„Mario, Drachen gibt es nicht!“ „Doch, Mama! Drachen gibt es ganz bestimmt! Ich hab welche gesehen heute Nacht!“ „Du hast geträumt, Mario!“ Mama setzte sich zu Mario auf die Bettkante und nahm ihn in den Arm. „Weißt du,“ sagte Mama, „Drachen gibt es wirklich nicht, Drachen hat es nie gegeben. Nur Dinosaurier hat es gegeben, aber das ist lange, lange her. Aber Drachen, Drachen waren das nicht, das weißt du doch!“ Mario verschränkte beleidigt die Arme und rutschte trotzig von Mama weg. „Du kannst ja gar nicht wissen, dass es sie nicht gibt! Drachen zeigen sich eben nicht so einfach und außerdem bist du ja auch erwachsen!“ „Ja, vielleicht liegt es daran. Du musst ja wirklich schön geträumt haben!“ Mario seufzte. Wahrscheinlich konnte er Mama wirklich nicht überzeugen. Immer dieses Theater mit den Erwachsenen! Die glauben wirklich nichts, was sie nicht selbst sehen, dachte Mario, während er sich völlig abwesend anzog. Er merkte gar nicht, dass der Pullover verdreht war und er die Schuhe verkehrt herum anzog. So ein Mist! Kein Mensch glaubte ihm. Vielleicht ja die Freunde in der Schule.
Mario hatte eine Besonderheit. Eigentlich war er ein ganz normaler Junge mit kurzen, blonden Haaren, ganz normal mittelgroß, mittelstark und mittelschlau. Bis auf eine Sache. Seine Lieblingstiere waren nämlich Drachen. Die anderen in seiner Klasse schwärmten von Katzen, Hunden, Seehunden, Delphinen, Pinguinen, auch von Walen und Schlangen – Mario schwärmte von Drachen. Außerdem liebte Mario grüne Klamotten. Er wollte immer am liebsten alles in grün tragen. Nur ein Teil, ein kleines, das musste rot sein „wie der Kamm von Flitze Feuerzahn“. Alles hatte eigentlich schon angefangen, als Mario noch in den Kindergarten ging. Da hatten sie immer Geschichten erzählt bekommen von Burgen, Rittern und Drachen und Mario fand es doof, dass Drachen immer für böse gehalten und gejagt wurden. Wenn sie „Ritter und Drache“ spielten, dann spielte Mario den Drachen und der war ganz lustig und lieb und schickte die dummen Ritter mit ihren Schwertern nach Hause. In einer Ecke baute er sich mit zwei anderen Kindern eine „Drachenhöhle“, eine urgemütliche Kuschelecke. Bald las Mama Feldberg (So hieß Mario mit Nachnamen) nur noch Flitze Feuerzahn und wenn Mario im Fernsehen Kindersendungen sah, dann nur, wenn „Hallo Spencer“ oder „Tabaluga“ kam. Denn Tabaluga fand er klasse, der konnte sogar fliegen, und Poldi und seine Jungdrachenschule waren für Mario ein echter Knaller. Noch bevor Mario zur Schule kam fing er plötzlich an, alle Kleidung die er anziehen sollte und die nicht grün war in eine Ecke seines Zimmers zu pfeffern. Nach wochenlangen, nervenaufreibenden, allmorgendlichen Szenen gab Mama Feldberg entnervt auf und in einer nächtlichen Verzweiflungstat färbte sie seinen kompletten Kleiderschrank grün. Außerdem bekam Mario einen roten Schal, eine rote Sonnenbrille, feuerrote Socken, eine grellrote Baseballmütze und, das Schlimmste (fand wenigstens Papa), knallrote Turnschuhe.
Vor einem Jahr, an seinem ersten Schultag, trug Mario edel- dunkelgrün, grüne Stoffschuhe und hatte eine knallrote Schultüte mit kleinen Drachen drauf. Als die Eltern gegangen waren setzte sich die Lehrerin, Frau Finkenstein, auf ihr Pult, baumelte mit den Beinen und sagte fröhlich: „So, heute wollen wir noch nicht gleich so schwer anfangen. Wisst ihr was? Ihr nehmt mal alle Papier und Stifte heraus und malt mir euer Lieblingstier!“ Mario strahlte. Zu Hause tat er den ganzen Tag fast nichts anderes, als Drachen zu zeichnen. Als alle fertig waren stellten die Kinder sich und ihr Bild vor. „Ich bin Mareike und meine Lieblingstiere sind Meerschweinchen!“ Mario musste kichern. Was das Mädchen da gemalt hatte sah aus wie Bockwürstchen mit Füßen. Jan mochte Tiger am liebsten „weil die so stark sind“, Felix Panther „weil die so schnell und leise sind und so toll aussehen“ und andere liebten Hasen, Pferde und Katzen. Dann kam Mario an die Reihe. Stolz verkündete er: „Ich bin Mario und meine Lieblingstiere sind Drachen!“ „Du meinst Dinosaurier?“, verbesserte Frau Finkenstein freundlich. Mario seufzte. Schon wieder! Seine Mutter hatte ihm das ganze Zimmer mit Dinosaurier- Postern bepflastert! Dinos waren schon cool. Aber Drachen, Drachen sind doch keine Dinos!! „Nein! Drachen! Richtige Drachen!“ „Aber Mario! Drachen sind doch nicht echt! Das sind keine echten Tiere sondern Fabelwesen, die es nicht gibt! Magst du denn keine anderen Tiere?“ „Naja, Dinos sind schon ganz cool,..“ lenkte Mario ein. „Oder Eidechsen.“ „Siehst du? Ja, Eidechsen gibt es, die sehen manchmal sogar aus wie kleine Drachen!“ Der Nächste war Hannes und der war ganz verrückt nach Regenwürmern. Das fanden alle so abgefahren, dass sie Marios Drachen schnell vergessen hatten. Inzwischen ging Mario bereits in die zweite Klasse. Die anderen hatten sich an seine „Drachenmacke“ gewöhnt und der Regenwurm-Hannes war sein bester Freund geworden. Mario erzählte ihm dass es Lindwürmer gab, Drachen, die einen schlangenartigen Körper hatten und keine Flügel und die in Gewässern lebten. Zusammen spielten sie dann oft „Lindwurm und Drache“ in Marios Zimmer oder im Garten. Im Sommer wohnte Lindwurm Hannes im Teich und Drache Mario im Schuppen daneben und sie besuchten sich gegenseitig und tranken grüne Limo.
Heute allerdings, einen Tag nach seinem Geburtstag, einem diesig-regnerischen Novembertag, hatte Mario miese Laune weil Mama glaubte, er habe geträumt. Er hatte auch noch schlechte Laune, als sie ihn am Mittag von der Schule abholte und die Laune wurde davon dass es regnete nicht gerade besser. Er trampelte absichtlich in jede Pfütze und sah missmutig auf seine Füße. „Zieh, doch nicht so ein Gesicht! Regen ist toll! Regen macht Spaß!“ Mama lachte. „Regen ist oberdoof. Wasser ist ganz schlecht für Drachen! Sind doch Feuerdrachen! Wasser ist was für Wasserdrachen und die sind selten!“ „Mario, ich hab dir ein Buch über Eidechsen gekauft!“ Mario verzog keine Mine und guckte weiter missmutig. „Toll, Mama.“ Frau Feldberg seufzte. Was sollte sie tun? Was sollte sie tun, wenn sie mit allen Dinosauriern und Eidechsen der Welt nichts gegen Marios Drachenwahn tun konnte? Dabei fand Mario Dinos gar nicht doof. Seine Poster mit den Namen konnte er auswendig und eines zeigte einen Dschungel mit lauter verschiedenen Dinosauriern. Das Bild mochte Mario besonders gern, er hatte es mal von seiner Oma zum Geburtstag bekommen. Was von seinen Wänden sonst noch übrig war, klebte voll von selbst gemalten Drachenbildern und Tonkartondrachen, auch sein allererster Drache, den man kaum erkennen konnte. Er hatte ihn mit vier Jahren aus dem Cover von Papas Cat Stevens-Platte ausgeschnitten. Papa war noch heute sauer, er hatte fünf Tage lang geschmollt. Aber zum Glück hatte Mario die Rückseite erwischt und Papa fand die Platte inzwischen sowieso nicht mehr so toll.... . Marios Zimmerteppich leuchtete in knallgrün, unter seinem Hochbett hatte er die Höhle mit dunkelgrünen Stoffbahnen verhängt, selbstverständlich hingen am Fenster grüne Gardinen. Seine Bettwäsche zeigte einen Urwald mit Büschen, Bäumen und Schlingpflanzen in allen möglichen Grüntönen und vom Schlafanzug bis zur Unterwäsche bestand Mario auf grün.
Letzte Woche hatte er Mama einen ganz schönen Schreck eingejagt. „Mario!“ rief sie , als er in die Küche kam. „Ach du liebes Lieschen, wie siehst du denn aus?“ „Ich wollte so’n roten Kamm wie Flitze, hält nur nicht so gut. Hier ist der Rest!“ Entgeistert starrte Mutter Feldberg auf ihren Junior. Das Gesicht und die Hände rotverschmiert, streckte der ihr eine fast leere Ketchup-Flasche entgegen. Der Rest der Flasche befand sich mehr oder weniger gut verteilt in Marios blonden Strubbelhaaren. „Hab das ganz allein geschafft! Du hast doch auch manchmal rote Haare, Mama!“, befand er stolz. „Ja, schon. Aber das macht man doch nicht mit Ketchup! Erstens ist der zum Essen da und zweitens hält das doch überhaupt nicht! Komm' erst mal mit ins Bad!“ Mama wusch ihm die ganze mühselige Arbeit wieder aus den Haaren. Als sie ihm mit dem Waschlappen rote Ketchupspritzer von der Nase abwischte fragte er: „ Wie macht man das denn sonst?“ „Dafür,“ erklärte Mama, „gibt es besondere Farbe. Das kann man zu Hause selbst machen, dann geht das wieder raus, man kann sie aber auch beim Frisör färben lassen, das bleibt dann länger. Aber für dich ist das noch nichts!“
Gestern hatte Mario Geburtstag. Die Haare durfte er sich nicht färben, obwohl er es sich so sehr gewünscht hatte. „Dafür bist du noch zu klein!“, entschied Mama. Statt dessen bekam er etwas anderes. Als Mario das große Päckchen auswickelte, sah man die Spannung auf seinem Gesicht. er riss das Papier beiseite und hielt einen großen, grauen Pappkarton in der Hand, auf den Mama „Vorsicht! Bissig!“ geschrieben und Gitterstäbe gemalt hatte. „Ist da ein Drache drin?“, fragte Mario aufgeregt. „Mach doch auf!“, antwortete Papa. Mario klappte den Deckel hoch. „Ohhhhh.....!“ In dem Karton lag ein Drache. Ein richtiger Babydrache mit einem dunkelroten Stachelkamm und großen Augen. Leider aus Plüsch, aber Mario hob den Drachen so vorsichtig aus dem Karton, als wäre er ein chinesisches Teeservice. Stolz besah er ihn sich von allen Seiten. „Armer kleiner Drache! Hast so lange in dem Karton gesessen! Jetzt brauchst du erst einmal Luft... und etwas zu fressen!“ „Was fressen Drachen denn so?“, fragte Mama neugierig. „Alles! Sahnebonbons und Pommes und Pfannkuchen und Buttercremetorte. Einfach alles!“ Am Kaffeetisch bekam der Drache seinen eigenen Stuhl (Marios alten Babyhochstuhl) und auf den Teller ein großes Stück Sahnetorte mit giftgrüner Marzipandecke, das später Mario essen musste, weil der kleine Drache es einfach nicht schaffte. „Mario, Samstag kommen deine Freunde. Was willst du eigentlich machen?“ „Ein Drachenfest!“ „Ein Drachenfest? Wie soll das denn aussehen?“ „Weiß noch nicht. Sind ja noch fünf Tage hin.“ „Aber ich muss doch vorbereiten! Essen und Trinken und Spiele und so..“ „Ist doch ganz einfach! Butterkuchen mit grüner und roter Sahne, grüne Limo und grüne Götterspeise zum Nachtisch. Das Abendessen muss nicht grün sein. Oder gibt’s Pommes auch in grün?“ Papa und Mama lachten. Als nachher noch Onkel Thomas und Tante Anne zu Besuch kamen, schenkten sie ihm neue Wasserfarben und haufenweise neues Malpapier. „Für die Drachengalerie!“, grinste Tante Anne. Papa grinste überhaupt nicht. Der guckte immer so komisch bei dem Wort „Drachengalerie“ und sah zur Stereoanlage. Weiß der Drache, wieso! „Der Drache braucht dringend einen Namen! ich kann doch nicht immer nur ‘kleiner Drache’ sagen!“ „Bronto? Stego? Was anderes fällt mir nicht ein.“, überlegte Mama. „Das sind doch Dinosauriernamen! Dinosaurier sind keine Drachen! Dinosaurier und Drachen sind etwas ganz Verschiedenes! Das hab ich dir doch schon soooo oft gesagt!“ Beleidigt zottelte Mario in sein Zimmer. Er zog sich aus und angelte unter der Bettdecke nach seinem Schlafanzug. Mit dem Drachen im Arm krabbelte er unter die Decke. Mama kam, um das Licht auszumachen. „Gute Drachennacht! War es denn ein schöner Geburtstag?“ Mit einem Blick auf den Drache fügte sie hinzu: „lebendige hatten sie leider nicht!“ Mario nickte. „War schön heute. Aber Drachen sind keine Dinos!“ Mama lächelte. „Ja, denn Dinosaurier sind echt. Waren sie zumindest. Du erinnerst dich doch an die Dinosaurierknochen, die wir im Museum gesehen haben?“ „Klar. Du, Mama?“ „Was ist?“ „Schade, dass es Drachen nicht wirklich gibt!“ Mama strich Mario über die Haare, lächelte noch einmal und machte das Licht aus. Und dann begann, was ihm heute niemand geglaubt hatte. Nichtmal Hannes.
„Schläfst du schon?“ Mario setzte sich im Bett auf. Er hatte eine Stimme gehört. Es war aber niemand im Zimmer. „Wer ist da?“, fragte er ganz leise. „Na ich! Hier, ganz dicht neben dir!“ Mario sah dorthin, woher die Stimme sprach und sein Herz begann ganz stark zu klopfen. „Drache? Bist du das ?“ „Klar. Wer sonst? Oder kannst du hier sonst irgendjemanden sehen? Der kleine Drache kletterte auf Marios Bettdecke. „Darf ich mich vorstellen? Fidibus. Fidibus der Jüngste!“ Er knickte ein Vorderbein und verneigte den Drachenkopf. Mario war so aufgeregt wie noch nie. Sein Drache war nicht mehr aus Plüsch! Er hatte kleine Krallen, Drachenzähne, bewegliche Flügel, Drachenhaut. Ein richtiger, echter, lebendiger Drache, der sogar mit ihm sprach. „Jetzt aber keine Zeit vertrödeln. Ich will einen Ausflug mit dir machen!“ „Wohin denn?“ Mario hopste unruhig auf und ab. „In mein Land! In das Drachenland Zedusien, wo alle Märchendrachen leben.“ „Dann gibt es wirklich Drachen?“ Fidibus schnaubte beleidigt. „Na hör mal! Rede ich mit dir, oder nicht? In unserem Land gibt es viele Drachen. Aber bei euch hier ist es immer etwas schwierig. Da müssen wir uns tarnen und verstecken und können uns nur selten zeigen. Aber wir flüstern manchen Menschen in der Nacht Märchen in ihre Träume, damit sie Geschichten von uns erzählen!“ Fidibus hopste vom Bett. Es gab einen lauten Plumps und Mario hoffte nur, dass Mama und Papa es nebenan nicht hörten. Der kleine Drache lief vor das große Dinoposter mit dem Urwald, das von Oma. Erstaunt bemerkte Mario, dass Fidibus größer wurde. „Halt’ dich an meinem Hals fest!“ Mario konnte Fidibus gerade noch erwischen. Der Drache sprang mit einem Riesensatz auf das große Poster zu. Erschrocken schloss Mario die Augen, fühlte, wie er mitgerissen wurde und plötzlich fühlte er kalte Luft um die Nase. „Mach’ die Augen auf und halt dich fest, sonst fällst du!“, rief Fidibus. Mario öffnete die Augen. Er saß tatsächlich auf dem Rücken eines Drachen, der mit ihm sprach, während er über einen Dschungel flog!! Mächtige Flügel hatte der Drache, starke, gepanzerte Haut und Stachelzacken am Schwanz. Auf dem Kopf hatte er einen leichten Kamm, der war aber nur ganz wenig rot, sonst fast nur grau. Der Drache war schwarz und grau mit nur ganz wenig dunkelgrünen Stellen an den Flügeln. „Sieh mal nach unten, gleich sind wir an der Steppe!“ Fidibus flog tiefer und Mario hatte Mühe, sich festzuhalten. Das fühlte sich ja doller an als jede Achterbahn! „Da sind ja Dinosaurier! Seid ihr doch mit denen verwandt?“ „Nein, nicht so besonders. Aber ich dachte, das Saurierland könnte dich interessieren. Pass mal auf, jetzt kitzeln wir den Brachiosaurus an der Nase!“ Mario jubelte begeistert. „Wahnsinn! Der ist ja riesig! Der ist ja höher als ein Haus!“ „Viel höher!“, antwortete Fidibus. „Zum Glück ist er ein Pflanzenfresser. Grüß ihn doch mal!“ Der Drache flitzte direkt unter der Nase des graublauen Riesen hindurch und Mario winkte und rief im Vorbeisausen ganz laut: „Hallo Brachiosaurus!“ Die Sonne brannte heiß. Unter ihnen zog sich die Steppe mit einzelnen Teichen und Wäldchen dazwischen hin, in der Ferne erkannte Mario Gebirge.
Fidibus flog genau in diese Richtung. „Fliegen wir in das Gebirge?“ „Ja, Mario, genau mitten hinein! Siehst du den ganz großen Berg da hinten? Da müssen wir hin!“ Staunend konnte Mario keinen Augenblick von der Landschaft und den Dinosauriern wegsehen. Er klammerte sich an Fidibus’ Hals fest und guckte sich schwindelig und fühlte sich so fröhlich und glücklich wie noch nie. Das Gebirge kam näher. „Festhalten!“ Fidibus schoss auf den großen Berg zu und dann steil hinauf auf den Gipfel. Der Berg sah aus wie ein Hut und war oben flach. Ein Tafelberg. Oben landete der Drache. Gras wuchs auf der Ebene und in der Mitte befand sich eine große, runde Steinplatte mit dem Bild eines Drachen darauf. Fidibus ließ Mario über seinen Flügel auf den Boden rutschen. Merkwürdig, dachte Mario. Er stand barfüßig und im Schlafanzug mitten am Tag im Gras auf einem Berg in einem Land, in dem es echte Dinosaurier gab! „Stell’ dich mal da auf das Bild. Es ist die Tür!“ Mario lief auf die große Steinplatte. Etwas mulmig fühlte er sich schon. „Sind wir auch rechtzeitig wieder zu Hause?“ „Ich denke schon!“, beruhigte ihn der Drache. Als er in der Mitte auf dem Bild stand, fing sich alles um ihn her an zu drehen und alles funkelte und glitzerte. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, stand er auf einem anderen Berg. Um ihn her erhob sich ein mächtiges, graues Gebirgspanorama, mit Schluchten und Tälern und Gebirgsseen. Einige Berge hatten weiße Spitzen. Mario fröstelte. Er war ja immer noch Barfuß. Plötzlich stand Fidibus wieder neben ihm. „Da sind wir! Im Gebirge fühlen wir Drachen uns am wohlsten.“ „Mir ist kalt!“, jammerte Mario. „Oh je, ja natürlich, komm! Lass uns schnell rein fliegen!“ Mario guckte verwirrt, er konnte außer Bergen nichts erkennen. „Wo rein?“, fragte er neugierig. „Na da drüben! Oder siehst du den Höhleneingang nicht?“ Doch! Und ob! Mario hielt den Atem an. Der große Berg direkt vor ihnen hatte eine riesige Öffnung, den Eingang einer scheinbar gigantischen Höhle. Warum nur war ihm das eben nicht aufgefallen? Fidibus hob Mario wieder auf seine Schultern und flog auf die Höhle zu. Mario bekam den Mund nicht mehr zu vor lauter Staunen. Als sie durch das Tor geflogen kamen, sah er zum ersten Mal eine wirkliche, große Drachenstadt! Eine gewaltige Höhle führte tunnelartig in die Tiefe und an allen Seiten flogen kleine und große Drachen aus Seitentunneln in die Höhle oder verschwanden in ihnen. In der Luft herrschte Hochbetrieb. Aus der Tiefe drang ein heller Lichtschein. An den Höhlenwänden konnte Mario überall in allen Höhen Drachenhorte sehen. Auf Felsvorsprüngen dösten sie vor sich hin, am Boden liefen Jungdrachen um die Wette oder übten Starts und Flugrollen. Fidibus und Mario flogen die Haupthöhle entlang, dem Leuchten entgegen. Alles hier roch nach Märchen und Abenteuer. Zwei Drachen, etwas größer als Fidibus, der eine rot, der andere violett mit schwarzem Bauch, schlossen sich ihnen an. „Hallo Mario! Ich bin Hokus und das ist Pokus! Wir sind die beiden großen Brüder von Fidibus!“, stellte der rote Drache sich vor. „Hokus, Pokus, Fidibus!“, rief Mario lachend und Hokus erklärte ihm: „Ganz genau! Wir sind die drei Zauberdrachen. Alle Drache können eigentlich zaubern, aber wir besuchen die Menschen und kommen in den Märchen vor. In jedem Märchen, in dem jemand sagt: „Hokus, Pokus, Fidibus!“ haben wir etwas damit zu tun!“ Inzwischen hatten sie die Quelle des Lichtscheins fast erreicht. Es handelte sich um einen Lavasee. Von hier bekam die gesamte Drachenstadt Licht und Wärme. Daneben saß auf einem großen, goldenen Thron ein großer lilafarbener Drache mit Goldkrone und grünen Flecken am Bauch. Er hatte auch Flügel wie die anderen, aber nur Krallen am Ende der Flügel und sonst keine Füße und einen Schlangenartigen Körper. Zwischen dem Lavasee und dem Thron landeten die drei Drachen und Fidibus sagte: „Sei gegrüßt, Aglef Drachenkönig! Hier ist ein Junge aus dem Menschenreich, der uns besuchen kommt. Hat er freies Geleit?“ Der Drachenkönig sah Mario an. Das fühlte sich seltsam an. Die großen, strengen, aber irgendwie auch gütigen Augen des Drachenkönigs schienen in ihn hineinsehen zu können. „Mario Feldberg, Menschenjunge, tritt vor!“ Fidibus ließ ihn wieder über den Flügel rutschen und Mario stand jetzt ganz klein, im grünen Schlafanzug, drei große Drachen im Rücken, vor dem Drachenkönig und fühlte sich noch viel seltsamer. Der Drachenkönig sprach etwas, was Mario nicht verstand, das Wort des Drachen rollte tief und mächtig durch die Höhle. Was es nur bedeuten mochte? Um ihn herum blitzte es auf. Er fiel vorn über und stützte sich mit den Händen ab. Irgendwas fühlte sich komisch an. Hinter sich hörte er bewundernde Rufe. „Klasse siehst du aus! Ein perfekter kleiner Jungdrache!“ Was? Mario sah erschrocken an sich herab. Das also hatte sich so komisch angefühlt! Er war ein dunkelgrüner, kleiner Drache mit vier Beinen...und Flügeln! Vor Freude drehte er sich dreimal im Kreis und fing laut an zu lachen. „Flieg los, Mario! Sieh dich um in unserer Stadt! Es ist die Hauptstadt von Zedusien. Fidibus kann dir alles zeigen.“ „Kann ich denn fliegen?“, fragte Mario ungläubig. „Aber selbstverständlich! Ohne Flügel kommst du hier nicht weit! Sie her, so geht das!“ Beim ersten Flugversuch plumpste Mario gleich wieder auf die Nase. Beim zweiten klappte es schon besser. Beim dritten drehte er eine Runde über den Lavasee und bekam erst Probleme, als er landen wollte. „Zum landen musst du die Flügel aufstellen, dann bremst du. Guck mal, da kommt eine Flugschule! Flieg doch ein Stündchen mit, ich hol’ dich wieder hier ab!“ rief Fidibus und zeigte auf ein mittelgroßes Drachenweibchen, das von etwa sieben Drachenbabys umtobt wurde. Das Drachenweibchen flog auf ihn zu. „Na, wer bist du?“ „Ich bin Mario! Ich muss fliegen üben, weil ich zu Besuch bin!“ Neugierig flatterten die Drachenbabys um Mario herum. Alle hatten grüne Haut wie er, das Drachenweibchen dagegen rote. „Ich bin Aba, die Fluglehrerin! Komm doch ein Stück mit uns, wir wollten gerade auf den Spielplatz!“ „Darf ich?“ Mario sah Aglef, den König an. Der lächelte nur und nickte. Begeistert folgte Mario der Flugschule in einen Seitenstollen. Ganz schön verzwickt, bei all den Kurven nicht an die Wand zu knallen. Einmal konnte er nur noch haarscharf ausweichen. Durch ein kleines Tor flogen sie ins Freie. Spielplatz? So hatte Mario sich einen Drachenspielplatz nicht vorgestellt! Auf einer Wiese befand sich ein See und neben dem See ein kleiner Berg. Dieser Berg hatte oben eine Plattform und war so durchlöchert, dass die Drachenkinder an mehreren Stellen von einer Seite zur anderen hindurch fliegen konnten. außerdem fiel der Berg zum See hin glatt und steil ab. Eine Drachenrutsche! Etwas weiter entfernt lagen ganz viele größere und kleinere Felsbrocken verstreut, zwischen denen sie prima herumflattern und verstecken und fangen spielen konnten. Daneben wurde die Wiese von einer Schlucht geteilt. In dieser Schlucht reichten in verschiedenen Höhen und auf der ganzen Länge schmale Felsbrücken von einer Seite auf die andere. Mario tobte mit den Drachenkindern. Sie spielten fangen in der Schlucht und drehten Flugrollen um die Brücken. Am liebsten aber stiegen sie über dem See senkrecht auf und ließen sich ins Wasser zurückplatschen. Auf keinem Kinderspielplatz der Welt hatte er je so viel Spaß gehabt. Sie spielten und lachten und machten einen Höllenlärm, bis Aba rief: „Grünlinge! Zeit umzukehren!“ Mit Aba an der Spitze flogen sie durch die Stollen zurück in die Lavasee-Halle. Mario verabschiedete sich ein Wenig wehmütig von den Drachenkindern und landete mit eleganter Doppelrolle vorwärts bei Hokus, Pokus und Fidibus, die immer noch oder schon wieder vor dem Thron standen. Die drei nickten anerkennend und Pokus schmunzelte: „Schau an, der Kleine fliegt ja wie ein Großer!“ Doch für heute war die Zeit vorbei. Wenn Mario rechtzeitig wieder im Bett sein wollte, dann mussten sie jetzt umkehren. Aglefs Stimme erklang erneut tief und grollend in fremder Sprache, es blitzte und Mario sah wieder aus wie Mario. „Komm, wir müssen los!“ Fidibus nahm ihn auf den Flügel und hob ihn auf die Schulter. „Besuch uns mal wieder! Sag einfach: „Hokus, Pokus, Fidibus“ und du wirst schon sehen!“ rief Pokus ihm hinterher, als Fidibus schon los geflogen war.
Tja, und heute, einen Tag nach seinem Geburtstag, dachte Mario an nichts anderes als an den nächtlichen Ausflug, aber niemand hatte ihm geglaubt. Mama nicht und Tina nicht und all die anderen. Nichtmal Hannes. Den ganzen Rest des Tages grummelte er vor sich hin und war zu nichts zu gebrauchen, so sauer machte es ihn, dass niemand ihm glauben wollte. Abends im Bett erzählte er es Fidibus. „Die anderen glauben dir also nicht?“ „Nein, die lachen. Frau Finkenstein denkt ich spinn’!“ „Ja, die ist ja auch erwachsen. Kannst du diese Finkenstein nicht zu deiner Feier am Samstag einladen?“ „Was? Meine Lehrerin? Spinnst du?“ „Doch nicht zum Mitspielen oder so. Pass auf: Du lädst deine Lehrerin ein. Die wird sich dann wahrscheinlich mit deiner Mama im Wohnzimmer unterhalten. Dein Papa ist am Samstag doch sowieso noch auf Geschäftsreise. Wenn du also deine Lehrerin einlädst, dann sind die Erwachsenen aus dem Weg. Den anderen werd’ ich dann schon zeigen, dass es Drachen gibt!“ Mario fand den Gedanken Spitzenklasse! Seine Mutter reagierte zwar überrascht, aber sie lud Frau Finkenstein ein. Am Samstag Nachmittag um halb drei klingelten nacheinander acht kleine Drachen bei Feldbergs. Leo steckte in quietschgelben Klamotten mit grünen, dicken Socken und hatte sich das ganze Gesicht grün angeschmiert und mit Haartönung die Haare grün gefärbt. Tina hatte schwarze Sachen an und eine grüne Gardine als Mantel um. Sie trug ein grünes Kopftuch mit roten, aufgenähten Zacken drauf. Auch die anderen, Jan, Verena, Robert, Thomas, Hannes und Juliane hatten sich geschminkt und verkleidet. Hannes sah fast genauso grün aus wie Mario, nur hell und er bestand darauf, dass er kein Drache, sondern ein Lindwurm war. Mario trug wie immer grün, auch einen grünen Umhang mit aufgenähten Zacken hinten über der Mitte und hatte (endlich!) rot getönte Haare, auf die er richtig stolz war. „Morgen muss das wieder raus!“, verlangte Mama, aber heute war heute. Frau Finkenstein kam als Burgfräulein. Mama hatte Mario davon überzeugen können, die Sahne für den Kuchen nicht einzufärben. „Zu viel Farbstoffe schaden!“, meinte sie. Dafür gab es grüne Götterspeise und viel Sahnetorte und Butterkuchen und Mini-Schokoladenküsse. Als sie alle keinen Krümel Kuchen und keinen Tropfen Kakao mehr hinunter bekamen, gingen sie zum Spielen in Marios Zimmer. Über der Tür hing ein Schild, auf dem ganz groß „Drachenhöhle“ stand. Darunter hatte er einen Drachen vor einem Höhleneingang gemalt. Mama und Frau Finkenstein hatten sich tatsächlich, ganz wie geplant, im Wohnzimmer verquatscht. Marios Zimmer sah ja sowieso immer aus wie eine Drachenhöhle. Zur Feier des Tages hatte er die Höhle unter seinem Bett auf einer Seite aufgemacht damit man hineinsehen konnte und aus einem Tisch und zwei Kisten hatte er zusammen mit seiner Mutter eine Zweite gebaut indem sie große, grüne Laken darüber gehängt hatten. In Marios Bett saß Fidibus, ganz harmlos aus Plüsch und sah sich die spielenden Kinder von dort aus an. Als Thomas zu Tina sagte: „Aber trotzdem ist der nicht ganz dicht! Glaubt, Drachen gibt es wirklich!“, hörten die beiden von irgendwo her ein leises Husten. „Warst du das?“, flüsterte Thomas. „Hast du das etwa auch gehört?“, fragte Tina nervös. „Bist du erkältet?“, wollte Thomas wissen. „Nicht, dass ich wüsste!“, knurrte der inzwischen verwandelte Fidibus. Die beiden zuckten zusammen. Fidibus lag lebendig und nur so groß wie eine Katze zusammengerollt auf dem Kopfkissen. Thomas und Tina liefen kreidebleich an. Mario nahm Fidibus auf den Arm und setzte ihn auf den Boden. Staunend, neugierig und auch etwas ängstlich standen alle um den Drachen herum. „Setzt euch, ich will mich nicht zu groß machen!“, forderte der kleine Drache sie freundlich auf. Zögernd ließen sich die Kinder im Kreis um Fidibus nieder. Der legte sich gemütlich in ihre Mitte und wurde so groß wie ein Pudel. Mit ruhiger Stimme erzählte er den Kindern Geschichten davon wie es aussah, im Land Zedusien. Gebannt lauschten alle und konnten den Blick nicht von Fidibus abwenden. Zum Beweis dass er fliegen konnte drehte er ein paar Runden über ihre Köpfe und spuckte sogar Feuer, ein ganz klein wenig, nur so zum Beweis eben. Lange erzählte der Zauberdrache Geschichten. Plötzlich, wie immer, wenn spielende Kinder länger still sind, ging die Tür auf. Frau Finkenstein und Mama standen in der Tür. Fidibus verschwand schnell in der Höhle, trotzdem hatten beide ihn noch für einen kurzen Augenblick gesehen. Ungläubig rieben sie sich die Augen und sahen in der Höhle nach. Dort aber saß nur ein großer, grüner Plüschdrache. „Komisch! Ich hätte schwören können, dass der gerade hier herumgelaufen ist!“, sagte die Lehrerin. Die Kinder fingen an zu lachen. „Aber Frau Finkenstein!“, kicherte Mario, „Plüschdrachen können ganz bestimmt nicht laufen!“ „Nein. Nein, natürlich nicht!“ Die arme Frau Finkenstein sah ganz verwirrt aus und tat ihnen fast etwas Leid. „Das Abendessen ist fertig!“, verkündete Mama schließlich. Alle rannten an den Esstisch und ließen die beiden Erwachsenen einen kleinen Moment allein im Kinderzimmer zurück, wo sie sich verdattert und ratlos ansahen. Schließlich zuckten sie mit den Schultern und begaben sich hinüber zur Pommes- Schlacht, die bereits heftig tobte. Die Kinder waren während des Essens kaum zu bändigen. Sie spielten, dass die Pommes Drachen waren und ihre Münder die Höhlen und der Ketchup ein See, in dem die Pommes- Drachen badeten und sie lachten und johlten so laut dass man beinahe glaubte, mitten im Hauptflugtunnel einer Drachenstadt zu sein. Nach dem Essen verabredeten sie wann sie in den nächsten Tagen wiederkommen würden, denn sie wollten alle noch die Geschichte von Fidibus fertig erzählt bekommen. Natürlich nicht alle auf einmal, die armen Erwachsenen waren schließlich schon durcheinander genug. Die würden sich doch nur aufregen und das war ja nicht gesund. Als die Gäste das Haus verließen blieb Hannes, der als letzter ging, in der Tür stehen und drehte sich noch einmal zu Mario um. „Und Drachen gibt es doch!“, sagte er und grinste von einem Ohr zum anderen.
Svante-Lucia Hauschildt
Texte: Svante-L. Hauschildt
Bildmaterialien: Coverbild (C) Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 22.06.2016
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