Michael Weisser
Im Gespräch mit
Prof. Dr. Frieder Nake
Mathematiker, Informatiker, Semiotiker
und ein Pionier der Computerkunst
über
Algorithmische Revolution
Digitale Kultur
Ästhetik, Computer, Kunst
*
Always the beautiful answer /
who asks the more beautiful question?
(Edward Estlin Cummings)
Scan über die Fotoapp des Smartphones
oder mit QR-Reader i-nigma
„ImAtelier“
© Michael Weisser 2018
„Hommage an F.N.“
© Michael Weisser 2013
Lieber Frieder – wir haben uns vor kurzem getroffen, haben uns wieder einmal ausgetauscht, erinnert und in Erinnerung gerufen, dass Du in diesem Jahr tatsächlich 80 und ich tatsächlich 70 werde. Es sind zwei runde Geburtstage, die man zum Anlass nehmen kann, bei aller Vorliebe für das Kommende, nun doch auch einmal zurückzublicken auf das Gewesene.
Was ist gewesen, was haben wir gemacht und was hat sich daraus jeweils für uns ergeben? Diese Fragen stelle ich mir schon seit einiger Zeit nicht um satt in Erinnerungen zu schwelgen sondern um eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und hungrig in die Zukunft zu blicken. Ich denke und unterstelle damit, bei Dir wird es ebenso aussehen.
Wir haben uns kennengelernt als ich im Jahr 1988 das Buch für die ars electronica über „Meisterwerke der Computerkunst“ abgeschlossen hatte und für ein auf Bremen bezogenes Projekt nach engagierten Denkern und Machern vor Ort suchte. Mir ging es um ein Festival zum Stichwort „Computerkultur“, in dem die Bandbreite der Wirkung des Digitalen in den Medien Bild, Klang und Wort vorgestellt und erstmals in Bremen diskutiert wird. Auch Du hast computergenerierte Grafiken für die verschiedenen Ausstellungen vor Ort bereitgestellt, und auch Du hast einen Beitrag für die Publikation „Computerkultur – The Beauty of Bit & Byte“ verfasst, die 1989 im TMS-Verlag erschien.
Dein provokanter Titel für die damalige Zeit war „Künstliche Kunst“ und Deine einleitenden Worte lauten: „Die Welt, wie sie war, wie der Mensch sie vorfand, war eine natürliche Welt. Sie war, wie sie war, kein Jota darüber hinaus, ohne Begriff ihrer selbst: einfach nur da.“
Der Mensch schuf die künstliche Welt mit Asphaltierung der Erdoberfläche und mathematischen Modellen und den Begriffen, über die wir uns heute austauschen. Du als Mathematiker mit Ambitionen für mehr und ich als Künstler mit Ambitionen für mehr. Kann es da Schnittmengen im Interesse und Verständnis geben?
Bei unserem Treffen letzthin haben wir wieder einmal erfahren, dass es tatsächlich ein beachtliches Feld als Schnittmenge gibt und ich habe Dich eingeladen einmal einen Blick in die Vergangenheit zu richten, wie ich es in den letzten Jahren in meinem Fall gemacht habe. Dieser Blick zurück (und das kann ich nur betonen) ist für mich nicht Nostalgie, ist kein Abschließen von Etwas, ist keine Wehmut sondern ist getragen von Interesse und Ermunterung mich zu verorten und über die Vergangenheit auf reflektierte Weise in meine mögliche Zukunft zu blicken.
Die Kunst der Frage gewann deshalb für mich in den letzten Jahren massiv an Bedeutung! Und deshalb habe ich ab 2016 die „WhitePaperCollection“ unter das tiefgründige Motto des englischen Dichters Edward Estlin Cummings gestellt: „Always the beautiful answer / who asks the more beautiful question?“
Was uns und die jeweilige Gestaltung unseres Lebens betrifft können wir daraus ableiten: Welche Entwicklungen gab es? Was für Erlebnisse haben geprägt? Welche Fehler wurden gemacht? Welchen Werten folgen wir? Gibt es verpasste Gelegenheiten? Gibt es einen Roten Faden? Wohin geht es mit der Welt und dem Leben darauf? Und: Welchen Weg können wir noch nehmen?
Darüber möchte ich mich gerne mit Dir austauschen, Dich befragen, Deine Fragen zulassen und durch die Publikation unserer eMails anderen Menschen einen Einblick geben, welche bewusste Gestaltung von Leben und Wirken Freude macht und möglich ist.
Lebensgestaltung – ist das Stichwort, das meine Ambitionen in der Lehre an verschiedenen Hochschulen und Universitäten in sporadischen Seminaren immer wieder beflügelt hat. In der Lehre meinen Beruf als Berufung zu finden wurde mir immer wieder empfohlen, schien mir aber nicht offen genug zum Wandel zu sein. Mein erster Verlag, 1969 in Bonn gegründet hieß „Amöben-Presse“ – die Veränderung als „amoibo“ ist mir programmatisch bis heute geblieben. Du bist engagiert, merklich engagiert in Forschung und Lehre, sogar über die Maßen engagiert... was treibt Dich an? Hast Du eine Message?!
FN: Nein, so will ich wirklich antworten: nein, ich habe keine "Message".
Hätte ich eine Message, oder meinte ich, eine zu haben, so würde ich vermutlich als einer herumlaufen, der diese Message auch verkünden wollte. Unablässig wollte er seine Message verkünden, allenthalben wollte er es tun, wenn er eine hätte. An die Leute wollte er sie bringen, sie davon überzeugen, von seiner Message, die Leute. Nein, das habe ich nicht und das will ich auch nicht haben. Nein, das möcht' ich wohl ziemlich gewiss nicht.
"Aber hör er, junger Mann", höre ich Dich sagen, lieber Mike, "hör her das glaubst Du doch wohl selbst nicht. Oder etwa doch?" Nein, das glaube ich selbst nicht. Ich wehre mich zunächst einmal nur gegen die Message, die ich hätte, aber nicht habe. Ich habe Meinungen, Auffassungen, Überzeugungen, Aussagen, fast gar Theoreme, wenn auch eigentlich nicht. Ich habe Analysen, dialektische Bemerkungen, Argumentationen. Ich habe selbstverständlich Überzeugungen. All die vertrete ich. Auf all die lasse ich mich ein. Über all die bin ich auch gelegentlich zu einem Streitgespräch bereit. All die biete ich der Kritik an. Ich begebe mich in Auseinandersetzungen und finde es notwendig – für meine Existenz als Mensch – mich auf kritische Auseinandersetzungen einzulassen.
Aber ich habe keine Message.
Denn ich bin kein Botschafter.
Ich will niemanden überzeugen.
Wenn jemand meinem Gedanken folgt, so freut mich das. Wenn einer ihn für blöd hält, meinen Gedanken, den ich geäußert habe, so denke ich mir, der ist aber frech, der andere. Oder auch: der versteht's halt nicht.
Früher wollte ich Menschen überzeugen, gewinnen, auf meine Seite ziehen. Heute nicht mehr.
MW: Am Anfang ist das Kind. Die Prägung in der Kindheit ist fundamental. Nur fehlt es meist an der Erinnerung, was geschehen ist, wodurch Schmerz oder Glück erzeugt wurde, was beeindruckt hat. In meinem Fall bedürfte es der Hilfe eines spezialisierten Psychologen und Psychotherapeuten um in einer Mischung aus Wach- und Tiefenhypnose Erinnerungen aus der frühesten Kindheit zu aktivieren und hochzuholen aus dem Vergessen. So weiß ich nun aus eigener Erfahrung, wie sehr spätere Neigungen und Abneigungen geprägt sein können.
Du magst Dich wundern, dass ich einen Fachmann bemüht habe, um mir selber auf professionelle Weise auf die Spur zu kommen. Ja – ich sehe mich als Testfeld, ich bringe mich in Situationen und betrachte aus Distanz, was ist aus dem Kind geworden?
Hat Dich je Deine Kindheit im Rückblick interessiert? Hast Du Zugriff auf Deine Erinnerungen? Gibt es Aufzeichnungen?
Du wurdest im Jahr 1938 in Stuttgart geboren. Die Weimarer Republik war vorbei und Adolf Hitler wurde im Januar 1933 vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Im Jahr Deiner Geburt übernahm Hitler die unmittelbare Befehlsgewalt über die deutsche Wehrmacht und löste mit dem Überfall auf Polen 1939 den 2. Weltkrieg aus der bis 1945 dauerte.
Zu diesem Zeitpunkt warst Du 7 Jahre alt. Wo und wie wohnte Deine Familie zu dieser Zeit? Wie hast Du den Krieg erlebt? Was hat er mit Deiner Familie und vor Allem mit Dir gemacht?
FN: Zwei fette Fragenkomplexe sind das. Zum ersten. Meine Mutter hatte in den ersten Jahren als Mutter ein selbst gestaltetes und gebundenes Buch mit Fotos (wenigen) und ihren Erzählungen dazu. Ich weiß nicht, ob es das noch irgendwo gibt. Es waren ihre Aufzeichnungen über das Leben mit ihrem ersten Sohn, später über die jüngeren dazu. Als wir Kinder waren, hat sie es uns Geschwistern gelegentlich gezeigt. Es war schön und interessant. Aber ich weiß nichts mehr davon.
Das Buch wird meine Erinnerung geprägt haben. "Zugriff" auf meine Erinnerungen habe ich nicht. Ohnehin: "Zugriff"? Ist das nicht eine arg technische Redeweise, eine instrumentelle Sicht von Gedächtnis? Doch Deine Formulierung ist Deine Formulierung. Ich habe nur ein paar einzelne, anekdotische Erinnerungen. Die sind schön. Liebenswert. Wir haben immer Soldat gespielt als Kinder. Die Mädchen, was haben die gemacht? Vermutlich Puppen. Soldat haben wir gespielt, auf der Straße, Soldat als "Heimkehrer". Ein Stock an einem Strick, den wir über die Schulter hängten, war unser Gewehr. Geschossen haben wir damit nicht. Wir kamen ja heim.
Hat mich je ein Rückblick interessiert? Nein. Im Grunde weiß ich kleine Geschichten - wenn es auch wenige sein mögen. Gelegentlich, wenn ich über eine rede, mag mir eine zweite in den Sinn kommen. Irgendeine zusammenhängende Erzählung? Wenn jemand sie von sich gäbe, würde ich aufmerksam zuhören und mir denken, nett, was der oder die da so sagen. Geschichte geschieht dann, wenn sie erzählt oder geschrieben wird, so denke ich. Ein Rückblick auf mich? Nein, eher nicht. Wenn überhaupt, dann zusammen mit anderen.
Und nun die zweiten Fragen. Bei Kriegsende war ich sechs-einhalb, da ich im Dezember geboren bin. Vermutlich also ging ich gerade in die Schule, als der Krieg vorüber ging. Ich weiß das aber nicht. Wir lebten seit 1939 in Ilmenau in Thüringen. Die Mutter mit den drei Kindern, denn der Vater war im Krieg. Es war dann wohl noch eine Zeit, bis der Vater wieder kam. In meiner frühen Kindheit hatte ich also keinen Vater. Das hat mich geprägt, so denke ich. Aber ich weiß es nicht. Ich denke es, weil es ja kaum anders sein kann.
Wie habe ich den Krieg erlebt? Ich weiß es im Wesentlichen nicht. Die kleine Stadt erlebte kaum Bomberangriffe. Aber ein paar Mal gab es Alarm. Dann sind wir in den Keller gerannt. Ziemlich blöd. Ich nehme an, das war alles, was man da tun konnte.
Was aber hat dieser Krieg mit mir gemacht und mit der Familie, zu der ich gehörte? Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, ob bei uns danach je über den Krieg geredet wurde. Ich glaube, meine Mutter hat manchmal negativ über den Vater geredet, dass er, wie auch sonst, auch im Krieg nichts zustande gebracht habe. In Belgien sollte er Auto fahren lernen. Er ist auf eine Mauer gefahren. Das sei das Ende seiner Fahrerei gewesen. Der Krieg war nicht weiter vorhanden in dieser Familie. Jedenfalls in dem, was ich in Erinnerung habe von dieser Familie und von mir in diesem Kriege in dieser Familie.
Ich weiß aber eines. Wenn wir drei Kinder dann, danach, als also Schluss war mit dem Krieg, abends im Bett lagen, habe ich mit den beiden ein Gebet gebetet, das ich mir ausgedacht hatte. Da habe ich diesen Gott gebeten, er solle was für die Menschen in Japan tun und für die in Korea. Denn da war schon wieder Krieg. Ich glaube, er hat es nicht getan, der Herr Gott. Deswegen habe ich zur Strafe nicht mehr an ihn geglaubt.
MW: Die Nachkriegszeit von 1944 bis 1958 hast Du als Schüler in der thüringischen Stadt Ilmenau und folgend in dem württembergischen Dorf Kohlstetten auf der Schwäbischen Alb verbracht, bis Du 1958 im Alter von 19 Jahren mit dem Studium der Mathematik an der Universität Stuttgart begonnen hast.
Was hat Dich bewogen, auf das Thema Mathematik zu setzen? Mathematik ist ja nicht wie Erdkunde ein „Wissensfach“ sondern eine besondere Art zu denken und die Welt zu interpretieren – oder?
FN: Naja, Mathematik ist schon auch Wissen. Man kann wissen, was eine Differentialgleichung ist und wie man sie lösen kann und ob man sie überhaupt lösen kann. Oder, was eine sog. Gruppe ist und eine Abelsche Gruppe oder ein Borelscher Wahrscheinlichkeitsraum und noch ziemlich viel mehr. Wissen muss man überall was, wenn das ein Fach sein soll. Und eine gewisse Geschicklichkeit braucht man auch, um mit den Gegenständen umzugehen, die es in diesem Fach gibt. Das ist in der Soziologie so und in Erdkunde und in Mathematik.
Aber es trifft zu, Du hast das schön formuliert, dass man im mathematischen Tun auf besondere Weise denken muss, wenn man es dort zu etwas bringen will. Das ist wohl auch in der Geographie so ähnlich und in der Literaturwissenschaft. Was also hat mich bewogen, Mathematik zu studieren?
Mein Vater kam nach Hause an jenem Abend und sagte, ich solle morgen um 10 Uhr bei Prof. Schulz anklopfen, in der Universität, er hätte mit ihm einen Termin für mich verabredet. Es ginge darum, ob ich jetzt gleich, im Sommer nämlich und deshalb im zweiten Semester anfangen könne zu studieren. Eigentlich fing alles an der Uni (die eine Technische Hochschule war) im Herbst an. Aber die Bundeswehr war gerade gegründet worden, und jeder musste hingehen. Man konnte sich aber zurückstellen lassen von der Bundeswehr, wenn man studierte und schon im zweiten Semester war.
Deswegen wollte mein Vater, dass das Studium bei mir schnell losginge. Er musste das ja finanzieren. Ich bin also hingegangen zu diesem Schulz und danach habe ich zu studieren angefangen im zweiten Semester und ich habe nichts von dem verstanden was die da geredet haben. Gar nichts. Und das war gut, sehr gut. Denn nun habe ich gelernt, dass man sich etwas leicht selbst beibringen kann, von Null an. Das nämlich habe ich nun tun müssen, wollte ich nicht denken, ich sei ein Depp. Das wollte ich aber auch nicht von mir denken. Also musste ich in meinem ersten Semester mir das anhören, was die anderen vom zweiten Semester lernten, musste das also verstehen, obwohl ich gleichzeitig mir selbst erst aneignen musste, was man brauchte, um das zu verstehen.
Eigentlich aber hatte ich berühmter Schriftsteller werden wollen. Das wusste nur niemand. Und studieren konnte man es auch nicht. Vermutllch habe ich gedacht, dann machst Du jetzt halt erst mal das mit der Mathematik, danach dann berühmter Schriftsteller. Es wird schon werden. Ist es aber nicht wirklich.
MW: Ab 1963 hast Du begonnen, Dich mit dem Thema Computergrafik zu beschäftigen und hast ein Zeichenprogramm für die Verbindung zwischen Rechner SEL ER56 und Zuse Graphomat Z64 entwickelt. Was hat Dich bewogen, Deinen Schwerpunkt auf die Grafik zu legen und eine Verbindung vom Rechner zur zeichnerischen Ausführung herzustellen. Gab es dazu
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michael Weisser und Frieder Nake
Bildmaterialien: Michael Weisser 2018
Cover: MikeWeisser@yahoo.de
Tag der Veröffentlichung: 10.07.2018
ISBN: 978-3-7438-7480-0
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