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Jede Nacht nahm Fae diesen Weg. Von der Arbeit, die keiner machen wollte, in das Zuhause, das keines mehr war.
Aber heute nicht.
Die Dunkelheit tat immer noch weh.
Wenn er jetzt hier wäre, dann liefe er rechts neben ihr am Bordstein entlang. Das Tagesgeschehen auf den Lippen, die Müdigkeit im Blick, aber immer bedacht sie ihr nicht zu zeigen.
- Ich vermisse dich manchmal.
- Du vermisst mich immer.
- Tut mir leid.
- Ist schon gut.
Aber da war keine tröstende Hand, keine Wärme um leere Kälte zu vertreiben.
Nur ein dumpfes Klopfen, ein nebliges Geräusch aus einer anderen Welt.
Der Wind schlich zwischen den viel zu großen Häusern umher und trug halbherzig den niesligen Regen. Nur dazu war er noch in der Lage. Keine Drachen, keine Papierflieger. Nur der Regen, der sowieso irgendwie nach unten musste.
Eigentlich müsste er schon längst Schnee sein.
Alles war irgendwie falsch.
Heute ging sie nicht nach Hause.
Die Spätschicht im Diner war ermüdend wie immer gewesen. Drei Gäste in fünf Stunden und trotzdem hielt Karl daran fest, den Laden jeden Tag bis drei zu öffnen.
„Die Leute kommen vom Feiern, danach hat man Hunger. Sobald sich herum spricht, dass wir auf haben werden die uns die Bude einrennen.“
Aber niemand rannte. Seit drei Monaten ging das nun schon so und die Kundschaft blieb weiterhin aus. Jeden Abend füllte sie die Salz- und Pfefferstreuer auf, wischte Tische und Theke ab und fing dann wieder von vorne an, weil einfach nichts zu tun war.
Und 'Nichts' war genau das, was sie jetzt nicht brauchte.
In 'Nichts' war zu viel Platz. Leerer Raum drängt danach gefüllt zu werden und Erinnerungen sind das beste Füllmaterial.
Sie pochen an die Tür bis man den Krach nicht mehr erträgt und ihnen öffnet.
Die kaputte Jukebox bereitet ihnen einen Empfang mit rotem Teppich.
Nur wenn Lucy da war, dann ging es etwas besser.
Sie redete viel. Von ihren Kindern, ihrem Mann und ihrem Hund.
Krischi, Leo, Franz und Milo.
Die Zeit kurz danach war schlimm gewesen. Man konnte Lucy ansehen, dass sie nicht wusste worüber sie sprechen sollte.
Dabei flehte Fae sie innerlich an etwas zu sagen. Irgendwas. Damit es nicht so still war.
Und der Tag an dem die unangenehme Ruhe verschwand war so schön. So laut.
Triviales und Nebensächliches. Lustiges und Langweiliges.
Solange das im Kopf war, konnte nichts anderes rein.
Geschlossene Gesellschaft.
Heute hatte Lucy von Leos Kindergartenfest erzählt. Es gab eine Zirkusshow in der sich die Kinder als Löwen und Clowns verkleidet haben, einen Stand an dem man Dosen werfen konnte und ein Waffelwettessen.
„Leo hat ganz knapp verloren, weißt du. Dieses dicke Müllers-Kind hat gewonnen. Kein Wunder, wenn man so im Training ist. Pah, der Preis war ein Bastel Set. Mit Pappe und Schere und so. Ein Bastel Set! Wir bezahlen uns jeden Monat dumm und dämlich für den Laden und alles was die als Preis springen lassen ist ein Bastel Set!“
Lucy war nicht der netteste Mensch. Sie hatte Vorurteile, war aufbrausend und hielt auch sonst mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg.
Ob sie nun angebracht war oder nicht.
„Und die Löwenvorstellung. Du glaubst es nicht. Leo wollte doch unbedingt Dompteur sein. Hat sich extra dafür gemeldet. Und wer wird’s? Dieser Ali oder Murat oder wie der heißt. Der kleine Türkenjunge von dem ich dir erzählt hab. Von wegen, er hat sich zuerst gemeldet und Leo sei doch der perfekte Name für einen Löwen. Für die Quote war das. Damit mehr von den...anderen Kaffemärkchen kaufen.“
Aber Lucy hatte nichts gegen Ausländer. Das beteuerte sie so oft man es hören wollte. Oder so oft sie

es hören wollte.
„Fae Schätzchen, du musst auch mal wieder vor die Tür gehen.“
„Auf ein Kindergartenfest?“
„Da waren auch ein paar nette, allein erziehende Väter.“
„Das kann ich...es ist...ich bin noch nicht so weit.“
„Ach Herzchen, sechs Monate sind eine lange Zeit.“
- Mir kam es vor wie eine Sekunde. Gerade noch unterhielten wir uns und dann war da dieser ohrenbetäubende Knall.
- Es ging ganz schnell.
„Selbstmitleid hat noch keinem weiter geholfen.“
Lucy war kein netter Mensch.
Und manchmal versuchte sie noch nicht einmal so zu tun.
Aber ihre Worte füllten den Raum und das war gut.
Faes Kopf hämmerte. Die Kontaktlinsen mussten unbedingt raus.
Und dann immer dieses klopfende Geräusch.
Karl war anders als Lucy.
Karl war ein netter Mensch, der viel zu oft versuchte so zu tun als wäre er keiner.
Abgesehen von den menschenfeindlichen Öffnungszeiten war er ein guter Chef.
Er war auf der Beerdigung.
Lucy nicht.
Dort hatte die Stille Heimrecht.
Aber nach Hause ging sie nicht.
Heute war er lange im Diner geblieben. Normalerweise überließ er Fae den Laden gegen neun und machte sich dann mit dem alten weißen Pick-up auf den Heimweg. Aber heute hatte er eine Ewigkeit über der Abrechnung des Vortages gesessen.
Vielleicht, weil er diesmal auf den Bus angewiesen war.
Gestern noch der Versuch, mit der kaputten Leiter im Lager die Glühbirne zu wechseln und heute mit verstauchtem Knöchel für den Leichtsinn bestraft.
„Irgendwie stimmen die Zahlen heut nicht. Wie viele Tagesangebote hatten wir gestern?“
„Karl, ich bin immer erst ab acht hier.“
„Ah...stimmt...dann...Moment. Ach doch, jetzt stimmt's.“
Aber es stimmte nicht. Stundenlang stimmte es nicht und er saß da, während das raschelnde Papier als angenehme Geräuschkulisse den Raum erfüllte.
„Kaffee?“
„Was? Oh ja, danke, Fae.“
„Wieso machst du das mit den Zahlen nicht einfach zu Hause?“
„Ach, ich will die Arbeit irgendwie hier lassen. Zu Hause ist zu Hause und das soll auch so bleiben.“
„Nirgends ist es so schön wie zu Hause.“
„Der Zauberer von Oz.“
„Ich bin beeindruckt.“
„Auch Restaurantbesitzer können lesen...oder zumindest eine DVD einlegen.“
Sie lächelte auf dem Weg über die schwach beleuchtete Straße. Da waren diese kleinen Momente in denen er sie zum Lachen brachte.
Heute nicht mehr so oft wie damals.
Aber manchmal.
Der Zauberer von Oz

war Faes Lieblingsbuch.
Schon als Kind hatte sie sich mit ihrer Schwester den Film angesehen.
Danach hatten sie ihre Mutter wochenlang wegen rubinroter Zauberschuhe angefleht und weil sie keine bekamen, nannten sie sie heimlich 'die böse Hexe des Westens'.
Die Idee mit dem Wassereimer verwarfen sie aber schnell wieder.
Den Hausarrest war es nicht wert.
Aber nach Hause ging sie nicht.
Die Müdigkeit machte die Nacht langsam schwummrig.
Zu lange war sie schon auf den Beinen.
Dabei hasste sie die langen Tage.
Lange Tage brauchten zu lange bis sie vorbei waren.
Schon in der Früh hatte ihre Mutter angerufen und gefragt ob Fae sie zum Einkaufen fahren könnte.
Der Wagen war mal wieder kaputt.
Aus solchen Fahrten wurden dann Marathonläufe vom einen Laden zum anderen. Von der Post, zum Friseur, in den Supermarkt.
Anstrengend war's, aber dafür mit Mama.
Es gab nur noch wenige Menschen, die sie gerne so lang um sich ertrug.
Nach einem gemeinsamen Abendessen dann direkt zur Arbeit.
Ein Nachmittag, der gar nicht existierte.
Das dumpfe Pochen wurde lauter und rhythmischer.
Aber es war nicht ihr Kopf.
Irgendwer war hinter ihr.
Irgendwer verfolgte sie.
Wo war sie?
Das Klopfen waren Schritte und sie waren so nah, dass sie jetzt das Knirschen des nassen Bodens unter den Schuhen des Verfolgers hören konnte.
Was macht man in solchen Situationen nochmal?
Wie bin ich hier hin gekommen?
War das Panik?
Was?
Laufen!
Das macht man in solchen Situationen.
Das!
Also lief sie.
So schnell sie konnte, so weit sie konnte.
Eine Zuflucht, Schutz, Zuhause.
Die Räume waren nicht dasselbe ohne ihn.
So voll und doch so leer und keine Lucy, die sie füllte.
- Ich will nach Hause.
- Dann lauf!
- Aber du bist nicht mehr da.
- Du sprichst doch mit mir. Wie kann ich dann nicht da sein?
- Ich führe Selbstgespräche. Du bist nicht echt.
- Woher weißt du das?
- Weil du sonst schon längst zu mir zurück gekommen wärst!
Sie lief und die Lunge stach, während ihr Tränen an den Wangen hinunter liefen.
Aber die Gegend war ihr fremd und sie wusste nicht wohin.
Ihre Füße schmerzten und sie war zu langsam.
Gleich würde er sie eingeholt haben.
Gleich war es zu spät.
Aber vielleicht wollte sie das ja.
Dem Elend ein Ende.
Dem Herz seine Ruh'.
Die letzte Ecke noch.
Die Ecke noch, sonst bliebe sie einfach stehen.
„Fae!“
- Ich kann jetzt nicht mit dir reden.
- Ich bin das nicht.
„Fae! Warte!“
Woher kannte er ihren Namen?
Da hatte aber jemand seine Hausaufgaben gemacht.
So viel Mühe sollte belohnt werden.
Und sie blieb stehen, atmete tief ein und drehte sich um.
„Es...tut...mir so leid. Ich...wollte dich nicht...erschrecken.“
Karl blickte sie entschuldigend an, während er mühsam versuchte wieder zu Atem zu kommen.
„Ich hab gedacht du willst mich überfallen.“
„Oh, oh das tut mir wirklich so leid. Aber du hast deine Schlüssel vergessen. Ich hab gerufen, aber du hast mich nicht gehört. Und schneller rennen konnte ich leider nicht.“
Mit einem Mal fühlte sie sich schlecht.
Karl war ihr mit seinem lädierten Fuß mindestens 2 Kilometer hinterher gelaufen und zu guter Letzt war sie die letzten Meter aus lauter Angst gerannt.
Mir

tut es leid. Ich war so in Gedanken versunken und als ich dann deine Schritte hörte, hab ich Panik gekriegt.“
„Jetzt hab ich dich ja eingeholt. Ich wollte nicht, dass du vor verschlossener Tür stehst.
Um die Uhrzeit will man ja schließlich nur nach Hause. Aber wieso bist du so einen Umweg gegangen?“
„Ach, ich...ich wollte...Umweg?“
„Ja, du hättest doch schon vor zehn Minuten hier sein können.“
Hier?
Und dann sah sie es.
Sie blickte um die letzte Ecke und stand in ihrer Straße.
Die andere Seite zwar, ein Weg, den sie vorher anscheinend noch nie genommen hatte.
Aber die gleiche Straße.
„Verlaufen, hm? Nächstes Mal folgst du einfach dem gelben Ziegelsteinweg.“
Er grinste.
Sie lächelte ihn an.
„Danke, Karl. Das war wirklich sehr nett.“
Stolz auf seine gute Tat und wahrscheinlich froh, dass sie endlich stehen geblieben war, wandte er sich um, um zu gehen.
Karl war ein netter Mensch.
„Na dann, gute Nacht kleine Fae. Wir sehen uns morgen.“
„Soll ich dir nicht lieber ein Taxi rufen?“
„Nicht nötig, ich nehm den Bus.“

Als sie den Hausflur betrat war es still.
Alle schliefen noch und damit das auch so blieb, schlich sie so leise wie möglich die Treppe hinauf.
Im zweiten Stock angekommen, ging das kurzlebige Flurlicht allerdings aus und sie musste sich den restlichen Weg zur Tür ertasten. Der Schalter auf ihrer Etage war schon lange kaputt.
Sie tat einen Schritt nach vorn und trat gegen etwas Hartes, das umkippte und zu Boden fiel.
„Verdammt!“
Nach drei Versuchen im Dunkeln das Schlüsselloch zu treffen, gelang es ihr schließlich und als sie das Licht in ihrer Wohnung anschaltete, konnte sie erkennen was dort so unpraktisch im Weg gelegen hatte.
Ein Päckchen mit einer Notiz.
Hab ich für sie angenommen.-Helga Schwarz


Fae hob das Päckchen auf und setzte sich damit auf ihr Bett. Es war schlicht in braunes Packpapier gewickelt und mit einem Umschlag versehen.
Darin war nur ein kleiner Zettel mit einer Notiz.
Hey Max!
Hier ist deine Bestellung. Sorry, hat was länger gedauert.
Hoff sie gefallen ihr.
Frank.


Eine Träne lief ihr über die Wange und färbte das Packpapier dunkel.
Dann holte sie tief Luft und öffnete das Paket.
Und was sie darin fand, waren rubinrote Schuhe.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.03.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
So maybe tomorrow, I'll find my way home -Stereophonics-

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