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Wie in Zeitlupe öffnete sie ihre rehbraunen Augen, während ihr eine Träne über die Wange lief. Es war völlig dunkel. Die Finsternis erfüllte den Raum und der modrige Geruch ließ ein Gespür von Tod aufkommen. Ohne einen jeglichen Schimmer, wo sie sich befand, blieb sie starr auf dem steinernen und eiskalten Boden liegen.
Ihr langes aschblondes Haar kitzelte ihre Schulter, als ein kalter Luftzug durch einen Spalt hinein drang und ihren Atem zum stocken brachte. Sie wusste nicht wie sie an diesen Ort gelangt war, oder wie sie wieder zurück finden sollte. Ihre gesamten Erinnerungen schienen mit einem Mal erloschen. Als hätte ihr jemand die Gedanken aus dem Kopf entrissen und sie in eine dunkle Kammer gesperrt, sodass sie nie mehr vermuten durften, noch einmal das Tageslicht zu erblicken.
Vorsichtig tastete sie ihren Körper ab und bemerkte nur einen Hauch von Stoff an ihrem Leib und ihre Beine, die durch die erschreckende Kälte taub geworden waren.
Ihr Herz schlug schneller als je zuvor. Sie konnte spüren, wie der Schlag ihren Hals empor raste.
Dann, für den Bruchteil einer Sekunde, öffnete sich ein kleines Loch an der Decke und während dunkle, feuchte Erde hinunter rieselte, kam ein großes, schwarzes Auge zum Vorschein, was jedoch sofort wieder verschwand.
Ehe sich das Mädchen versah, umgucken konnte und versuchen wollte einen Weg aus diesem Raum zu finden, stürzte der Boden unter ihr zusammen und löste sie aus ihrer krampfartigen Position. Sie riss ihre Augen weit auf, bevor sie auf eine sonderbare Art anfingen rot zu glühen und im freien Fall nach unten, jedes noch so kleine Detail der Umgebung aufnahmen. Nur war sich nicht viel zu behalten, da überall nur feuchte Erde und abgestorbene Wurzeln ihre Wege kreuzten.
Der Untergrund auf dem sie gelegen hatte zerbröselte in tausend Einzelteile.
Immer und immer wieder schlug sie auf neuen Lehm auf, bevor er erneut zerbrach und ihren schlanken Körper zusammenknicken ließ.
Sie schrie nicht. Es war mehr ein lautes und hastiges Atmen, was schneller erstickte, als der rasende Rhythmus ihres roten, pochenden Organs.
Sie fiel tiefer und tiefer hinunter. Keine Gelegenheit sich festzuhalten, keine Hoffnung auf ein sanftes Aufkommen am Ende. Falls überhaupt ein Ende vorgesehen war.
Und doch, plötzlich. Mit einem Mal blieb ihr zerbrechlicher Körper auf einem weichen Untergrund liegen, bevor dieser sich wagte, noch einmal aufzuklappen, und das Mädchen in ein Meer aus Rosen stürzen ließ.
Sie spürte haargenau, wie sich jede einzelne, noch so kleine Dorne in ihre helle, zarte Haut hinein bohrte und ihr die verbliebene Luft zum atmen nahm. Ohne Scheu stieß sie einen Schrei aus, der so grausam und laut erklang, dass es ihr selbst das Blut in den Adern gefrieren ließ, als er durch die Weite und das Hallen der Umgebung zu ihr zurück gelangte. Ein leises Wispern war zu hören.
Das hier und jetzt war erfüllt von Angst. Es war erfüllt von Angst, Schmerzen und schließlich der Ungewissheit, die das Mädchen plagte. Die roten Pflanzen schienen sich um ihren Körper zu wickeln wie eine Schlinge um ihren Hals. Die Schmerzen waren unerträglich und selbst durch Beißen auf den Unterkiefer nicht auszuhalten oder zu ertragen. Sich jetzt noch gegen den unglaublichen Druck zu wehren, wäre unmöglich gewesen. Es musste wohl ein Ende geben. Sie hatte den Tod schon vor Augen, als die Qual endlich ein Ende nahm und sich wie aus dem Nichts eine Kerze am anderen Ende des Raumes entzündete. Schnell und ohne darüber nachzudenken, sprang das von Stechen geplagte Mädchen hoch. Nach einer kurzen Überlegung trat sie mit ihren Nackten, blutenden Füßen auf, die wieder und wieder in neue Dornen übergingen, die sich anfühlten, wie Messer in der Haut. Schnell ging sie weiter zu dem Licht der Kerze, was ihr ein wenig Trost spenden sollte. Dieses nahm sie in die Hand und guckte sich in ihrer Nahen Umgebung um.
Nichts. Eine riesige Halle, aber dennoch Nichts. Vollkommen leer. Der Boden bedeckt mit vertrockneten roten Rosen und die Wände schwarz bemalt.
Sie fing an zu schluchzen und zu weinen, als sie sich vorstellte, nie wieder aus diesem grausamen Albtraum zu erwachen und diesen Ort nur für eine Sekunde verlassen zu können. Diesmal schien es wirklich aussichtslos. Aussichtslos bis zu dem Zeitpunkt, als sie ein lautes geschirrähnliches klirren hörte. Sie zuckte zusammen. Die Anspannung war kaum vorstellbar. Kaum auszuhalten.
Langsam drehte sie sich wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Nicht zu glauben. Dort standen ein gigantischer Tisch, Stühle und ein roter Teppich, der so weich aussah, wie das Fell einer Katze. Die goldene Tafel war gedeckt mit silbernen Tellern und glänzendem Besteck. Noch mehr Kerzen fanden sich auf dem Tisch, die das Mädchen direkt anzündete, um mehr zu sehen. Sie setzte sich auf einen der gut gepolsterten Stühle und zupfte sich die spitzen Stacheln von den schmerzenden Füßen. Danach legte sie ihre Hände auf den Tisch, und starrte in die kühle leere. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie wollte gar nicht daran denken, wie all diese Dinge plötzlich auftauchten und wie weit sie schon unter der Erde sein musste, nachdem sie so tief gefallen war. Sie war müde. Ihre Augen, die mittlerweile nicht mehr rot leuchteten, fielen kurz zu. Als sie sie schließlich wieder öffnete, traute sie ihren Augen nicht. Der Tisch, der soeben noch mit Silbertellern und besteck gedeckt war, hob sich nun durch Köstlichkeiten hervor. Rote Köstlichkeiten, getaucht in Schokolade und Zucker. Ihre Sinne waren geblendet. Sie konnte sich kaum zurückhalten, nicht in eine der saftigen Erdbeeren zu beißen, oder sich einen Löffel voll Marmelade genüsslich auf der Zunge zergehen zu lassen. Mit ihren zerstochenen Händen griff sie in Richtung des Früchtetellers. Sie hielt kurz Inne, bevor sie sich doch dazu entschloss, eine der Erdbeeren zu greifen. Behutsam entfernte sie den Stiel der roten Verführung und strahlte sie mit leuchtenden Augen an.
Als der erste Bissen genommen war, die erste Faser ihrer Zunge die Frucht berührt hatte, gab es keinen Weg mehr zurück. Mit einem Mal verschlang sie alles, was sie greifen konnte. Die aromatischen Erdbeeren, die süße Schokolade als Beilage. Und der Tisch wagte sich nicht leerer zu werden. Im Gegenteil. Man mochte vermuten, es erschienen immer und immer mehr, der wunderbaren Leckerbissen vor dem Mädchen.
Es fühlte sich zwar an, wie ein Spaziergang im Paradies, doch das Glück sollte nicht von Dauer sein.
Nachdem der Tisch fast leer war und der Bauch des Mädchens bis zum Rand gefüllt, tauchten die Biester auf. Kleine schwarze Gebilde stürmten den Tisch wie eine Lawine. Krochen aus den Früchten und Speisen. Machten sie sich zu Eigen. Sie versteckten sich schon tagelang in dem verfaulten Obst und warteten auf den richtigen Moment. Warteten, um aus den hungernden Tagen ein explodierendes Feuerwerk zu machen. Warteten auf frisches, zartes Fleisch.
Gerne fingen sie im Inneren des Mädchens an, an dem blutigen Fleisch zu saugen und es in Sekundenschnelle zu verschlingen. Ihre Mägen füllten sich wie Luftballons, als sie zuletzt die lebensnotwendigen Organe zu Nichte machten und schließlich ihren Weg an die Oberfläche durch die Augenhöhlen wiederfanden.
Zuletzt war es Nacht, als das Mädchen mit dem schönen Haar und den Lippen, die ihrem blutüberströmten Körper glichen, nur noch als eine Hülle zu Boden fiel und die schwarzen Gestalten sich gesättigt auf ihr nächstes Opfer vorbereiteten, was diesmal bestimmt nicht länger als 1000 Jahre warten sollte.

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Tag der Veröffentlichung: 24.10.2011

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