Es ist Montag. Um genau zu sein der 7.7, 16:30 Uhr. Und schon wieder sitze ich hier auf dieser dämlichen Couch bei dem Therapeuten, zu dem mich mein Vater neuerdings schickt und tue so, als würde es mich interessieren was dieser redet. Eigentlich interessiert es mich ja überhaupt gar nicht, weil er sowieso immer nur etwas von „Du musst dich öffnen und deinen Gefühlen freien Lauf lassen“ und „Es ist wichtig mit außenstehenden Personen darüber zu reden“ sagt. Ich hab ja nichts besseres zu tun, als jeden Montag hier zu sitzen und mir dieses Gelabere anzuhören. Eigentlich interessiert der sich doch gar nicht für mich und meine Probleme. Am Ende würde es sowieso wieder heißen, dass ich verrückt bin. Und das weiß ich auch ohne diesen Therapeuten der mir das nochmal extra auf die Nase binden will. Oder es zumindest versucht. Ich komme hier schon seit einigen Wochen hin und alles was ich bisher erzählt habe, beschränkt sich darauf, welche Musik ich höre und was in der Schule so los ist. Ich bin nämlich der Meinung, dass mich mein Vater langsam zu genug Therapeuten geschickt hat. Warte. Wie viele waren es noch gleich? Ach ja... mit dem hier sind wir schon beim siebten. Jetzt fragt ihr euch bestimmt, warum mein Vater sich noch die Mühe macht, mich zu einem Seelenklempner zu schicken. Eigentlich ist das ja ganz leicht, aber dazu muss ich etwas weiter ausholen. Während dieser Mann weiter versucht, meine Aufmerksamkeit zu bekommen, kann ich es ja mal schildern. Also, angefangen hat alles damit, dass meine Mutter bei diesem Autounfall starb, als ich gerade mal vier Jahre alt war. Mein Vater ist wohl nie richtig damit klar gekommen und gibt mir deshalb die Schuld daran. Aber er denkt natürlich nicht daran, dass ich vier Jahre alt war und eigentlich gar nichts für einen Autounfall kann, bei dem ich nicht mal dabei war. Ich war an dem Tag nämlich zu Hause bei meiner Oma. Aber trotzdem bin ich daran Schuld. Ich weiß nicht, was er sich dabei denkt, mir die Schuld zu geben, aber irgendwie finde ich es nicht ganz fair. Eigentlich kann ich doch gar nichts dafür,oder? Nur, weil ich mittlerweile ein bisschen nach meiner Mutter schlage, heißt das noch lange nicht das ich Schuld an diesem dummen Autounfall bin, oder? Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie er vor sechs Jahren in mein Zimmer kam und mich angebrüllt hat, dass es sowieso alles meine Schuld sei und ich mich selbst ins verderben stürze, weil ich ihr nacheifere. Zu der Zeit war noch alles okay. Da haben sie mich noch nicht als verrückt bezeichnet. Jetzt, sechs Jahre später tun sie das. Andauernd. Egal wo.
Sie sehen mich mit diesen schrägen, missverstehenden Blicken an und tuscheln hinter meinem Rücken über mich. Eigentlich stört mich das ja gar nicht, weil es sowieso irgendwann mal anfangen musste. Ich bin eben anders als die breite Masse, aber das wollen die ja nicht kapieren. Stattdessen werde ich als verrückt dargestellt und mein Vater bringt mich zu einem Therapeuten, weil er denkt , er kann somit verhindern, was sowieso früher oder später passiert wäre. Ihr fragt euch sicher, warum ich das alles so leicht hinnehme. Man kann sagen, dass meine Mutter mich vorgewarnt hat. Sie hat mir, einer damals vier jährigen, einen seitenlangen Brief hinterlassen. So als hätte sie gewusst, dass sie bei einem Autounfall ums Leben kommt. Vielleicht hat sie es ja wirklich gewusst, denn bei dem, was sie da so geschrieben hatte, bin ich mir nicht mehr ganz sicher. Seufzend wende ich mich also dem Therapeuten zu und zucke die Schultern, als er mich fragt, über was ich denn nachdenke. „Wissen sie, ich habe eigentlich gar keine Lust , mit ihnen über irgendwas zu reden. Es geht sie einfach nichts an, was in meinem Privatleben passiert. Und von mir aus kann das ganze hier noch zehn Sitzungen so weiter gehen. Von mir bekommen sie garantiert nichts zu hören“, sage ich fest entschlossen und stehe damit auf. Ich streiche schnell mein Top glatt und nehme dann die schwarze Handtasche. Es ist längst Zeit , zu gehen. Ich kann mir schon vorstellen, wie das Gesicht meines Vaters aussehen wird, wenn er erfährt, dass ich wieder kein einziges Wort geredet habe.
Der Therapeut packt mich am Arm und verwirrt drehe ich mich um. Was , zum Henker, will der jetzt wieder von mir? Paul Delay, so heißt der Typ glaube ich, wedelt mit einer Broschüre vor meinem Gesicht rum, bis ich ihn fragend ansehe. „Ich denke, du solltest mal eine Sitzung mit mehreren Jugendlichen mitmachen“, sagt er und hofft darauf, mich so zum reden zu bringen.
„Aha. Und sie denken, da wird es anders? Ganz sicher nicht.“
Leise lachend verlasse ich den Raum und lasse den verdutzten Therapeuten stehen. Nach sieben Sitzungen, glaubt der ernsthaft immer noch, dass ich ihm jemals etwas erzählen würde. Das wird nie im Leben passieren, das schwöre ich. Meiner Meinung nach, ist das ganze raus geschmissenes Geld. Ich verstehe einfach nicht, warum mein Vater immer noch Hoffnung hat, das ganze zu verhindern. Eigentlich hat es ja schon lange angefangen. Aber davon habe ich meinem Vater natürlich nichts erzählt. Er würde mich sonst wohl in eine geschlossene Anstalt schicken. Genauso, wie er es bei meiner Mutter auch versucht hat. Wahrscheinlich ist erst deswegen dieser Autounfall passiert. Ich trete in das Wartezimmer und sehe zu meinem Vater, der hoffnungsvoll aufspringt und zu dem Therapeuten , der inzwischen nachgekommen ist, hinter mir blickt. Als dieser den Kopf schüttelt, senkt mein Vater kurz den Blick und presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Er ist eindeutig wütend, aber das ist mir egal. Ich habe ihm bereits gesagt, dass er ewig warten kann, bis ich dort drinnen den Mund aufmache. Es liegt ja nicht an dem Therapeuten oder so, es liegt viel mehr daran, dass er es sowieso nicht verstehen würde und am Ende würde er mich für schizophren oder geisteskrank halten. Dann müsste ich in dauerhafte Behandlung um dieses 'Problem' , wie sie es dann alle nennen, zu beheben. Aber es ist gar kein Problem. Es stört mich nicht und ich kann damit prima leben. Aber das geht natürlich nicht in deren Köpfe rein. Ich kann mir schon vorstellen, wie sie mich dann alle mitleidig ansehen und ihre Blicke alles sagen : Besser du , als ich!
Darauf kann ich nun wirklich verzichten. Klar, ich hab mir das ganze auch nicht freiwillig rausgesucht und ich kann mir auch vorstellen, dass das ganze ziemlich belastend werden kann, aber das heißt nicht, dass ich mich dagegen wehren würde. Ich krame den MP3-Player aus meiner Tasche und stecke mir die Ohrenstöpsel ins Ohr. Dann schalte ich die Musik an und dröhne mir den Kopf mit der Musik zu. Verärgert packt mich mein Vater am Arm und schleift mich aus der Praxis von Paul Delay. Dann gibt er mir einen Schubs in Richtung des Aufzugs und ich drücke den Knopf um diesen zu rufen. Zwei Minuten später, kommt das Ding endlich im oberen Stockwerk des Hochhauses an und wir steigen ein. Mein Vater drückt den Knopf für das Erdgeschoss und ich stelle meine Musik noch ein bisschen lauter. Besser als diese dumme, langweilige Aufzugmusik ist sie jedenfalls. Ich würde irre werden, würde ich ganze drei Minuten lang dieses eklige Gedudel hören. Und das peinliche Schweigen, dass sich im Aufzug ausbreitet ist auch nicht gerade besser. Natürlich würdigt mich mein Vater keines Blickes, als er vor raus aus der Eingangshalle läuft. Ich sehe noch schnell rüber zu Viktoria, der rothaarigen Sekretärin und winke ihr grinsend zu. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie mag ich diese Frau. Sie ist die einzige Person hier in dem ganzen Gebäude, die mich wahrscheinlich nicht unter Druck setzen würde um zu reden. Irgendwie ist es inzwischen zur Gewohnheit geworden, dass wir uns zuwinken, wenn ich komme oder gehe. Irgendwann muss ich mich mal mit ihr Treffen. Ich denke nämlich, dass ich ihr das ganze anvertrauen kann, ohne das sie mit diesem Therapeuten darüber redet. Sie macht nämlich einen vertrauenswürdigen Eindruck, im Gegensatz zu diesem Paul Delay, der ohnehin alles meinem Vater erzählen würde.
Mit einem leichten Lächeln folge ich meinem Vater auf die Straße und schlängele mich durch die Passanten auf dem Gehweg um mit ihm Schritt halten zu können. Die fünf Minuten die wir bis ins Parkhaus brauchen, schweigen wir beide immer noch. Nun ja, es ist ja nicht so als würde ich wert darauf legen etwas zu reden. Aber anscheinend sieht er es als Methode an, nicht mit mir zu reden , wenn ich nicht mit diesem Seelenklempner geredet habe. Wüsste er, dass es mir nichts ausmacht, würde er sich etwas anderes überlegen um mich zu bestrafen. Aber ich kenne ihn gut genug, um zu wissen , dass es ohnehin nichts weltbewegendes wäre. Er ist schlecht darin, sich Strafen auszudenken. Das war schon immer so und das wird auch immer so bleiben. Würde er ein bisschen mehr nach Mutter schlagen, so würden ihm gewiss bessere Strafen einfallen. Von meiner Oma weiß ich nämlich, dass meine Mutter ziemlich hart in Bestrafungen gewesen sein musste. Auch wenn man das als vier jährige wohl kaum beurteilen kann. Als wir endlich im Parkhaus und bei unserem Auto sind, warte ich bis er aufgeschlossen hat. Dann öffne ich die Tür des Wagens und steige in den Escalade. Ich frage mich immer noch, warum er dieses Auto fährt. Es ist groß und protzig, klar, aber ansonsten sieht es eher aus als würde die Spezialeinheit der Polizei damit rumfahren. Oder das FBI oder die Mafia . Schon allein die verdunkelten Scheiben wirken so. Klar, er ist Sicherheitschef in einem dieser Clubs hier in der Stadt, aber sollte man Job und Privatleben nicht irgendwie trennen?Aber wahrscheinlich will er bloß nicht, dass jemand erkennt, wer in dem Auto sitzt. Nämlich ich. Er will nicht, dass seine Geschäftskollegen von seiner gestörten Tochter auch nur die leiseste Ahnung haben. Könnte ja für das Geschäft schlecht laufen. Klar. Weil irgend wen interessiert das ein Security-Mann eine halbwegs gestörte Tochter hat. Die sind doch eh alle nur in dem Club um zu tanzen und sich zu besaufen. Da interessiert es schon keinen ob der jetzt eine gestörte Tochter hat oder nicht. Das ist denen allen sicher vollkommen egal.
Als mein Vater endlich den Wagen startet, lehne ich mich zurück und wippe mit dem Fuß im Takt zu dem Lied. Wahrscheinlich kann man es im ganzen Auto hören, aber das ist mir egal. Und wenn mein Vater was dagegen hat soll er es sagen. Als er zu mir rübersieht, anstatt auf die Fahrbahn, ziehe ich mich einen Ohrstöpsel aus dem Ohr und schenke ihm damit zumindest halbwegs Aufmerksamkeit. „Was?“, frage ich und tippe weiter mit dem Fuß auf den Boden.
„Ich möchte, dass du in Zukunft mit diesem Therapeuten redest und dich dort nicht ausschweigst“, keine Bitte sondern ein Befehl. Ich überlege einen Moment und verschränke dann die Arme.
„Was wenn ich gar keine Lust dazu habe mit diesem Typen über meine Angelegenheiten zu reden. Bringt weder dir noch mir was, also warum lassen wir das ganze nicht bleiben?“, erwidere ich ruhig. Wahrscheinlich geht er gleich an die Decke. Allerdings scheint es, als würde er sich daran erinnern, dass er in einem Auto sitzt und fahren muss. Sonst kommen wir nie daheim an und stehen noch ewig in diesem stickigen Parkhaus.
„Du wirst mit diesem Therapeuten reden und damit Ende. Ansonsten kannst du die nächsten Ferien bei deiner Tante in Frankreich verbringen.“
Er lässt es so klingen, als wäre es die größte Strafe die es geben könnte. Nur zu dumm, dass Tante Lucrezia nicht irgendwo auf einem Bauernhof wohnt, sondern in Paris. Gut, sie mag vielleicht ein bisschen streng sein, weil sie die Schwester meiner Mutter ist, aber hey, wir beide kamen insgeheim schon immer super miteinander aus. Also hätte ich kein Problem damit sechs Wochen lang in Frankreich zu verbringen. Abgesehen davon, dass mein französisch nicht gerade das beste ist, ist Frankreich doch eine tolle Abwechslung zu hier. Er lächelt zufrieden, denn er denkt er hätte mir Angst gemacht. „Von mir aus. Sechs Wochen Frankreich, ich freue mich schon drauf“, gebe ich zurück und klinge dabei so gleichgültig wie möglich. Braucht ihn doch nicht zu interessieren, dass ich mich darauf eigentlich freue. Keine zwanzig Minuten später sind wir dann endlich zu Hause. Noch ehe der Wagen richtig geparkt ist, springe ich aus dem Auto und laufe zur Haustür, schließe diese mit meinem Schlüssel auf. Die Lederjacke, die ich über meinem roten Top getragen hatte, lasse ich direkt an der nächstbesten Tür hängen. Auf dem Weg in mein Zimmer, dass unter dem Dach liegt, hole ich mir aus dem Kühlschrank in der Küche einen Joghurt. Damit verziehe ich mich dann auf mein Zimmer. Kurz darauf habe ich die Musikanlage angestellt und höre ziemlich laut die neue CD von Eminem. Warum Eminem? Weil die Musik so laut ist, dass ich alles andere vergessen kann. Und das ist wichtig für jemanden wie mich. Das nervige Geräusch wenn Autos auf der Straße unten vorbei fahren oder irgendjemand Rasen mäht, stört mich. Ich brauche einzig und allein die Musik, mein Block und einen Stift. Ich setzte mich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch und greife nach dem Bleistift. Dann nehme ich den Block, der vor mir liegt und schlage ein neues Blatt auf. Dann beginne ich zu zeichnen. Ich zeichne, was ich in dieser Nacht geträumt habe. Eigentlich hätte ich es schon heute morgen aufzeichnen sollen, aber ich sehe es als Herausforderung, es mir den halben Tag zu merken. So lerne ich schrittweise, mir die Träume über längeren Zeitraum zu bemerken. In dem Traum heute Nacht ging es um ein Indianermädchen, welches mir beibrachte mit Hilfe einer Schale voller Wasser zu sehen. Sehen in Form von... der Zukunft. Ich weiß das meine Mutter Seherin war, und das hat sie an mich weitervererbt. Bisher habe ich nur einmal etwas gesehen, und das war am Lagerfeuer vor wenigen Wochen. Naja, eigentlich ist es relativ egal, was man zum sehen benutzt. Die Träume, Wasser, Feuer, glatte,spiegelnde Oberflächen oder Tarotkarten. Allerdings habe ich letztere nicht, denn mein Vater verbietet mir, dass ich mir welche kaufe. Aber ich weiß, dass meine Mutter welche hatte, und deshalb ist mir klar, das unten im Keller irgendwo noch eine Kiste sein muss, wo das ganze Zeug drin sein muss. Vielleicht ist da auch eine Kristallkugel oder so was. Denn auf dem einzigen Foto ,welches ich von meiner Mutter habe, sieht man sie mit einer Kristallkugel. Das Bild habe ich an meine Pinnwand gepinnt. Genauso wie den Abschiedsbrief meiner Mutter und die eine Tarotkarte die sie mir hinterlassen hat. Die zeigt übrigens den Ritter der Kelche. Eine tolle Karte , aber ich weiß nichts damit anzufangen. Eine Karte nutzt mir recht wenig und die Bedeutung der Karte, kenne ich auch nicht wirklich. Naja und wenn ich die Karte berühre dann spüre ich nur ein leichtes Kribbeln in meinem Arm. Auch nicht wirklich etwas, dass mich weiterbringen könnte. Während ich also ein Bild mit dem Indianermädchen und der Wasserschale male und dabei Musik höre, denke ich darüber nach , was meinen Vater zu der Behauptung treibt, es wäre meine Schuld, dass meine Mutter gestorben ist. Vielleicht bin nicht ich es, die mal zu einem Therapeuten gehen sollte, sondern er. Immerhin scheint es, als sei er immer noch nicht mit dem Tod meiner Mutter fertig geworden. Klar, ich meine es war meine Mutter, aber ich bin darüber hinweg. Aber ich habe auch vergleichsweise wenig wenige Erinnerungen an sie. Außer diesem Bild ist da echt wenig, an was ich mich erinnere. Das meiste sind ausgedachte Dinge und Geschichten die ich mir abends ausdenke, bevor ich einschlafe. Irgendwie schon ziemlich arm, aber ich kann ja nichts dafür. Sicher würde ich mir nicht so viele Dinge ausdenken und mir ausmalen, wie es wäre wenn meine Mutter noch leben würde, wenn mein Vater mir hin und wieder von ihr erzählen würde. Tut er aber nicht. Warum auch immer. Manchmal verstehe ich nicht, warum er so stur ist. Schließlich sollte er sich um mich kümmern und versuchen meine Mutter irgendwie zu ersetzen. Aber jetzt bin ich sechzehn. Da kommt das ganze auch ganz schön spät, oder?
Schmunzelnd blicke ich auf das fertige Bild hinunter und stelle somit wieder einmal fest, dass ich in den letzten drei Jahren , solange mache ich das schon, richtig gut im malen geworden bin. Selbst meine Kunstlehrerin sagt dies. Allerdings stellt sie mich auch als begabt gegenüber den anderen dar. Die können nämlich überhaupt gar nicht malen. Alles was die halbwegs auf die Reihe bekommen ist... nun ja ein Strichmännchen. Fängt man mit den einfachsten Formen und Farben an, endet alles im Chaos. Anstatt auf den Blättern zu malen, malen sie auf den Tischen. Oder sie malen sich gegenseitig an. Und dann behaupten sie noch ich sei die verrückte. Natürlich. Meine Farbe landet wenigstens auf meinem Blatt und nicht auf der weißen Hose meines Sitznachbarn.
Ich stehe auf und schnappe mir den Joghurt um zu der orange-roten Hängematte zu gehen, die direkt vor dem einen Fenster angebracht ist. So kann ich nach draußen schauen, während ich meinen Joghurt verspeise und mich darüber lustig machen, wie die Katze des Nachbarn in unseren Teich fällt, als sie probiert an die Fische darin zu kommen. Arme Katze. Also wirklich, nasse Katzen sind nicht zum ausstehen. Machen alles feucht und miauen rum, so als würden sie jetzt krank werden oder so. Werden sie aber nicht. Und außerdem ist es draußen warm genug, dass die Katze innerhalb von wenigen Minuten wieder trocken sein wird. Das schwarze Fell wird ihr zusätzlich helfen. Vielleicht ist es ihr dann eine Lehre, nicht mehr nach unseren Fischen zu angeln. Die wollen schließlich auch ihre Ruhe haben und nicht ständig von irgendwelchen vorwitzigen Katzen besucht werden, die denken sie könnten mal Fischer spielen und sich ein leckeres Mittagsessen angeln. Nein , Nein. So geht das nicht.
Ich rühre kurz in dem Joghurt und schließlich fange ich an zu essen. Nebenbei überlege ich natürlich, was mein Vater gerade treibt. Ob er Lucrezia anruft , um auszumachen das ich in den Sommerferien nach Frankreich komme. Schon möglich das er das tut. Oder er überlegt sich gerade, wie er mich dazu bringen kann, doch mit diesem Therapeuten zu reden. Aber da muss vorher schon die Welt untergehen, bevor ich irgendetwas sage. Kommt gar nicht in frage, dass ich etwas sage was wohl möglich dann noch gegen mich verwendet wird. Ich will ja nicht böse sein oder so , aber langsam sollte doch klar sein, dass ich das ganze nicht möchte. Ich will einfach nicht mit diesem Therapeuten über mein privates Leben reden. So fällt mir Viktoria wieder an. Diese Frau ist unglaublich. Sitzt den ganzen Tag unten an der Rezeption als Sekretärin, ist gut gelaunt und macht ihren Job. Zudem ist sie irgendwie ein kleiner Sonnenschein. Lacht ständig, ist gut gelaunt. Und die roten Haare, die man von überall her erkennt, sind sozusagen ihr Markenzeichen. Und die weiße, alabasterartige Haut. Und ihre Stimme erst. So glockenhell das man sofort denkt, man hat einen Engel vor sich. Deswegen ist sie wahrscheinlich auch überall so beliebt und weil sie niemals böse sein kann. Irgendwie ist diese Frau nicht dafür gemacht dort zu sitzen um diesen Job zu machen. Aber ohne Viktoria wäre dieser Paul Delay aufgeschmissen. Der bekommt nämlich ohne sie nichts auf die Reihe. Delay ist anscheinend ein Chaot, so wie Viktoria das geschildert hat, als ich einmal zu früh da war und deshalb noch warten musste. Da fällt mir ein, dass ich hier irgendwo eine Visitenkarte liegen habe, auf der ihre Handynummer steht. Die hat sie mir ganz am Anfang gegeben, als ich das erste mal dort gewesen war. Ich hatte sie murrend eingesteckt und nicht erwartet, dass ich die jemals brauchen könnte. Aber jetzt hatte ich den Drang mich mit der rothaarigen zu verabreden. Ganz egal, ob sie nun zehn Jahre älter war als ich , oder nicht. Ich sprang also auf, warf auf dem Weg zum Schreibtisch den leeren Joghurtbecher in den Müll und suchte dann nach dieser kleinen Karte. Ah da! Natürlich war die Schrift in die Karte eingeprägt, in Gold. Oben stand ihr Name und unten die Handynummer. Als ich die Karte umdrehte, las ich zum hundertsten Mal in den letzten Wochen den Satz den sie dort hingeschrieben hatte : 'Lass dich nicht unterkriegen ;)'
Tja, wenn Viktoria nur wüsste, wie oft sie mir damit schon den Tag gerettet hat. Auf die Nase binden werde ich ihr dies natürlich nicht, aber trotzdem möchte ich ihr erzählen, dass es irgendwie hilft zu wissen, dass es jemanden gibt, der einen nicht sofort für verrückt erklärt. Nur weil ich hin und wieder etwas komisch bin und mich mit dem Sehen beschäftige. Ich schalte die Musik aus, nehme mein Handy und setze mich auf mein Bett. Dann tippe ich die Nummer in das Handy ein und lausche dem Tuten. Keine zwei Sekunden später, trällert Viktoria ein: „Hallo Mercy, na wie geht’s? Was gibt’s denn?“ ins Telefon. Natürlich frage ich mich, woher sie weiß, dass ich anrufe, aber belasse es dabei und konzentriere mich erst mal darauf eine Antwort zu finden.
„Hey, Viktoria. Mir geht’s gut und dir? Du sag mal, hast du nicht zufällig Lust irgendwann die Woche einen Kaffee mit mir trinken zu gehen?“, frage ich und hoffe darauf, dass sie nicht nein sagt.
Unwahrscheinlich wäre es nicht, immerhin hat sie genug zu tun in der Praxis bei Paul Delay. Und wahrscheinlich ist ihr ihr Job sowieso wichtiger als eine durchgeknallte sechzehnjährige, die sie fragt ob sie zusammen Kaffee trinken gehen.
Viktoria klingt nicht überrascht, als sie antwortet. „Klar, Mercy. Wie wäre es denn am Samstag um 13:00 Uhr? Wenn du magst, hole ich dich ab. Dann musst du nicht deinen Vater bitten, dich in die Stadt zu fahren“
Genau dafür könnte ich Viktoria küssen. Sie weiß genau, wie das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater aussieht und schlägt deshalb vor mich abzuholen. Dann brauche ich meinem Vater erst gar nichts erzählen. Ich sage einfach nur, dass ich mit einer Freundin in die Stadt gehe. Der Rest interessiert ihn sowieso nicht. Oder vielleicht doch, denn er denkt ich hätte überhaupt gar keine Freunde. Irgendwo stimmt das vielleicht auch, aber er braucht ja nicht zu wissen, dass ich mit Viktoria in die Stadt gehe um mit ihr zu reden. Ich nicke-und vergesse dabei, dass Viktoria mich ja gar nicht sehen kann.
„Okay.Also am Samstag um 13 Uhr. Wäre echt toll, wenn du mich abholst, sage ich mit einem grinsen in das Handy und höre kurz darauf, wie Viktoria leise wissend lacht. Mit einem
„ Ich freue mich drauf“, verabschiedet sich die rothaarige schließlich und legt auf. Würde ich öfters telefonieren, stelle ich fest, würde ich nicht so angespannt dasitzen. Himmel, seit wann habe ich Angst davor mit anderen zu telefonieren? Gut, vielleicht hatte ich gerade auch ziemlich Angst, dass Viktoria nein sagt. Aber dem war ja nicht so. Zufrieden lasse ich das Handy auf das Bett fallen und mache mich dann daran, die Visitenkarte von Viktoria an meine Pinnwand zu Pinnen, die eigentlich ziemlich leer ist. Normalerweise sollten dort viel mehr Dinge hängen. Von mir und von Freunden. Aber das ist das Problem , wenn man keine Freunde hat. Man kann auch keine Fotos von sich mit ihnen aufhängen, um das Leere auf der Pinnwand wett zu machen. Ich merke, dass ich ziemlich entspannt bin. Liegt wohl daran, dass ich mich auf kommenden Samstag freue. Aber irgendwie ist mir dabei auch etwas flau im Magen, denn ich weiß, dass ich mit Viktoria über die Sache mit dem Sehen rede werde. Ich halte sie für die einzige vertrauenswürdige Person in meinem Umkreis. Ob es an ihrer Art liegt oder daran, dass sie so freundlich zu mir ist, weiß ich nicht. Aber ich habe das Gefühl, das mein kleines Geheimnis prima bei ihr aufgehoben ist. Sie wird nichts davon ihrem Chef erzählen oder gar meinem Vater. Vielleicht hat sie selbst ein Geheimnis oder war als Jugendliche ebenfalls bei einem Therapeuten in Behandlung. Vielleicht weiß sie deshalb, wie es mir geht und versteht mich deshalb. Und ich muss sie unbedingt fragen, woher sie denn nun wusste, das ich anrufe. Meine Handynummer hat weder sie , noch die Praxis. Also hätte sie theoretisch nicht wissen können, dass ich anrufe. Aber inzwischen sollte ich mich daran gewöhnt haben, dass sie Dinge weiß. Sie wusste ja auch, dass eine schwierige Beziehung zu meinem Vater hatte, obwohl ich ihr nichts davon erzählt hatte.
Die ganze Woche hatte ich nun auf diesen Tag gewartet. Sogar die täglichen Hänseleien diverser Mitschüler habe ich kommentarlos über mich ergehen lassen, weil ich einfach so froh darüber war, endlich mit jemandem reden zu können. Ich habe auch beschlossen, dass ich Viktoria die Tarotkarte zeige und den Brief meiner Mutter mitnehme. Dann habe ich wenigstens ein paar beweise dabei. Natürlich kann sie auch sagen, dass ich spinne und dann wären wir wohl wieder am Anfang : alle denken ich sei verrückt. Hoffen wir mal,dass Viktoria nicht der Meinung ist. Also packe ich das Zeug von meiner Pinnwand in meine Handtasche. Da es gestern angefangen hat zu regnen und es deshalb draußen ziemlich kalt ist, ziehe ich mir meine Lederjacke über das pastellfarbene Longshirt. Dann laufe ich die Treppe nach unten und schnappe mir einen Regenschirm von der Kommode. Aus der Küche höre ich Geräusche. Das heißt, dass mein Vater sich wohl gerade Mittagessen kocht. Ich habe schon vor einer Stunde was gegessen. Als er bemerkt, dass ich mich fertig mache um wegzugehen, runzelt er die Stirn und sieht mich fragend an. „Ich gehe in die Stadt.... mit einer Freundin. Wir gehen nur in ein Café“,erkläre ich und sehe das 'Was? DU hast eine Freundin' nur allzu deutlich in seinem Gesicht. War ja sowieso klar gewesen, dass er denkt ich hätte keine Freunde. Egal, darüber will ich jetzt sicherlich nicht streiten. „Also bis später“, verabschiede ich mich und trete dann nach draußen. Es ist ziemlich kalt und außerdem auch regnerisch. Gut das ich den Regenschirm dabei habe. Als ich sehe, das Viktoria schon auf mich wartet, muss ich grinsen. Ich laufe zu ihrem Auto-einem schneeweißen Lexus- und steige ein. Wärme schlägt mir entgegen, die ganz sicher nicht nur von der Heizung des Wagens kommt. Denn Viktoria begrüßt mich freudestrahlend und fragt mich zunächst wie es mir geht und was in der Woche noch so vorgefallen ist. Natürlich erzähle ich ihr nur das wichtigste. Oder eben das, was noch harmlos ist. Als ich mich anschnalle, sehe ich das mein Vater am Küchenfenster steht und zu uns herüber sieht. Auch Viktoria entgeht dies nicht und ich lache. „Er hat mir natürlich nicht geglaubt, dass ich mit einer Freundin ins Café gehe“, sage ich und schüttele dabei etwas traurig den Kopf. Ist schon doof, wenn der eigene Vater einem nicht so vertraut , wie es einem zusteht. Egal, ich könnte ja sowieso nichts dagegen machen. Ich stelle also meine Handtasche auf den Boden und lehne mich dann nach hinten in den Sitz. Viktoria fuhr los und schaltete schließlich das Radio an. Ihr Lieblingskanal lief und ich musste leicht lächeln. Viktoria war mir wirklich ein bisschen ähnlich. „Nun ja, für mich hat es sowieso den Anschein, dass dein Vater ein bisschen übertreibt, mit dem was er sagt und tut“, meinte Viktoria. Ich wusste, dass sie es nicht böse meinte. Zumindest nicht mir gegenüber. Aber Viktoria hatte ja mit dem was sie sagte recht. Er übertrieb gnadenlos mit dem was er die ganze Zeit abzog. Auf die Gefühle anderer, also meiner, nahm er ja keine acht. Auch wenn ich inzwischen damit umgehen kann und dazu brauche ich keinen Therapeuten, tut es schon doch noch weh das jeden Tag mitzubekommen.
„Du hast recht. Er übertreibt ein bisschen. Aber irgendwie gewöhnt man sich schon daran“, meine ich zu ihr und sehe nach draußen.Die Landschaft zieht schnell vorbei, da Viktoria nicht gerade langsam fährt. Das nächste Straßenschild zeigt an, dass es bis in die Stadt noch sieben km sind. Nicht wirklich viel, wenn man bedenkt, wie schnell wir fahren. „Sag mal, Viktoria, woher wusstest du eigentlich, dass ich anrufe? Du hast meine Nummer doch überhaupt nicht“, frage ich. Diese Frage habe ich die ganze Woche in Gedanken wiederholt, sodass ich sie nicht vergesse. Das erinnert mich an Montag Nachmittag und an die Zeichnung. Seitdem hatte ich keinen Traum mehr, an den ich mich erinnere. Diese Ruhe ist eine willkommene Abwechslung im Gegensatz zu den lebhaften Träumen die ich sonst jede Nacht träume. Manchmal sind es sogar ziemlich fiese Alpträume. Auch die male ich jedes Mal.Ich überlege mir , unbedingt noch ein paar andere Methoden zu finden um meine Träume aufzuschreiben oder aufzuzeichnen. Denn ständig diesen Block mit mir herumzutragen ist nicht gerade die ideale Lösung. Denn ich muss den Block immer dabei haben, schließlich kommt es auch vor das ich Tag träume. Diese Tagträume kommen überall: im Bus, im Zug, im Auto, beim bummeln , beim duschen , beim umziehen, beim Essen und sogar im Unterricht. In der Schule stört es die Lehrer, wenn ich nicht aufpasse. Aber dafür kann ich eigentlich gar nichts, weil ich diese Tagträume nicht kontrolliere. Und wenn ich erst mal drin bin, driften meine Gedanken soweit ab, das mich nichts und niemand dort wieder herauskriegt. Ich komme nur wieder da raus, wenn der Traum zu Ende ist. Manchmal dauert das fünf Minuten, manchmal zehn. Aber jedes Mal steht ein Lehrer vor meinem Tisch und sieht böse auf mich herab. Meine Klassenkameraden finden es witzig und lachen, zerreißen sich dann wieder tagelang die Münder über mich und diskutieren von wem ich wohl geträumt habe. Aber ich träume nicht in dieser Zeit. Ich träume immer von der Vergangenheit oder von der Zukunft. Eigentlich ist mir die Vergangenheit lieber, denn es hilft mir zu verstehen. Und außerdem bringt mir das in der Schule im Fach Geschichte auch ständig gute Noten. Ob es Zufall ist oder nicht, darüber lässt sich natürlich diskutieren. Aber nicht jetzt. Jetzt möchte ich erst einmal wissen, warum Viktoria wusste, dass ich anrufe. „Das nennt man Intuition“ , sagte sie sanft lächelnd. Ich nicke und überlege, dass sie dann ziemlich intuitiv begabt sein muss, wenn sie weiß das ich anrufe. Kurz darauf sind wir auch schon in der Stadt und der Lexus schlängelt sich durch die vielen anderen Autos die auf der Straße unterwegs. „Hast du was dagegen, wenn wir in einen Starbucks gehen und uns dort eine ruhige Ecke suchen? Wir müssen bei dem Wetter ja nicht unbedingt draußen rumlaufen“
So als wüsste sie , dass ich mit ihr reden will. Irgendwie schon eigenartig, dass Viktoria so viel weiß. Aber mir ist das nur recht, dann muss ich wenigstens nicht viel erklären und darüber bin ich wirklich froh. Ich war noch nie ziemlich redegewandt. Noch so etwas, was meinem Vater auf die Nerven geht und ihn stört. Ich rede eben nicht gerne und vor allem nicht viel. Schon gar nicht mit unfreundlichen, fremden Menschen wie dieser Paul Delay einer ist.
„Also ich hab dagegen nichts. Solange dieser Starbucks nicht so voll ist, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann“, meine ich, denn ich hasse große Menschenmassen. Ich weiß nicht wieso, aber diese vielen unterschiedlichen Eindrücke werden zu viel und irgendwann bekomme ich dann Platzangst. So lustig das auch klingen mag, aber es ist wirklich so. Je mehr Menschen , desto nervöser werde ich. Ich weiß nicht woran es wirklich liegt, aber es ist eben einfach so und ich habe gelernt damit klar zukommen. Langsam wird mir auch klar, dass ich vielleicht wirklich etwas verrückt bin. Ich meine, ich habe Angst vor großen Menschenmassen und ich beschäftige mich mit Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart ist mir gar nicht so wichtig wie das hier und jetzt. Das wichtigste für mich ist und war immer die Vergangenheit und die Zukunft und meiner Einschätzung nach wird das auch immer so bleiben. Ich bekomme nur am Rande mit, wie der Lexus hält und Viktoria ihre Handtasche von der Rückbank nimmt um schließlich auszusteigen. Ich tue es ihr gleich und nehme ebenfalls meine Handtasche und steige aus. Viktoria schließt den Wagen und gemeinsam gehen wir in Richtung Starbucks. Schon 50 m vorher weht uns der Duft vom Kaffee des Ladens zu. Mhhh.... duftet das gut. Gemeinsam betreten wir den Laden und sehen uns um. Hinten in der Ecke steht ein Tisch, der perfekt für uns beide ist. Im gesamten Laden ist außergewöhnlich wenig los, sodass ich froh darüber bin. Viktoria und ich bestellen uns einen Kaffee und gehen dann mit den heißen Getränken in Richtung des Tisches , denn wir uns ausgesucht haben. Und nun sitze ich hier.
Nervös legt Mercy die Finger um ihren dampfenden Kaffeebecher um sich abzulenken und wieder ruhiger zu werden. Denn auf einmal hämmert ihr Herz nur so vor sich hin, sodass sie Angst hat, Viktoria könnte es hören. Allerdings blickt diese weiterhin zuversichtlich drein und nippt an ihrem eigentlich noch zu heißen Kaffeegetränk. Die Gedanken des schwarzhaarigen Mädchens überschlagen sich und sie seufzt schließlich und lässt kurz die Schultern hängen. Schnell wird klar, dass ihr das ganze doch nicht so leicht fällt, wie sie gedacht hatte.
„Tut mir leid. Ich bin wirklich keine Gesellschaft, aber ….. Himmel! Das fällt mir so unglaublich schwer. Weißt du, ich …. ich war jetzt schon bei sieben Therapeuten und mein Vater verlangt von mir das ich mit ihnen darüber rede, dass ich angeblich verrückt bin. Aber eigentlich bin ich das doch gar nicht. Ich komme nur nach meiner Mutter und anscheinend passt ihm das nicht“, frustriert lehnte sich Mercy zurück und schloss kurz die Augen. Dann fuhr sie fort: „ Naja, vor sechs Jahren hat er mir die Schuld daran gegeben, dass meine Mutter bei diesem Autounfall vor 12 Jahren ums Leben gekommen ist. Damals war ich gerade mal vier Jahre alt. Ich kann daran keine Schuld haben. Wahrscheinlich ist sogar er schuld, weil er wollte das sie in Therapie geht. Sie konnte in die Zukunft sehen. Und in die Vergangenheit. Und sie konnte... nunja sie hörte die Gedanken anderer. Ich weiß das klingt komisch und so , aber mein Vater hat Angst das ich nach ihr komme und das will er mit diesen Therapien verhindern.“,erzählte sie leise weiter und versuchte nicht allzu gekränkt zu klingen. Denn eigentlich tat es dem Mädchen weh, so behandelt zu werden. Sie war ja kein Gegenstand ohne Gefühle. „ Aber er kann es nicht verhindern. Es hat schon angefangen.Zumindest der Teil mit dem Sehen“
Gespannt wartete Mercy auf die Reaktion. Wenn es notwendig war , würde sie Viktoria den Brief und die Tarotkarte zeigen. Aber zur Überraschung des Mädchens wirkte Viktoria gar nicht überrascht, so als wüsste sie um was es ging und so als würde sie verstehen was sie durchmachte. Vielleicht tat sie dies ja auch, aber wieso? Viktoria war entweder wirklich besonders intuitiv begabt, oder sie wusste mehr als sie zugeben wollte. Vielleicht war sie ja aber auch selbst Seherin und wusste daher Bescheid? Stirn runzelnd sah Mercy zu Viktoria. „Warum bist du nicht überrascht?“, fragte sie und versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Wenn Viktoria wirklich so war wie Mercy's Mutter gewesen war, so konnte sie ihr vielleicht helfen, damit klar zu kommen. Immerhin war Mercy dann nicht mehr auf sich alleine gestellt. Aber jetzt musste das Mädchen erst einmal abwarten. Was Viktoria erwiderte. Aber so wie es aussah, ließ sich diese dabei mächtig viel Zeit. Mercy nippte an ihrem Kaffee und fixierte dabei einen Punkt über Viktorias Kopf.
„Weißt du , Mercy, es gibt einfach Dinge, die normale Menschen nicht verstehen. Es ist einfach so dass es Leute gibt, die anders sind als alle anderen. Du zum Beispiel bist anders; etwas besonderes. Deine Mutter war ein besonderer Mensch. Genauso wie ich ebenfalls.... anders oder eher besonders bin. Und im übrigen ist so etwas selten. Daher musst du mir vertrauen, wenn ich dir sage, dass du dies niemandem erzählen solltest, dem du nicht vertraust. Meistens liegen solche Gaben und Fähigkeiten in der Familie und werden so auch weitervererbt. Und vergiss niemals, dass der Grad zwischen Fluch und Segen sehr eng sein kann“, erklärte Viktoria sanft lächelnd und ohne das ganze irgendwie böse zu meinen. Mercy war in den Augen der rothaarigen ein tolles Mädchen. Und Viktoria wusste nur zu gut, wie Mercy sich fühlen musste. Wie eine ausgestoßene, verrückte Außenseiterin. Auch Viktoria hatte sich einmal so gefühlt. Einzig und allein Coraline hatte ihr geholfen, damit fertig zu werden. Ja, Viktoria kannte Mercys Mutter. Diese Frau war unglaublich gewesen und liebenswürdig und nahezu perfekt. Natürlich, sie hatte sich mit Dingen beschäftigt die normale Menschen einfach nicht verstehen wollten oder konnten. Aber das hieß noch lange nicht, dass dies ein Grund war Coraline und vor allem ihre Tochter so zu verurteilen.
Als Coraline gestorben war, hatte Viktoria damit nicht nur eine Freundin verloren , sondern auch ein Zirkelmitglied. Aber das alles konnte sie der jungen Mercy noch nicht erzählen, denn die Zeit war dazu noch nicht reif genug. Mercy war noch nicht weit genug um in dies alles eingeweiht zu werden. Sie musste erst noch lernen Dinge zu verstehen und sie so zu akzeptieren wie sie sind. So etwas lernte man nicht innerhalb von Sekunden und Minuten, Viktoria selbst hatte ein halbes Jahr dazu gebraucht. Aber sie hatte jemanden gehabt, der ihr dabei half zu lernen und zu verstehen. Und das war der Unterschied zwischen ihr und Mercy.
„Du.... du weißt davon, oder? Hast du auch diese Gaben? Bitte hilf mir, Viktoria, bitte. Alleine schaffe ich das alles doch nicht“, sprach Mercy leise und am Ende des Satzes versagte ihr die Stimme. Mercy konnte einem wirklich leidtun, angesichts ihrer Situation. Sie hatte in dieser Welt keine Bezugsperson und Viktoria konnte das schwarzhaarige Mädchen noch nicht in ihre Welt einführen. Und letzten Endes lag die Entscheidung sowieso bei Mercy. Sie allein musste entscheiden zu welcher Seite sie gehören wollte. Natürlich war damit ganz sicher nicht der Unterschied zwischen Gut und Böse gemeint. Viel mehr meinte Viktoria damit, ob sie sich für den Teil ihrer Familie entschied, der ebenfalls über derlei Gaben verfügte oder ob sie sich für andere entschied, wie zum Beispiel Viktoria. Diese war nämlich keineswegs eine Seherin oder eine Gedankenleserin. Okay, wenn sie wollte konnte sie selbst auch Dinge vorher sehen, aber entscheidend war doch , dass sie sich dazu entschieden hatte den heidnischen Weg zu gehen und somit eine Hexe war. Selbstverständlich war sie eine 'gute' Hexe. Zusammen mit ihrem Zirkel, zudem einst auch Coraline gehört hatte, hatte sie bereits einige tolle Dinge erreicht. Sie hatten sich einen Platz gesucht der noch vollkommen Natur war und seitdem hielten sie dort ihre Rituale ab Außer wenn es regnete, natürlich. Dann hatten sie einen großen Raum zur Verfügung, den sie nur noch schmücken mussten. Und die Atmosphäre die immer entstand, war einfach unbeschreiblich schön. Was sollte man groß dazu sagen? Man musste es selbst erleben, um zu wissen wie es sich anfühlte. So etwas konnte man einfach nicht in Worte fassen und beschreiben. Viktoria würde Mercy gerne einmal mit zu einem Ritual nehmen. Vielleicht war ein Reinigungsritual für die Halbwaise genau das richtige. Wegen der Traurigkeit in der Stimme des Mädchens, nickte Viktoria. „ Ich möchte dir sehr gerne helfen, meine Liebe. Aber das heißt nicht, dass es schnell geht. So etwas braucht einfach seine Zeit“, erklärte Viktoria ruhig. Mercy nickte daraufhin, so als würde sie verstehen. Aber das konnte sie doch nicht, oder? „Vielleicht solltest du versuchen, etwas mehr über deine Mutter herauszufinden. Es …. könnte helfen. Und damit meine ich nicht nur den Brief und die Tarotkarte Ritter der Kelche“,erklärte sie und in ihren Sturmgrauen Augen lag mehr als nur Wissen. Natürlich hatte Mercy den Brief und die Tarotkarte mit keinem Wort erwähnt. Aber dennoch: Viktoria wusste davon. Nur.... woher? Aber vielleicht war es sowieso mehr als nur überfällig, dass Mercy nach Dingen suchte , die einst ihrer Mutter gehört hatten. Und anfangen würde sie im Keller ihres Hauses. Dann im Speicher. Und wenn dort nichts war, würde sie ihre Oma einmal besuchen. Denn dort würde es ganz gewiss etwas geben, was sie finden konnte, wenn sie nichts in ihrem eigenen Haus fand. „ Woher..... woher weißt du von dem Brief und der Karte?“, fragte Mercy unsicher, aber Viktoria schüttelte bloß den Kopf. Sie wollte nicht darüber reden, soviel war klar. Das war unmissverständlich klar geworden und war auch im Blick der rothaarigen klar zu lesen. Viktoria nahm einen letzten Schluck ihres Kaffees, zerknüllte dann den Becher und warf diesen in den Müll. „Du weißt ja, dass du mich immer anrufen kannst , Mercy, ja? Und ich werde dir auf jedenfall helfen, versprochen“, Viktoria sah kurz aus dem großen Fenster des Starbucks. Inzwischen war dieser Laden hier etwas voller wie vorhin, aber dennoch war es immer noch gemütlich, und niemand belauschte sie oder war an ihrem seltsamen Gespräch interessiert. Das war..... gut so. Die schwarzhaarige nickte und machte sich dann daran ihren Kaffee auszutrinken. Gemeinsam verließen sie dann den Starbucks. Nachdem Mercy von Viktoria bei sich zu Hause abgesetzt worden war, überlegte diese sich, wie sie in Keller und Speicher kam, ohne das ihr Vater davon Wind bekam.
„Mercy? Bist du das?“, kam die Stimme ihres Vaters aus seinem Arbeitszimmer.Mist. Es war bereits siebzehn Uhr und auch wenn sie bereits sechzehn war, wollte ihr Vater nicht, dass sie so lange mit Freunden in der Stadt war. Das würde sicher Ärger geben. Da war sie sich relativ sicher. „Wer sonst? Der heilige Geist oder wie?“, meinte sie als sie mit gesenktem Blick ins Büro ihres Vaters traute. Vielleicht glaubte er immer noch daran, dass ihre Mutter irgendwann wieder zu der Tür herein marschierte und alles wieder zum alten wurde. „Sorry, aber Viktoria und ich haben uns verquatscht. Wir waren übrigens nur im Starbucks und haben Kaffee getrunken und Kuchen und Muffins gegessen“, erklärte sie und sah sich nervös um. Sie hasste diesen Raum. Und wie sie ihn hasste. Dieser Raum hatte einfach schlechtes Karma. Mercy wusste nicht, wieso sie dies dachte, aber sie tat es einfach. Hier hatte sie sich noch nie wohlgefühlt. Sie wusste nicht wie es vor dem Tod ihrer Mutter gewesen war. Aber jetzt war es einfach so. „Nun gut. Aber das nächste Mal sagst du wenigstens Bescheid“, meinte ihr Vater daraufhin und blickte nicht ein einziges Mal von seinen Unterlagen auf. Natürlich. Er war ihr immer noch böse. Seit Montagnachmittag hatten sie fast nichts mehr miteinander geredet, nur das nötigste. Und das würde wohl auch so bleiben. Und selbstverständlich war längst klar, wo sie ihre Sommerferien verbringen würde. In Frankreich, bei ihrer Tante Lucrezia, die allein lebte, seitdem ihr Mann gestorben war. Natürlich war Lucrezia keines falls alt. Lucrezia war die jüngere Schwester ihrer Mutter und sie stand in der Strenge ihrem Großvaters keinesfalls nach. Nicht, wenn man sie verärgerte und ungehorsam war. Aber beides war nichts, was Mercy tun wollte. Sie wollte weder ihre Tante verärgern, dafür verstand sie diese zu gut und ungehorsam war sie sowieso nicht. Das dachten sie nur alle von ihr. Genauso wie einige glaubten sie sei verrückt. Aber vielleicht konnte sie Lucrezia zu der Sache mit dem Sehen fragen. Und vielleicht wusste diese auch, was es mit dem Ritter der Kelche auf sich hatte, denn Viktoria wollte ihr dies ganz offensichtlich noch nicht verraten. Aber sie konnte ja auch nicht ewig warten um es zu erfahren. Sie musste handeln und endlich mehr herausfinden.
Mercy nickte „Okay. Werde ich. Hast du noch einmal mit Tante Lucrezia gesprochen? Wann genau soll ich denn nun nach Frankreich fliegen?“
Und schon wieder ließ ihr Vater den Kopf und den Blick gesenkt und tat so als würde er weiter in seinen Unterlagen lesen. Diese dämlichen Unterlagen gingen ihr langsam echt auf die nerven. Wie konnte er nur so egoistisch sein und sie nicht verstehen? Er machte sie doch die ganze Zeit zu etwas was sie nicht sein wollte und das passte ihr ganz und gar nicht. Sie wollte sich selbst heraus suchen, was sie war und wer sie war. Da war dieser erbärmliche Versuch ihre Gene zu unterdrücken fehl geschlagen. Mehr als einmal. Mercy hatte längst begriffen, das man dagegen nicht ankämpfen konnte. Endlich sah ihr Vater auf und ihr direkt in die Augen. Oh oh. Irgendwas ging vor, von dem sie noch nicht die geringste Ahnung hatte und das war ganz und gar nicht gut. Sie schluckte krampfhaft und wich dem Blick ihres Vaters keineswegs aus. Das würde nur Schwäche bedeuten und sie war nicht schwach. Zumindest nicht in ihren eigenen Augen. Was ihr Vater da dachte, konnte man nie so genau wissen.
„Du wirst nicht hierher zurückkehren. Du bleibst in Frankreich, bei deiner Tante. Sie wird das Sorgerecht für dich bekommen“, erklärte ihr Vater mit kalter Stimme, sodass es ihr eiskalt den Rücken runter lief. Und das dass 'und dann bin ich dich endlich los und muss mich nicht mehr mit dir herumschlagen' hing auch nur allzu deutlich in der Luft. Aber was für ein bodenloser Hass musste nötig sein um seiner eigenen Tochter so etwas herzloses anzutun? Sie hatte es nicht verdient so behandelt zu werden. Nein, das hatte sie ganz und gar nicht. Sie hatte sich immer bemüht wenigstens brav zu sein und gute Noten zu schreiben und sowenig wie möglich anzustellen. Für den Rest konnte sie ja überhaupt nichts ! Sie trug keine Schuld an ihren Genen und Fähigkeiten. Aber hatte er ihre Mutter den überhaupt nicht geliebt? Hatte sie … nein, bedeutete sie ihm so wenig, dass er sie nach Frankreich abschob um sie los zu sein? Das konnte nicht nur wegen des nicht Redens mit ihrem Therapeuten gewesen sein. Er musste sie wirklich verabscheuen wenn er ihr so etwas antat. Tränen stiegen ihr in die Augen und machten ihr das denken und atmen schwer. Ihre Brust schnürte sich heftig zusammen und sie brachte kein Wort mehr heraus. Dabei wollte sie ihm so viele böse Wörter und Flüche an den Kopf werfen, nur um endlich diesen Frust und die Wut darüber zu vergessen, dass er sie einfach im Stich ließ. Sicher, sie hatten von Anfang an kein gutes Verhältnis zueinander gehabt, aber wenn es wirklich dazu kam, dann konnte man sie praktisch als Vollwaise ansehen und man konnte es Lucrezia kaum zumuten sich um eine sechzehnjährige zu kümmern, die zwar fließend französisch sprach aber ansonsten jede Menge Probleme hatte und nun auch noch einen seelischen Knacks hatte. Wegen so etwas würde sie liebend gerne zum Therapeuten gehen und stundenlang darüber reden, aber es würde nichts nützen.
„Hast du meine Mutter denn überhaupt nicht geliebt?“, fragte sie mit erstickter Stimme und versuchte heftig blinzelnd gegen den Tränenschleier anzukommen.
„Fang nicht mit Coraline an“, knurrte er. Er knurrte sie tatsächlich an. Coraline. Er nannte sie Coraline. Sonst hatte er immer von ihrer Mutter oder seiner Frau gesprochen, aber anscheinend hatte er langsam damit abgeschlossen. Aber das war egal. Er konnte doch nicht einfach so entscheiden sie beide ein für alle mal aus seinem leben zu verbannen nur weil er auf einmal der Meinung war, dass sie zu schwierig für ihn war. Wenn sie wirklich so unwichtig für ihn war, dann sollte er ihr dies auch sagen und nicht schweigen. Obwohl sie beide wussten, wie es eigentlich war. „Ich hasse dich. Ich hasse dich dafür das du mir die Schuld an etwas gibst, an was ich gar keine Schuld haben kann. Und weil du denkst all diese Probleme würden an mir liegen. Und im übrigen kann ich nichts dafür, dass ich diese Gene in mir trage. Und mittlerweile bin ich mir sogar ziemlich sicher das du sie überhaupt nicht gemocht hast. Und du wusstest nicht davon was sie wirklich war. Aber es ist verdammt nochmal nicht leicht. Das Leben ist nie leicht und durch irgendwelche therapeutischen Sitzungen kann man nicht verhindern, dass etwas nicht passiert was sowieso früher oder später geschehen wäre. Begreife es endlich und werde damit fertig.“
Mercy war mehr als nur sauer und sie hatte noch so viele Worte die sie unbedingt loswerden musste. „Und das allerschlimmste an der ganzen Sache ist auch noch, dass du mich jetzt loswerden willst , weil du dieses verdammte Problem, wie du es doch nennst, nicht loswerden konntest. In deinen Augen mag es wohl ein Defekt sein oder dergleichen aber das es ist es nicht. Und irgendwie bin ich sogar stolz darauf. Aber vergiss nicht was du Lucrezia zumutest. Sie wird ganz sicher nicht auslöffeln was du dir eingebrockt hast.“, die Wörter flossen nur so aus ihrem Mund und alles was sie jemals gedacht hatte, sprach sie aus ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Sie sah nur zu genau wie ihr Vater die Augen zusammenkniff und sie böse musterte. Dieser Aufstand passte ihm anscheinend nicht, aber das war ihr ja so was von egal. Sollte er es sich doch recht machen, wenn es ihm nicht passte.
„Du bist nicht länger meine Tochter“
Diese Worte schlugen bei Mercy ein wie eine Bombe. Neue Tränen stiegen in ihre Augen und sie drehte sich auf dem Absatz ihrer Ballerinas um und verschwand. Sie wollte sich keine weitere Schwäche vor ihrem Vater..... Ian, geben. Ganz sicher würde sie ihn nicht länger Vater nennen. Er hasste sie und er hatte ihre Mutter nicht geliebt und ihr ganzes Leben bestand quasi aus einer großen Lüge. Ihre Mutter war wahrscheinlich ebenfalls hintergangen worden und in keinem anderen Moment vermisste das junge Mädchen ihre Mutter mehr wie in diesem. Bitte lass mich nicht hängen. Ich vermisse dich, ich will das du zu mir zurückkommst.Ich brauche dich doch, wie gerne hätte Mercy diese Worte an ihre Mutter gerichtet und nicht nur in Gedanken ausgesprochen. Aber wenn es so etwas wie einen Himmel gab und ihre Mutter dort war, das war sie ganz bestimmt, dann würde sie sie sicher verstehen und über sie wachen. Auch wenn sie nicht da war, kein Teil ihres Lebens war so spielte sie wahrscheinlich Schutzengel für Mercy und darum war das Mädchen dankbar. Sie fühlte sich einfach so alleine und im stich gelassen und ganz sicher auch verdammt traurig. Dieser Streit mit Ina hatte sie zutiefst verletzt. Und das flickte man nicht einfach mal wieder mit etwas heiterem Denken oder dergleichen. Es tat verdammt weh so behandelt zu werden. Das war einfach Fakt und selbst wenn Mercy nicht so empfindlich reagieren würde, so würde sie es dennoch wenigstens teilweise schmerzen. Sie war kein herzloses Monster das sich einfach gegen jegliche Art der Gefühle wehrte. Ganz im Gegenteil. Irgendwo tief drinnen sehnte sie sich nach etwas Liebe und Geborgenheit und jemandem der sie so annahm wie sie war. Sie hasste es verurteilt zu werden und nun auch noch einfach weg zu müssen von ihrer vertrauten Umgebung war wirklich das schlimmste was man ihr antun konnte. Was er ihr antun konnte. Die Zimmer Türe knallte laut zu, als sie in ihr Zimmer ging oder eher rannte. Kaum war sie dort drinnen, verschloss sie die Tür und schleuderte die Schuhe von den Füßen. Mit einem einzigen Satz landete sie auf dem Bett und vergrub das Gesicht in dem tröstenden Weich ihrer Kopfkissen. Nach nur wenigen Minuten hatte sie nur noch den Geruch von dem Salz ihrer Tränen in der Nase. Aber es war egal. Alles war egal. Sie würde ihre Heimat verlassen und irgendwo ein neues Leben anfangen. Sie würde Ian hinter sich lassen und zu Lucrezia gehen. Warscheinlich würde sie nach einer gewissen Zeit einfach vergessen was geschehen war, aber das war ihr egal. Coraline würde immer in ihren Gedanken bleiben und auch Viktoria würde sie garantiert niemals vergessen. Das wollte und konnte sie nicht. Sie würden Kontakt halten, dessen war sich Mercy sicher. Und wenn nicht... was sollte sie schon dagegen tun? Ihre Gedanken wirbelten in einem endlosen Strom von Wörtern und Bildern in ihrem Kopf herum, bis sie schließlich erschöpft und völlig fertig mit der Welt, einschlief.
Tag der Veröffentlichung: 06.02.2012
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