Lage gewesen, sie einzuholen. Aber nein, vielleicht hätte er es doch geschafft, das konnte man doch nicht wissen, Betrunkene waren zu vielem fähig. Sie hatte sich wehren müssen, und das war doch auch eine ganz natürliche Reaktion, Überlebensinstinkt oder so etwas. Daraus konnte ihr doch keiner einen Strick drehen. Und dass er gleich tot war, das war doch nicht ihre Absicht. Er hätte ja auch nur verletzt sein können, das wäre zu erwarten gewesen, das war einfach ein unglücklicher Zufall, dass sie ihn so getroffen hatte. Und es war Notwehr, nichts anderes. Nein, daran gab es keinen Zweifel.
Martina betrachtete kritisch die gefalteten Servietten, die sich vor ihr auf dem Tisch aneinanderreihten. Das künstlerische Talent ihrer Mutter hatte sie ganz sicher nicht geerbt, so viel stand fest. Sie richtete sich auf und streckte sich. Seltsam, dass sie so klar denken konnte, aber noch immer nicht die geringste Empfindung in Bezug auf die letzte Nacht aufbrachte. Sie würde am Sonntag zur Polizei gehen, das machte jetzt schon auch keinen Unterschied mehr. Bis dahin brauchte sie dieses Gefühl der Sicherheit, das ihr das Haus ihrer Eltern bot. Sie ging Richtung Küche, um sich noch einen Kaffee zu holen, als ihr Handy klingelte.
Freitagnachmittag
„Sie fahren.“
Leitinger warf Sarah die Autoschlüssel zu, öffnete die Beifahrertür, ließ sich in den Sitz plumpsen, drehte ihn ein wenig nach hinten, legte sich mit einem wohligen Grunzen an die Rücklehne zurück und schloss die Augen.
„Das wird mein Powernap“, verkündete er.
Sarah zog die Stirn kraus: „Na wenn Sie meinen“, und drehte den Zündschlüssel um.
Ihr Ziel war der Tatort, um dort, zusammen mit weiteren Kollegen, die Befragungen fortzusetzen.
Während sie vom Hof des Polizeipräsidiums rollten, tippte Sarah die Handynummer von Martina Leipolz ein. Nach dem zweiten Klingeln meldete sie sich:
„Leipolz, hallo“
„Guten Tag. Sarah Konstein hier. Kriminalpolizei“, sprach sie in die Freisprechanlage.
„Was? Kriminalpolizei?“, kam die Stimme von Martina Leipolz ein wenig hysterisch klingend aus den Lautsprechern.
„Ja. Kriminalpolizei. Wir haben da eine Frage. Stimmt es, dass Sie gestern, am Donnerstagabend zu ihren Eltern gefahren sind?“
„Äh … ja … bin ich“, entgegnete Leipolz.
„Ja … okay … das war`s dann schon. Vielen Dank.“ Sarah legte auf.
„Tztztz“, machte Leitinger mit geschlossenen Augen. „Falsche Frage.“
„Oh Shit. Ja. Stimmt.“ Sie schlug sich mit der Hand an die Stirn.
„Das war ein dummer Anfängerfehler.“
„Macht nichts“, nuschelte Leitinger vor sich hin. „Wer weiß, ob ihre Aussage überhaupt wichtig ist.“
Inzwischen näherten sie sich der Wohnanlage. Sarah steuerte den Wagen auf den Parkplatz unweit des Kiosks. Einige Männer saßen auf billigen Plastikstühlen davor in der Sonne und unterhielten sich lautstark.
Als Leitinger und Sarah sich der Gruppe näherten, war die Kioskbetreiberin dabei eine neue Runde Bier zu servieren. Das Stimmengewirr verstummte und die beiden Ankömmlinge wurden neugierig beäugt.
„Oh, da kommt ja die Polizei.“
„Von so einer sexy Bullenfrau will ich auch mal verhaftet werden.“
Einer der Männer pfiff anerkennend und allgemeines Gelächter erschallte. Offensichtlich befanden sich die Herren in prächtiger Feierlaune und hatten wohl schon einiges intus. Die beiden Kriminalbeamten zückten ihre Ausweise.
„Auch Ihnen einen guten Tag.“
Sarah war schon ein wenig genervt.
„Wahrscheinlich haben sie ja mit bekommen, dass es da drüben im Wohnblock einen Toten gab. Kann jemand vielleicht etwas dazu sagen?“
„Nö.“
„Ich hab nix gesehen.“
„Wir haben nix gemacht.“
„Ich red nich mit die Bullen.“
Die Ausrufe wurden von Gelächter begleitet. Die Gruppe schien sich prächtig zu amüsieren.
Leitinger drehte die Augen nach oben. Befragungen dieser Art waren ihm zuwider. Für ihn war es ein Unding, sich schon am frühen Nachmittag und dazu noch in aller Öffentlichkeit zu besaufen. Er trat ein paar Schritte auf den vermeintlichen Anführer zu. Doch bevor er ihn etwas fragen konnte, erhob sich dieser und salutierte mit einem breiten Grinsen.
„Isch verweigere die Aussage, Herr Oberpolizist“, lallte er. „Isch kenn meine Rechte.“
Dann drehte er sich herum und verschwand leicht schwankend zwischen den Häusern der Anlage. Allgemeines Gemurmel ertönte und nach und nach zerstreute sich die gesamte Gruppe. Die Kioskbesitzerin, eine rundliche resolut wirkende Frau mittleren Alters, zuckte, peinlich berührt, die Schultern, räumte die Tische ab und rückte die Stühle ordentlich zurecht.
„Ich kann mir meine Kundschaft nicht aussuchen“, entschuldigte sie sich.
„Schon gut“, besänftigte Leitinger sie. „Können Sie denn zum Sachverhalt etwas sagen?“
„Ich weiß, dass der Egon erschlagen wurde.“ Die Frau wischte sich ihre Hände an der Schürze ab.
„Der Egon hing normalerweise auch mit denen hier zusammen. Der war einer der schlimmsten von ihnen.“
„Einer der Schlimmsten?“, mischte sich jetzt Sarah ein. „Wie meinen Sie das?“
„Der konnte doch nie seine vorlaute Klappe halten, wenn junge Mädels sich bei mir was geholt haben. Hat sie immer unverschämt angelabert.“
„Hm.“ Leitinger erinnerte sich an den offenen Hosenstall der Leiche.
„Ist da mal was vorgefallen?“
„Ja, erst gestern“, berichtete die Kioskfrau, während sie die Tische abwischte.
„Da gab es eine Keilerei mit dem Tobi, weil der Egon seine Schwester dauernd blöd angemacht hat.“
„Aha!“
„Ja, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre, wär`s schlimm für den Egon ausgegangen. Er hat dem Egon gedroht, dass er ihn totschlagen würde, wenn er Lisa noch einmal belästigt.“
„Lisa?“ Sarah trat einen Schritt auf die Frau zu. „Lisa Baumann?“
Die Frau hielt inne, als sie grad einen der Tische abwischte. „Woher wissen Sie das?“
***
„Nun haben wir wenigsten einen Verdächtigen.“
Zurück im Präsidium resümierten Sarah und Leitinger ihren bisherigen Ermittlungsstand.
„Lassen Sie eine Fahndung nach ihm raus.“
Leitinger stand am Bürofenster und blickte über den Hof und den dahinter liegenden Park. Dort verweilte und schaute er häufig, wenn er nachdachte.
„Deshalb hat die Baumann ihrem Bruder ungefragt ein Alibi gegeben“, stellte Sarah fest. Sie hatte sich dessen Akte auf den Bildschirm geladen.
„Hm.“
Leitinger kratzte sich sinnierend am Kinn, den Blick ohne Fixierung in die Ferne gerichtet.
„Eine ganz schöne Latte an Vorstrafen hat der junge Herr angesammelt.“
Sarah dreht sich mit dem Bürostuhl herum und suchte vergebens die Augen ihres Vorgesetzten:
„Kleine Diebstähle … BTM … mehrere Male … aber immer nur Cannabis … Tankstelle überfallen … einige Jahre Jugendknast … keine Meldeadresse.“
„Hm.“
Leitinger setze sich auf die Tischkante, den Blick weiterhin ohne ein bestimmtes Ziel in die Weite gerichtet. Sarah blieb ruhig. Zu Beginn ihrer Zusammenarbeit hatte sie sich daran gestört, wenn ihr Chef so vor dem Fenster stand und sie das Gefühl hatte, als würde sie mit der Wand reden. Dabei war er hellwach und voll da. Inzwischen kam es ihr manchmal so vor, als könne sie die Synapsen in seinem Kopf arbeiten sehen.
In einer TV Dokumentation hatte sie mal eine Animation von der Funktionsweise des Gehirns gesehen. Sie hoffte, Leitingers synaptischen Verschaltungen dadurch anzuheizen, indem sie ihre Gedankengänge laut äußerte.
„Tobias und Fischer sind sich nachts noch einmal … zufällig … über den Weg gelaufen … es kam zur Auseinandersetzung … im Streit erschlägt Tobias den Fischer ... nimmt die Tatwaffe mit … wegen Fingerabdrücken.“
Sarah stand auf und lief bedächtig und mit langen Schritten, wie in Zeitlupe, im Büro herum.
„Aber!“ Sie hielt inne und fasste sich an die Stirn.
„Warum hatte er `nen offenen Hosenlatz? … Gibt doch im Zusammenhang mit meiner Version keinen Sinn.“
„Hm“, erklang es vom Fenster. „Hat sich wegen dieser Kette was ergeben?“
„Nein. Bisher nichts.“
Nach ein paar weiteren Schritten setzte sich Sarah wieder und schaute auf den Bildschirm. Mit Blick auf die Uhr fuhr sie den Rechner hinunter und schaltete ihn aus.
„Chef?“
Sie zog ihre Jacke an.
„Ich mache jetzt Feierabend … die Fahndung ist ja raus … dann kann ich noch laufen, bevor es dunkel wird.“
Nun wandte sich Leitinger ihr zu.
„Ja klar. Hauen Sie ab. Und …“
Ein Lächeln wollte in sein Gesicht, aber er winkte ab.
Sarah ging auf sein Zögern nicht ein. Endlich laufen. Endlich bewegen.
Samstagnachmittag
Dieser Alptraum musste jetzt ein Ende haben, sie hielt es einfach nicht länger aus!
Entschlossen startete Martina ihren Wagen und machte sich auf den Heimweg. Was war gestern nur in sie gefahren? Sie hatte die Polizei belogen und damit alles nur noch verschlimmert. Sie verstand sich selbst nicht. Aber als sie am gestrigen Nachmittag den Anruf auf ihrem Handy entgegengenommen hatte und sich am anderen Ende die Kriminalpolizei meldete, war ihr ganzer Schutzwall mit einem Schlag zusammengebrochen.
Alle klaren Gedanken waren wie weggeblasen, da war nur noch Angst gewesen. Und dann hatte diese Frau sie gefragt, ob sie schon am Donnerstagabend zu ihren Eltern gefahren war, und ihr „Ja“ war ganz automatisch gekommen, ohne dass sie auch nur eine Sekunde darüber nachgedacht hatte. Irgendwie war ihr das in dieser Situation wie ein Ausweg vorgekommen, aber dümmer hätte sie ja gar nicht reagieren können. Wie sollte sie jetzt aus dem ganzen Schlamassel heil wieder herauskommen?
Den restlichen Nachmittag hatte sie damit verbracht, die Aufgaben abzuarbeiten, um deren Erledigung ihre Mutter sie gebeten hatte und gleichzeitig die Panik niederzukämpfen, die sie immer wieder zu berwältigen drohte. Und außerdem durfte ihre Mutter, deren forschende Blicke sie spürte, auf gar keinen Fall etwas bemerken. Gegen Abend war Martina mit ihrer Kraft am Ende gewesen und wieder hatte die Migräne als Ausrede dafür herhalten müssen, dass sie sich bereits um halb acht in ihr Bett im Gästezimmer zurückgezogen hatte. Und wider Erwarten war sie augenblicklich tief und fest eingeschlafen.
Heute Morgen war sie erst um 9 Uhr aufgewacht. Unglaublich, sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt so lange am Stück geschlafen hatte. Aber zugleich mit dem Aufwachen war die Angst wieder da gewesen, dieses Gefühl im Bauch, das alles andere überlagerte und sie nicht mehr rational denken ließ. Der Vormittag war quälend langsam vergangen, zum Glück waren alle so beschäftigt mit den letzten Vorbereitungen für die Party, dass ihr niemand besondere Aufmerksamkeit schenkte.
Ihr Vater spielte sich wie üblich als großer Organisator auf, obwohl bereits alles bestens geplant war. Aber ihre Mutter hatte im Lauf der Jahre eine Taktik entwickelt, ihn glauben zu lassen, dass er das ganze in der Hand hatte und in Wirklichkeit ihre Pläne zu verwirklichen, die alle zufrieden stellte. Zwei Putzfrauen waren unterwegs, die Leute vom Catering-Service begannen damit, das Buffet aufzubauen. Gut so, dann kam ihr Vater wenigstens nicht auf die Idee, eines seiner ernsthaften Gespräche über ihr Studium und ihre weitere Karriere mit ihr zu führen. Dem wäre sie beim besten Willen nicht gewachsen gewesen.
Aber gegen Mittag war ihr klar geworden, dass sie ihre Fassade nicht mehr viel länger würde aufrechterhalten können. Sie musste das hinter sich bringen, einen weiteren Aufschub ertrug sie nicht. Sie hatte ihren Eltern erzählt, dass sie sich immer noch nicht viel besser fühlte und dass sie deshalb nach Hause fahren würde.
Ihre Mutter hatte ihre Erleichterung nicht ganz verbergen können. Verständlich, es war ihre Party, eine Tochter, der es nicht gut ging und um die man sich sorgen musste, war das Letzte, was sie heute gebrauchen konnte. Und trotzdem hatte ihre Reaktion ihr irgendwie wehgetan. Was hatte sie erwartet? Dass ihre Eltern sie beschützen und dafür sorgen, dass alles wieder gut war? Tja, damit war es wohl vorbei. Sie hatten vereinbart, in der nächsten Woche zu telefonieren. Das würden sie sicher tun, aber die Neuigkeiten, die Martina ihnen zu berichten haben würde, wären ganz bestimmt nicht das, was sie hören wollten.
Die Heimfahrt verlief reibungslos, und um drei Uhr schloss Martina die Tür zu ihrer Wohnung auf. Sie hatte das Bedürfnis, zu duschen und sich umzuziehen, danach würde sie zum nächsten Polizeirevier fahren. Beim Betreten des Flurs fiel ihr Blick sofort auf den Wäschekorb, in dem, von Kleidungsstücken bedeckt, der Baseballschläger lag. Sollte sie ihn gleich mit zur Polizei nehmen? Nein, das würde später alles seinen Gang gehen, jetzt wollte sie nur so schnell wie möglich das Geständnis hinter sich haben. Sie nahm den Korb und stellte ihn ins Bad. Während sie noch überlegte, was wohl die passende Kleidung für das wäre, was sie vorhatte, klingelte es an der Tür. Zu spät, sie waren ihr zuvorgekommen. Wie hatten sie das nur herausgefunden? Aber egal, gleich war alles vorbei, was dann kam, würde sie sehen.
Sie drückte auf den Türsummer und öffnete gleichzeitig die Wohnungstür. Erschrocken fuhr sie zurück, als sie unmittelbar vor sich Lisa stehen sah. Das war nun wirklich so ziemlich die letzte Person, die sie erwartet hatte.
„Martina, ich muss mit dir reden.“ Das kam beinahe geflüstert.
„Du, Lisa, das ist jetzt ganz schlecht. Ich wollte gerade unter die Dusche, und danach habe ich noch einen Termin.“
Doch im Gegensatz zu sonst ließ Lisa sich nicht abwimmeln. Erst jetzt fiel Martina das verheulte Gesicht auf, außerdem zitterte Lisa am ganzen Körper.
„Ich habe dich kommen sehen, und ich bin so froh, dass du da bist. Ich muss einfach mit jemandem reden.“
Was war denn jetzt wieder passiert? Martina trat einen Schritt zurück. Eigentlich war es ihr egal, aber sie konnte Lisa in ihrem Zustand ja schlecht abermals einfach so wegschicken.
„Komm rein, magst du einen Kaffee?“
Lisa ließ sich auf das Sofa fallen und fing sofort wieder an zu weinen. Martina seufzte. Du meine Güte, auch das noch, blieb ihr denn wirklich gar nichts erspart?
„Jetzt beruhige dich mal, und dann erzählst du mir, was los ist. Ich mache uns erst mal Kaffee.“
Während Martina in der Küchenzeile den Wasserkocher anstellte und Tassen aus dem Schrank nahm, wurde das Schluchzen langsam leiser.
„Hast du mal ein Taschentuch?“
„Ja klar, in dem Regal hinter dir.“
Martina nahm die beiden Kaffeetassen, stellte sie auf den Couchtisch und setzte sich Lisa gegenüber auf ein Sitzkissen.
„Also, was ist passiert?“
Es kostete Lisa sichtliche Überwindung, einen Anfang zu finden, doch dann platzte es einfach aus ihr heraus: „Es ist wegen Tobi, er hat einen Mann umgebracht!“
„Wie bitte?“
Martina erstarrte mitten in der Bewegung, die Kaffeetasse auf halbem Weg zum Mund. Überraschter hätte sie nicht sein können. Hatte Lisa das jetzt wirklich gesagt?
„Wie kommst du denn darauf? Welchen Mann denn?“
„Hast du das denn noch gar nicht gehört? Ach nein, du warst ja bei deinen Eltern. Also, am Freitagmorgen hat jemand einen Toten im Wäschekeller gefunden, anscheinend erschlagen. Es war der schmierige Typ, der immer am Kiosk ist, und es kann ja nur Tobi gewesen sein.“
Martina zwang sich zur Ruhe. Jetzt bloß nichts Unüberlegtes sagen. Ihr war zwar vollkommen schleierhaft, wie Lisa auf diese wahnwitzige Idee kam, aber erst mal anhören, was sie zu berichten hatte.
„Was, ein Toter in unserem Wäschekeller?“
Ihr eigener Tonfall kam ihr unnatürlich und gekünstelt vor, aber Lisa schien nichts zu bemerken.
„Ja, und ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.“
„Wie kommst du denn auf die Idee, dass es dein Bruder war?“
„Weil sie doch Streit hatten, schon die ganze Zeit, aber am Donnerstag war es ganz besonders schlimm.“
Schon wieder liefen Tränen über Lisas Wangen.
„Und weswegen hatten sie Streit?“
„Na weil der mich immer so blöd angemacht hat und weil ich irgendwie Angst vor ihm hatte, und das habe ich Tobi erzählt, und der hat ihm gesagt, dass er damit aufhören soll, aber das hat ja nicht viel genützt. Und am Donnerstag ist Tobi richtig ausgerastet, sie haben sich beinahe vor dem Kiosk geprügelt, und Tobi hat ihn angeschrien, dass er ihn umbringt, wenn er mich noch mal belästigt.“
Lisa konnte nicht weitersprechen, sie schluchzte wieder unkontrolliert. Martina war diese Unterbrechung ganz recht. Die Gedanken in ihrem Kopf rasten. Gab es für sie doch noch einen Ausweg? Wenn die Polizei Tobi verdächtigte, würden sie erst mal in diese Richtung ermitteln. Nachweisen konnten sie ihm nichts, er war es ja nicht. Aber wenn die Polizei trotzdem davon überzeugt wäre, dass er der Täter war, käme niemand auf die Idee, sie, Martina, könnte irgendetwas mit der Sache zu tun haben.
„Ich dachte, du hast Tobi schon eine Weile nicht gesehen. Woher weißt du denn von dem Streit am Donnerstag?“
Lisa putzte ihre Nase.
„Die Frau von über mir hat es mir erzählt. Sie ist gerade vom Einkaufen gekommen, aber anscheinend haben die beiden so laut gebrüllt, dass es die ganze Straße mitgekriegt hat. Nur ich nicht, ich war doch nicht da, ich war an der Uni.
Es gab also auch noch jede Menge Zeugen für den Streit, das war gut.
„Wo ist denn dein Bruder jetzt? Was sagt er denn dazu?“
„Das ist es ja, ich weiß nicht, wo er ist. Wahrscheinlich hat er solche Angst gekriegt, dass er sich irgendwo versteckt. Ich war schon überall und habe nach ihm gefragt, aber es hat ihn keiner gesehen.“
Kaum zu glauben, da war dieser Typ einmal wirklich völlig unbeteiligt, verhielt sich aber genauso, als wäre er der Täter.
„Und dann hab ich auch noch was ganz Blödes gemacht, ich habe der Polizei gesagt, dass Tobi am Donnerstagabend bei mir war und wir zusammen bis zwei Uhr nachts fernsehen geschaut haben. Aber jetzt erreiche ich ihn doch nicht, und ich kann ihm das nicht sagen, und wenn sie ihn finden, dann sagt er doch was ganz anderes.“
Ja, das stimmte, aber es war ein weiteres Indiz dafür, dass er die Tat begangen hatte. Alles deutete in diese Richtung, da würde doch niemand auf eine unbeteiligte Jurastudentin kommen. Martina sah Lisa an, die wie ein Häufchen Elend ihr gegenüber saß und vor sich auf den Boden starrte. Echtes Mitleid überkam sie, denn ganz offensichtlich ging es ihr ähnlich schlecht, wie sie selbst sich in den letzten anderthalb Tagen gefühlt hatte. Ihre Stimme wurde etwas wärmer.
„Aber ich verstehe es trotzdem nicht. Wenn du so felsenfest davon überzeugt bist, dass Tobi es getan hat, warum hast du dann gelogen?“
„Ach Martina, Tobi hat das doch nur gemacht, um mich zu beschützen. Er ist doch kein schlechter Mensch. Aber wenn er wieder ins Gefängnis muss, das hält er nicht aus, das macht ihn ganz kaputt. Dann hat er gar keine Chance mehr im Leben. Und er ist doch mein großer Bruder, wir müssen uns doch gegenseitig helfen, das war schon immer so bei uns. Was soll ich denn nur machen?“
Martina spürte einen dicken Kloß im Hals. Jetzt bloß nicht losheulen, das brachte auch nichts. Wenn Lisa nur nicht gar so verzweifelt wäre und wenn nicht sie, Martina, es in der Hand hätte, diese Verzweiflung mit einem Satz zu beenden. Sie musste Lisa so schnell wie möglich loswerden, sie musste alleine sein und nachdenken.
„Lisa, du kannst jetzt gar nichts machen. Vielleicht erzählt deinem Bruder ja jemand, dass du nach ihm gefragt hast, und dann meldet er sich bei dir. Am besten bleibst du einfach zu Hause und wartest. Ich weiß doch auch nicht, was anderes fällt mir grad nicht ein.“
„Ja, du hast Recht, ich gehe jetzt hoch, falls er anruft. Bitte behalte das alles für dich, Martina, bitte verrate es nicht der Polizei. Bitte!“
„Ja, schon gut.“
Martina stand auf und begleitete Lisa zur Tür.
„Sag mir Bescheid, wenn es was Neues gibt.“
„Okay, mach ich.“
Damit verschwand Lisa nach oben und Martina schloss aufatmend die Tür hinter ihr. Und jetzt? Was sollte sie jetzt machen?
Samstagnachmittag
Sarah lag in Pumphose und Schlabbershirt faul auf der Couch. Für heute hatte sie ihr Sportprogramm hinter sich gebracht und ließ sich schon eine ganze Weile von ihrer Jobim-Playlist treiben. Das Handy auf dem Bauch und die Stöpsel im Ohr wippte sie mit Kopf und Fuß zu den melodiösen Läufen von Stan Getz, ihres Lieblingssaxophonisten.
Eben lief „One Note Samba“ in der Version mit Charlie Byrd als das Handy vibrierte.
Leitinger. Da musste sie wohl rangehen.
„Gibt´s was Neues?“
Sarah war sofort hellwach. Dass der Chef sie am Samstagabend anruft. Da war wohl etwas Wichtiges geschehen.
„Wollen Sie bei der Verhaftung von Tobias Baumann dabei sein?“
Leitinger grinste durch´s Telefon.
„Ja klar. Wann und wo?“
Sarah setzte sich auf, stellte das Handy auf laut und entledigte sich zügig von ihren Schlabberklamotten.
„Jetzt … ich stehe vor ihrer Haustüre.“
Sarah sprang in ihre Jeans, zog schnell BH und Pulli an und rief zum Handy rüber:
„Bin unterwegs.“
Ein bisschen außer Atem ließ sie sich weinige Minuten später auf den Beifahrersitz fallen.
„Danke, dass Sie mich mitnehmen.“
„Hm.“ Leitingers Gesicht zeigte den Anflug eines Lächelns.
„Die Kioskfrau hat sich gemeldet. Baumann hängt bei ihr am Kiosk ab … mit den anderen Gestalten … vielleicht erwischen wir ihn ja.“
***
„Das haben Sie jetzt davon. Selber schuld. Warum hauen Sie auch ab?“
Tobias lag auf dem Bauch. Sarah drückte ihm ihr Knie zwischen die Schulterblätter und ließ mit geübtem Griff die Handschellen um seine Handgelenke zuschnappen.
Dummerweise hatte Tobias versucht, gegen sie ein Wettrennen zu gewinnen. Seinen Vorsprung konnte sie entscheidend verringern, indem sie leichtfüßig über eine Parkbank sprang. Als er Sarah dicht hinter sich spürte, schlug er einen Haken. Schnell griff sie nach ihm, erwischte seine Jacke und brachte ihn so aus dem Tritt. Unglücklicherweise verdrehte er sich dabei das Knie und jammerte nun vor Schmerz.
„Wo waren Sie gestern Nacht?“, herrschte ihn Sarah an.
Tobi wand sich vor Schmerz und Wut.
„Wann? … Gestern? … Da war ich mit ein paar Kumpels zusammen … Was soll die Scheiße hier. Ich hab nichts gemacht.“
„Und warum sind Sie dann abgehauen?“
Sarah half ihm auf die Füße, tastete ihn oberflächlich ab und durchsuchte seine Taschen. Sie zog ein Tütchen mit Cannabisblüten hervor und hielt es ihm vor die Nase.
„Was haben wir hier?“
„Scheiße“, fluchte Tobias. „Des wegen bin ich ja abgehauen.“
***
Ans Auto angelehnt erwartete Leitinger Sarah mit ihrem Gefangenen. Während die Schutzpolizisten Tobi in Empfang nahmen und abführten, nickte er seiner Kollegin anerkennend zu:
„Respekt! Weiß schon, warum ich Sie mitgenommen habe.“
Tobi protestierte immer noch lautstark: „Was werft ihr Bullen mir eigentlich vor? … Wegen so ein bisschen Weed? … Ihr spinnt doch!“
Die Uniformierten hatten Tobi auf den Rücksitz des Einsatzwagens verfrachtet. Die Tür stand noch auf. Grimmig fluchend maulte er weiter vor sich hin.
Leitinger trat zu ihm hin und sprach ihn leise, aber scharf an.
„So junger Mann. Jetzt mal ganz still. Sie kommen erst mal mit zu uns und da klärt sich alles Weitere. Wenn ihre Kumpel ihre Anwesenheit bestätigen, ist doch alles palleti.“
Damit schloss er die Türe und gab den Polizisten ein Zeichen zur Abfahrt.
Samstagabend
Es war schon kurz nach acht, und langsam bekam Martina doch Hunger. Nachdem Lisa gegangen war, hatte sie noch eine weitere Tasse Kaffee getrunken, aber zum Essen war sie einfach nicht in der Lage gewesen. Jetzt zeigte ihr ein Blick in den Kühlschrank, dass es auch gar nichts gab, was sie hätte zu sich nehmen können. Sie hatte damit gerechnet, jede Menge Reste vom Geburtstagsbuffet ihrer Mutter mitzubringen und deshalb gar nicht eingekauft. Tja, die Geschäfte waren zu, da blieb wohl wieder nur der Kiosk. Langsam wurde sie Stammgast. Martina zog eine Jacke über und verließ ihre Wohnung.
Den Nachmittag hatte sie mit dem Aufräumen der Wohnung und gründlichem Putzen verbracht. Irgendwie war ihr das ein Bedürfnis gewesen, und außerdem war sie beschäftigt und konnte gleichzeitig nachdenken. Nein, sie würde nicht zur Polizei gehen, sie würde genau das tun, was sie Lisa geraten hatte, nämlich abzuwarten, was passierte. Die Polizei würde Tobi verdächtigen, sie würden ihm schlussendlich nichts beweisen können, und die ganze Sache würde im Sande verlaufen. Irgendwie musste sie noch den Baseballschläger loswerden, aber sie konnte sich nicht überwinden, ihn auch nur anzuschauen. Und es hatte ja keine Eile, dazu war noch Zeit genug, wenn sich alles beruhigt hatte.
Am Kiosk war nur mäßiger Betrieb, die Penner-Clique schien sich einen anderen Zeitvertreib für ihren Samstagabend gesucht zu haben. Die Besitzerin begrüßte Martina wie eine alte Bekannte.
„Ah, schön Sie zu sehen. Was darf es denn sein?“
„Eine Pizzaecke, eine Cola und noch was Süßes, ja, eine Tüte Gummibären.“
Die Kioskbesitzerin lachte: „Na, das nenn ich mal ein Festessen.“ Sie schob die Pizza in die Mikrowelle.
„Haben Sie schon gehört, wir hatten hier heute großen Polizeieinsatz, eine Festnahme, gleich da drüben?“
„Was, wer denn, warum denn?“
So schnell konnte das alles doch nicht gehen, das musste irgendein anderer Fall sein.
„Der Tobi. Seine Schwester wohnt doch bei Ihnen im Haus, bestimmt kennen Sie ihn.“
Also doch!
„Ja, ich habe ihn, glaube ich, schon mal gesehen.“
„Der hat wohl den Egon erschlagen, da bei Ihnen im Keller, und abgehauen ist er auch noch, als die Polizei kam. Das war richtig filmreif. So, macht sechs Euro fünfzig.“
Martina zahlte und ging zurück zu ihrem Wohnblock. Das konnte ja wohl nicht wahr sein, nie hätte sie vermutet, dass das alles so schnell gehen würde. Tobi verhaftet! Lisa hatte ganz offensichtlich noch nichts davon mitbekommen, sonst wäre sie sicher umgehend wieder bei ihr aufgetaucht. Aber sie würde es ihr ganz bestimmt nicht erzählen, das erfuhr sie schon noch früh genug. Erneut stieg Angst in Martina auf, aber sie zwang sich, sich zusammenzureißen. Es lief doch alles bestens für sie, kein Grund zur Panik. Nur diesen furchtbaren Schläger musste sie jetzt doch so schnell wie möglich loswerden. Eigentlich bestand gar keine Gefahr, dass ihn jemand fand, aber sie wollte einfach kein Risiko mehr eingehen, nachdem es in so greifbare Nähe gerückt war, dass ihre Probleme sich in Luft auflösten und sie ihr normales Leben weiterführen konnte. Aber wohin mit dem Ding?
Martina betrat ihre Wohnung und begann fieberhaft zu überlegen. Am besten irgendwo im Wald verstecken, vergraben wäre gut. Aber womit denn, sie hatte rein gar nichts, was sich dazu eignete. Und wie sollte sie ihn ungesehen aus dem Haus bringen? In ihren Rucksack passte er nicht, höchstens in den Koffer. Ja, anders ging es nicht. Aber zuerst musste sie ihn säubern, ihre Fingerabdrücke waren ja drauf.
Entschlossen ging Martina ins Bad, aber dort verließ sie ihr Mut. Sie konnte den Schläger nicht noch einmal in die Hand nehmen, das schaffte sie nicht. Zögernd blieb sie vor dem Wäschekorb stehen. Keine Ahnung, warum sie ausgerechnet jetzt an ihren Vater denken musste. „Was getan werden muss, muss getan werden. Also reiß dich zusammen!“ Wie oft hatte sie diesen blöden Spruch von ihm gehört, Selbstdisziplin war alles für ihn. Na gut, sie war schließlich seine Tochter. Sie würde das schon hinkriegen. Sie hockte sich vor den Korb und nahm die oberen Wäschestücke heraus, bis der Schläger zum Vorschein kam. Oh mein Gott, da war Blut dran. Martina fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Und an ihren Sachen war auch Blut. Ihre Lieblingsbluse war ganz verschmiert, die würde sie nie, nie mehr anziehen können. Nie mehr! Das war alles, was Martina denken konnte, während sie sich zur Toilette schleppte und sich würgend erbrach. Danach blieb sie völlig erschöpft an die Wand gelehnt sitzen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie hörte sich selbst leise wimmern. Das konnte doch nicht sein, dass sie wegen dieser blöden Bluse heulte wie ein kleines Kind, aber es half alles nichts, sie konnte einfach nicht aufhören.
Endlich hörten die Tränen auf zu fließen und Martina rappelte sich mühsam auf. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zurückfahren. Und sie hatte gestern schon gedacht, dass sie miserabel aussah. Sie legte sich einen kalten Waschlappen über die Augen und versuchte ruhig und konzentriert zu atmen. Sie musste es jetzt hinter sich bringen, das alles musste jetzt vorbei sein. Nach einer Weile fühlte sie sich stark genug. Sie nahm den Baseballschläger und legte ihn in die Dusche. Mit Waschlappen über beiden Händen begann sie den Griff zu schrubben. Und ihre Wäsche musste sie auch unbedingt noch einmal waschen, dann würde es keine Spur mehr zu ihr geben. Aber allein der Gedanke, den Wäschekeller erneut zu betreten, ließ die Übelkeit wieder zurückkehren. Nein, ganz langsam jetzt, eins nach dem anderen. Zuerst der Schläger, das war am wichtigsten, für die Wäsche war auch morgen noch Zeit. Und dann kam ihr ein ganz neuer Gedanke. Was, wenn sie den Schläger gar nicht in den Wald bringen würde? Der Wäschekeller lag am rechten Ende des Flurs, auf der linken Seite befanden sich die Kellerabteile der einzelnen Mieter. Einige waren abgeschlossen, die meisten hatten jedoch kein Vorhängeschloss. Und Lisas Abteil war ganz sicher offen. Erst neulich hatte sie zu ihr gesagt, dass sie froh wäre, wenn jemand ihren Sperrmüll klauen würde. Wenn sie den Schläger dort versteckte, dann wäre das doch eine weitere Verbindung zu Tobi. Und trotzdem wäre es kein Beweis gegen ihn, seine Fingerabdrücke waren ja nicht darauf. Es ging ja auch nur darum, dass die Polizei glaubte, er wäre es gewesen. Er konnte doch nicht verurteilt werden, wenn es keine handfesten Beweise gegen ihn gab. Natürlich, es hatte wohl Indizienprozesse gegeben, aber die waren hier ja wirklich auch dünn gesät. Es würde ihm schon nichts passieren, außer, dass er eine Weile in Untersuchungshaft blieb.
Martina nahm den gereinigten Schläger und wickelte ihn in ein Handtuch. Es war immer noch Blut daran, aber das war ja egal, Hauptsache, der Griff war sauber. Und selbst wenn Lisas Bruder verurteilt würde, wer weiß, ob das nicht vielleicht sogar besser für ihn wäre. Im Gefängnis gab es doch genügend Angebote und Möglichkeiten, eine Ausbildung oder einen Schulabschluss zu erlangen. Und wenn er dann wieder draußen wäre, hätte er vielleicht dadurch erst die Chance, etwas Anständiges aus seinem Leben zu machen. So, wie es jetzt war, war es doch eh total sinnlos und vergeudet. Das hatte es doch schon häufiger gegeben, dass Menschen nach einem Gefängnisaufenthalt noch zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft wurden. Genau so ein nützliches Mitglied, wie sie selbst im Begriff war zu werden. Es war doch Wahnsinn, das das alles wegen dieses unglücklichen Unfalls, denn was anderes war es doch letztlich nicht gewesen, vorbei sein sollte. Sie konnte eine Menge guter Dinge tun und vielen Menschen helfen, wenn sie erst einmal Rechtsanwältin war. Und um Lisa würde sie sich auch kümmern, wenn ihr Bruder im Gefängnis war, das war doch klar.
Martina nahm den Baseballschläger und ging hinunter zu Lisas Kellerabteil.
Sonntagmorgen
„Guten Morgen Chef.“
Gut gelaunt und mit zwei duftenden Kaffeebechern betrat Sarah das Büro.
„Was machen Sie denn hier?“
Leitinger lächelte. Er freute sich, dass seine Kollegin auch so engagiert war, fragte sich aber gleichzeitig, ob sie wohl auch kein Privatleben habe. Bisher hatte er sich noch nicht getraut, sie darauf anzusprechen.
„Ich kann Sie doch nicht so ganz allein da so rum stehen lassen.“
Grinsend reichte sie ihm einen Becher.
„Wahrscheinlich stehen Sie noch von gestern Abend hier rum.“
„Hm.“ Wortlos nahm Leitinger den Becher in Empfang und nickte Sarah zu.
„Und? Was denken Sie?“
„Dass wir Lisa Baumann noch mal unter die Lupe nehmen sollten.“
„Weil sie ihren Bruder deckt und er die Tatwaffe vielleicht bei ihr versteckt hat?“
„Ja genau. Das habe ich mir auch …“
Leitinger wedelte übertrieben auffällig mit einem Papier in der Luft herum.
„Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung von Lisa Baumann.“
Leitinger verließ seine gewohnte Stellung am Fenster:
„Ich wusste, dass Sie kommen würden.“
***
Sarah schritt gestikulierend neben Leitinger die Stufen zum Hof hinunter.
„Chef? Heute Morgen ist mir eingefallen, dass diese Martina gelogen hat … die war auch ganz komisch am Telefon … hatte das Gefühl, sie würde sich erwischt fühlen oder so … jedenfalls ist mir eingefallen, dass in einem der Befragungsprotokolle steht, Frau Leipolz sei am Freitagmorgen noch gesehen worden. Eine Nachbarin hat sie vom Fenster aus das Haus verlassen sehen.“
Sarah hob entschuldigend die Arme.
„Sorry Chef, dass mir das gestern durch die Lappen gegangen ist.“
„Hm.“ Leitinger setzte sich ins Auto. „Eins nach dem Nächsten.“
„Wirklich! Das hätte mir nicht passieren dürfen.“
Sarah suchte Blickkontakt zu Leitinger.
„Nun machen Sie mal keinen Staatsakt draus.“
„Doch!“, beharrte Sarah. „Erst die falsche Frage und dann den Bericht nur überflogen.“
„Stopp!“
Leitinger wandte sich ihr zu und berührte sie leicht an der Schulter.
„So kann ich Sie nicht gebrauchen. Jammern kann ich selber. Also, seien Sie wieder die Sarah Konstein, die ich kenne und schätze.“
„Danke Chef“, freute sich Sarah. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
***
Lisa Baumann saß im Vernehmungszimmer. Ihre Arme lagen verschränkt auf dem Tisch. Ihr Kopf lag auf ihren Armen. Immer wieder schluchzte sie von Weinkrämpfen geschüttelt.
„Ich glaube ihr kein Wort. Sie schützt ihren Bruder.“
Sarah und ihr Vorgesetzter beobachteten Frau Baumann durch den venezianischen Spiegel.
„Hm“, nickte Leitinger.
Nachdem sie Lisa den Durchsuchungsbeschluss gezeigt und ihr mitgeteilt hatten, dass ihr Bruder verhaftet sei, brach sie zusammen und gestand unter Tränen, Egon Fischer mit einem Baseballschläger getötet zu haben.
„Das war ich! Ich hab ihn erschlagen.“ Lisa schrie die Worte einzeln betont heraus.
„Der Tobi hat nichts damit zu tun.“
Schluchzend suchte sie in den Gesichtern der Kriminalbeamten nach Verständnis.
Leitinger und Sarah hatten sie direkt mit aufs Präsidium genommen. Die Durchsuchung ihrer Wohnung überließen sie ihren Kollegen.
„Sie widerspricht sich doch in jedem zweiten Satz“, echauffierte sich Sarah und tippte sich an die Stirn. „Und ein Baseballschläger ist aus Holz. Der schwimmt! Den kann man nicht versenken.“
„Hm … Da stimmt etwas ganz und gar nicht“, gab ihr Leitinger recht.
„Die Kette ist wahrscheinlich auch nicht von ihr, denn sie trägt ja eine.“
Besonders in dieser vornübergebeugten Haltung war das silberne Kettchen unschwer um Lisas Hals zu erkennen.
„Also … noch einmal von vorne“, dozierte Sarah.
„Was haben wir?“
Sie vergewisserte sich, ob Leitinger auch hier, ohne den Park und den Horizont im Blick, diesen ganz bestimmtem Ausdruck um die Augen zeigte. Er tat es.
„Bei Tobias Baumann vermuten wir ein Motiv … er hat den Fischer bedroht … er hat noch“, das letzte Wort betonte sie und hob dabei gewichtig den Zeigefinger, „kein Alibi … wir könnten uns auch eine Gelegenheit vorstellen. Dagegen spricht die offene Hose.“
Sarah begann wieder hin und her zu laufen.
„Aber vielleicht auch nicht … wenn er Lisa zu Hilfe gekommen wäre.“
„Hm.“ Dem Ausdruck in seinem Gesicht nach zu urteilen, schien Leitinger in einem anderen, weit entfernten Universum zu weilen. Also fuhr Sarah fort:
„Wenn er Fischer erschlagen hätte, wäre er bestimmt nicht wieder am Kiosk aufgetaucht.“
„Hm.“
„Lisa Baumann … sie beschuldigt sich selbst … wir glauben, sie schützt ihren Bruder … sie hat eine Kette an ihrem Hals … Für mich ist sie raus.“
Sarah hob resignierend die Arme und blieb stehen: „Eigentlich wissen wir nichts.“
„Langsam lichtet sich das Dunkel“, kam es überraschend von Leitinger.
„Ach ja? Ich sehe nichts.“
Sarah schaute ihren Chef neugierig an. Leitinger sah durch den Spiegel. Lisa saß immer noch in genau der gleichen Haltung am Tisch.
„Die beiden Baumanns können wir …“
„Herr Leitinger?“ Lars Röttler, ein Kollege von der Spusi, öffnete die Tür.
„Ja? Habt ihr was gefunden?“
Röttler hielt ihm eine Plastiktüte hin, in der sich ein blutverschmierter Baseballschläger befand.
„Das hier. Bei Frau Baumann im Keller. Der ist aber unverschlossen … hat gar kein Schloss.“
Mit einem Kopfnicken verschwand der Kollege mitsamt dem Tatwerkzeug.
„Also ein Baseballschläger. Wie der Doc vermutet hat. Aber wie kommt der in den Keller von Lisa Baumann?“
Sie wandte sich Leitinger zu.
„Was wollten Sie eben sagen, Chef?“
„Die beiden Baumanns können wir …“, begann Leitinger wieder, da öffnete sich erneut die Tür. Ein anderer Kollege schaute herein, die Klinke noch in der Hand.
„Das Alibi von Tobias Baumann wurde definitiv bestätigt.“
Er hob grüßend die Hand und schloss die Tür wieder.
„… nach Hause schicken“, beendete Leitinger schließlich seinen Satz.
Sarah runzelte die Stirn:
„Okay … ich arbeite mit einem Hellseher zusammen.“
Sie lachte auf.
„Sehen Sie das alles da, wo sie hinschauen?“
„Wer weiß?“, grinste Leitinger vielsagend. „Vielleicht … manchmal.“
Er verließ seine Denkerstellung und schaute Sarah in die Augen.
„Sie haben es doch selbst gesagt … Lisa hat eine Kette um den Hals. Und Tobi? … Glaube nicht, dass er so abgebrüht ist und sich da wieder blicken lassen würde.“
„Hm“, machte diesmal Sarah.
„Also … Das einzig ungeklärte ist jetzt noch das Verhalten von Frau Leibholz.“
„Leipolz“, korrigierte Sarah.
„Na gut. Leipolz“, winkte Leitinger ab, „Außerdem wohnt sie doch genau über dem Waschkeller. Da könnte sie was gehört haben.“
„Ob sie wohl noch bei ihren Eltern ist?“, fragte sich Sarah laut. „Und warum hat sie gelogen?“
„Das werden wir sehen. Denke, wir sollten versuchen, sie zu überraschen … einfach bei ihr Aufkreuzen ... Vielleicht ergibt sich ja was … man weiß nie.“
Sarah nickte zustimmend, öffnete die Bürotür und lud ihren Chef mit einer Geste ein, vor ihr durch die Tür zu gehen.
„Dann statten wir beide dieser Martina Leipolz mal einen Besuch ab.“
Sonntag, morgens
Was hatte das denn jetzt zu bedeuten? Warum, um alles in der Welt, nahm die Polizei Lisa mit? Martina stand am Fenster ihres Wohnzimmers und beobachtete, wie Lisa mit einem Mann und einer Frau in ein Auto stieg. Die beiden hatte sie schon einmal gesehen, am Freitagmorgen, bevor sie das Haus verlassen hatte. Wahrscheinlich waren das die ermittelnden Beamten. Aber was wollten sie mit Lisa? Egal, es schien jedenfalls alles nach Plan zu laufen. Mehrere Polizisten in Uniform waren mit den beiden angekommen, und das konnte ja nur bedeuten, dass sie die Wohnung von Lisa durchsuchten, weil der Verdacht gegen Tobi sich erhärtet hatte. Und dann würden sie sich auch das Kellerabteil vornehmen. Und dort war der Schläger, nachlässig hinter ein paar Kartons mit Büchern gestopft, ganz so, als hätte ihn jemand in großer Eile dort deponiert. Was ja auch gar nicht gelogen war, sie hatte wahnsinnige Angst gehabt, dass sie erwischt werden könnte. Aber niemand hatte sie gesehen. Martina nippte an ihrem Kaffee. Bald würde der ganze Alptraum vorbei sein.
***
„Jetzt bin ich mal gespannt wie ein Flitzebogen“.
Sarah parkte den Dienstwagen direkt hinter einem gepflegt aussehenden Golf. Sie schaute Leitinger grinsend an.
„Also, da ist sie schon mal.“ Und deute beim Aussteigen auf das Nummernschild.
„Hm.“
Als sie auf den Wohnblock zuschritten, schaute sich Sarah um. Ihr kam die ganze Anlage ziemlich heruntergekommen und trostlos vor. Der Rasen war größtenteils zertrampelt. Die ehemaligen Blumenbeete boten einen traurigen Anblick. Überall lag Müll herum. Um die wenigen Bänke lagen Kippen verstreut. Hier kümmerte sich wohl niemand.
„Da habe ich ja Glück gehabt mit meinem kleinen Apartment direkt am Park. Schön ruhig da … und nur durch den Park zum Präsidium … ich bräuchte eigentlich gar kein Auto.“
Sarah hielt Leitinger die Tür auf und schwatzte weiter drauf los, bis sie vor der gesuchten Wohnungstür standen.
***
Nur noch dieser letzte Schritt, dann war alles erledigt. So schwer konnte das doch nicht sein. Und außerdem blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, einen Weg zurück gab es nicht mehr. Sie musste sich jetzt zusammenreißen! Es ging nur noch darum, die blutigen Kleidungsstücke loszuwerden, dann konnte ihr gar nichts mehr passieren.
Martina packte entschlossen den Wäschekorb, doch in ihrem Flur blieb sie wieder zögernd stehen. Die Polizisten hatten schon vor zwei Stunden das Haus verlassen. Jetzt war alles ruhig, die Straße wirkte wie ausgestorben. Was würde sie darum geben, wenn es einfach nur ein normaler Sonntagvormittag wäre, wenn sie nur ganz normal eine Maschine Wäsche waschen müsste, um sich dann bei dem schönen Wetter mit einem guten Buch einen netten Tag im Park zu machen, irgendwo am Fluss. Ja, und genau das würde sie auch tun, denn ihr Leben würde wieder in ganz normalen Bahnen verlaufen, wenn sie sich endlich überwunden hätte, diesen grässlichen Wäschekeller zu betreten. Was hielt sie denn bloß zurück? Da unten würde doch aussehen wie immer, der Keller war doch wieder freigegeben, dann hatte doch auch jemand alles beseitigt, was mit Donnerstagnacht zusammenhing. Nein, Schluss jetzt, sie würde sofort aufhören nachzudenken, einfach nach unten gehen, die Kleider in die Waschmaschine stopfen und alles wäre beendet.
Martina klemmte sich den Wäschekorb unter den Arm und wollte grade die Wohnungstür öffnen. Genau in diesem Moment klingelte es.
***
„Guten Morgen. Konstein. Das ist mein Kollege Leitinger.“
Schon während Sarah auf die Klingel neben dem Namenschild „Leipolz“ drückte, zückte sie ihren Dienstausweis.
„Wir haben miteinander telefoniert.“
Sarah trat, sobald sich die Tür öffnete, einen Schritt vor und hielt der überraschten Frau Leipolz ihren Ausweis mit ausgestrecktem Arm vor die Nase. Erfahrungsgemäß wichen die Menschen vor ihrer Größe und Athletik erst einmal zurück. So hoffte sie, einen Zug im voraus zu sein. Vielleicht gelang es ihr ja, die Leipolz zu verunsichern. Schließlich hatte sie offensichtlich gelogen.
Der Plan ging auf, denn Martina wich einen Schritt zurück in ihren Flur hinein. Sofort trat auch Sarah nach vorne und stand schon in der Wohnung. Von dem kleinen Flur lag rechter Hand das Bad. Die Türe geöffnet. Geradeaus schaute Sarah ins Wohnzimmer.
Vor Ihnen stand Martina Leipolz mit einem Korb voller schmutziger Wäsche. Die Augen weit aufgerissen.
***
Oh nein, bitte nicht, das konnte doch nicht wahr sein.
Was wollten die denn jetzt von ihr? Warum war sie bloß nicht früher nach unten gegangen?
Die konnten doch nichts wissen, das konnte nicht sein. Aber wieso waren sie denn hier?
Und was sollte sie jetzt machen?
Martina fühlte die Panik in sich aufsteigen. Sie bekam kaum noch Luft.
***
„Sie haben mich am Telefon angelogen, Frau Leipolz.“
***
Martinas Hand klammerte sich fest um den Rand des Wäschekorbes.
Jetzt bloß nicht fallenlassen!
Sie musste diesen Korb ganz, ganz fest halten, dann konnte nichts passieren. Nur der Korb war wichtig, nichts sonst.
Instinktiv machte Martina einen weiteren Schritt zurück in die Wohnung. Es fiel ihr immer schwerer, Luft zu holen, sie fühlte sich nahe am Ersticken. Hatte die Frau nicht gerade etwas zu ihr gesagt? Musste sie nicht antworten? Warum konnte sie denn nicht denken? Sie wusste nur, dass sie den Wäschekorb festhalten musste. So fest wie möglich, drückte sie ihn an sich.
***
Leitinger trat hinter Sarah hervor, machte wieder einmal „Hm“ und zeigte mit dem rechten Zeigefinger demonstrativ auf den Wäschekorb. Dabei schaute er Martina fest in die Augen:
„Darf ich mal einen Blick in ihren Korb werfen?“
Epilog - Sonntag, später Vormittag
„Dass wir den Fall so schnell abschließen konnten, haben wir im Grunde der Einsamkeit einer Hausbewohnerin zu verdanken, die den ganzen Tag hinter der Gardine hängt und die Vorgänge in der Nachbarschaft beobachtet.“
„Hm“, entgegnete Leitinger. „Gut, dass es solche Zufälle gibt.“
Auf der Rückfahrt zum Präsidium hatte er plötzlich Hunger verspürt und Sarah zum Mittagessen bei Luigi, seinem Italiener, eingeladen. Dankbar hatte sie angenommen. Erstens meldete sich auch ihr Magen mit einem Knurren und zweitens wollte sie die Möglichkeit nutzen, ihren Chef näher kennen zu lernen. Sie mochte seine ruhige Art. Nichts schien ihn aus der Ruhe bringen zu können.
Während sie, etwas abseits vom Mittagstrubel, bei einem Espresso auf ihre Pasta warteten, gingen sie den Fall „Martina Leipolz noch einmal“ durch.
„Und diese Leipolz …“, setzte Sarah an.
„Ich kenne ihren Vater“, unterbrach Leitinger sie. „Er war mal Staatsanwalt … lange her … bevor er an die Uni ging. Ein ganz harter Hund.“
„Ach deshalb studiert sie Jura?“
Die Frage blieb in der Luft hängen, denn Luigi hatte Leitinger erspäht und kam mit einem strahlenden Lächeln an ihren Tisch.
„Beuna Sera, Commissario.“
Luigi reichte Leitinger die Hand.
„Come stai, spero bene.“
Mit einem Blick zu Sarah.
„Chi è questa Bellezza?“
„Das ist Frau Konstein, meine Kollegin“, stellte Leitinger sie vor.
„Warum du mir haben vorenthalten diese wunderschöne Exemplar von Frau? Madonna!“
Luigi tat empört und gestikulierte vor Leitinger mit seinen Händen herum.
„Adorazione bella Signorina.“
Luigi vollführte eine elegante Verbeugung.
„Was ich kann für sie tun?“
Sarah konnte sich das Lachen nicht verkneifen.
„Ich hätt` gern ein Acqua senza.“
„Molto bene. Viene subito.“
Luigi verschwand mit einem Lächeln für Sarah.
„Wenn der Kollege nicht so geduldig mit der Zeugin gewesen wäre, hätte die Leipolz ihre Wäsche in Ruhe waschen können“, knüpfte Sarah an ihr Gespräch vor Luigis Auftritt an.
„Hm.“ Leitinger trank seinen Espresso aus. „Und wir hätten einen unaufgeklärten Fall.“
„Und das mögen Sie gar nicht. Ich weiß. Das habe ich schon mitbekommen.“
Sarah spielte mit dem Salzstreuer.
„Sagen Sie mal … Wann waren Sie sich sicher … mit dem Wäschekorb? Ich habe gar nicht so richtig auf den geachtet.“
„Hm“, setzte Leitinger an. „Sie hatte schon Angst, bevor sie die Tür aufmachte. Vielleicht hat ihre forsche Art sie noch mehr erschreckt. Sie hat ja kaum noch geatmet.“
„Ja. Angst hatte sie …“
„Und als sie mit ihrer Lüge konfrontiert wurde, hat sie den Wäschekorb irre fest an sich gedrückt. Da hat es noch einen Schalter in ihr umgelegt … Ihre Augen flackerten so komisch ... Die Fingerknöchel wurden ganz weiß ... Als wenn sie den Korb verstecken wollte“, schilderte Leitinger seine Eindrücke.
„Und was wussten Sie da?“
Sarah hing neugierig an den Lippen ihres Vorgesetzten.
„Eigentlich nichts.“
Leitinger lächelte.
Sarah überlegte laut: „Ihre panische Reaktion habe ich schon bemerkt, aber …“
„Sie standen ja auch viel zu nah an ihr dran. Haben fast über sie hinweg gesehen.“
Sein Lächeln breitete sich über sein ganzes Gesicht aus, denn Luigi näherte sich mit ihren Tellern.
„Aus der Distanz sieht man oft mehr, als von ganz nah.“
Leitinger ließ sich von Luigi bedienen.
„Oh! Mein Chef, ein Philosoph.“
Sarah nahm eine Gabel Spagetti Vongole.
„Und warum ihre Wäsche?“
Leitinger zuckte mit den Schultern: „Keine Ahnung … Ein Schuss ins Blaue … Intuition?“
2019 Wolfram Jakob/Sabine Nies - Seite 24 v 24
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2021
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