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Rudella mit dem blauen Po


Wenn der Sommer wundervoll grün war und alles blühte und gedieh – dann fühlte sich Rudella so schön wie noch nie. Der Sommer war recht kurz, dort droben im hohen Norden. Aber jedes Jahr wieder einmalig.

Da war das kleine Rentierlein Rudella glücklich und streifte durch den Wald. Manchmal dachte sie, wenn doch Weihnachten nur im Sommer wäre! Das wäre doch viel schöner als in Eis und Schnee. Dann könnte der Weihnachtsmann ja auch in Bermudashorts statt in seinem dicken, warmen, roten Mantel herunte-rfahren zu den Kindern und sie beschenken.

Wenigstens wäre das eine Abwechslung für ihn nach über 2000 Jahren, meinte sie so vor sich hin ...

Und Rentiere, die seinen Schlitten mühsam ziehen – die bräuchte er dann auch nicht unbedingt. Er könnte dann ja seine vielen Geschenke selber tragen und in offenen Gesundheitsschuhen all die Gaben an die Kinder austeilen.

Bestimmt – überlegte sich Rudella oft in diesem besonderen Sommer – wäre das für den guten Mann viel, viel gesünder, als immer in den harten Stiefeln von Kinderzimmer zu Kinderzimmer zu laufen ...


Wenn Rudella dann bei solchen Gedanken einschlief, irgendwo mitten im Wald, in hellster Nordenssonne, wurde es in ihren Träumen immer sehr kalt.

Wisst ihr, liebe Kinder, so ein Rentier kann sehr lange leben. Mehr als zwanzig Jahre; und Rudella war ja erst drei. Grade mal drei Jahre alt.

Sie war sehr hübsch, wenn man Rentiere mag. Von erstem edlem Wuchse. Wenn man stattdessen nur Meerschweinchen mag, dann würde einem die junge Rudella schon ausgesprochen merkwürdig erscheinen.

Und jetzt muss ich euch ein paar wenige Dinge über Rudella berichten. Denn sonst versteht ihr diese Geschichte nicht so ganz:

Rudella Rot-Nase ist ihr voller Nachname, denn sie ist die Ur-Urenkelin von Rudolph mit der Roten Nase! Jaha! Da klingelt es doch bei euch, oder etwa nicht?

Rudolph mit der Roten Nase, das märchenumwobene Rentier, das den Nikolaus mit seiner Leuchtnase zu den Kindern geführt hat. Denn sonst hätte es vielleicht nie mehr Weihnachtsgeschenke gegeben, wenn der Weihnachtsmann sich für immer verirrt gehabt hätte.


Jener Rudolph ist der Ur-Urgroßvater von Rudella. Er war schlimm dran gewesen, als er wegen seiner rot leuchtenden Nase von allen anderen Rentiere in der nordischen Herde ausgelacht und beschämt worden war.

Rudolph hatte damals jeden Tag weinen müssen, weil ihn keiner zum Freund haben wollte. Und immer wenn er sich schämte, dann leuchtete seine Nase noch viel roter!

Bis er dann den Weihnachtsmann aus großer Not retten konnte, ebenwegen weil Rudi eine solche leuchtende Nase, seine rote Lichtnase hatte!

Danach war Rudi, der mit der Roten Nase, bei allen anderen anerkannt. Und er wurde schließlich der Chef der Rentiere. Dort droben, im hohen Norden, wo die himmlische Landestelle für den Weihnachtsmann ist.

Rudi blieb das sein Leben lang. Und der Weihnachtsmann kam jedes Jahr im meistenbss chon im Herbst herunter aus dem Himmel.

Dann machte er die Verträge mit den Rentieren ab, und er suchte sich die prächtigsten aus – diejenigen, die seinen güldenen Weihnachtsschlitten in diesem Jahr zögen.

Und Rudi, der mit der Roten Nase – ja, er wurde dem Weihnachtsmann zu einem richtigen Freund.

Aber wie kommt denn nun Rudella hier ins Spiel?

Rudella war doch Ur-Urenkelin vom Rudolph mit der Roten Nase, nur eine von vielen. Genaugenommen waren es siebenunddreißig Enkelinnen und Urenkeli-nnen und Ur-Urenkelinnen des legendären Rotnasen-Rudolphs.

Rudella mochte keine von ihnen, weil die anderen sie auch nicht mochten. Weswegen die kleine Rudella auch meist allein bei Fuchs und Has unterwegs war im Sommer. Denen machte das nichts aus, was bei Rudella so schlimm anders war.

Rudella hatte nicht die stolze rote Nase der ganzen Familie, die jedem Weih-nachtsmann leuchten würde, wenn er in Not sei. Nein, Rudella hatte als einzige aller – sie hatte einen blauen Popo!

Keine rote Nase!

Rudellas Nase war die eines völlig gewöhnlichen Rentieres. Ganz einfach ein wenig rosig und süß. Und Rudellas Nase würde auch niemals dem Weihnachts-mann leuchten, wenn er den Weg zur Erde nicht fände.

Da könnte sie sich anstrengen, wie sie wollte: Der Weihnachtsmann hätte bei seinem nächsten riesengroßen Schneeproblem sagenhafte sechsunddreißig ande-re Enkelinnen-Nasen zur Orientierung.

Eben all die anderen, die sie – Rudella – nicht mochten. Die spielten ja auch schon lange immer ohne sie.

Wer mag schon eine mit nem blauen Po, wenn er selber eine berühmte rote Nase hat? Sei die andre auch noch so schön. Und edel. Und zart.

Als bei solchen schweren Gedanken Rudella in den Vorderbeinen einknickte und sich auf der hellsten Herbstwiese von allen wieder für den Winter bereitmachte, schlief sie einfach ein.

Rudella war so müde, dass sie vergaß, ihre Hinterbeine auch einzuknicken. Dann lag ihr süßes Gesichtlein im hohen Gras. Ihr Rücken knickte ein, und die Hinterbeine standen noch hoch, als hätte sie sie vergessen ...


Plötzlich – als wäre da eine Nachricht herumgegangen – kamen Fuchs und Hase, kamen Wildschwein und Hirsch, kam auch der mächtige Schwarzbär daher, sammelten sich sogar die Waldameisen, die winzigsten Pilzträgerlein um die traurige Rudella herum.

Wisst ihr, vielleicht war das folgendermaßen ... (Auf jeden Fall wünsche ich es mir.)

Denn auch summten die Bienchen um die tief träumende Rudella herum. Es war ein Riesenbetrieb wie selten in dem Wald. Herr Hummel ließ sich auch noch hochpersönlich sehn, brummte deeimal tief, was leider wieder keiner beachtete.

Und dann ging wohl eine große Kraft über. Es wurde schlagartig Winter.

Von einem Augenblick zum andern.

Dort, wo im Augenmoment noch die Sonne gestanden hatte, war einfach nur Leere.

Das grüne, saftige Gras legte sich wie auf großen Befehl demütig nieder. Mit riesenhaftem Rauschen schüttelten die Baüme ihre Blätter vollständig ab, herab rieselten die Nadeln der Fichten und Tannen wie Nadelstiche zur Erde.

Alles, was noch laufen konnte, verzog sich zum Winterschlaf. Oder hoppelte, rannte zin den schützenden Bau. Nur Rudella träumte noch.

Allein, dort auf der Sonnenwiese ...


Sie wachte ein wenig später auf. Oder waren schon Tage vergangen? Als nämlich der Uhrmann durch den Wald mitteinschritt.

Er ließ alles erbeben, der Uhrmann. Er war eine Sage unter den Tieren, es hieß unter ihnen, wenn der Uhrmann endlich käme. Doch keines der Tiere wusste eine Fortsetzung. Was denn dann wäre, wenn der Uhrmann käme.

Noch wusste eines der Tiere, wer oder was der Uhrmann sein, ob gut oder schlecht, ob liebe oder böse. Bisher war es stets nur ein Raunen, eine Sage gewesen.

Wie Federn im Wind bog der Uhrmann die Zehnmetertannen. Die Zwanzig-meterfichten. Die Stärksten von allen, die Hundertjahr-Eichen. Bog sie wie Fluss-weiden, wie Grashalme vor sich weg.

Er war riesengroß, größer als alles, was Rudella jemals gesehn.

Und doch hatte er die zartesten Hände, die man sich vorstellen kann.

Er schob einen Finger unter Rudella, hob sie sechs, acht, zehn Meter hoch – oder mochten es hundert sein?

Es ist nun Zeit für dich, kleine Rudella, sagte er mit einer sehr väterlichen Stimme. Ich trage dich hinüber zu den Menschen, denn sie brauchen dich jetzt. Heute brauchen sie dich.

Dann schloss er seine Riesenhand um Rudella, die Enkelin, oder Ur-Urenkelin von Rudolph mit der Roten Nase. Trug sie hinfort in seiner Riesenhand, gleich in einer Höhle, trug sie zu den Menschen hin in kilometerweiten Schritten.

Da und dort, er öffnete seine Hand und Rudella sah es nun: Da und dort, da loderten die Feuer. Keiner löschte. Sie würden alle elend verbrennen, wenn keiner löschte. Alle diese armen Menschen würden verbrennen, wenn keiner et-was unternähme.

Die Stadt stand schon da und dort in Flammen; wie ein Sturmfeuer würde es ausgehn, wenn keiner löschte. Und alle würden elendiglich verschmoren.

Dann ließ der Uhrmacher das kleine Rentier Rudella aus seiner Hand hinab. Tu, was du kannst, sagte er, die Menschen haben noch gar nichts gemerkt.

Wie der Blitz glaoppierte Rudella auf ihren vier staksigen Beinchen zur Stadt, durch den tiefsten Schnee, und auf einmal begann ihr blöder blauer Popo zu leuchten, zu blinken. Und als sie in der Stadt war, unermüdlich durch die Gassen und Straßen und Boulevards der Menschen hetzte, leuchtete Rudellas blauer Popo wie verrückt Alarm! Alarm! Alarm!

Ihr Licht riss die Armen und die Reichen aus ihrem tiefen Schlaf, und sie konnten sich endlich doch noch vor der Vernichtung retten.

Irgendwo auf dem freien Feld kam dann Rudella wieder zum Verschnaufen; ihr blauer Popo leuchtete nicht mehr; die Feuer waren gelöscht. Und immer noch fiel der fetteste Schnee von allen Schneen, die Rudella je erlebt hatte.

All der lange Weg nach Hause war ungeheuer schwer, erst zwei Tage später wachte Rudella wieder auf. Ihre sechsunddreißig Schwestern jodelten im tiefen Schnee herum. Keiner vermisste sie selber.

War das alles ein Traum gewesen?

Dann stand plötzlich der gütige Mann mit dem weißen Bart vor ihr. Sie wusste, es war der Nikolaus, obgleich er ganz normale flauschig-warme Winterkleidung anhatte.

Immer noch erschöpft stakte Rudella auf ihre Rentierbeine und wartete einfach ab, was geschehe.

Der Nikolaus deutete jetzt wortlos nach oben, und auf einmal stand wieder der Gigant da, mitten in der kreischenden Rentierherde. Mit seiner fast atlantischen Hand.

Soll das heißen, soll das heißen ..., wollte Rudella noch fragen – aber da war sie schon weg von dieser Erde, von des Giganten, des Uhrmachers Hand in den Himmel gebracht.

In die Seligkeit, von der Rudella nun jedes Jahr herunterkommt als die Erste Königin der Rentiere, die den Schlitten ziehen dürfen. In alle Ewigkeiten, weiter, zu den Kindern hinab, die wirklich und für immer an Weihnachten glauben.


Ach, was ich fast vergaß zu berichten: Rudella hat inzwischen einen supergolde-nen Po. Sie besteht nur noch aus Gold und Silber und Licht. Ihren blauen Po braucht sie nun nicht mehr.

Doch vielleicht aber brauchen wir kleinen und großen Menschen nicht nur an Weihnachten irgendeinen, der einen blauen Popo hat ...


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.12.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle meine Nilis

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