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Es war heiß und allen stand der Schweiß im Gesicht. Die Anstrengung sich fortzubewegen war unbeschreiblich und die Unlust war in der Mimik aller zu lesen. Mit einer einzigen Ausnahme – doch heißt es nicht so schön, Ausnahmen bestätigen die Regel?
Sie war nicht groß und auch nicht klein, nicht breit und auch nicht schmal, nicht quadratisch und auch nicht rund, kein Tier und auch kein Mensch. Zumindest sah sie das so, als sie zwischen der wogenden Masse von Menschen hin- und herflitzte. Sie veränderte sich ständig, im Moment war sie eine Pilotin, die sich wagemutig zwischen steilen Klippen, schroffen Abhängen und hohen Bergen hindurchschlängelte, niemals einen Absturz erlitt und niemals einen Fehler machte. Die an den weißen Zinnen von Prinzessinnenschlössern vorbei und über die rot-weiß gesprenkelten Dächer von Zwergenhäusern hinweg flog.

Er wurde geschubst und sah sich überrascht um, konnte die Ursache jedoch nicht finden. Bekannte, Verwandte – doch niemand, der so aussah, als hätte er ihn soeben geschubst. Neben sich hörte er ein erschrockenes Kreischen und ein darauf folgendes empörtes Schimpfen und sah gerade noch rechtzeitig zwei dünne, braungebrannte Kinderbeine hinter den Rockfalten seiner sehr korpulenten Tante Anna verschwinden – und hörte das verschmitzte Lachen eines kleinen Mädchens, das in seiner eigenen Welt lebte.

Im nächsten Moment war sie eine Elfe, die elegant und wunderschön durch ihren verzauberten Wald schwebte, rechts und links von sich ihre Untertanen. Doch wo war sie? Es fehlte jemand.
Unter ihr flogen die Rosen nur so dahin und dort, dort drüben hörte der Wald auf. Die Elfe änderte die Richtung, jenseits des Waldes warteten nur die unangenehmen Geister, die sie einzuholen drohten, sobald sie auch nur einen Schritt aus dem Wald tat.
Sie vernahm das Flüstern der Bäume, die sich hoch über ihr empört über das Verhalten ihrer kleinen Regentin unterhielten, die nunmehr ihre Höchstgeschwindigkeit erprobte und als Weißkopfadler über Meere und Seen flog, den Wind in den Federn genoss und weit unter sich die Welt erblickte, die Menschheit, wie sie in ihrem eigenen Leid weiterlebte, während sie wild und frei war und nie wieder runter müsste. Doch irgendetwas fehlte. Was war es?

„So kann das mit ihr nicht weitergehen..!“, murmelte eine zynische Frauenstimme. Kopfschüttelnd sah er sich um, sie einzufangen dürfte recht einfach werden, überall dort wo überraschte Rufe ertönten, befand sie sich gerade. Vor zwei Monaten war sie noch nicht so gewesen, da hatte sie sich noch nicht so oft in ihre Imagination geflüchtet. „... aber nein, es ist doch kein Wunder! Sie ist doch noch so jung... und dann diese Tragödie!“, hörte man die beschwichtigende Stimmer der Mutter, die schon seit geraumer Zeit vergeblich versuchte, die Gäste zu beruhigen. Doch er wusste, dass sie alle Recht hatten. Sie konnte und durfte sich nicht so gehen lassen. Doch war es nicht irgendwie zu verstehen?

Der schwarze Rock flatterte um ihre Knie, er war lästig. Schwarze Lackschuhe glänzten in der unpassenden Mittagssonne, die Realität drohte, sie heimzuholen. Viele Beine, zwischen denen es sich durchzuschlängeln hieß. Das gemeine Flüstern wollte und wollte einfach nicht aufhören, doch immer noch fehlte etwas. Was war es? Und wo war Marie?



Er stimmte sein trauriges Lied an, begleitet von einer Violine. Viele schluchzten, der Mutter war es endlich gelungen, den kleinen Wildfang festzuhalten. Das Mädchen schauderte und schaute ins Leere, vergrub die kleinen Kinderhände in den Falten des Rocks ihrer Mutter und presste das Gesicht in den rauen Stoff, sie wollte sich dieser Realität nicht stellen und war plötzlich wieder weg. Weg in einer Welt, die Erwachsene nicht mehr betreten können, die aber ein jeder von uns schon einmal betreten hat und sich dorthin genauso geflüchtet hat, wie sie es jetzt tat. Sie war nun eine Wolke, groß und leicht, sich träge bewegend und die Welt unter sich beobachtend ohne selbst viel damit zu tun zu haben. Immer noch fehlte etwas. Wo war Marie? Wo blieb sie? Die zweite Wolke, der zweite Adler, die zweite Elfe, die zweite Pilotin?

Das Lied hatte aufgehört, die Tränen rannen der Mutter langsam das Gesicht hinunter, wie etwas, was den Boden nicht erreichen will. Wie etwas, das viel zu früh dorthin zurückgeht, wo es hergekommen ist.
Sie bückte sich und versuchte den Blick der Kleinen aufzufangen, die teilnahmslos in den Himmel starrte und lächelte. Vergeblich. Eisern drückte der Griff der überraschend starken Händchen in die Beine der Mutter und die Augen wandten sich nicht vom Himmel ab. Man konnte die Spiegelung des Dachs der Kirche in dem Auge sehen.

Marie. Das war der einzige Gedanke, den sie hatte. Marie, wo war sie? Ohne Marie machte das Spielen keinen Spaß. Ohne Marie sah alles so grau aus.

Der Blick klärte sich langsam, das Leben kam wieder zurück und sie sah ihrer Mutter in die Augen.
Er wandte den Blick ab, solch eine Szene gehörte sich nicht, zu beobachten. Stattdessen sah er sich im restlichen Saal um. Von dort, wo er seit zehn Minuten stand, hatte man einen recht guten Überblick über den Raum. Es waren nicht die Menschen da, die man bei solch einem Anlass erwarten würde. Viele Erwachsene und nur ein einziges Kind.
Es war nicht gerechtfertigt, doch er war gezwungen gewesen, es tun.

Nun sah sie Marie. Hinter einer Glasscheibe war sie, flach, auf Papier gedruckt. Papier, als ob sie keinen Wert hätte. Hinter Glas, als sollte sie eingesperrt bleiben, für den Rest ihres Lebens.
Ruckartig löste sich das braunhaarige Mädchen eine Hand von dem Rock ihrer Mutter und zog diese mit der anderen Hand hinter sich her auf dem Weg nach vorne, durch den Wald, die Berge und Klippen hindurch, die nunmehr wieder verärgert zu flüstern anfingen. Doch sie hörte das alles nicht, sie hörte nur Stille. Wie die Stille kurz bevor ein Sommergewitter anfängt, wenn die Luft einem auf die Gemüter drückte.

Nach wie vor schien die Sonne von oben auf die Köpfe, hin und wieder wurde schon auf die Uhr geschaut, wann man denn endlich hinein in die schattigen Häuser zurück könne um den restlichen Freitag Nachmittag in den kühlen, klimatisierten Räumen zu verbringen. Der Priester in seiner schwarzen Robe schwitzte, man sah ihm an, dass es weder seiner Statur noch seinem Alter üblich war, lange um diese Zeit draußen zu stehen.
Er spürte eine Hand auf der Schulter und drehte sich um, er war nicht überrascht, die Mutter mit dem Kind an der Hand zu sehen, die ihn bat, zur Seite zu gehen, damit die Kleine und sie nach vorne könnten. Er machte einen Schritt zur Seite und sprach sein Beileid aus. Gerade noch rechtzeitig sah er flüchtig die Augen der müden Frau glasig werden, sie wandte schnell den Kopf ab.

Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg durch das Geflecht von den Beinen Erwachsener. Hier schubste sie wen zur Seite, da wartete sie, bis ihre Mutter höflich gefragt hatte.
Dann war sie angekommen.
Und da war auch Marie, so wie sie sie kannte. Nur flach und auf weißem Papier, gedruckt, wie die Bilder in der Zeitung, die die Mutter jeden Morgen las. Und daneben ein Kasten aus Holz.
Selbst in dem Kopf eines Kindes, das aus der Sicht vieler Menschen noch einfach in seiner eigenen Welt lebte und noch nicht erkennen konnte, was nun Realität und was Einbildung war, konnten Dinge überhand nehmen, die viele schockieren würden.

Die wasserblauen Augen füllten sich mit Tränen und langsam tropften sie nach und nach von dem kindlichen Kinn auf den Boden.

Er ging. Dahin zurück, wo er hergekommen war. Es war beendet. Und nun ging er, um ein neues Mitglied zu begrüßen. Dort, wo ein jeder von uns einmal hingehen würde. Manche früher, manche später.

Jetzt war das kleine Mädchen ein Engel und flog in den Himmel, um ihre verstorbene Schwester zu besuchen.
Zusammen erlebten sie noch viele Abenteuer.

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Tag der Veröffentlichung: 21.06.2009

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