…Es fühlte sich wie ein Skalpellschnitt unter Lidocain an: Es tat nicht weh, nur die Kälte verbreitete sich von der Stichstelle, und man konnte das Knirschen der reißenden Haut wahrhaftig hören. Zwei Schnitte waren es, zwei dumpfe Stöße, schnell und schmerzlos. „Eine Woche“, sagte die Stimme an meinem Ohr…
Dann war ich ruckartig wach. Mein Herz raste. „Ein Albtraum. Kommt vor. Nicht schlimm“, ich schüttelte den Kopf und schaute mich um. Natürlich war es nur ein Albtraum. Ich saß in meinem Bett, ich war in meinem Schlafzimmer, und neben mir hörte ich den ruhigen Atem meiner schlafenden Frau. Ich wollte mich wieder hinlegen und merkte erst jetzt, dass mein Hals sich seltsam taub anfühlt. Ich fuhr mit der Hand darüber: die Kälte aus meinem Traum kehrte zurück, diesmal in der Realität, und wollte mich nicht mehr loslassen. Ich schaute auf die Hand: nichts. „Hab wohl in der ungünstigen Position geschlafen“, dachte ich und drehte mich auf die Seite. Der Schlaf wollte nicht kommen, ich schloss meine Augen und sah nur die wirren Bilder. Immer wieder hörte ich diese Stimme: „Eine Woche“. Die Stimme klang ruhig, fast teilnahmslos, frei vor Boshaftigkeit und frei vor Freude. Ich sah den Sprechenden nicht: In meinen Visionen stand er dauernd hinter mir, und mir fehlte die Mut, mich umzudrehen.
Immer und immer wieder wachte ich in dieser Nacht auf. Das letzte Mal zeigte der Digitalwecker fünf Uhr morgens. Mir blieb eine Stunde: für den Schlaf und dafür, um mich meinen Albträumen zu stellen. Sie kam wieder, die Stimme. „Eine Woche“, wiederholte der Unbekannte, der mir jetzt wie ein dunkler Schatten hinter meinem Rücken vorkam. „Wofür?!“ ich schrie diese Worte tatsächlich. Meine Frau regte sich und murmelte etwas im Halbschlaf. Der Traum begann zu verblassen. „Dann bist du verwandelt“. Der Wecker heulte auf, der neue Tag begann.
***
„Du siehst müde aus“, meinte meine Frau Selma am Frühstückstisch.
„Hab nur schlecht geschlafen“, entgegnete ich und reckte meinen Hals. Die zwei Stiche aus meinem Traum waren immer noch da. Ich konnte sie spüren – scharf und hart, wie die Spitze einer Stahlklinge, fraßen sie sich immer tiefer in mein Fleisch ein.
„Du hast geschrieen im Schlaf. Was hast du denn geträumt?“ Selma pellte das Ei. Ich schaute zu, wie ihre dünnen Finger die Schale aufbrachen und Stück für Stück das weiße geleeartige Innere freimachten. Eine seltsame Übelkeit stieg in mir hoch, ich versuchte, diesen stinkenden Kloß mit einem kräftigen Schluck herunterzuwürgen, scheiterte und schob angewidert meinen Teller weg.
„Willst du nichts mehr haben?“ Selma deutete auf den Teller mit dem angefangenen Brot.
Ich schüttelte stumm den Kopf.
„Was ist los, Markus?“ Selma war mit dem Pellen fertig. Sie nahm den Löffel und fuhr damit in ihr Frühstücksei. Das Eiweiß wabberte, gab dem Druck nach und riss. Zum Vorschein kam der gelbe Schleim, den Selma genüsslich in ihren Mund führte.
„Ich wurde heute Nacht gebissen“, dieser Satz brach gegen meinen Willen aus mir heraus. Ich starrte auf die Tischplatte und versuchte meine Fäuste, die ich unter dem Tisch hielt und die sich wie von selbst ballten, zu entkrampfen.
„Von wem denn?“
„Von einem … “
„Vampir?“ Selma hob ihre Augenbrauen hoch, wie sie es immer machte, wenn sie etwas belustigte, ihre Augen blieben aber ernst und schauten mich mit einem Hauch der Sorge an.
Ich zuckte mit den Achseln.
„Das war nur ein Albtraum“, stellte Selma nach einer Weile fest.
„Ja, natürlich. Trotzdem unangenehm. Ich muss zur Arbeit“, ich stand auf, brachte meinen Teller zur Spüle, küsste Selma auf die Wange und verließ die Wohnung.
Im hektischen Büroalltag begann ich meine Visionen zu vergessen, und mein Verhalten am Frühstückstisch kam mir allmählich albern vor. Kurz vor dem Feierabend wurde ich zum Chef bestellt. Er redete über alles Mögliche, über die Arbeitsatmosphäre und meine Leistung, über das neue Projekt, das gerade anlief. Ich hörte ihm kaum zu. Die kurze Nacht machte sich zunehmend bemerkbar, die Müdigkeit ließ mich in einen Dämmerzustand versinken.
„… eine Woche“.
Ich zuckte zusammen: „Bitte?“
„Sie haben eine Woche, um die Projektvorbereitung abzuschließen“, der Chef sah mich fragend an: „Haben Sie mir zugehört?“
„Selbstverständlich. Die Unterlagen werden fertig sein“.
„Denken Sie daran!“
Ich dachte daran. Ich dachte an meinen Albtraum, an die Stimme an meinem Ohr und an den stumpfen kalten Schmerz an meinem Hals.
Zu Hause wartete Selma mit dem Essen auf mich. Ich setzte mich an Tisch, Selma brachte den Teller mit Steak und Kartoffeln. Ich blickte auf das saftige Fleisch, und zum ersten Mal in meinem Leben stach mir seine unnatürlich braune Farbe in die Augen. Ich legte das Besteck aus den Händen: „Selma, tut mir leid, aber ich habe keinen Hunger. Ich gehe lieber schlafen“.
Im Bett wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Die Angst, dass sich der Traum wiederholen wird, ließ mich nicht einschlafen. Irgendwann gewann die Erschöpfung überhand, und ich döste ein. Die Stimme kam nicht wieder.
Als ich aufwachte, war es noch dunkel. Und ungewöhnlich still. Ich schaute auf die Uhr: Das leuchtende Ziffernblatt zeigte Null Drei Fünfundzwanzig. Ich lag mit geöffneten Augen im Bett und wartete. Der Schlaf stellte sich nicht ein. Ich sah aus dem Fenster: die kahlen herbstlichen Äste, ein Stück dunklen Himmels, ein einsamer Stern, der im Wolkenriss leuchtete. „Wie schön doch die Nacht sein kann! - dachte ich. – Ist schon merkwürdig, dass ich es bis jetzt nicht gemerkt habe und diese wunderbare Zeit, wo alles Unnötige in der Dunkelheit verschwindet, einfach durchschlief“. Ein tief empfundener Frieden breitete sich in mir aus, ich fühlte mich entspannt und gut erholt. Bis zum Morgen blieb ich so liegen und bewunderte diese malerische Stille hinter dem Fenster.
***
Die nächsten drei Tage verliefen im gleichen Tempo. Ich hatte wenig Appetit, dafür trank ich viel Kaffee, um mich über den Tag wach zu halten. Jeden Tag sehnte ich mir den Abend herbei, die Zeit, wenn es dunkel wird und ich wieder ins Bett gehen kann, um mitten in der Nacht aufzuwachen und aus dem Fenster zu starren. Diese Momente schienen mir die schönsten in meinem Leben zu sein.
Ich ignorierte die fragenden Blicke von Selma und redete mich aus den sich anbahnenden Diskussionen mit ihr mit „Ich habe mir wohl den Magen verdorben“ aus. Im Büro saß ich bewegungslos an meinem Tisch und dachte an die Worte meines Chefs: „Eine Woche“. Eine Woche, dann müssen die Unterlagen fertig sein. Mir blieben vier Tage, zwei davon fielen auf das Wochenende. Ich starrte auf die Papiere vor mir und verstand den Sinn der Zeilen darin nicht. Das Geplauder meiner Kollegen verwirrte mich, ich empfand es lauter als sonst. Sogar das Flüstern im Nachbarzimmer drang zu meinen Ohren und reizte meine ohnehin zerfetzten Nerven.
„Eine Woche, - hat die Stimme aus meinem Traum gesagt, - dann bist du verwandelt“. Und dann fiel am Frühstückstisch das Wort „Vampir“. Ich war noch nie ein Liebhaber der Fantasy- Literatur und kannte die Vampire nur aus den alten Dracula-Filmen: blass, mit dunklen Ringen unter den Augen und langen Reißzähnen, kamen sie aus ihren Verstecken heraus, um Blut zu trinken, das dann an ihren Mundwinkeln herabfloss…Ich fühlte mich übermüdet und ging an diesen Tagen früher nach Hause.
Am Abend des dritten Tages legte Selma ihre Hände um meinen Hals, drückte sich an mich und gab mir einen leichten Lippenkuss. Ihr Haar roch nach Shampoo mit künstlichem Blumenduft, ihre Haut war weich und sehr warm, fast heiß. Ich streichelte sie über den Rücken und spürte die Funken, die von ihrem Körper ausgingen. Ihr Körper und ihre Lippen sagten: „Nimm mich!“ In ihren Augen dagegen standen Angst und Kalkül. Ich sollte mir ihr schlafen, dann werde ich wieder der alte sein, - ihr Gedanke wurde auch mein Gedanke. „Ich will, dass du wieder der alte bist“, Selma schmiegte sich noch enger an mich heran, und die Hitze ihres Körpers wurde unerträglich. Behutsam nahm ich ihre Hände von mir weg und strich ihr übers Haar: „Ich bin müde, Selma“. Sie tat mir leid. Und sie widerte mich an. Ich ging ins Bett und ließ sie allein im Raum.
***
Am nächsten Morgen ließ ich mich krankschreiben. Aus meiner Projektarbeit wird nichts, dessen war ich mir bewusst. Und auch ob ich meinen Arbeitsplatz behalte, war mehr als fraglich. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich aber eine Gleichgültigkeit solchen unbedeutenden Dingen gegenüber entwickelt. Ich genoss die Tage, an denen ich mich endlich ausschlafen oder meinen Tagträumen ergeben konnte, und die Nächte, deren Schönheit mich immer mehr in ihre Bahn zog. An den Tagen dachte ich über mein Leben nach und in den Nächten musste ich alle meine Gedanken verwerfen, weil sie mir angesichts der Ewigkeit, die im Sternenlicht und Mondschein innewohnte, als nichtig vorkamen. Ich fühlte, wie ich in ein tiefes Loch der Depression fiel, zerrissen zwischen dem Universum, das in meine Seele Einzug hielt, und der wirklichen Welt, deren Teil ich immer noch war.
***
Am Wochenende machten Selma und ich eine Wanderung durch den Wald. Es war Indianersommer, und das herbstliche Laub der Bäume leuchtete in Tausenden Rottönen, die dem unendlich blauen Himmel entgegen schlugen. Es sah aus, als stünde der Wald in Flammen. Kalt waren die Flammen, kalt wie der Wind an diesen Tagen, der den nahen Winter verkündete. Wir kamen an einem Bach vorbei und machten dort eine Pause. Ich saß auf einem Baumstumpf und lauschte dem fließenden Wasser. Selma suchte sich einen einigermaßen trockenen Platz und packte schweigend ihren Picknickkorb aus. In den letzten Tagen sprachen wir nicht viel mit einander. Plötzlich hörte ich, wie jemand ein Lied singt. Gesungen wurde so leise, dass ich die Worte nicht verstand, die Melodie faszinierte mich jedoch: So etwas habe ich noch nie im meinem Leben gehört, es war weder traurig noch munter, es glich eher einer Erzählung, wenn jemand Außenstehender vom Leben anderer berichtet, teilnahmslos und mitgenommen zugleich.
„Schönes Lied, das du da singst“, sagte ich.
„Welches Lied? Ich habe nichts gesungen“, Selma unterbrach ihre Beschäftigung und schaute mich irritiert an.
„Hast du nicht gerade etwas erzählt?“
„Nein“.
Damit war unsere kurze Unterhaltung beendet. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen: Schleichender Wahnsinn – meine geistigen Kräfte, die mich noch an der Oberfläche des Normalseins hielten, verließen mich.
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Die Woche verging. Ich dachte ununterbrochen an meinen Traum und hatte Angst, die dunkle irrationale Angst, die durch nichts zu bezwingen war. Ich begann dagegen zu trinken, aber im Rauschzustand wurde die Angst noch größer und verleitete mich zu panikartigen Handlungen: Ich wollte wegrennen und im gleichen Moment war ich wie gelähmt, so dass ich mich kaum bewegen konnte; ich wollte mich verstecken, sodass mich niemand findet, und gleichzeitig streifte ich ununterbrochen durchs Haus auf der Suche nach irgendwelchen Spuren fremder Anwesenheit. Ein Teil von mir sagte mir, ich sei verrückt. Ein anderer Teil – die ganze Welt sei verrückt.
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Nach zehn Tagen, als sich der Albtraum nicht mehr wiederholte, begann ich mich zu beruhigen. Ich redete mir ein, das alles wären nur Folgen der vielen Überstunden in letzter Zeit, ein Midlifecrisis, ein Beziehungskonflikt und so weiter. Ich zwang mich dazu, wieder zu essen und ein normales Tagesrhythmus einzuhalten. Am Tag mied ich das verlockende Bett und suchte mir eine erschöpfende Beschäftigung, um nachts tief und traumlos schlafen zu können. Ich fing an, die Gegenwart meiner Frau zu bemerken, und machte sogar die ersten wagen Annäherungsversuche. Das Leben ging weiter, und die Normalität kehrte langsam wie nach einer langen und schweren Krankheit zurück.
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In dieser Nacht träumte ich wieder. Ich sah, wie eine Fledermaus durch das offene Fenster in unser Zimmer flog. Verwirrt und verängstigt versuchte das kleine Tier zu entkommen, fand die Fensteröffnung nicht und flog alle Wände in Zickzacklinien ab. Selma begann zu kreischen. Ich schrie: „Beruhige dich! Das ist nur eine Fledermaus, sie tut keinem was!“ Daraufhin flog die Maus mir ins Gesicht, ich wollte sie abwehren, und sie biss mich empfindlich in den Finger. Während ich auf die winzigen Tröpfchen Blut auf meinem Finger schaute, war die Fledermaus verschwunden. Stattdessen sah ich ein Kaninchen und eine Katze in einem Käfig und hörte wieder die Stimme: „Du wirst bald Hunger bekommen“. Ich blickte auf die Tiere und stellte mir vor, wie ihre Fellhaare auf meinen Zähnen kleben, wenn ich versuche, in das Fleisch zu beißen. Die Stimme lachte hell auf und verschwand.
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Der Morgen fing wie gewohnt an. Ich saß am Tisch, trank meinen Kaffee, schmierte mir das Brot und tauschte mit Selma ein paar nichts sagende Worte aus. Nach dem Frühstück stand ein Spaziergang auf meinem Programm. Ich zog mich an und verließ das Haus. Auf der Straße sah ich eine Katze sitzen und verstand alles. Die Erlebnisse dieser Tage legten sich für mich wie Puzzleteile zu einem Bild zusammen, das das Wort „Hunger“ ergab. Es war nicht der Hunger, wie die Menschen ihn verstehen, nicht die körperliche Sättigung. Es war ein Verlangen, die Gier auf das Leben in allen seinen Facetten, mit all seinen Lichtern und Schatten. Unermesslich und unstillbar war diese Gier. Ich vernahm das Pochen des kleinen Katzenherzens und bewunderte ihre Fellzeichnung. Ich sah, wie die Rollos in Nachbarhäusern hochgezogen wurden, und sah die Menschen dahinter – verschlafen in ihren Pyjamas mit einer Kaffeetasse in der Hand, einer Zigarette im Mundwinkel und dem leeren Blick. Ich hörte den Radiosender im vorbeifahrenden Auto mit seinem Wetter- und Börsenbericht und las die Gedanken des Fahrers, die sich um seinen Job kreisten. Ich spürte jeden einzelnen Regentropfen auf meinem Gesicht und wusste um den Weg, den die Regelwolke vom grauen Meer im Norden zu uns gemacht hatte.
Ich machte kehrt, ging wieder ins Haus, an Selma, die beim Abwasch eingefroren zu sein schien, vorbei in mein Zimmer und notierte mir alles, was in diesen Tagen geschah.
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Wenn ihr diese Aufzeichnungen findet, dann bin ich schon längst weg. Ich habe mich verwandelt.
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2008
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