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»Vorwort«


Laute gefroren ein, Schatten verzogen sich. Strömten in verschiedene Richtungen. Es wurde kälter und die Stille fühlte die Höhle aus, in der ich mich befand. »Du hättest nicht kommen sollen. Du solltest fort. Weit fort. Weit fort. Gaa-a-a-anz weit fort.«, kreischend flog ein Vogel auf mich zu, schrie die Worte immer wieder. Setzte weitere dazu, flog über mich und genau an mir vorbei. Nur für ein paar Sekunden streifte er mich mit seinen schwarzen Gefieder das leicht glitzerte, als es um mich herum noch kälter wurde. Schatten kamen von überall her. Umzingelten mich. Sahen mich an als wäre ich ihre Beute. »Du gehörst hier nicht hin.« Noch ein Schrei. Zustimmendes Gemurmel. Die Sätze wurden wieder wiederholt, der Vogel flog genau auf mich zu und ich wusste das er wollte das ich weg ging. Dass ich nie wieder mehr her kam. »Du bist ein Fremdkörper.« Schreie, zustimmendes Gemurmel und ein entsetztes Keuchen bevor alles schwarz wurde.



Ein leises Keuchen entfloh mir, bevor ich mich aufrichtete und mich im Raum umsah.
Dunkle Schatten wurden in die Länge gezogen und breiter gemacht, als ein Auto vorbei fuhr und mich noch einmal zusammen zucken ließ. Meine Kleidung klebte an mir und meine Hände suchten meine Lampe, die eigentlich rechts neben mir stehen sollte.
Noch einmal geriet ich in Panik, bevor ich sie endlich fand und seufzend das Licht anschaltete.
Die Schatten wurden vertrieben und die Geräusche draußen erschreckten mich nicht mehr.
Noch immer neben mir fuhr ich mir durch mein braunes Haar. Kurz erlaubte ich mir meine Augen zu schließen, als ich auch schon ein leises Klopfen vernahm. »Ja?« Meine Stimme hörte sich sanft an und doch auch kratzig. »Was ist passiert?«, fragend steckte mein Bruder seinen Kopf herein um wenige Sekunden später ganz hinein zu treten und die Türe hinter sich zu schließen.
»Mir geht es gut.«
»Melody.«, warnend zischte er meinen Namen in die Stille hinein, die das ganze Haus gefangen genommen hatte. »Wirklich.«, fügte ich noch leise hinzu als ich leise seufzte und meinen Blick von ihn abwandte.
»Du solltest es nicht mit dir herum schleppen. Dass hätte Grandma nicht gewollt.«
»Ich weiß«, murmelte ich leise.
»Schlaf jetzt, Kleine.«
Aber wenn ich nicht schlafen kann, wenn meine Gegenwart mir folgt, sogar in meinen Träumen? Fragend sieht er mich an, als ich seine Verabschiedung nicht wiederhole sondern stumm bleibe. Sowie ich es zurzeit immer bin. Still. Alleine.
»Gute Nacht.«
Ein kurzes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht.
»Es ist bald soweit. Dein geliebter Winter kommt.«
Fragend richte ich mich weiter auf als er den Satz in den Raum geworfen hatte obwohl er noch vor ein paar Sekunden gehen wollte. »Es wird nicht wie immer sein.«
»Das wird es nie.«, stimmte er mir leise seufzend zu und schenkte mir noch eines seiner lächeln bevor er wieder aus meinen Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.
Vielleicht schon, dachte ich mir um danach meine Augen zu schließen und in eine Welt zu gleiten, die ich selbst bestimmen konnte.


»Schmerz der nicht verschwinden wird«


Vor ein paar Tagen war ich noch der Ansicht, dass mich nichts seelisch verletzten könnte. Wie auch? Körperlich waren wir Menschen schwach. Waren leicht verletzbar. Nur ein falscher Schuss und wir wären tot. Aber unsere Seele würde immer noch leben. Nicht in uns, sondern irgendwo sonst. Da man sie nicht töten konnte. Sie war unsterblich. Etwas, dass meine Welt zum wackeln bringt und meine damaligen Ansichten verschlingt. Denn ich war seelisch verletzbarer als körperlich. Immerhin könnte ich bei zu viel körperlichen Schmerz sterben und es wäre vorbei. Während ich seelisch immer weiter leiden würde, bis ich zu schwach wäre um weiter zu machen.
Seufzend öffnete ich meine Augen und sah in das helle Licht, dass mich blendete und für eine weile blind machte.
Aber nicht lange und ich konnte hinaus in die Welt sehen, die trotz meinen Verlust, nicht steh'n geblieben ist. Sie hat sich weiter gedreht, obwohl ich einen geliebten Menschen verloren habe, der für mich alles war. Eine Großmutter, eine Freundin, eine Ratgeberin, eine Bestrafte, mein Licht wenn ich im Dunkeln gefangen war. Doch das war hier egal. Immerhin war diese Frau nur für mich alles.
»Melody.«, lachend reißt er die Tür auf, stürmt herein und schmeißt sich auf mein Bett, bevor er bemerkt, dass ich weder lächel noch glücklich bin.
»Es tut mir leid. Ich sollte wohl..«
Er will mich wieder alleine lassen, jetzt da er da wäre und mich in den Arm nehmen könnte, doch er denkt das es mir unangenehm ist, dass ich dafür zu stark bin um mich von anderen halten zu lassen. Nathan liegt falsch. Denn ich bin nicht so stark um keinen schützenden Arm zu gebrauchen oder einen Ort in dem ich mich wie zu Hause fühle. Aber er versteht es nicht, weil er einer Täuschung glaubt, einer Illusion, die ich jeden Tag von neuen an aufbaue. Wieso? Ich tue es, damit ich für meine Lieben da sein kann. Für meine Freunde die meine Hilfe mehr brauchen als ich ihre.
»Ich komme gleich runter, Nathan. Wartet Mama schon auf mich? Oder wolltest du mich nur erschrecken, sowie du es jeden Morgen versuchst?«
Ein Grinsen schleicht sich auf sein Gesicht als ich es schon wieder tue. Ihn anlüge.
»Natürlich wartet sie auf dich, Kleines. Ohne dich funktioniert doch gar nichts und jetzt komm.«
Glücklich erhebt er sich und streckt mir seine Hand hin. Eine Geste die mir - ohne das er es weiß - wieder Kraft verleiht. Kraft die zu Ende ging, weil ich von Albträumen geplagt und von der Wahrheit gefangen gehalten werde.
»Geh schon einmal vor. Ich zieh mich noch schnell um, okay?«, fragend sehe ich ihn an, hoffe auf seine Erkenntnis der Dinge. Doch sie bleibt aus. Wie jeden Morgen.
Weswegen ich mich umdrehe und in mein Badezimmer gehe, mir die Träume von der letzten Nacht und die Lügen die ich erzähle abwasche. Und obwohl sie immer noch auf mir sind, fühle ich mich besser. Nicht mehr beschmutzt. Aber ich weiß das ich es immer noch bin. Ich es wahrscheinlich immer bleiben werde. Solange bis ich keine Mauern und Fassaden mehr bauen muss. Doch dies wird erst geschehen, wenn jemand bemerkt was ich tue. Aber wer wird das schon? Ich bin zu gut in meinen Spiel der Lügen geworden um aufzufliegen. Auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte.

Es sind wie tausend kleine Nadeln die alle gleichzeitig in mein Herz gebohrt werden und mit den Scherben davon meine Seele zerschneiden. Und es funktioniert. Nur noch mehr Trümmer sind von meinen lebenswichtigen Organ vorhanden. Nicht medizinisch gesehen, sondern von mir aus. Aber was macht das schon? Wenigstens muss ich mich von jetzt an nicht mehr verlieren in den Schmerz, der jeden Tag von neuen an in meinen Herzen gewohnt hat. Dennoch, obwohl mein Herz und meine Seele zerstört wurden und ich keine Tränen mehr weinen kann, wohnt er immer noch in mir. Er ist da, überall wo ich bin.
Er zerreißt mich, sowie ich selbst einmal meine Gefühle zerrissen habe.
Es ist der Schmerz der nicht verschwinden wird. Egal wie weit ich gehe um ihn zu zerstören, da er mir immer zwei Schritte voraus ist, wenn nicht sogar schon drei.
Ein Ruf durchschneitet die Stille um mich herum und lässt mich wieder meine Umwelt sehen, die vor ein paar Sekunden noch verschwommen und durchsichtig für mich war.
»Melody!«, gehetzt schrie Jessica weiterhin meinen Namen, rannte über die befahrene Straße und holte mich schnaufend ein, »Du bist lebensmüde und taub. Mich würde es nicht wundern wenn du vor mir sterben solltest.«
Schnell atmend steht die blonde Schönheit vor mir, lächelt mich entschuldigend an, als sie sich an mir fest halten muss, da sie sonst gestolpert wäre, und fängt gleich an von ihrem Wochenende zu erzählen.
Ihre grauen Augen folgen meinen Bruder, der ein paar Meter vor uns geht und meine Freundin neben mir, mit einen schmachtenden Ausdruck in den Augen betrachtet.
Ich weiß das er seit längeren in sie verknallt ist und es andersrum genau der gleiche Fall ist. Sich aber bis jetzt noch keiner von Beiden getraut hat den anderen nach einen Date zu fragen, geschweige den nach seiner Handynummer.
Lyn würde jetzt lachen und Scherze darüber reißen. Doch ich bin nicht Lyn. Genauso wenig wie ich Jessica bin und mein Herz deswegen an keinen Jungen verliere. Den was wäre ein zerfetztes Herz schon wert? Keiner würde es als ein Geschenk ansehen, wenn er es zuerst reparieren müsste.
»Da seit ihr ja.«
Winkend ruft Lyn nach mir und Jessica, die Nathan immer noch hinter her schaut. Traurig und wissend. Doch sie weiß das falsche. Genauso wie ich das falsche fühle. Ich sollte mich leer fühlen, gefangen, in Dunkelheit getaucht. Aber nicht beschädigt oder verletzt. Da mein Herz und meine Seele mich in Stich gelassen haben. Sie sind fort und doch fühle ich immer noch den gleichen Schmerz, der mich keine einzige Sekunde los lässt.
Liebt derjenige, der mir diese Schmerzen zu gefügt hat, meinen leidenden Gesichtsausdruck wenn ich mich ungestört fühle und ich meine Gefühle offen zeigen kann, ohne jemanden mit meinen Verhalten zu beunruhigen? Möchte er mich solange dem ausgesetzt lassen, bis ich aufgebe und lautlos verschwinde, sowie meine Großmutter verschwunden ist?
Ich habe keine Antworten auf meine Fragen, die mir weitere Qualen verursachen, weil ich in Ungewissheit bade. Weil ich nicht ein bisschen weiß wieso ich solche Schmerzen habe und sonst niemand.
Für diesen einen Moment möchte ich schreien. Laut und kraftvoll um mir und allen anderen zu zeigen, dass immer noch der Wille nach Leben in mir schlummert. Versteckt unter den Erinnerungen die mir Leid zu fügen und den Schmerz, der mich unter sich immer öfter begräbt.
Doch ich kann nicht, so gerne ich es auch wollte.
Weil ich von den einen Schmerz verfolgt werde, der nicht verschwindet.


»Trauer, die nicht gezeigt wird«


Die ersten zwei Stunden sind ereignislos. Weder Lyn noch Jessica bemerken meinen traurigen Blick. Dafür sind sie zu abgelenkt. Und ich kann sie verstehen. Sowie ich sie immer schon verstanden habe.
Sie beide haben ein Leben zu leben, dass anders ist als meines. Meines ist schwer und voller Schmerz, denn ich vergessen möchte, aber nicht vergessen kann.
Und doch klappt es irgendwie. Ich lebe ohne innerlich zu sterben. Ich lache ohne hinter meiner Mauer zu weinen. Ich halte jeden im Arm, ohne selbst zu zerbrechen.
Ich atme ohne zu stocken, obwohl ich schon so oft über etwas gefallen bin, was mich letzen Endes zum fallen gebracht hat.
Doch für jeden weiteren Atemzug, jedes weitere - falsche - Lächeln, jede weitere - grausame - Lüge, muss ich etwas her geben. Es ist wie ein Geschäft. Ein Pakt, aus den ich nicht heil wieder heraus kommen werde. Ich werde in ihn sterben. Alleine. Ohne das Wissen der anderen, die mich jeden Tag sehen und schon so viele Lügen enttarnt haben, dass ich sie gar nicht mehr zählen könnte. Aber wir Menschen sind berechnend. Wir wollen glücklich sein und dafür sogar einer Lüge Glauben schenken. Solange wir dafür unser geregeltes, fröhliches Leben weiter haben können.
Veränderungen sind uns ein Dorn im Auge und vom Alltag abzuweichen könnte eine Strafe sein, die nicht jeder eingeht.
Wir sind Gewohnheitstiere. Können uns nur schwer an eine neue Situation anpassen, weswegen wir lieber ein anderes Leben zerstören lassen, als der Wahrheit entgegen zu treten.
Wir Menschen sind schwach, weil wir das Unbekannte verabscheuen und das Bekannte fest halten.
Doch in diesen Moment ist es mein Glück und mein Fluch zugleich. Da ich mich verabscheue. Das Mädchen hasse, dass aus mir geworden ist.
Wenn ich zuvor schon gedacht habe, dass wir Menschen schwach sind, so weiß ich, dass ich noch schwächer bin. Weil ich aufgegeben habe ohne zu kämpfen.
Mein Schicksal wurde von mir angenommen, ohne eine Sekunde meine Bedenken zu äußern. Wieso hätte ich es auch tun sollen? Lieber bin ich einen Kampf aus den Weg gegangen, als hoffnungslos zu kämpfen um am Ende sowieso zu verlieren.
Ja, ich war schwächer als jeder andere. Dafür hatte ich auch mehr Narben auf meiner Seele. Mehr Lügen lasteten auf mir, als auf jemand anderen.
Lyn hätte mich in diesen Moment in den Arm genommen und mich getröstet. Mir beruhigende Worte ins Ohr geflüstert, die nicht stimmten. Aber sie wäre da gewesen. Hätte sich alles angehört und wäre mir beigestanden. Aber sie ist nicht da. Nicht weil sie es bei mir nicht tun würde, sondern weil ich sie nicht um Hilfe gebeten habe. Sie ist nicht bei mir und tröstet mich, weil ich lieber schweigend untergehe als jemanden mit mir in die Tiefe zu ziehen.
»Hast du mir zugehört?«, lachend beugt sich Jessica über mich, zeigt mir wie glücklich sie ist, obwohl sie nicht alles hat was sie haben möchte.
Schwach. Das bin ich. Das ist das was aus mir geworden ist. Ein Mädchen das lügt um zu überleben und einen Kampf ausweicht um nicht ganz zu zerfallen.
Ich bin das, was meine Freunde nie sein werden. Da sie gegen alles und jeden kämpfen. Da sie, trotz Unheil und innerer Schwäche, ihren Mut nie verloren haben, genauso wie ihre innere Stärke, die auch jetzt in jeden glüht. Wie ein Feuer, dass sie von innen erwärmt.
»Nicht wirklich. Tut mir leid. Also was ist los?«, fragend richte ich meine Aufmerksamkeit auf sie, während ich in meinen Kopf immer noch eine helle Stimme schreien höre: Schwach. Schwach. Du bist zu schwach.
Doch ich ignoriere sie. Vielleicht, weil ich für ein paar Sekunden geheilt sein will. Oder wegen den Wunsch in mir, nur für ein paar Minuten normal sein zu können.
Und das bin ich. Für ein paar Minuten, bis mein Kopf wegen dieser Stimme beinahe explodiert und aus meinen Mund wieder Lügen zu hören sind, die jeder ignoriert. Wegen den Glück in ihren Leben, dass sie nicht aufgeben wollen.
Seufzend verdreht sie ihre Augen, um ein paar Momente danach ihr verführerisches Lächeln aufzusetzen und mir die Antwort zu geben, die ich von ihr verlangt habe: »Neuer Schüler. Schwarze Haare. Grüne Augen. Und einen Körper bei den ich zu Matsch werde.«
Grinsend sehe ich sie an und bete für den neuen Schüler, der, sollte er noch Single sein, es bald nicht mehr sein wird. Nicht bei Lyn. Immerhin liebt sie das andere Geschlecht. Sie verehrt es schon fast.
»Sieh mich nicht so an, Melody!«, lachend steht sie auf, streckt mir ihre Zunge heraus und wackelt mit ihren Augenbrauen. Sowie sie es immer tut, wenn ich meine Gedanken, durch meine Augen, offen gezeigt habe. »Ich denke mir nur meinen Teil dabei, Lyn. Außerdem solltest du wissen, dass man nicht mit den Feuer spielt.«
Kichernd steht auch Jessica auf und schüttelt ihren Kopf, so dass ihre blonde Mähne durch die Luft geworfen wird.
»Wir sollten jetzt los.«
Träumerisch meldet sich Lyn wieder zu Wort und sieht zum Eingang, in dem ein großer, schwarzhaariger Junge steht. Er wird der Neue sein. Dass erkenne ich durch seine Körperhaltung. Die zu sicher scheint. Seine grünen Augen werden von seinen Haaren verdeckt, als er den ersten Schritt hinein in diesen Raum tritt. In einen Raum der sein Anfang sein wird.
Und ohne es zu wissen besiegelt er durch seinen ersten Schritt auch meine weiteren Schritte, auf meinen Weg. Etwas das ich jetzt noch nicht weiß, es aber spüren kann. Er scheint mich magisch anzuziehen. Wie ein Magnet.
Doch ich währe mich, sowie ich es schon immer tue. Ich lasse mich auf nichts ein, dass mich ganz zerstören könnte und doch treffe ich eine andere Entscheidung, als er plötzlich seinen Kopf hebt und mich mit seinen grünen, ausdrucksstarken Augen anfunkelt. In ihnen schimmert Trauer die nicht gezeigt wird und ein Kampf, der nicht erst seit kurzem in ihn herrscht. Ich kann ihn seine Jahre voller Trauer und Hoffnungslosigkeit ansehen und weiß dass er älter ist, als er scheinen mag.
Nur mit sehr viel Mühe kann ich mich abwenden, um ein paar Augenblicke später, wieder in seine Augen zu schauen, die dieses Mal kein Gefühl mehr freigeben. Um sie ist eine Mauer gebaut. Eine Mauer die auch ich wieder aufbaue.
Ich habe einen Fehler begannen, in dem ich offen war. Für viel zu lange Zeit, habe ich meine Maske aufgegeben, die das einzigste war, was ich in dieser Zeit noch hatte.
In einer Zeit voller Trauer, die nicht gezeigt werden darf.
Und auf einmal sehe ich wieder seine grünen Augen vor mir, die Trauer gezeigt haben. Eine solche Trauer, die auch ich jeden Tag meines Lebens empfinde. Aber noch etwas anderes hat in ihnen geschlummert. Etwas, dass ich benennen kann, da ich es jeden Tag erlebe. Da ich deswegen jeden Tag lügen darf und anderen ein falsches ich zeigen muss. Er hat viel erlebt und ist deswegen zerrissen. Genauso wie ich es bin.


»Zwei Menschen, eine Mauer«


Dion;


Ich brenne. Innerlich wie äußerlich. Ihre Augen spiegelten das Meer wieder, welches mich an viele schmerzliche Momente erinnerte und doch etwas war, an dem ich mich frei fühlen konnte.
Für einen Moment war ich das sogar. Frei. Von allen befreit, dass auf mir lastete. Aber auch dieser Moment hatte sein Ende gefunden. Früher als ich es gewollt hätte und doch ging sie an mir vorbei, ließ mich ihren Vanille Geruch einatmen, der mich verwirrte und mich zugleich auf eine besondere Art und Weise glücklich machte. Ihre Engelsgestalt entfernte sich immer weiter von mir, was sich für mich wie ein Verlust anfühlte. Ein schmerzlich schöner Verlust. Vielleicht, weil ich lange niemanden mehr verloren hatte. Und bis gerade eben hatte ich auch gedacht das die Zeiten vorbei wären. Zeiten in denen ich weinte um Menschen, die nur ein paar Jahre zu leben hatten, während ich ihre Enkelkinder und Urenkeln aufwachsen sah. Doch es kam mir nicht vor als wären sie jemals vorbei gewesen. Da ich dieses einfache Menschenkind an mich heran ließ. Und das aus einen Grund, den ich selber nicht bestimmen konnte.
Sie war wunderschön, hatte Meer blaue Augen, die mich wie ein offenes Buch fühlen ließen. Dabei war ihre Stimme wie Musik in meinen Ohren, während ihre Haltung abwesend wirkte, obwohl sie es nicht immer war. Ihr Geist war klar und undurchdringlich. Dieses Mädchen war stark, was man in nur einen Augenblick fest stellen konnte, aber nur in einen ganzen Leben miterleben könnte. Und ich wollte es sehen. Wollte sehen wie sie ihre erste große Liebe verließ um nicht ganz zu zerbrechen. Wollte wissen wie sie mit unbekannten umging, dass sie in Stücke reißen konnte. Ich wollte ihre Geschichte kennen. Ihren langen Weg sehen, denn sie bis jetzt gegangen war. Ich wollte alles von ihr wissen. Sie in und auswendig kennen. Sowie ich niemanden kannte. Sie war jemand besonderes. Jemand der mir gefährlich werden könnte, würde ich - wegen der Sehnsucht in mir - meine Deckung fallen lassen und auf sie zu gehen um meine größten Wünsche wahr zu machen.
Doch dies war Schwachsinnig, immerhin war heute mein erster Tag in einer neuer Stadt, in einen neuen Leben, dass ich angetreten war um das alte zu vergessen.
Und doch fing alles von vorne an. Anders, aber im Endeffekt immer noch gleich. So oder so würde ich verletzt werden, wenn ich ihr nicht aus den Weg ging.
Weswegen ich es tat. Ich ging ihr den ganzen Tag lang aus den Weg, was uns beiden nicht wirklich gut zu tun schien. Dennoch versuchte ich sie im Unterricht nicht anzuschauen und ihr in der frei Stunde aus den Weg zu gehen, obwohl wir immer wieder aneinander stießen. Es schien so, als wäre das Schicksal auf uns aufmerksam geworden und wollte unbedingt das wir zueinander fanden. Und das, obwohl wir uns nicht einmal kannten. Aber so war das Leben. So waren die Jahrhunderte. Zuerst langweilig um irgendwann einmal aufregend zu werden. Doch ich wollte es nicht anders haben. Ich war zufrieden gewesen mit meinen Leben, dass aus meinen Beruf und meinen Lebensinstinkt bestand. Bis jetzt. Denn es hatte sich alles grundlegend verändert. In nur ein paar Sekunden drehte sich mein Leben um 360°, in dem ich mich seit heute früh nur noch mehr wie ein Zuschauer fühlte und nicht mehr wie einer der Hauptdarsteller.
Dennoch wusste ich noch zu gut wie sich alles drehen und wenden kann. Würde ich mich dem nicht immer wieder von neuen an anpassen, wäre ich schon längst untergegangen in diesem Jahrhundert.
Aber bis jetzt wusste ich noch nicht, dass ich mich der nächsten Situation nicht anpassen konnte. Das würde niemand können. Der Grund könnte dieser sein, dass sich niemand dem einzig wahren Gefühl anpassen wollte. Es war das Gefühl, dass mich zu dem machte was ich nun war und mein stärkster Feind war. Jetzt noch. Ich wusste das sich Dinge änderten. Aber nicht, dass sie sich so sehr verändern konnten.

Nach dem die letzte Stunde zu Ende war und sogar der letzte Schüler nach draußen gegangen war, ging auch ich durch die Tür, an der der Lehrer schon stand und mich mit gehobenen Augenbrauen beobachtete. Geduldig war hier anscheinend niemand.
Als ich ein paar Minuten später darauf spüren konnte, dass jemand gegen mich gerannt war, bestätigte sich meine stille Vermutung schon.
»Geht es?«
Ich wusste das meine Stimme, genauso wie mein Körper und mein Duft die Menschen benebelten und zu Robotern machen konnten. Und doch setzte ich diese Reizmittel immer wieder ein, die mir mein Leben schon oft leichter gemacht, wenn nicht sogar gerettet haben.
»Es tut mir leid. Ich hab dich nicht gesehen. Hab ich dich irgendwie verletzt?«, fragend hebt sie ihren Blick, nach dem sie den Staub von ihrer Kleidung geklopft hat und ihre Bücher wieder alle in den Händen hielt.
Ihr Menschen macht euch so leicht Sorgen um andere. Sogar in Momenten in denen sie selbst fast am sterben sind, gilt ihre gesamte Aufmerksamkeit der anderen Person. Ihr seit berechenbar und leicht zu besiegen. Ihr seid Schwächlinge, in jeder Form in der man schwach sein kann.
Nur zu gerne hätte ich ihr dies ins Gesicht geworfen, nach dem ich ihr mit einen eiskalten Lächeln, ins Gesicht gesagt hätte, dass man mich nicht verletzten konnte.
Aber ich tat es nicht. Zum einen, weil ich meine Tarnung aufbehalten musste. Jegliche Emotion, ob sie nun von Ekel oder Verzweiflung bestimmt wird, muss ich hinter einer dicken Mauer bewahren, damit niemand mein wahres Ich erkennt. Egal wer es ist. Den ein Fehler und ich könnte tot sein. Zum anderen, weil ich sie nicht erschrecken wollte. Ich wollte keinen Menschen einen Herzinfarkt bescheren, nur weil er zufälligerweise in mich hinein gerannt war.
»Mir geht es gut und das kann doch jeden mal passieren. Tut mir leid. Ich bin unhöfflich. Ich bin Dion. Und du bist?«
Erst jetzt bei meiner Frage richte ich meinen Blick wirklich auf ihr Gesicht, was mir den Atem verschlug.
Schon ihr Geruch kam mir bekannt vor und hatte mich eingelullt, doch diese Stimme hätte mir alles sagen sollen. Laut in meinen Innersten hätten alle Alarmglocken klingen sollen und aufschreien sollen, dass ich weg laufen sollte, so schnell es nur ginge. Aber nichts war passiert. Nichts geschah in den Moment, in dem ich sie erkannte.
Ich stand immer noch vor ihr, sah ihr in die Augen und dachte mir wie dumm ich nur sein konnte. Das Schicksal war schalkhaft. Irgendwie bekam es immer das was es wollte. Das hätte ich wissen müssen und doch habe ich mich in Sicherheit gefüllt. Nicht in ihrer Nähe. Etwas das falsch war und in einen anderen Fall meinen Tod hätte bedeuten können.
»Melody.«, lächelnd streckt sie mir die Hand entgegen und reißt mich somit aus meinen Gedanken, die sich nur um Flüche und Morddrohungen gedreht haben.
Mit einen aufgesetzten Grinsen nehme ich ihre warme Hand in die meine und schüttele sie kurz, bevor ich sie wieder los lasse. Schneller als ich es hätte tun sollen. Aber in ihrer Nähe kann ich nicht nachdenken und bin mehr Ich als ich es jemals sein sollte.
»Ich muss weiter. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.«
Verkrampft will ich einfach weiter gehen, als ihre Stimme mich zum Stehen zwingt und ihr amüsiertes Lächeln meinen Kopf ausfüllt. »Ich glaube nicht wirklich, dass du mich wieder sehen willst. Und mit Höflichkeiten kommt man in diesem Jahrhundert auch nicht weit. Also solltest du einfach die Wahrheit sagen, anstatt das, was deine Eltern dir beigebracht haben.«
Mein verdutztes Gesicht richtig deuten, lacht sie ein wenig lauter und nimmt mir somit die Anspannung die gerade eben noch auf mir gelegen war.
»Du musst mich nicht so ansehen. Vielleicht kenne ich dich nicht, aber ich weiß wie jemand klingt, wenn er sich am liebsten weg wünschen würde.«
Ihre heitere Stimmung verschwand und wurde durch einen getrübten Blick ersetzt, der mir durch Mark und Bein ging.
»Zu meiner Verteidigung: Ich habe mich nicht weg gewünscht.«
Es war ein kleiner Versuch sie aufzumuntern, da ich sie unbedingt wieder lächeln sehen wollte. Das Glitzern in ihren Augen bemerken wollte, dass sie noch schöner machte, als sie sowieso schon war. Ich wollte ihr die Leichtigkeit in ihrer Stimme wieder zurück bringen, dass sie zu einen glücklichen Mädchen gemacht hatte. Doch es gelang mir nicht. Sie war wieder die, die sie wahrscheinlich immer war. Traurig, geplagt von ihrer Vergangenheit, die sich wie Säure in sie gefressen haben musste.
Mit einen Teil von mir, wenn es nicht sogar mein ganzes Ich war, wusste ich wie sie sich fühlte. Konnte den Schmerz fühlen, der durch meine Glieder glitt, wie schmierige Seife. Sah alle vor mir, die ich jemals geliebt habe. Sogar die getrockneten Tränen auf meiner Wange konnte ich wieder spüren.
Ich war gefangen, sowie sie es war. Es gab zwischen uns nur einen Unterschied. Ich bin ausgebrochen um mich vor dem Schmerz zu verstecken, während sie ihn immer noch an sich heran ließ und ihn sogar jeden Tag ein Willkommensschild hinaus henkte. Ich wusste nicht ob sie es willentlich tat oder ihn verabscheute und los lassen wollte. Aber sie tat es. Jede Sekunde von neuen an.
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Ich weiß.«
Seufzend wollte ich einen Schritt auf sie zu gehen, als sie einen Schritt nach hinten trat und eine undurchdringliche Mauer in ihren Augen erschien, die nicht einmal ich hätte zerstören können. Auch ihre Haltung veränderte sich. War sie gerade eben noch zerbrechlich vor mir gestanden, zeigte sie nun ihre Stärke, die sie immer wieder hervor kratzte, selbst wenn sie eigentlich gar keine mehr besaß.
Erschrocken über meine eigenen Gedanken, ging auch ich einen Schritt zurück und dachte an die Mauer, an meinen Schutz, den ich nicht umsonst aufgebaut hatte. Aber er kam nicht. Ich merkte es an der Art wie sie sich wieder entspannte und ihre eigene Mauer ablegte.
Obwohl sie dies tat, konnte ich weder in ihren Geist eindringen noch irgendwelche Gefühle in ihren Gesicht ablesen. Sie hatte in ihren jungen Jahren viele Mauern um sich herum gebaut. Nicht nur die in ihren Kopf, sondern auch die in ihrem Körper. Sie hat das geschafft, was viele nicht einmal nach tausenden von Jahren schafften. Dieses kleine Mädchen vor mir, hatte eine Maske angelegt, die sie innerlich zerstörte und ihr äußerlich Kraft verlieh.
»Musst du nicht los?«
»Haben wir nicht ausgemacht, dass ich es gesagt habe, weil ich höfflich sein wollte?«, grinsend trete ich wieder zwei Schritte vor und achte genau auf ihre Bewegungen. Doch sie weicht nicht mehr vor mir zurück, sondern bleibt stehen und schüttelt lächelnd ihren Kopf.
»Eigentlich haben wir nichts ausgemacht, aber so kann man es natürlich auch ansehen.«, immer noch lächelnd schweifte ihr Blick zu einer Gruppe Schüler, die sie abwartend ansehen, so als würden sie schon längere Zeit auf sie warten und hätten sie deswegen gesucht, bevor sie mich wieder anblickte, »Verdammt. Ich muss los. Tut mir leid.«
Eilig rannte sie schon los, bevor sie sich noch einmal umdrehte. Mich in dieser Existenz das erste mal wirklich überraschte mit ihren Worten, die sie mir jetzt entgegen schleuderte. »Ich sage jetzt nicht, dass wir uns vielleicht wieder sehen. Da ich weiß das wir es wieder tun werden. Diese Welt ist zu klein für kein zweites Treffen.«
Ein paar schnell gerannte Schritte später landete sie lachend in den Armen eines Jungen, der helle braune Haare hatte. Dieses perfekte Bild dass die Beiden für jeden abgaben, löste etwas in mir aus, dass ich schon seit längerem nicht mehr gefühlt habe.
Ich war eifersüchtig. Nicht nur weil sie so etwas noch erleben konnte. Freudige Momente. Sondern, weil ich den Jungen an ihrer Seite hasste. So sehr, dass ich wusste das jegliche, von mir anfangs getroffene Entscheidung nichts mehr brachte.
Ich hatte ein Schachspiel begonnen, dass sie erwidert hatte. Und ohne es zu wissen, haben wir beide einen Zug gemacht, der alles verändern könnte. Wenn er es schon nicht getan hatte.

Melody;


Würde ich meine Gedanken aufschreiben und daraus ein Theaterstück machen, wüsste ich am Ende nicht, ob ich schlimmes erlebt habe, oder es Menschen gibt, die es übertreffen könnten. Aber schon die Gewissheit zu haben, dass es immer irgendwo Menschen gab, die alles Leid dieser Erde zu spüren bekommen, ist ein Trost für mich, auch wenn es ein schmerzlicher Trost ist.
Vielleicht schreibe ich meine Gedanken deswegen nicht auf, sondern zitiere mein Leben mit nur einen Satz. Aber auch dies kommt mir falsch vor. Wieso sollte ich mein Leben auch zitieren? Es war unbedeutend. In seiner eigenen Art und Weise vielleicht etwas komisch, aber dennoch nichts besonderes. Ich war immer noch ein ganz normales Mädchen, dass eine Mutter und einen Bruder hatte. Ich hatte Freunde und Dinge hinter denen ich mich verstecken musste. Das einzigste was nicht normal an mir war, war meine Sicht der Dinge. Ich sah das, was genau vor mir war. Niemals würde ich es in einen falschen Blickwinkel betrachten wollen. Es anders machen wollen. Das steht mir nicht zu. So habe ich gelernt Menschen einzuschätzen und wahre Gesichter zu sehen, die sich hinter einer lieblichen Maske versteckt hielten. Einer Maske wie ich sie trug. Nur das ihre mit Fehlern bestückt war. Etwas das mir nicht passieren durfte. Das mir noch nie passiert war. Die Erklärung dafür gibt es nicht, nur einen Grund. Mein Grund keine Fehler zu machen ist dieser, dass ich meine kleine selbst aufgebaute Welt nicht wieder retten will um sie trotz allen Einsatz zerstört zu sehen.
Es ist mein Grund, es ist mein Lebensinhalt geworden. Es ist die Erklärung für meine Mauer die ich um mich herum aufgebaut habe. Eine Mauer die keine Risse zeigt, solange bis jemand kommt, dem ich alles schenken werde. Doch wo gibt es diesen jemand? Jemanden an den ich mich fest halten kann, wenn ich stürze. Einen Menschen den ich ansehe und mich in Sicherheit fühle. Jemand einzigartiges der alles von mir verdient hat. Aber es gab diesen jemand nicht. Nicht in meiner Welt. In der ich mich nicht verliebte und mich sogar vor mir selbst versteckte.
In einer Welt, in der ich niemanden hinein ließ. Nicht nur um meinetwillen, sondern um seinetwillen. Da ich niemanden diesen Schmerz antun möchte.
Würde ich jetzt, nach all diesen Gedanken und dem lächeln meines Bruders, das er mir schenkte, nach dem er die Tür geöffnet hatte, mein Leben zitieren müssen, würde mein Zitat wahrscheinlich so lauten, aus den einfachen Grund, dass ich nicht der einzigste Mensch bin der leidet; Ich bin nicht perfekt, genauso wenig wie mein Leben oder diese Welt, aber ich lebe und das ist das einzigste was zählt. Selbst wenn mein Leben von Schmerz beherrscht wird.


»Gedanken an den Anderen«


Melody;


Verrückt zu sein nach dem Einen, ist etwas, was uns alle blind machen kann. Wegen den Fehlern nicht beherrscht zu sein, die alle schon begangen wurden, ist eine andere Sache. Auszurasten, um an das zu kommen, was man will, ist etwas, was nur diejenigen machen, die nicht mehr weiter wissen und sich deswegen schwach fühlen. Lügen zu müssen dagegen ist etwas, was jeder jeden Tag macht. Wir sind uns dessen vielleicht nicht bewusst und doch, tun wir alle diese Dinge. Sind verrückt wegen dem offensichtlichen Gefühl der Liebe, das uns blind und taub machen kann. Auf einmal verändern wir uns, ohne es eigentlich zu wollen. Sind nicht beherrscht wegen etwas, was eigentlich einer sanften Brise gleicht, aber zu einen Tornado wird. Gefühle spielen unser Spiel, das wir hätten alleine spielen sollen, um es zu gewinnen. Doch wir verlieren, weil wir nicht mit den Kopf denken können, sondern mit unseren Gefühlen, die uns beherrschen und uns unfähig machen. Sind am ausrasten wegen den kleinen Dingen auf dieser Welt, die uns am wichtigsten vor kommen und es am Ende auch sind. Aber wer sind wir, um uns erlauben zu können, unsere Meinung zu erheben, für eine der Sachen, die wir wollen, wenn wir sie noch nie besessen haben? Niemand, aber keiner bemerkt diese Kleinigkeit, die so vieles ändern könnte.
Wir sind unterschiedlicher, als die meisten wissen und doch tun wir alle das Gleiche, handeln in einer Situation immer gleich. Die meisten geben auf, rennen davon ohne zu wissen, was sie eigentlich erwartet. Andere dagegen bleiben stehen und sehen sich den Wirbelsturm an, der ihr Leben so durcheinander gebracht hat. Sie kämpfen weiter, obwohl sie ihre eigene Naturkatastrophe kennen.
Selbst ich habe mich versteckt, in dem Wissen, dass niemand mir zur Hilfe eilen würde, wenn ich nicht einmal für etwas gekämpft hätte. Aber mein Wissen war falsch. Denn sie kamen und halfen.
Menschen heilen langsam, genauso wie andere Lebewesen, dafür verletzten wir uns umso schneller. Da wir kein langes Leben haben. Wir reden uns immer ein, dass wir gar nichts vom Leben erwarten, derweil sitzen wir hier und erwarten sogar sehr viel. Und, obwohl jeder weiß das Erwartungen, die verblassen, zu Enttäuschung und Schmerz führen, tun wir es trotzdem. Leben weiterhin so. Erwarten und sind nachher voller Hass und Verzweiflung, weil wir nie das bekommen haben, was wir wirklich wollten. Da unsere Erwartungen, mit jedem bisschen mehr, das wir bekamen, höher stiegen. So hoch, bis sie niemand mehr erfüllen könnte.
Das nennt man Pech, denken die Einen, die ihre Erwartungen schon längst herunter geschraubt haben, um in dieser Welt glücklich zu leben, die anderen dagegen kennen die Wahrheit und nehmen trotzdem die Lüge lieber in Kauf, als etwas zu ändern.
So sind wir. Und so werden wir wahrscheinlich bleiben.
Es gibt viele Gesichter von uns, aber sehr wenige zeigen ihr wahres. Dies erkennen wir nicht nur an ihren Erwartungen oder ihrer Verrücktheit, sondern an ihrer Art, die, ohne das sie es wollen, beweißt, dass sie eine Maske tragen, die Risse trägt. Mehr als es ein Mensch schaffen könnte. Aber bis wir es bemerken, ist es oft zu spät und derjenige ist zerstört.
Ja, so sind wir Menschen. Vielseitig. Leicht enttäuschbar. Oft besessen und nicht beherrscht. Doch noch öfter sind wir verloren, in den Strudel der Vergangenheit, der uns jedes mal von neuen mit sich zieht.
Dies sind meine Gedankengänge. Daraus handelt mein Leben. Irgendwie kenne ich alles, von dem ich spreche und höre. Aber, nach dem ich meine Spielchen zu Ende gespielt habe und meine Maske herunter genommen habe, wenn ich ehrlich zu mir selbst war, musste ich mir eingestehen, dass ich verlorener bin als die meisten. Und das, obwohl ich mich wieder zusammen geklebt habe. Doch wie lange hält der Kleber? Vielleicht ist er schon wieder herunter gegangen. Meine Antwort dazu wäre: Ich weiß es nicht.

Wieder einmal bin ich mit meinen Gedanken wo anders, während ich eigentlich hier in meinen Zimmer sitzen sollte um zu lernen und nicht um in Selbstmitleid zu versinken. Und dennoch tue ich es. Immer wieder. Ich kann es nicht abstellen, obwohl ich der Meinung bin, sogar der festen Überzeugung, dass mir Selbstmitleid nicht zu steht und das es nichts besser macht. Es ist egal ob ich mich selbst bemitleide oder einfach mein Leben leben. Trotzdem wäre mir die zweite Möglichkeit am liebsten. Doch was ist in dieser Welt schon so, wie man es am liebsten möchte? Nichts kommt einen angeflogen, immer muss man selbst dafür etwas machen. Dabei kommt es nicht immer auf die Leistung an oder gar dein Potenzial, meistens geht es nur ums Äußere. Um das, was die Menschen sehen wenn du vor ihnen stehst, obwohl das Innere am wichtigsten wäre. Schon wieder eine Täuschung der Dinge, eine Lüge die die Wahrheit verdeckt. Aber wir sind es so sehr gewöhnt auf die Figur und die Kleidung des Anderen zu sehen, dass wir gar keinen zweiten Blick mehr verschenken. Etwas dummes, was zu oft in dieser Welt geschieht.
Seufzend ermahne ich mich gedanklich noch einmal selbst meine eigentliche Aufgabe zu erledigen und nicht an etwas anderes zu denken. Normalerweise blase ich nicht gerne Trübsal. Dies gehört eigentlich immer zu Jessica, aber dieses mal bin ich diejenige die sich auf nichts konzentrieren kann. Vielleicht liegt es an den Regen, der hier drinnen nur leise zu hören ist. Wahrscheinlicher ist es aber, dass mir der neue Schüler nicht mehr aus den Kopf geht.
Noch einmal ermahne ich mich selbst, bis ich mir selbst eingestehe, dass ich mich einfach nicht konzentrieren kann. Weswegen ich den Bleistift auf meinen Block werfe und stöhnend, wegen den Sieg den meine Gedanken letzten Endes erzielt haben, auf stehe um an mein Fenster zu gehen, aus den ich hinaus in den Regen schaue, der die Gegend dunkler erscheinen lässt, als sie um diese Uhrzeit eigentlich sein sollte.
Tropfenweise kommt er auf der Erde an, prallt wieder ab um danach ganz liegen zu bleiben und weiter zu fließen. Dieses Schauspiel das bei jeden Aufprall passiert ist auf seine eigene Art und Weise faszinierend. Es lenkt meine Gedanken in eine andere Richtung, wofür ich der Natur dankbar bin, andererseits möchte ich wieder diese grünen Augen vor mir sehen, die so viel gezeigt haben und doch verschlossen waren. Er ist einzigartig. In allen Dingen was er macht. Er achtet jede Sekunde lang auf seine Art. Versucht andere zu durchschauen, während er undurchschaubar ist. Dion ist jemand, denn man nicht kennt. Niemals. Nicht einmal dann, wenn er dir etwas von seiner Vergangenheit erzählt. Am Ende wirst du nur hinein gezogen in einen Strudel von Fragen und Antworten, die niemals zusammen gehören werden und dennoch irgendwie zusammen passen.
Ich lüge mich selbst an, wenn ich sage, dass ich so denke, weil ich es weiß. Ich sage es nur, weil ich eines ganz sicher weiß. Nämlich, dass er dieser jemand ist, denn ich alles von mir schenken könnte. Und deswegen ist er so gefährlich für mich. Sowie er sich gibt, ist er anziehen und umwerfend. Einer dieser Gründe ist wahrscheinlich der, dass wir Menschen das geheimnisvolle anziehend finden und es deswegen besitzen wollen. Genau deswegen ist er dieser Jemand für mich, weil er anders ist.
Und obwohl ich dies alles denke und dabei in den Regen schaue, der langsam beruhigend auf mich wirkt, weiß ich doch, dass ich immer noch nicht die ganze Wahrheit sage. Jetzt, in dieser Sekunde täusche ich mich selbst, um etwas zu verhindern, was schon längst eingetroffen ist. Ich war noch nie selbstzerstörerisch, bis jetzt. Und ich wusste das. Nur zu gut kannte ich die ganze Wahrheit, die wieder einmal von den Lügen begraben wurde.
Nur das dieses mal ich selber es war, die die Lügen schuf um die Wahrheit damit im verborgenen zu bewahren.
»Melody.«, anklagend richtet sich ihr Blick auf meine Schulsachen, die immer noch mitten im Raum liegen, ohne das ich sie eines Blickes gewürdigt habe.
»Es tut mir leid, Mum. Aber ich brauche auch eine Auszeit. Langsam schweben in meinen Kopf nur noch mehr Zahlen und Formeln. Und du willst doch nicht, dass ich Englisch oder Geschichte vergesse, wegen Mathe.«
Mein erstauen verbergend, da ich keine Tür gehört habe die aufgegangen ist, sehe ich sie an und wende mich somit ganz von den Anblick der mir vor ein paar Minuten noch Frieden und ein wenig Ruhe geschenkt hat. Sie waren aber geliehen gewesen. Nur für eine bestimmte Zeit konnte ich so fühlen ohne das ich zu viel verdrängte.
Seufzend erwidert sie meinen Blick, den sie nicht lange stand hält, und nach wenigen Sekunden wieder ihre Augen senkt um sie im Zimmer herum wandern zu lassen. Jedes Buch, jedes noch so kleine Detail von meinen Leben saugt sie in sich auf, in den Wissen, dass sie niemals mehr sehen wird als meine Oberfläche, die sich hier wiederspiegelt. Es muss deprimierend für eine Mutter sein, mir so nahe zu sein und doch nur durch mich durch schauen zu können. Niemals hat sie eine tiefere Sicht in mich gehabt. Wieso hätte ich ihr diese auch geben sollen? Damit sie sich danach noch mehr Vorwürfe macht und am Ende nicht einmal mehr für Nathan da ist? Das hätte er nicht überlebt, da unsere Mutter für ihn immer der zweite Anker war. Die helfende Hand die ihn immer hielt, egal wo er hinein geraten war. Für ihn, war sie alles, während sie für mich nur eine Frau mit starken Wunden war, die langsam wieder heilen, wenn sie nicht schon geheilt sind.
»Du solltest mehr mit deinen Freunden unternehmen und vielleicht etwas mit..« Eilig rede ich ihr hinein, weiß wohin das Ganze führt und will es nicht hören: »Wie kannst du mir einen Rat geben, wenn du nie da bist? Woher willst du nicht wissen, dass ich heute oder vielleicht sogar gestern etwas mit meinen Freunden unternommen habe? Wenn ich dich fragen würde, was wir getan haben, wohin ich morgen mit ihnen gehen möchte oder ob Nathan dabei war, würdest du es nicht wissen. Aus den einfachen Grund, dass du, wenn du da bist, mir nie zu hörst und wenn du nicht da bist, nie erreichbar bist. Du hast dich damals selbst aus meinen Leben ausgeschlossen. Ich kann es nicht verantworten weder ändern. So gerne ich auch manchmal eine Mutter haben möchte, die mich in den Arm nimmt und weiß wieso es mir schlecht geht. Aber so war es noch nie. Also wird es sich jetzt auch nicht ändern.«, schnell nahm ich, gut hörbar für jeden hier im Raum, Luft um weiter zu sprechen und ihr zu zeigen in welcher Position sie war, obwohl ich sie niemals dort sehen wollte, »Nathan braucht dich vielleicht. Aber ich habe dich noch nie gebraucht und in denn Momenten in denen ich nach dir geschrien habe und um deine Wärme gebettelt habe, warst du nicht da. Jetzt aber sind diese Zeiten vorbei. Es tut mir leid, Mum. Aber ich bin niemand, der etwas ändert, wenn das Veränderte danach mich verletzten könnte.«
Kurz schloss sie ihre Augen, um die Tränen zu verbergen, die ich schon längst gesehen habe. Sie tut mir leid, sowie sie vor mir steht. Und doch kann ich nicht zu ihr gehen und sie in den Arm nehmen. Dafür steht zu viel zwischen uns. Um mich ist eine Mauer gebaut, die den ganzen Tag hält, während dort, wo unser enges Verhältnis laufen sollte, ein Abgrund ist, den nicht einmal ich überwinden könnte.
»Ich weiß, meine Kleine und ich bin dankbar für jede Sekunde die ich in deiner Nähe sein kann. Eben wegen diesen Gründen die du aufgezählt hast. Doch manchmal denke ich, dass du mich nie gebraucht hast. Dafür bist du schon viel zu erwachsen und das in allen Dingen die du machst. Ich sollte mich glücklich schätzen so eine Tochter zu haben, aber du zeigst mir somit unfreiwillig, welche schlechte Mutter ich all die Jahre war.«
Noch einmal schließt sie ihre Augen, bevor sie sie wieder öffnet und leicht nickt. Dies ist unser Zeichen, dass wir das Gespräch vergessen und am morgigen Tag auf glückliche Familie machen. Für meinen Bruder und meinen Vater, der uns damals jeden Tag so gesehen hat.
»Gute Nacht, mein Schatz.«
Und schon ist sie wieder weg. So schnell sie für ein paar Minuten gekommen ist, ist sie auch schon wieder fort. Es lief sowie immer ab. Jede Sekunde war genau gleich. Von meinen Vorwürfen, bis zu ihren Selbstmitleid, dass sie Klammheimlich empfindet.
Müde, wegen meinen Gedanken und dem Gespräch mit meiner Mutter, legte ich mich in mein Bett und schloss meine Augen. Ich hoffte nicht darauf das ich schnell einschlief oder diese Nacht Traumlos verbringen könnte und doch besaß ich immer noch einen Funken Hoffnung, als ich mir wünschte, dass ich nur dieses eine Mal sowie jedes Mädchen sein könnte. Ganz normal. Ohne Gewissensbisse, Hass oder Albträume. Ich wusste, dass mir dieser Wunsch nicht zustand, und dennoch hoffte ich. Etwas, dass ich seit längerem nicht mehr getan hatte. Aber es tat mir gut. Irgendwie fühlte ich mich somit eher wie ein Kind in meinen Alter, als ohne diesen kleinen Hoffnungsschimmer der in mir lebte. Bevor ich mir bewusst wurde was geschah, rutschte ich schon von den einen Zustand in den anderen und war auf einmal wieder ein kleines Mädchen, dass in der Nacht wie ein Engel aussehen konnte.

Dion;


Noch nie handelte ich gegen meine Prinzipien, da dadurch nur etwas heraus kommen konnte, was meine Existenz gefährden würde oder ich eine andere. Und doch trat ich, leise schimpfend wegen mir selbst und dieser Aktion von mir, auf das Fensterbrett und öffnete so leise wie es nur ging das Fenster, welches sogleich aufschnappte und mich hinein springen ließ. Elegant und wie ein Raubtier landete ich in ihren Zimmer, welches durch die Straßenlaterne draußen ein wenig beleuchtet wurde, womit ich noch besser sehen konnte als sowieso schon. Seufzend und mich einen Narren schallend ging ich zu ihr hin und sah, ohne es zu wollen und meine Voraussetzung, die ich mir heute Abend noch selbst ernannt habe, nicht beachtend, ihre Schönheit, die mich sofort in ihren Bann zog und mein Hirn in weißen Nebel tauchte. Der sogar mir unheimlich vor kam und doch stand ich genauso dort wie vor einer Sekunde und sah in das schlafende Engelsgesicht, dass von ihren braunen Haaren umrandet wurde. Auch in diesen Moment in dem ich nicht ihre wunderschönen blauen Augen sehen konnte, fühlte ich mich ruhig, fast schon friedlich.
Ein unbändiges Verlangen stieg in mir auf, dass ich nur schwer unterdrücken konnte, weswegen ich einfach willenlos aufgab und ihr eine Strähne aus den Gesicht strich. Sie war ein Engel, der sich nur jetzt ausruhen konnte.
Es tat mir weh, sie so zu sehen und zu wissen, dass nach wenigen Stunden alles vorbei sein würde und sie wieder die Alte wäre. In sich zurück gezogen, eine Mauer um sich errichtend.
Da ich das Mädchen kennen lernen wollte, was sie hinter ihrer Fassade war, aber ich war mir, selbst in dieser Situation in der ich so eingenommen von ihr wurde, bewusst, dass es ein schwerer Weg werden würde. Ein Weg, denn ich blind für sie gehen würde, würde ich dafür ihr Vertrauen bekommen, und doch war es auch ein Weg, der uns beide noch mehr an den Abgrund bringen würde.
»Dion.«
Meinen Namen aus ihren Mund zu hören fühlte sich wie Musik in meinen Ohren an, weswegen ich vor meiner, längst getroffenen, Entscheidung nicht mehr zurück treten konnte. Es war beschlossene Sache, ohne das sie selbst es wusste. Aber auch sie würde bemerken, dass alles anders wird. Bald schon.
Die einzigste Frage die noch offen blieb, war diese, wofür ich meine nächsten Taten tun würde - was musste ich für ihr Vertrauen zahlen?


»Erinnerungen an die Wahrheit«


Melody;


Seufzend öffnete ich meine Augen und sah mich in meinen Zimmer um. Jeden Morgen sah ich dieses Zimmer, dass so sehr mich wiederspiegelte, dass ich es in und auswendig kannte und doch entdeckte ich jeden Tag etwas neues darin. Heute zum Beispiel waren die Wände heller. Die Farbe orange strahlte mehr. Es wunderschön aus. Etwas neues, etwas unbekanntest. Und obwohl ich Angst vor den Dingen hatte, die ich nicht kannte, so erfreute mich dieser Anblick. Denn dies war nicht gefährlich, es änderte sich nie ganz, weshalb ich nie Angst haben musste.
Langsam ließ ich meinen Blick weiter schweifen, hinüber zu meinen Büchern, die unordentlich in das Regal geschlichtet worden waren. Einige hatte ich noch nie gelesen, nur in meiner Hand gehalten, weil das Cover oder der Titel mir so gefiel. Andere hatte ich stattdessen so oft gelesen, dass ich es gar nicht mehr zählen konnte. Schnell blickte ich wieder weg, wollte nicht in das oberste Regal sehen, in dem meine Vergangenheit stand, mein Leben, meine Gedanken und Gedichte. Ich wollte nicht meine Tagebücher sehen in denen die Wahrheit stand. Eine Wahrheit die ich jedes Jahr von neuen an begraben wollte. Begraben unter Lügen, die ich niemals geglaubt habe.
Geschwächt durch meine Gedankengänge und der Tatsache, dass ich nicht die Kraft aufbrachte sie weg zu schmeißen, stand ich letztendlich auf und ging zu ihnen hinüber. Sah mir das an, was mich immer noch zerstören konnte, wenn es das noch nicht getan hätte. Zaghaft streckte ich meine Hand aus, faste mir das erste Buch das ich sehen konnte und klappte es auf. Sah meinen ersten Eintrag, die ersten Tränen die ich jemals geweint hatte, konnte wieder spüren wie es damals war. Auf einmal war ich wieder gefangen in meinen Erinnerungen, die die Wahrheit preis gaben und mich somit noch ein weiteres Stück zerrissen.
Und doch ließ es mich wieder lebendig fühlen, sowie ich damals war. Plötzlich war ich wieder das kleine Mädchen mit den Augen die alles sahen. Ich war wieder das Mädchen, dessen Schwäche ihre Stärke war und die Lügen zu Wahrheiten umfunktionierte. Nur in diesen Moment, in den ich wieder zerrissen werde und doch ein wenig Stärke empfinden kann, in dieser Sekunde in der ich der Wahrheit so nahe bin wie noch nie zuvor, ja jetzt gerade in dieser schmerzlich schönen Sekunde bin ich wieder das Mädchen, dass ich mir jede Minute meines Lebens zurück wünsche. Warum? Vielleicht, weil sie damals anders gehandelt hat, als ich es jetzt tue. Vielleicht, weil sie nie aufgegeben hätte zu kämpfen, während ich neben den Kampf stehe und schon längst aufgegeben habe. Vielleicht, weil sie die Stärke in mir war, die ich, weil ich sie nicht mehr besitze, nachahme, so tue als hätte ich sie. Ich baue Mauern auf, die niemand durchbrechen kann, während dessen ich innerlich immer ein bisschen mehr von mir her geben muss. Etwas, dass ich damals als Kind niemals getan hätte. Damals war ich stark, unberechenbar. Damals, in einer Zeit in der ich zeigen konnte wer ich wirklich war, war ich das Mädchen mit den großen Herzen und den vertrauten Augen, mit den entwaffneten Blick und der Wahrheit in den Augen, mit Wünschen und Träumen, Hoffnungen und Liebe. Das Mädchen das ich selber so sehr vermisse, ist das Mädchen, dass mir half zu überleben, ohne verletzt zu werden.
Kurz schloss ich meine Augen, wollte die Tür zu meiner Vergangenheit wieder schließen und doch offen lassen. Und das nur, weil ich erinnert werden wollte, wieso ich nicht mehr das starke Mädchen von damals war. Das Mädchen das mir fehlte, jeden Tag von neuen an.
Weswegen ich entschlossen meine Augen öffnete und auf die erste Seite sah. Mich erinnerte was es damals war, was mich langsam immer mehr zerstörte. Denn ich wollte wieder diese Schwäche in mir füllen, die mir das Licht gab, was ich so dringend brauchte, die mich wieder stark machte. Ich wollte wieder die sein, die ich damals war, obwohl ich nur zu gut wusste, dass ich sie niemals wieder sein würde können. Dafür waren zu viele Jahre her. Dafür war ich zu schwach geworden.
Mich wappnend für die Vergangenheit las ich den ersten Satz, der mich zurück beförderte und mich vergesse ließ was meine eigentlichen Absichten waren. Auf einmal war ich das Mädchen das ich immer sein wollte und war doch nur das Schwache Abbild von ihr.

Liebes Tagebuch,
es ist alles neu für mich. Auf einmal stehe ich am Abgrund, während ich gestern noch fünf Meilen davon entfernt gewesen war. Plötzlich ist meine Sicht getrübt und die Wahrheit verschleiert worden.
Ich möchte dir gerne erklären was passiert ist, aber wie kann ich etwas erklären, wenn ich es selbst nicht verstehe? Ich kenne nur die Tatsachen, die Dinge die sich plötzlich verändert haben und doch kann ich keine Wahrheit hinter den Lügen erkennen, sehe nichts mehr sowie ich es vor ein paar Stunden noch gesehen hätte. Aus meinen Augen läuft Wasser, dass salzig schmeckt. Ich weiß das es Tränen sind, aber es sind Tränen die ich zum ersten Mal weine.
Noch nie zuvor habe ich aus Verzweiflung geweint, noch nie zuvor habe ich vergessen was es hieß stark zu sein, noch nie zuvor fühlte ich mich so alleine wie in diesen Moment.
Ich möchte wieder wissen wie es ist zu wissen was wahr ist und was unwahr ist. Liebend gerne würde ich die Lügen sehen die als Wahrheit dargestellt werden. Aber desto länger ich hier sitze und weine, desto länger ich darüber nachdenke und mich schwach fühle, weiß ich, dass dies hier ein Abschnitt meines Lebens ist der alles verändern wird. Vielleicht bin ich schwach geworden und doch kann ich immer noch den Funken von Stärke in mir erkennen, ein Funke, der mich niemals verlassen wird, sowie es jeder andere getan hat.
Ich verwirre dich, dass weiß ich. Doch ich kann es nicht aussprechen, nicht einmal aufschreiben lässt es sich, was mich so zerstören kann. Mich verlässt immer mehr das Glück, dass ich damals empfinden konnte, während ich jetzt die größte Lüge meines Lebens vor mir habe. Sehe was sie anstellt mit meinen Tagesabläufen und Wahrheiten. Auf einmal ist alles anders, als vor einen Tag. Plötzlich bin ich nicht mehr die die ich damals war. Niemand ist mehr derjenige, für den ich dachte das er es wäre.
Ich habe mir noch nie so sehr wieder die Lüge her gewünscht, die mich leben, lächelnd und atmen ließ. Die mich ich sein ließ. Ich wünschte mir, dass sie mir niemals die Wahrheit erzählt hätten. Aber jeder Wunsch bringt jetzt nichts mehr. Keiner kann es mehr ändern, weder das ich weine und meine Welt in Trümmern sehe, noch dass nichts dem entsprach was sie mir damals versprochen hatten.
Gestern hätte ich noch gesagt, dass ich Melody hieß und ich Menschen hatte, die für mich sterben würden, weil sie mich liebten und mir niemals die Unwahrheit sagen würden. Jetzt aber sieht alles anders aus. Licht ist zu Dunkelheit geworden und Liebe zu Hass. In diesen Moment würde ich sagen, dass ich Melody heiße, aber nicht weiß wer ich wirklich bin. Denn wie kann ich es auch wissen, wenn mein ganzes Leben einer Lüge entsprach? Einer Lüge die zur Wahrheit wird. Zu einer Wahrheit die mich immer mehr zerstörte, solange bis das Licht in mir der Dunkelheit glich und der Funke von Hoffnung und Wahrheiten verschwunden ist. Verschwunden wie der Fels in der Brandung, an den ich mich bis jetzt immer fest halten konnte, sollte ich davon geschwemmt werden. Doch er ist weg, weg wie meine Stärke, die ich immer aus meiner Schwäche beziehen konnte. Bis jetzt. Den jetzt ist alles anders. Ich bin auf einmal anders. Verändere mich um mich anzupassen und nicht ganz zu zerbrechen und obwohl ich weiß, dass ich es nur tue um mich selbst nicht zu verlieren, fühle ich mich doch so, als hätte ich schon alles verloren was ich jemals besessen hatte. Nicht nur die die ich liebte, sondern auch mich selbst.



Ein paar Tage vorher, hatte ich in meinen damaligen Lieblingsbuch einen Satz gelesen, der einen Teil meiner Situation beschreiben konnte. Jede Welt steht mindestens einmal am Abgrund. Das schlimme daran ist nicht, dass sich alles dreht und wendet und gutes zu schlechtem wird. Das wirklich schlimme daran ist, dass du nicht nur die verlieren kannst die du liebst, sondern auch dich selbst.

Ich hasste diese Zeit, in der ich am schwächsten war und jeder wusste wieso. Auf einmal bemitleidete mich jeder wegen der Wahrheit, die nie klar gewesen war und ignorierten diejenigen die mir die Lüge erzählt hatten. Aber je mehr Zeit verging, desto einfacher wurde es für mich zu vergessen. Nicht nur ich vergaß, sondern alle anderen auch. Unsere Nachbarn, die ihnen Vorwürfe entgegen geschrien haben. Die Eltern meiner damaligen Freunde, die kein Wort mehr mit ihnen sprachen. Solange bis es vergessen war. Plötzlich war ich wieder das Mädchen von damals, mit den gleichen Leben, mit den gleich großen Herzen. Nur das niemand seit diesen Augenblick jemals wieder Stärke in meinen Augen sehen konnte, weil ich zerbrochen war. Weil ich mit allem alleine gelassen wurde, in einer Zeit in der ich jemanden an meiner Seite gebraucht hätte.
Und doch schaffte ich es irgendwie. Rappelte mich wieder vom Boden auf, auf dem ich solange gelegen war, dass ich nicht einmal mehr wusste wie der Himmel aussah, bis ich wieder stand und niemand es mehr schaffte mich umzuwerfen. Kein kleiner Sturm, kein Tornado, kein kleiner Lufthauch. Ich war verändert. War nicht mehr stark und doch hatte ich immer noch einen größeren Willen in mir, als Verletzungen. Denn ich stand immer noch auf beiden Beinen, ließ mich nicht mehr umschmeißen. Jeden Tag von neuen an versprach ich mir mehr Dinge. Dinge die ich einhielt, Dinge die ich niemals mehr vergaß, weil sie auf meiner Seele geschrieben standen. Seit diesen Moment an kannte ich keine Stärke mehr, dafür aber auch keine Schwäche mehr. Denn wie konnte ich schwach sein, wenn das Gegenteil nicht mehr vorhanden war? Gar nicht.
Also fing ich an alles neu aufzubauen. Wieder zu leben und zu lachen. Versteckte mich letzten Endes hinter einer Mauer, die ich perfektioniert hatte. Sie war ohne Fehler, weil ich keine mehr zu ließ. Da jeder kleine Fehler alles zerstören könnte, was ich mir jahrelang aufgebaut hatte.
Ich formte alles neu. Meine Grundsätze und meine Wünsche, meine Träume und meine Gefühle. Alles wurde anders.
»I learnt to live once again.«



Dion;


»I learnt to live once again.«, leise flüsterte sie diese Worte, die so viel mehr bedeuteten, als ich es mir vorstellen konnte.
Ich lernte, wieder zu leben. Was bedeutete es? Wieso sagte sie es?
Fragen über Fragen, die ich ohne ihre Hilfe nie beantworten könnte, aber würde sie mir die Wahrheit jemals sagen, wenn sie solche Wörter aussprach, die mehr bedeuteten als die Übersetzung es meinte?
Sie war nicht berechenbar für mich, weswegen ich keine Antwort finden konnte, weder in ihren Taten noch in ihren Gesten, die mich immer wieder aufs neue verwirrten und das in nur zwei Tagen. Mein Leben veränderte sich wegen ihr, während sie schmerz empfand und Sätze sagte, die mich noch mehr verwirrten und mich noch mehr in ihren Bann zogen, in dem ich schon jetzt nicht mehr hinaus kam. Ich war gefangen in ihren Augen, die eine Mauer erbaut hatten, die perfekt war, unzerstörbar. Als ob das nicht reichen würde, war ich außerdem noch fasziniert von ihren Charakter, ihrer Ansichtsweise und ihren Fürsorge für ihre Freunde. Ihr großes Herz hatte mich nicht überrascht, genauso wenig wie ihre Freundlichkeit und das kleine Lächeln auf ihren Lippen, dass nie ihre Augen erreichte.
Man konnte sie nicht durchschauen, weder wenn man sie jahrelang kannte, noch wenn man sie erst kennen gelernt hatte. Sie war wie ein Buch mit einen Schloss, dass sich nicht öffnen ließ bis derjenige kam, der es auch verschlossen hatte. Aber würde dieser jemand überhaupt noch kommen? Würde er ihr Leben vereinfachen, ihr die Last von ihren Schultern nehmen, die ihr jeden Tag von neuen an alles erschwert? Ich war mir sicher, dass derjenige niemals kommen würde und wenn dann wäre es zu spät und nur noch sie selbst könnte das Buch mit den tausend Siegeln öffnen. Denn so kam es mir vor. Tausend Siegeln. Da wenn man ein Siegel offen hatte, man immer noch genügend zum öffnen besaß, die niemals alle geöffnet werden könnten.
Sie war anziehend, nicht nur für mich, sondern auch für alle anderen Jungs in der Schule und doch traute sich niemand sie anzusprechen. Dafür waren ihre Augen zu kalt und ihre Haltung zu stolz. Man hatte Angst vor einer Abfuhr, die man freundlich oder unfreundlich von ihr bekommen würde.
»Melody?«
Seufzend dreht sie sich um, während ich mich noch fester in die Ecke presse und hoffe das sie mich nicht bemerkt. Ihre Augen hängen dort wo ich stehe, doch nach einer Weile wendet sie sich von mir ab und geht zu ihrer Tür die sie langsam öffnet um danach gegenüber von diesen Jungen zu stehen, der sie gestern noch in den Armen gehalten hatte. Eifersucht kocht in mir hoch, die sofort ein wenig abgeschwächt wird, als sie genervt große Brüder stöhnt.
Und doch will ich ihn immer noch den Kopf umdrehen, sie vor jeden beschützen, egal ob derjenige nur neben ihr steht oder ihr wirklich ein Haar krümmen will. Es interessiert mich nicht, weil mein Beschützerinstinkt auf einmal überläuft und alle anderen Gedanken, wie verwirrend dieses neue Gefühl für mich ist oder gar aufzupassen das niemand mich entdeckt, in den Hintergrund gestellt werden. Plötzlich ist mir alles egal geworden, mein Handeln, meine angriffslustige Haltung und meine Gedanken, alles dreht sich um sie. Um das verletzliche Menschen - Mädchen, dass schon so oft auseinander gebrochen wurde. Mir entfährt ein leises Knurren, wofür ich mich selber gerne geschlagen hätte, da sie verwirrt durch ihr Zimmer schaut. Als sie aber nichts entdeckt dreht sie sich wieder zu ihren Bruder um und nickt auf seine Frage, die er zögerlich gestellt hat, fast so als hätte er Angst vor ihren Wohlbefinden, Angst sie noch einmal zu verlieren, sollte er etwas falsches sagen oder gar fragen. »Ich muss noch ein wenig für Englisch tun, du weißt das ich in diesen Fach eine Niete bin. Aber danke für dein Angebot. Jessica wird sich freuen, am meisten aber wenn ich nicht dabei bin, also los zieh dich an und fahr' zu ihr.«, lachend umarmt sie ihn kurz, bevor sie ihn auch schon wieder los lässt und ihren verdutzten Bruder die Tür vor der Nase zu schlägt.
Ein leises Kichern entfährt mir, welches ich erst bemerke, als sie zielstrebig auf ihren Bett platz nimmt und dort hin sieht wo ich stehe. Sofort höre ich auf zu kichernd und nenne mich einen hirnlosen Trottel, der hätte besser aufpassen müssen und es auch hätte können sollen.
»Ich halluziniere. Ganz einfach.«, flüsternd spricht sie sich die Worte zu, bei denen wir beide wissen das sie falsch sind. Doch ich tue nichts dagegen. Was hätte ich auch machen können? Mich offenbaren, damit ich ihr schon jetzt meine Welt zeigte in der mehr Gefahren lauerten als in ihrer? Ganz bestimmt nicht, weswegen ich lautlos wieder ging. Sowie ich es schon vor ein paar Stunden hätte machen sollen.
Den wer war ich, dass ich mir erlauben konnte, dass alles mit anzusehen, wenn es doch ihr gehörte. Ich war ein niemand. Und doch setzte ich alles daran es zu ändern um jemand zu werden der in ihr Leben willkommen war. Idiotisch. Etwas, was ich bis jetzt nie war. Aber sie veränderte mich. Sie veränderte alles an was ich glaubte, bis zu meinen Gewohnheiten, die mir auf einmal furchtbar vorkamen, obwohl es nur meiner Natur entsprach. Ich veränderte mich immer mehr, aber bis jetzt wusste ich noch nicht, zu wen ich mich veränderte. Wie hätte ich das auch wissen sollen, wenn ich nicht einmal wusste warum ich es tat? Nicht nur wegen meinen neuen Instinkten für sie, sondern auch wegen dem Gefühl, vor dem ich Jahrhundertelang davon gelaufen war, solange bis es mich hier wieder einholte. Doch bis jetzt ahnte ich es noch nicht, vielleicht weil ich es nicht sehen wollte. Ja, so dumm war ich und so dumm würde ich bleiben. Und das, weil ich mich in die Arme meines Schicksals begeben hatte, welches nur auf diesen Moment wartete um meine Bestimmung zu erfüllen. Und das tat es letztlich auch. Es verband uns beide miteinander, während dessen mein Unterbewusstsein uns schon wieder trennte. Das war das, was uns beide am Ende zerstören würde. Ganz. Es würde uns alleine fühlen lassen und verlassen. Verlassen von den jeweils anderen, der das gleiche Schicksal teilt. Wir würden das gleiche fühlen während wir brachen. Brachen wie ein paar Male zuvor auch. Schmerzvoll. Das war die Wahrheit. Eine Wahrheit die ich verborgen hielt und daraus eine Lüge formte. Eine Lüge die von den Erinnerungen aufgedeckt wurde. Da man Erinnerungen nicht anlügen konnte. Wie auch? Schließlich konnte man sich selber auch nicht lang genug anlügen. Weshalb wir zerstört enden würden. Ein Ende das ich jetzt nicht sah, weil ich blind war. Blind von den Gefühlen, die mich langsam einnahmen. So langsam, dass ich gar nicht wusste wie mir geschah.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle die zu mir stehen, selbst in Zeiten in denen ich selber kein Vertrauen mehr aufweißen kann.

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