Cover

Die Büchse der Pandora

 

Prolog


Mühsam und gebückt humpelte der an sich große Mann durch die Hallen der Unterwelt, eine Gestalt, die wohl ein Schicksalsschlag verkrümmt zurück gelassen hatte. Sein Gewand – einst weiß – war verdreckt und feucht und fühlte sich klamm an. Das schwarze Haupthaar und der ebenso dunkle Bart wirkten zerzaust und ungepflegt. Sein Gesicht war von einer schräg verlaufenden Narbe verunstaltet. Sein Blick wirkte unstet, ja fast umnachtet.
Der Mann hatte jedes Zeitgefühl verloren; es schien ihm als irrte er seit einer Ewigkeit durch das gewaltige Höhlensystem mit seinen glimmenden Wänden und dem ständigen Flüstern, das scheinbar aus allen Richtungen gleichzeitig zu ihm drang. Hatte er es anfangs als Echo identifiziert, hatte er nun den Eindruck er könne Stimmen darin erkennen, die ihn verhöhnten; hassvolle Klänge, ausgestoßen von unsichtbaren Mündern.
Er wankte orientierungslos weiter, vorbei an gewaltigen Felssäulen. Manchmal schien es ihm als stünde er in einer mächtigen Kuppel, dann wieder kam die Höhlendecke so weit herunter, dass er sie beinahe mit der Hand hätte berühren können. In seiner eintönigen Umgebung war dies die einzige Abwechslung. Menschen hatte er hier noch keine getroffen. Er war allein.
Vor ihm allerdings hingen zwei Nebelschwaden wie weiße Säulen im hallenden Raum. Als er näher kam, gerieten sie in Bewegung, wirbelten und verdrillten sich; bald fiel ihm eine Ähnlichkeit mit menschlichen Gestalten auf, die eine weiblich, die andere männlich. Gleichzeitig neugierig und erfüllt von Grauen, ging er weiter auf sie zu. Da hörte das Wabern vollständig auf und die Nebelfetzen verdichteten sich tatsächlich zu Menschen, immer noch leicht transparent und unwirklich. Die Gesichter nahmen erkennbare Formen an, das sie umrahmende Haar bewegte sich wie im Wind. Jetzt manifestierten sich Augen, Mund und Nase in dem Oval, welches die Blässe längst verwitterter Knochen aufwies. 'Leichenfarbe', stellte er fest. Voller Schrecken erkannte er die beiden, seine längst verstorbenen Eltern.
„Mutter! Vater!“, schrie er gequält.
Da erfassten ihn ihre Blicke und Erkennen zeichnete sich in ihrer Mimik ab.
„Mein Sohn!“ Kurz lächelte seine Mutter; aber dann verzerrten sich ihre Gesichtszüge. „Durst! Was für ein fürchterlicher Durst!“, schrie sie.
„Gib uns zu trinken!“, forderte sein Vater mit kraftvoller Stimme.
„Da ist nur Wasser in Pfützen“, erklärte der Mann stotternd.
„Du lügst!“, zeterte seine Mutter.
„Blut wollen wir! Du hast es, viel davon! Gib uns dein Blut! Teile mit uns!“, verlangte sein Vater.
Da schrie der Mann voller Entsetzen auf, hastete zwischen den Schatten durch, fiel hin, rappelte sich wieder empor, lief weiter wie von Furien gehetzt, gefolgt von grauenvollem Lachen, das, verstärkt vom Hallen der Wände an seine Ohren drang und ihn beinahe in den Wahnsinn trieb.
***
Ein Rückblick
Sie flogen so schnell nach Westen, dass die Sonne stundenlang über dem Horizont verweilte. Als sie den Kontinent erreichten, wurde Reja aktiv: sie forderte den namenlosen Avatar dazu auf, ihr Satellitenaufzeichnungen zu zeigen; eine bestimmte Zeit, ein wohldefinierter Ort. Schließlich fand sie mit Glück tatsächlich die Wiedergabe jenes Ereignisses, das sie besonders interessierte: sie sah aus der Vogelperspektive, wie ein Kriegertroß in den Schwarzen Bergen eine schmale Brücke überquerte, die über einen reißenden Fluss führte. Langsam zogen die Geschehnisse an ihr vorüber, bis sie plötzlich aufschrie.
„Da! Hier springt sie ins Wasser! Mit dem Mut der Verzweiflung. Berechtigter Verzweiflung! Verfolge dieses Subjekt und stelle fest, wo es sich heute aufhält!“
„Ich werde es versuchen. Die Videodaten sind allerdings bei weitem nicht vollständig, die Auflösung gering. Eine sichere Auskunft kann ich dir wohl nicht geben.“
Es dauerte erstaunlich lange, Reja war ohnehin sehr ungeduldig, was sie durch gelegentliche Lautäußerungen des Unmuts unterstrich; sie hatten das Wilahet – Binnenmeer beinahe überquert als sich der Avatar endlich wieder meldete:
„Ich habe drei mögliche Aufenthaltsorte feststellen können, aber einige andere kommen auch noch infrage. Immerhin beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass sich das gesuchte Subjekt derzeit an einem der drei Orte befindet, mehr als fünfundneunzig Prozent.“
„Welche davon liegen ungefähr auf unserer Flugstrecke?“, wollte Zeus Kronion wissen.
„Nur zwei davon. Entweder findet sich das Objekt in dieser Fluss-Schlinge am Südhang der Schwarzen Berge unweit des Ausgangspunktes unserer Suche …“.
Es erschien ein Bild einer Auenlandschaft. Der Bergstrom wirkte hier gezähmt, aber es war nichts Genaues zu erkennen, denn der Satellit befand sich gegenwärtig in einer ungünstigen Position.
„Dann ist sie schließlich doch abgekratzt!“, kommentierte Reja.
„… oder westlich der Festung Mesawa an der Außengrenze des sandarkischen Refugium oder daneben, am Waldesrand, das konnte ich nicht weiter eingrenzen.“
„Ist auch egal. Und der dritte Zielort?“
„Befindet sich in der turanischen Ebene.“
Das Bild bewegte sich und zoomte auf einen kleinen Fleck in der Savanne.
„Natürlich!“, erkannte Reja, „das Biest ist zurückgekehrt! Wie überaus dumm!“
„Soviel Zeit möchte ich nicht liegen lassen!“ Zeus wirkte zunehmend gereizt. „Nichts gegen einen kleinen Umweg, aber dieser hier ist übertrieben!“
„Habe ich mich erst einmal an einer Beute festgebissen, lasse ich sie ungern wieder los!“
„Jetzt zu zaudern brächte meine Pläne in Gefahr!“
„Also gut“, gab sie schließlich nach, „lassen wir die Steppe und besehen wir uns die beiden anderen Stellen.“
Sie flogen weiter, passierten die Küste des Binnenmeeres und hielten auf die Schwarzen Berge zu, deren schneebedeckte Gipfel ihren Namen Lügen straften; aber es gab reichlich dunkle Schluchten und so steile Hänge, dass sich kaum Vegetation halten konnte – und hier erwies sich das Gestein tatsächlich als sehr dunkel, ja fast so schwarz wie der Eingang zu einer Gruft. Sie glitten über die zerklüftete Landschaft, folgten jetzt einem schmalen Weg, kaum Straße zu nennen; und doch war sie hier entlang geritten, nach Osten und schließlich über den Pass nach Norden, der sie zurück nach Askhauran gebracht hatte; jetzt allerdings bewegten sie sich in die andere Richtung und erheblich schneller. Bald schon sah sie rechts den Wasserfall und die enge Brücke. Der Avatar steuerte nun nach links und hangabwärts, immer hoch genug, dass die Klippen dem Fluggerät nichts anhaben konnten. Bald schon folgten sie dem reißenden, aber nicht übermäßig breiten Fluss, der Rejas Beute die Flucht ermöglicht und ihr damit Missstimmung beschert hatte. Den größten Teil seiner Strecke hatte er sich ein beinahe gerades Bett gebahnt – zumindest hatte man aus der Vogelperspektive diesen Eindruck - aber nun hielten sie auf eine kleine Ebene zu, wo er mäandrierte.
„Auf der Wiese neben dem Fluss, direkt beim Ufer liegt eine schon recht beanspruchte Leiche“, erklärte der Avatar, „sie wurde offenbar bereits reichlich von Raubtieren und Aasfressern angenagt. Bei der Steilwand etwas weiter vom Fluss entfernt liegen zwei weitere Tote, denen es nicht besser ergangen ist. Sowieso nicht. Ich schätze, hier haben Geier ein Fest gefeiert. Ich kann anhand der Fraßspuren ermitteln, welche Arten beteiligt waren, wenn das erwünscht ist.“
Reja schüttelte den Kopf. Sie starrte auf die Nahaufnahmen der drei Leichen bzw. ihrer Überreste.
„Das sind – das waren - askhauranische Krieger! Sie hat sie also erledigt, alle drei. Erstaunlich, sie tut so harmlos!“
Sie dachte darüber nach, ob das Juwel von Galahar seinem Besitzer über einen längeren Zeitraum hinweg abnormale Körperkräfte vermittelte. Wenn sie dies hier ansah, musste es wohl so sein. Das würde auch ihre Flucht erklären. Den Nagel aus dem Brett zu ziehen setzte einige Kraft voraus, die ein so zartes Mädchen normalerweise nicht aufbringen konnte. Sie würde aber mit Zeus nicht darüber reden, um keine Begehrlichkeiten in ihm zu wecken. Das Juwel gehörte ihr!
Zeus lachte. „Pass auf, dass du dir an dieser Beute nicht die Zähne ausbeißt! Du solltest sie nicht unterschätzen!“
„Das werde ich nicht, Liebling! Keine Angst!“
„Angst um eine Frau? Was für ein absurder Gedanke!“ Zeus grinste.
„Nun denn, hier haben wir nichts zu gewinnen! Das nächste Ziel ist der Herrschaftsbereich der Festung der Sandarken!“
„Und unser letztes, soweit es die Suche nach deiner Beute betrifft!“, ergänzte Zeus.
Reja nickte, wurde aber zunehmend unwillig. Welch Schmach, nicht selbst bestimmen zu können! Sie musste sich zusammennehmen, um ihren Unmut nicht deutlich zu zeigen. Der jahrzehntelange Verlust ihrer Macht ließ sie ihre ehemalige Raffinesse einbüßen. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie immer noch Erfolg haben konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit näherten sie sich Mesawa. Schon aus erstaunlicher Distanz konnten die Sensoren des Gleiters eine Gruppe Menschen, die auf einer Anhöhe standen, ausmachen. Sie befanden sich westlich von einem Pfahl, an dem eine geschundene Kreatur hing.
„Kannst du näher herangehen? Ich möchte die Gesichter sehen!“
Das Bild wurde größer, aber nicht in gleichem Maße schärfer. Dennoch war Reja sich schließlich sicher, in der hockenden Gestalt im Zentrum die Gesuchte gefunden zu haben. In dem Maße, in dem die Distanz zum Ziel geringer wurde, wurde das Bild detailreicher, sodass letztlich keine Zweifel mehr blieben.
„Sie ist es“, sagte sie zu Zeus, scheinbar ganz ruhig, aber innerlich voller Vorfreude auf die Jagd.
„Also gut! Dann verwandle sie in ein Aschehäufchen, damit wir endlich weiter fliegen können!“
„Ich brauche sie lebend! Kannst du landen?“
Zeus seufzte. „Schnapp' sie dir und komm! Ich werde nicht ewig auf dich warten! Und nimm dir eine Rüstung.“
„Eine Pistole sollte genügen!“
„Die schützt dich nicht einmal gegen einen Stein!“
„Und sie hat irgendwie drei bewaffnete, gerüstete Männer besiegt“, gab Reja zu. „Also gut!“
Eine Wandnische öffnete sich und gab die Sicht auf einen mittelschweren Schutzanzug preis. Reja stand auf, ging auf die Ausnehmung zu und stellte sich mit dem Rücken zur Wand hinein. Der Anzug umhüllte sie automatisch, die Bein- und Armschienen schlossen sich und zuletzt senkte sich der Helm.
Als sie der Nische entstieg, wirkte sie überaus martialisch, gerüstet wie ein mittelalterlicher Ritter der Erde oder wie ein Roboterkrieger des alkanischen Zeitalters. Zeus war jedenfalls beeindruckt. Er landete den Sonnenwagen und öffnete die Bugtüre, Stufen senkten sich in eine üppig bewachsene Wiese. Nach den ersten unsicheren Schritten hatte sich Reja wieder an das Tragen eines Schutzanzuges gewöhnt; das war gar nicht einfach, aber erst einmal erlernt, vergaß man es auch nach Jahrzehnten nicht. Zeus beobachtete sie, wie sie die Stufen hinab schritt, beinahe elegant; dann schaltete er jene Außenbordmonitore ein, die ihm erlauben würden, die nun folgenden Szenen zu beobachten. Natürlich ließ Reja sich beliebig viel Zeit, als hätte er nicht verkündet in Eile zu sein! Die Rolle des Geschundenen war ohne Überraschung für ihn. Immerhin hatte er Kostral den Rat gegeben, solche Menschenscheuchen aufzustellen, um auf diese Weise möglichst unbehelligt zu bleiben, sodass sie in Ruhe ihren Forschungen nachkommen konnten.
Reja plauderte immer noch angeregt, als sich der Avatar meldete: „Ich wurde gerade von einem Satelliten informiert, dass wir in geraumer Zeit Besuch bekommen. Ein Sonnenwagen bewegt sich mit Höchstgeschwindigkeit auf uns zu. Derzeit befindet er sich über dem Wilahet-Meer.“
„Ein Sonnenwagen? Welcher Typ?“
„Typ Phoenix.“
„Hera?“
„Vielleicht. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Soll ich Kontakt aufnehmen?“
„Bloß nicht! Verdammt! Sie hatte mir doch versprochen auf Poseidons Fest zu erscheinen. Offenbar hat sie es damit nicht sehr eilig, wenn sie stattdessen ihrem Mann nachspionieren kann! Ich brauche eine Verbindung zu Reja!“
„Sie hat den Helmkommunikator ausgeschaltet!“
Zeus fluchte erstaunlich niveaulos. „Dann hat sie eben Pech gehabt. Ich hatte sie gewarnt. Ich habe keine Lust der eifersüchtigen Göre, die meine Frau ist, meine Beziehung zu Reja zu erklären. Oder die Existenz zweier gemeinsamer Kinder! Oder gar meine Pläne! Wir starten sofort! Richtung Askhauran!“
Die Tür schloss sich daraufhin, Zeus konnte auf den Außenmonitoren mitansehen, wie sich die Insektenbeine des Gleiters zurückzogen; dann nahm das Fluggerät Richtung Nordwest Geschwindigkeit auf und hielt wieder auf die Gipfel des düsteren Gebirgsmassivs zu.
***
Gjefren ging zur höchsten Erhebung des Hügels, dorthin, wo der Pfahl emporragte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, vielleicht wegen seines Geständnisses, wahrscheinlich aber, weil er offenbar der Einzige war, dessen Welt durch die Ereignisse der unmittelbaren Vergangenheit nicht aus den Fugen geraten war. Er hatte offenbar schon früher Umgang mit Dämonen und anderen magischen Wesen gehabt, während dies für die anderen einen neue Erfahrung war, in diesem Umfang selbst für Athaly. Und hatte die Hexe von Askhauran ihn nicht einen Gott geheißen? Jetzt, in der anbrechenden Nacht waren seine Haare allerdings nur mehr das: Haare – und kein Symbol von Fremdartigkeit und Macht. Die Aufmerksamkeit, die man ihm widmete nutzend, begann er zu sprechen:
„Hört mich an!“, rief er, „die Hexe ist fort, aber die Bedrohung ist nicht gebannt! Im Gegenteil! Salomene kann wiederkommen! Und sie hat bald mehr Macht denn je! Besondere Gefahr droht dir, Athaly. Ich möchte dich bitten, mit mir davon zu reiten, in die schützende Hülle der Nacht, so schnell wie nur möglich weg von Mesawa, denn, wenn du bei den Shwakara bleibst, sind auch sie in Gefahr! Ich würde zu ihnen reiten, um sie zu warnen, aber wir haben zu wenig Zeit! Deshalb muss ich euch bitten, dich Leron und euch …“. Er zeigte dabei auf Athalys Mutter, Aleia und Liara, die er alle nicht kannte, „ … zum Lager am Waldesrand zurück zu kehren und dann mit ihnen zu fliehen. Sobald ihr außerhalb des Bereiches seid, der durch diesen Pfahl markiert ist, seid ihr relativ sicher, denn hier endet der Machtbereich der Sandarken. So haben es die Götter des Achaischen Zeitalters bestimmt! Sie mag ihre Roboter ausschicken – und das wird sie wahrscheinlich tun, soweit ich sie kenne – und ich kenne sie sehr gut, denn bereits meine Eltern haben gegen sie gekämpft. Aber hier, bei diesem Pfahl, werden ihre Roboter halt machen. Seid ihr außerhalb dieses Bereiches, muss sie also selbst kommen, wenn sie euch Leid zufügen will. Und diese Mühe wird sie für euch nicht auf sich nehmen, nur für Athaly. Also glaube ich, dass ihr dann sicher seid.“
Er hielt kurz inne, sah sich jeden einzelnen an. Alle wirkten unglaublich erschöpft. Die Ältesten waren nicht mehr hier, hatten den Schauplatz schon vor Salomene verlassen. Aber die Anwesenden folgten seinen Ausführungen gebannt.
„Leron, sag ihnen, sag den Ältesten, dass die Shwakara auf dieser Ebene siedeln können, wenigstens in einigem Abstand von Mesawa. Das Unheil, das die Dörfer getroffen hat, ist gebannt. Es ging von Mesawa aus, im Virenlager wurde ein Tank leck und die gefährlichen Viren des Paieon wurden über die Ebene geweht. Ich habe inzwischen alle Neuzüchtungen vernichtet. Salomene würde Jahre brauchen, um Ähnliches zu kreieren, wenn es überhaupt möglich wäre, denn die Aufzeichnungen Paieons sind nicht mehr hier. Und Geduld ist keine ihrer hervorstechenden Eigenschaften.“
Diese Ausführungen überforderten die Zuhörerschaft, Gjefren achtete nicht mehr darauf, dass sie seine Bemerkungen verstehen konnten. Nur Athaly fragte schüchtern: „Viren?“
„Äh – Dämonen! Sie bringen Krankheiten und in diesem Fall Wahnsinn! Ich habe, wie gesagt, alle Dämonen vernichtet und sie kommen nicht wieder. Ihr könnt hier siedeln! Das ist die Zusammenfassung! Geht jetzt!“
Leron dachte gar nicht daran. „Wir sollen dich mit Athaly alleine lassen? Noch vor kurzer Zeit hat sie dich als Mörder ihres Vaters bezeichnet, als Magier unbestimmbaren Alters, als Bestie! Und hat gemeint, du wolltest sie umbringen! Und so jemandem sollen wir vertrauen?“
Das machte Gjefren sehr traurig. Nicht Leron, sondern Athaly antwortete er: „Der Tod deines Vaters tut mir unendlich leid! Aber ich habe nichts damit zu tun. Als er starb, war ich noch sehr jung. Ich bin genau so alt wie ich aussehe und habe Mesawa das erste Mal gesehen, nachdem wir uns getrennt hatten. Ich habe Mesawa geerbt. Wenn wir mehr Zeit haben, erzähle ich dir alles. Aber jetzt bin ich darauf angewiesen, dass du mir glaubst, dass ich nie vorhatte dich zu ermorden und auch deinem Vater nie etwas angetan habe.“
Gjefren wirkte nicht nur unglücklich, als er das sagte, sondern auch ein wenig verzweifelt. Athaly bemerkte das und auch die Aufrichtigkeit in seiner Stimme. Sie war sich jetzt sicher, dass er sie nicht belog, denn sie hatte schon früher erkannt, dass er als Lügner nichts taugte.
„Ich glaube dir, Gjefren. Aber ich kann deinem Plan nicht zustimmen, einfach weil du das Pferd hast und damit schneller beim Lager der Shwakara sein kannst als Leron zu Fuß –zumindest solange es noch einigermaßen hell ist.“
Athaly hatte für ihn allerhöchste Priorität, aber nicht für sich selbst. Sie hatte noch nie einen Funken von Egoismus gezeigt. Wie hatte er das bei seiner Planung unberücksichtigt lassen können?
„Dann reite ich jetzt zum Lager der Shwakara!“
„Du kannst ja gar nicht reiten!“, meinte Leron, „das übernehme ich!“ Und schon schwang er sich auf den Rücken des Pferdes und ritt los, viel schneller als dies Gjefren in der anbrechenden Dunkelheit gewagt hätte und verschmolz bald mit den Schemen der Dämmerung.
Jetzt konnten sie nichts anderes tun als warten. Athaly nutzte das, um ihm ihre Familie vorzustellen und auch Lerons Schwester. Danach setzten sie sich.
„Hättest du überhaupt gewusst, wo das Lager der Shwakara ist?“, fragte sie ihn.
Er nickte. „Ich bin euren Spuren gefolgt und habe die Shwakara eingeholt, als sie aus dem Wald traten. Sie müssen das Lager enorm rasch abgebrochen haben! Ich habe sie gefragt, wo du hin bist, aber sie wollten mir nicht antworten.“
„Sie wussten es selber nicht!“
„Ja. Sie hätten es mir aber ohnehin nicht verraten. Sie waren nicht gerade gut auf mich zu sprechen und haben mir mehr oder weniger die gleichen Dinge an den Kopf geworfen wie Leron. Ich habe dann nach weiteren Spuren gesucht, ohne welche zu finden.“ Er lachte. „Die Jäger deines Stammes hätten da keine Probleme gehabt. Jedenfalls bin ich dann einfach den Pfad entlang geritten, den ich gekommen war.“ Dann wurde er sehr ernst und meinte: „Es ist absurd; du schwebst in höchster Lebensgefahr und wir sitzen hier und plaudern!“
„Ich kann nicht fort, bevor ich nicht weiß, dass die Shwakara in Sicherheit sind. Wenn meine Abwesenheit sie schützt, werde ich mit dir fortgehen. Ich werde mich von meiner Mutter, meiner Schwester und Liara verabschieden und weggehen. Ohne lange Abschiedszeremonie, das verspreche ich dir.“ Bei diesen Worten nahm ihre Mutter sie wieder in die Arme und auch Aleia setzte sich ganz nah neben sie. „Es wird mir ganz bestimmt nicht leicht fallen, aber ich weiß, dass es ihnen auf dieser reichen Hochebene gut ergehen wird. Die Jäger werden erfolgreich sein, die paar Ziegen, die wir noch haben, werden sich vermehren, wir werden eine richtige Herde haben! Also, ich meine die Shwakara, mein Stamm. Ich werde dann nicht mehr da sein, aber man wird sehr gut ohne mich zurecht kommen. Und was alles hier wächst: Gewürzpflanzen, essbare Wurzeln, Knollen, Zwiebeln, alles ist im Überfluss vorhanden!“
Sie wäre lieber bei ihrem Stamm geblieben als mit ihm zu gehen, bemerkte Gjefren. Irgendwie war das ziemlich verständlich aber auch vernichtend. Er saß den anderen gegenüber und fühlte sich plötzlich sehr alleine und konnte fühlen was sie empfand. Denn auch er würde wohl seine Familie nicht wieder sehen, weder Nisaya noch seine anderen Geschwister, noch seine Eltern. Nicht einmal seinen Onkel Sarpedon. Denn wie sollte dieser ihn je finden? Er blickte zu den verschmorten Überresten seines Coms. Plötzlich erschien ihm seine ehemalige Abenteuerlust unverständlich. Er hatte doch alles gehabt! Und Athaly? Athaly glaubte ihm wohl immer noch nicht. Wie um diesen Gedanken zu bestätigen fragte sie:
„Woher weißt du eigentlich, wie alt du warst, als mein Vater starb?“
Er seufzte. „Als du weggerannt warst, habe ich Talira gefragt, was eigentlich damals geschehen ist, aber nicht wann. Genau weiß ich es also gar nicht. Davor hatte ich keine Ahnung, dass so etwas passiert ist und vor allem auch gar keinen Grund, zu glauben, dass etwas Schreckliches geschehen war. Ich habe Mesawa von meiner Mutter geerbt und sie ist der liebste Mensch, den du dir vorstellen kannst!“
„Talira ist auch ein Dämon, nicht wahr?“
„In deinen Augen schon, aber sie tut nur, was man ihr befiehlt. Und Elri, meine Mutter, hat ihr ganz bestimmt nicht befohlen, jemanden umzubringen! Talira ist anders, sie ist eine Schöpfung fremder Wesenheiten, die uns grausam vorkommen.“ Er lachte freudlos. „Die grausam sind. Sie haben meine Großeltern ermordet und meine Mutter verkauft, die als Sklavin aufgewachsen ist.“
„Oh! Das tut mir sehr leid! Ich weiß von den Städten, in denen ich war und von Liara, wie schlimm die Sklaverei ist.“ Sie blickte zu Lerons Schwester. „Sie war nur ganz kurz Sklavin, wurde aber ganz schrecklich misshandelt.“ Liara nickte bedächtig, den Blick gesenkt.
„Meine Mutter war viele Jahre lang versklavt, bis mein Vater sie befreit hat. Ihre unerträglichste Zeit war die, die sie mit der Frau verbracht hat, die du als Salomene kennst. Ich glaube, das kannst du dir vorstellen!“
„Ja.“ Sie erinnerte sich an ihre eigene Gefangenschaft. Ihr schauderte.
„Und jetzt habe ich dieser Hexe so viel Macht überlassen.“
„Und du hast die Macht verloren! Und das ist meine Schuld!“
Er schüttelte den Kopf. „Ist es nicht. Mir liegt nichts an Macht. Deshalb bin ich nicht hierher gekommen. Mein Onkel hat Händel mit einem sehr bedeutenden Mann, der die krankmachenden Dämonen geschaffen hat und die Grauen Menschenaffen …“.
„Die Grauen Menschenaffen! Liara und ich sind einem begegnet …“
„Und ihr lebt noch!“, staunte Gjefren.
„Es war ein sehr altes Exemplar und ich hatte eine Armbrust. Aber trotzdem. Wir hatten viel Glück! Egal. Erzähl weiter!“
„Nun, dieser Mann war lange in der Festung, um irgendein Unheil zu stiften. Meine Eltern haben gegen ihn gekämpft und ihn schließlich besiegt. Aber, was der Mann vorhatte, blieb sein Geheimnis. Ich wollte deshalb nach Mesawa, um alle Aufzeichnungen über seine Tätigkeiten und Pläne an meinen Onkel weiterzugeben. Das sollte eine Überraschung sein!“ Er blickte resigniert und zuckte mit den Schultern. „Na ja, hat nicht geklappt!“ Dass dies nicht die ganze Wahrheit war, wusste Gjefren, so weit kannte er sich. Er hatte auch deshalb von Mesawa Besitz ergriffen, weil er das – als Eigner des Ringschlüssels – tun konnte und niemand anderes dazu in der Lage war.
Gjefren wirkte auf Athaly völlig mutlos und so fragte sie ihn: „Hast du die Aufzeichnungen nicht bekommen?“
„Doch! Ich habe sie sogar bei mir!“
„Wo liegt dann das Problem?“
„Da in der Wiese!“ Er zeigte auf das geschmolzene und inzwischen wieder erstarrte Metall. „Ich kann nicht mehr zurück. Nicht zu meinem Onkel, nicht zu meinen Eltern. Das scheibenförmige Gerät hätte mir den Weg zu ihnen gewiesen. Ich habe all meine Macht und alle Waffen verloren, bis auf das Schwert in der Sattelscheide. Oh! Das hat jetzt Leron. Egal, ich kann sowieso nicht damit umgehen. Alles, was mir geblieben ist, sind die Aufzeichnungen, die ihr Ziel nie erreichen werden und die Geschichten meiner Eltern.“ Als er Letzteres erwähnte, zuckte er merklich zusammen und riss die Augen weit auf. Athaly sah ihn verwundert an.
„Die Geschichten meiner Eltern! Natürlich! Ich weiß jetzt, wo ich hin muss!“ Plötzlich wirkte er auf Athaly nicht mehr wie ein zusammengefallener Brotteig sondern richtig aufgeregt. Er erklärte ihr aber nichts, blickte nur vor sich hin und dachte über irgendetwas nach. So verharrten sie in Schweigen bis sie Geräusche hörten; ein Pferd näherte sich und langsam schälten sich seine Konturen und die des Reiters aus der Finsternis. Zwar war es noch zu früh als dass Salomene hätte zurück sein können, aber dennoch war Gjefren erleichtert als er Leron erkannte. Das Pferd bewegte sich in weitem Bogen um den Pfahl herum und blieb dann stehen. Leron sprang von seinem Reittier.
„Igitt!“
„Was ist passiert?“, fragte Athalys Mutter.
„Ich bin in Erbrochenes gestiegen!“ Er schüttelte angewidert den linken Fuß.
„Tschuldigung!“, erklang es unisono von Liara und Aleia.
Leron ging auf die kleine Gruppe zu und brachte eine Duftwolke von fraglicher Aromaqualität mit.
„Die Shwakara werden gleich da sein.“
„Den Göttern sei Dank!“, meinte Athaly.
„Alle bis auf Derkon und Merwal. Wir wissen nicht, wo sie hin sind, sie sind nicht zum Lager zurückgekehrt und anscheinend auch nicht hierher“, ergänzte er. Er blickte um sich. Athaly schüttelte den Kopf.
„Sollen wir auf sie warten?“, fragte Athaly.
„Was würde Merwal vorschlagen, ginge es nicht um ihn?“ Leron kannte Merwal zwar erst sehr kurz, konnte ihn aber bereits nicht ausstehen.
„Das ist eindeutig! Nicht warten!“, meinte Athaly bedauernd.
„Warten wäre zu gefährlich!“, ergänzte Gjefren.
„Wir werden allerdings nicht bei den Shwakara bleiben“, fuhr Leron dann fort. Er wandte sich Gjefren zu. „Du kennst die Hexe offenbar besser als wir und kannst dich auch trefflicher in sie hineindenken. Besteht deiner Meinung nach die Möglichkeit, dass ihr die Festung der Monster besser gefällt als ihr Schloss in Askhauran? Könnte es sein, dass sie Askhauran vergisst?“
„Hineindenken? In die Hexe? Ich?“ Gjefren wirkte ein wenig beleidigt, aber dann zuckte er mit den Schultern. „Durchaus möglich, aber keineswegs sicher. Mesawa bietet ihr viel mehr Macht und das zählt für sie. Möglicherweise war Askhauran für sie nicht viel mehr als ein Gefängnis. Vielleicht hat man ihr die Rückreise zu ihrem Planeten – äh, ich meine, in eine andere Gegend, aus der sie kommt – nicht gewährt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bei den Göttern sehr beliebt war, sie ist nicht gerade ein Sympathieträgertyp. Dann ist es für sie sicherlich sehr verlockend heimzukehren zu einer Machtfülle, die wir uns gar nicht vorstellen können. Aber das ist reine Spekulation! Sie wird nicht aufhören, Athaly zu hassen, deshalb bleibt sie in Gefahr.“
„Und jeder, der mich begleitet, ist es ebenso! Vielleicht sollte ich alleine weggehen.“
„Kommt nicht infrage!“, riefen Gjefren und Leron gleichzeitig.
„Begleite uns!“ ergänzte Leron.
„Tu‘s nicht Athaly! Die Hexe muss nur seinem Geruch folgen und schon hat sie dich!“, meinte Gjefren gehässig, vielleicht als Retourkutsche für die Bemerkung, er könne sich in Salomene besonders gut hineindenken.
Leron hob zwar die Augenbrauen, ignorierte ihn aber sonst. „Wir wollen nach Askhauran, solange die Hexe weg ist! Wir wollen für unser Land und unseren Besitz kämpfen. Die Chancen stehen so gut wie noch nie seit sie die Macht ergriffen hat!“
„Na ja!“, meinte Gjefren zweifelnd.
„Ich komme mit euch!“ Liara hatte schon den ganzen Abend darüber nachgedacht, dass sie nach allem, was geschehen war, nicht mehr bei den Shwakara bleiben wollte.
„Schwester, du bist uns herzlich willkommen!“, freute sich Leron. „Und du, Athaly?“
Die Angesprochene wurde dadurch abgelenkt, dass nun die Shwakara ankamen, erstaunlich leise für eine so große Gruppe. Ihre Silhouetten waren deutlich sichtbar, denn der Vollmond ging gerade im Osten auf und es war eine sehr klare Nacht, Sterne blinkten am Himmel in großer Zahl und auch die Galaxis würde bald zu sehen sein. Gjefren war über die Vielzahl der Lichter wenig begeistert, denn er dachte daran, dass sie der Hexe die Orientierung erleichtern würden.
Athaly schüttelte den Kopf. „Ich würde euch gefährden. Es wäre am besten ich ginge alleine oder - wenn ihr mir das verwehrt - mit nur einem Begleiter.“ Sie blickte zu Gjefren.
„Und was, wenn er dich immer noch ermorden will?“, wollte Leron wissen.
„Oh, wenn es so ist, dann bitte erst morgen, heute bin ich für so was schon viel zu erschöpft!“
„Weißt du“, erklärte ihr Gjefren, „ich bin sehr einfach gestrickt. Wenn ich jemanden liebe, will ich ihn nicht umbringen. Das schließt einander aus. Bei mir ist das jedenfalls so.“
„Dann werde ich mit Gjefren gehen.“
„Dann soll es so geschehen!“, stellte Gjefren fest, „für eine lange Diskussion ist wirklich keine Zeit mehr, Salomene wird bald bei Mesawa angelangt sein und dann sollten wir uns besser nicht mehr hier aufhalten!“ Gjefren war klar, dass sie sich eigentlich nicht für, sondern gegen ihn entschieden hatte: Ihre Fürsorge für und Angst um Leron und seine Bande waren einfach größer, sie wollte sie nicht in Gefahr bringen. Jedenfalls konnte man das so sehen.
Leron gab nach, offenbar unwillig aber immerhin. „Genügt euch ein Pferd? Da Liara mit uns kommt, würden wir für sie eines benötigen.“
Athaly und Gjefren blickten einander an und nickten dann zugleich.
„Liara kommt mit euch?“ Inzwischen hatten sich die Brüder Welir und Wolof der kleinen Gruppe genähert und das Gespräch belauscht. „Dann folgen auch wir euch“, meinte Welir.
Leron blickte sie zweifelnd an. „Wir haben kein Pferd mehr übrig.“
„Wir werden dann eben im Laufschritt hinterher kommen. Über lange Distanzen sind die Jäger der Shwakara genauso schnell wie ein Pferd und eurer Fährte zu folgen ist bestimmt auch keine besondere Herausforderung.“
„Und gelegentlich kann einer von ihnen bei mir mitreiten“, meinte Ila fröhlich. Die Aussicht, dass ihre Nebenbuhlerin bald weit weg sein würde, hatte die dunklen Wolken, die ihr Gemüt eingehüllt hatten, schlagartig zum Verschwinden gebracht.
Athaly drückte sich noch einmal an ihre Mutter und Liara, dann verabschiedete sie sich von Leron und seiner Gruppe – Ila lächelte sie das erste Mal an – und auch von Wolof und Welir. Dann ging sie gemeinsam mit Gjefren zu dessen Pferd.
„Passt auf!“, rief ihnen Leron nach.
„Ach ja! Danke!“ schrie Gjefren zurück. Sie näherten sich dem Pferd nun in einem kleinen Bogen in der Hoffnung, nicht in das Erbrochene zu steigen, und führten es dann am Zügel ein wenig nach vorne, bevor sie aufstiegen; Athaly saß schließlich hinter Gjefren und hielt sich an seinem Rücken an. Ihren Kopf lehnte sie ebenfalls an ihn, denn sie hatte keine Kräfte mehr. Dann ritten sie leise und vorsichtig in die Nacht, den anderen erschien es so, als würden sie in die riesig erscheinende, silbrige Scheibe des Mondes eintauchen.
Nach einer Weile merkte Athaly, dass sie zwar überaus erschöpft war, aber gar nicht müde. Es gab soviel, worüber man nachdenken konnte.
„Was mich interessieren würde: liebst du mich wirklich?“
„Ja, Athaly! Ganz, ganz wirklich!“
„Das ist gut!“ Sie schmiegte sich enger an ihn.
„Wie sehr habe ich erst bemerkt, als ich von dir getrennt war. Trotz meiner Liebe zu dir habe ich dich gehen lassen, um an die Aufzeichnungen zu kommen. Ich frage mich langsam, ob es wirklich so wichtig ist, sich in den Streit der Götter einzumischen:“
„Salomene hat dich einen Gott geheißen.“
„Sie spinnt!“
„Dann bist du also keiner?“
„Zweifelst du daran?“
„Als ich gesehen habe, dass du über die ehernen Riesen und über den Dämon Talira befehligst; als du zu dem Gehäuteten gesagt hast: ‚Komm herunter!‘ – und er hat es wirklich getan! Da …“
„So wie du ohne das Herz von Galahr nur ein ganz gewöhnlicher Mensch bist, bin ich ohne den Ringschlüssel nichts anderes! Ganz bestimmt bin ich kein Gott, mach dir da keine Sorgen. Willst du was essen? Ich habe Nahrungsriegel dabei, einfach köstlich geschmacklos! Und abgestandenes Wasser hätte ich auch noch zu bieten.“
„Ich habe getrunken, als ich unter dem Wasserfall gestanden bin, der mich gesäubert hat. Eigentlich war es kein Wasserfall, bloß Regen. Regen in einem Zimmer!“ Sie lachte leise. „Merkwürdige Idee! Die Gründer von Mesawa waren schon seltsame Kreaturen. Talira wollte das, weißt du? Dass ich – sie nannte es: ‚dusche‘.“ Und nach einer Weile ergänzte sie: „Aber Hunger hätte ich schon!“
„Aus unserem gemeinsamen Essen ist ja leider nichts geworden!“ Er seufzte. „Das wird sich jetzt Salomene in den Rachen schieben, was ich ihr überhaupt nicht gönne!“ Er holte zwei madenbleiche Riegel hervor und gab einen davon Athaly. Den anderen verputzte er selbst, ohne Genuss.
„Talira hat mich ziemlich erschreckt und das Monster auf dem Pfahl auch. Als es zu mir gesagt hat: ‚Ich habe dich schon erwartet!‘ Hu! Das war grausig!“
„Das war natürlich Taliras Idee, nicht meine! Sie hat schon eine komische Art, Befehle zu befolgen.“
Dann schwiegen sie eine Weile, bis Gjefren nach vorne zeigte und schrie: „Da! Schau!“
Sie lugte über seine Schulter und sah einen Stern dicht neben der silbrigen Mondscheibe, der immer größer wurde und immer heller. Er schien genau auf sie zuzuhalten. Athaly wurde ganz mulmig.
„Kommt sie jetzt schon? Ist das die Hexe?“
„Hoffentlich nicht! Die Richtung stimmt nicht, sie müsste von Westen her erscheinen.“
Als der Stern näher kam, erkannten sie, dass er doch nicht genau auf sie zuhielt. Jetzt aus der Nähe erblickten sie nicht nur eine Lichtquelle sondern deren viele. Das Ding flog mit rasendem Tempo dicht über die Vegetation und beleuchtete die Welt vor sich. Schließlich war sich Gjefren sicher.
„Es fliegt zur Festung Mesawa! Ich glaube wir sollten uns in nächster Zeit nur in der Nacht weiterbewegen und am Tag einen Unterschlupf suchen und ruhen. Vielleicht bekommt sie Hilfe beim Suchen!“
***
Reja wurde zunehmend ungehalten. Der glitschige Roboter neben ihr ließ sich einfach nicht dazu bewegen schneller, zu gehen! Hier im Wald war es nicht nur dunkel sondern auch uneben. Also leuchteten ihre Helmscheinwerfer und sie hatte das Flugaggregat aktiviert und schwebte nun etwa einen Fuß über dem Boden. Lichterpaare tauchten hier und da auf, blickten sie misstrauisch an und verschwanden wieder. Gelegentlich geriet eine Fledermaus in den Lichtkegel oder sogar eine große Eule; nachtaktive Insekten hielten direkt auf sie zu und umkreisten die Strahlenquelle. Das Ganze wirkte auf Reja wie eine Horrorshow; sie liebte die Zivilisation und hatte für Nachtspaziergänge im Wald und in Begleitung eines Anatomielehrbuchroboters wenig übrig. Was ihr aber vor allem anderen auf die Nerven ging war die Unsicherheit. Hatte der olympische Gott sie belogen und betrogen? Eigentlich zweifelte sie nicht daran; niemand gab die Festung Mesawa für diese dürre Wüstenpflanze auf. Außerdem war das einfach zu erwarten; man fand heute kaum mehr ehrliche Menschen! So kreisten ihre Gedanken um die Frage, wie, sie hinters Licht geführt worden war. Der Ring am Finger des Roboters war unzweifelhaft ihrer und damit gewiss ein Ringschlüssel. Sie war in der Lage gewesen zu überprüfen, ob er mit Mesawa in Verbindung stand und hatte die Macht des Olympiers über die Kreatur neben ihr gesehen. Sie hatte den bindenden Befehl vernommen und danach sein Kommunikationsgerät vernichtet. Es war sicher sein einziges gewesen, er konnte also nicht mehr Kontakt zur Festung aufnehmen. Was blieb ihm sonst? Rauchzeichen waren in der Dunkelheit wohl kaum möglich. Lichtpulse? Hatte er dem Roboter durch Fingerbewegungen - oder so - eine zusätzliche Botschaft vermittelt, die seinen Befehl wieder aufhob? Verdammt, was hatte sie übersehen? Es ärgerte sie maßlos, dass sie sich so langsam bewegten, dass der Gott ihr tatsächlich entkommen könnte, wenn sie schließlich mit leeren Händen vor den Mauern der trutzigen Festung stand, obwohl sie für den Rückflug zum dunklen Pfahl nicht sehr lange benötigen würde. Aber sie hätte wohl auch kaum die nötige Zeit, ihn zu verfolgen. Der Energievorrat des Kampfanzugs war begrenzt und der Rückweg nach Askhauran weit. Und ohne die Angriffs- und Verteidigungsmittel der Rüstung für sie überaus gefährlich, denn sie war bei ihren Untertanen nicht gerade sehr beliebt, das war ihr klar.
Und wenn sie wirklich die Macht über die Burg der Sandarken erlangte? Wenn sie ein interstellares Raumschiff endlich, endlich wieder zu ihrer Verfügung hätte? Undenkbar, dass sie dann auch nur einen Augenblick länger auf diesem Provinzbrocken verharren würde! Egal wie Zeus' Pläne lauteten. Das kümmerte sie dann nicht mehr, denn auch er war bloß ein völlig unbedeutender Hinterweltsgott.
Und da draußen gab es jemanden, der ihr Unsägliches zugefügt hatte: ihren Cousin Ephram, diesen Kretin! Seine Entscheidung, sie kalt zu stellen, sie fallen zu lassen wie eine angebissene Frucht mit halber, ekliger Made darin; sie auszuspucken wie den Bissen mit der anderen Madenhälfte; die würde ihm noch sehr, sehr leid tun! Fast zwei Jahrzehnte der Verbannung! Ihre Rache würde fürchterlich sein!
Die wandernden Schatten der Baumriesen irritierten sie, schlugen sich auf ihr Gemüt. Und doch gab es da, weit hinten in den wirren Bewegungen eine Konstante, eine … Mauer? War sie endlich am Ziel?
„Los schneller, du Haufen aus rostigem Metall und sabbrigem Kunststoff!“
Der Roboter ignorierte sie einfach. Das konnte sie nicht ertragen.
„Ich hasse es, wenn man mich nicht zur Kenntnis nimmt! Soll ich dich ein bisschen rösten?“
„Das ändert nichts daran, dass ich mich langsam weiterbewege, wie befohlen. Allenfalls wird dein Ring dabei zerstört. Aber bitte. Wie du willst.“
Sie stieß einen spitzen Schrei aus, um ihre Frustration auszudrücken. Das nutzte auch nichts, aber es erleichterte. Das Spiel der Baumschatten wurde noch verwirrender, sodass sie kurz sogar das Gefühl hatte, sie verlöre die Orientierung und die Herrschaft über ihre Sinne. Aber dann wurde ihr klar, dass es sich nicht um eine Halluzination handelte.
„Verdammt, was ist das?“
„Seit geraumer Zeit melden die Sensoren Mesawas das Eindringen eines Gleiters in den Luftraum, über den die Festung gebietet.“
„Und das sagst du mir erst jetzt?“
„Warum hätte ich es dir erzählen sollen?“
War Zeus zurückgekehrt? Hatte er erkannt, wie dringend er sie brauchte? Gleichgültig! Sie bedurfte seiner gerade jetzt überhaupt nicht, denn nun war sie sich sicher, dass das da vorne der Wall der Feste war, das ersehnte Ziel! Sie hatte nicht vor, Mesawa zu teilen. Es gehörte ihr alleine! War sie andererseits betrogen worden, wäre er für ihre Rache möglicherweise von Vorteil. Es war dies der Augenblick, an dem sie sich daran erinnerte, dass der Helm über ein Com verfügte. In den Jahren ohne Technik hatte sie einiges vergessen! Sie schaltete es ein.
„Zeus! Bist du das?“
Eine Weile antwortete niemand und die Festung kam näher.
„Und du? Bist du Zeus' Liebchen?“, meldete sich eine Frauenstimme, in der eine Stimmung mitschwang, die ganz bestimmt nicht Freundlichkeit war. Inzwischen stand der Gleiter unheilvoll über den Baumriesen, nur zwanzig Manneslängen entfernt, Lichtfinger tanzten in alle Richtungen, bevor sie schließlich ein gemeinsames Ziel fanden: sie, Reja. Innerlich verfluchte sie den Roboter, der sich selbst in dieser bedrohlichen Situation nicht antreiben ließ. Aber jetzt war sie bald da, sie musste auf Zeit spielen.
„Wer bist du?“
„Kannst du das nicht erraten? Hat mein Mann nie von mir gesprochen?“
Instinktiv wollte sie leugnen, dass sie ihn überhaupt kannte, aber sie hatte ihn mit Namen genannt. Diese Option blieb ihr also verwehrt!
„Hera? Nun, doch! Nur das Beste! Freut mich, dich endlich kennen zu lernen! Wie wäre es, wenn du landest, und wir uns ein wenig unterhalten?“
„Du willst, dass ich dir entgegentrete? Natürlich ohne Kampfanzug! Richtig?“
„Ja, genau! Mir kannst du trauen!“ Inzwischen waren sie endlich an der Mauer angekommen und während Heras Gelächter in ihrem Helmlautsprecher schallte, zischte Reja: „Los, gib mir endlich den Ring!“ Der Roboter streifte ihn sich tatsächlich vom Finger und reichte ihn ihr. Rasch schob sie ihn auf ihren Ringfinger und unterbrach die Kommunikation mit Hera. „So! Und jetzt puste sie vom Himmel!“
„Ohne Vorwarnung und ohne einen aggressiven Akt von ihrer Seite darf ich die Götter nicht angreifen. So ist es in den Statuten festgeschrieben!“
Reja schrie wutentbrannt auf. Sie wusste, wie sie an Heras Stelle reagieren würde und das veranlasste sie zu äußerster Eile. „Dann stelle dich vor mich und öffne das Tor!“ Sie schaltete das Com wieder ein, gerade rechtzeitig, um einen Kommentar von Hera mitzubekommen.
„Ich habe eine bessere Idee: ich verbrenne dich mit einem Plasmaimpuls, dem dein Kampfanzug nicht gewachsen ist!“. Den Worten folgten unmittelbar Taten: eine blaue Lichtkugel löste sich vom Schiff, zerschnitt mühelos einen mächtigen Baumstamm, der im Hinunterfallen in Flammen aufging und traf – da sie sich genau hinter den riesigen Roboter gestellt hatte – diesen. Das pseudoorganische Material warf sofort Blasen und verschmorte, Metall glühte. Ein hässliches, kreischendes Geräusch erschallte in einer Lautstärke, die schmerzhaft war, ja beinahe unerträglich, der Boden vibrierte. Plötzlich war sie in eine Flammenhölle eingetaucht, alles war nur noch rot, bis auf die blauen Alarmlichter, die ihr zeigten, dass die Schutzsysteme des Anzugs beinahe überbeansprucht wurden. Eine gesprochene Warnung ertönte, dass die Systeme vor dem Zusammenbruch stünden. Offenbar war das tatsächlich der Fall, denn sie spürte peinvolle Hitze. Obwohl sie sich nur wenig bewegt hatte, streifte ein zweiter Plasmaimpuls ihren Helm und die linke Schulter, brachte den lodernden Roboter zunächst zum Schwanken; schließlich fiel er. Sein linkes Knie mochte geschmolzen sein, er knickte dort richtiggehend ein und stürzte zur Seite. Die Alarmsysteme des Schutzanzugs waren verstummt; überbelastet oder zerstört. Und nicht nur diese. Sie spürte die linke Gesichtshälfte nicht mehr, war mit Sicherheit schwer verwundet! Unter Aufbieten ihrer letzten Kräfte warf sie sich durch das nun bereits teilweise offene Tor, ließ sich im Gang fallen und atmete schwer mit ihren verletzten Lungen; ohne Zweifel waren viele Alveolen durch die eingeatmete heiße Luft verbrannt. Das Tor war noch offen und sie harrte auf den letzten, sicherlich tödlichen Plasmaimpuls, bevor sie schließlich in Ohnmacht fiel.
Inzwischen aber hatte sich Talira in der Kommandokapsel des fremden Gleiters visualisiert.
„Jeder weitere Angriff auf diese Frau wird als Vorgehen gegen Mesawa gewertet. Ich habe dann nach den Statuten das Recht zur Verteidigung. Die Festung verfügt über ähnliche Waffensysteme wie dein Gleiter; allerdings sind es erheblich mehr!“
Hera fluchte. „Warum? Warum schützt du diese Sterbliche? Lebt die Frau überhaupt noch?“
„Sie ist die Herrin von Mesawa! Sie hat mir den Angriff befohlen und nur die alten Statuten verhindern ihn. Die erste aggressive Tätigkeit nach dieser Warnung aktiviert das Verteidigungsarsenal, dem dein Sonnenwagen nicht gewachsen ist. Überlege dir also gut, was du tust!“
„Dann beantworte mir meine zweite Frage!“
„Ob sie noch lebt? Die Herrin hat mich nicht zu einer Antwort autorisiert, du wirst also keine von mir erhalten. Verlasse jetzt Mesawas Luftraum, kümmere dich um dein Leben, nicht um ihres!“ Talira verschwand.
Heras Leben war ihr sogar sehr lieb, also folgte sie zähneknirschend der Aufforderung, nicht ohne noch einen letzten Blick auf die Monitore zu werfen, die den Schauplatz der Zerstörung zeigten. Wahrscheinlich war die Sterbliche ohnehin bereits tot oder würde es zumindest bald sein. Wie war sie bloß die Herrin von Mesawa geworden? Egal, das spielte jetzt keine Rolle mehr! Kein Schutzanzug konnte der geballten Energie eines solchen Plasmaimpulses widerstehen. Ja, sie konnte davon ausgehen, dass sie ihre Ansprüche auf ihren Gemahl erfolgreich verteidigt hatte! Und nun war es an der Zeit, zu Poseidons Feier zu erscheinen. Sie hatte nicht die Hoffnung vor ihm einzutreffen, also würde sie die Zerknirschte spielen müssen. Aber das war erträglich, während es unerträglich gewesen wäre, ihrer Eifersucht nicht nachzugeben.
***
„Wo seid ihr?“, schrie sie zum hundertsten Mal. „Wo bleibt ihr?“ Sie war schon so heiser, dass keiner, der weiter weg war als der nächste Hügel, in der Lage wäre sie zu hören. Wut und Enttäuschung wechselten sich ab, der Schmerz aber blieb die ganze Zeit. Eine Woche! Seit einer Woche hatte man sie im Stich gelassen. Zuerst abgeschossen und dann kam niemand sie zu retten! Wo blieb Triton? Oder irgendeine Nereide! ‚Sie haben mich vergessen!‘, dachte sie, ‚einfach so.‘ Ok, sie hatte sich nicht an die Regeln gehalten, hatte einen Sonnenwagen entführt und ein bisschen damit spioniert. Aber war das ein Grund, sich überhaupt nicht mehr um sie zu kümmern? Was war mit ihrem Onkel? Der musste jetzt natürlich von Poseidons Meeresstadt fernbleiben, jetzt, wo alle Olympier sich dort aufhielten. Ob die Feier noch im Gange war? So lange? Sie seufzte und weinte ein wenig. Sie konnte sich vor Schmerz kaum rühren, dennoch musste sie in die Tasche neben sich greifen und die Wasserflasche herausnehmen. Die letzte. Jede verdammte Bewegung tat weh! Da saß sie auf dem kahlen Hügel und trank ein wenig Wasser und erinnerte sich. Zeit dazu hatte sie ja jede Menge.
So sehr sie ihr Gedächtnis auch bemühte; die Ereignisse rund um den eigentlichen Absturz waren ihrem Geist entfleucht und würden es wohl auch auf Dauer bleiben. Sie hatte gehört, dass so etwas bei einem traumatischen Erlebnis geschehen konnte. Beim Aufprall hatte sie offenbar das Bewusstsein verloren. Als sie aufwachte, lag sie in einer Blutlache, die von einem Cut seitlich an ihrer Stirn herrührte. Sie spürte einen brutalen, pochenden Schmerz in ihrer Schulter. Da war sicherlich etwas gebrochen. Ein paar Rippen schienen ebenfalls nachgegeben zu haben. Jedenfalls spürte sie bei jedem Atemzug ein sehr peinvolles Stechen. Um die Seite zu entlasten, rollte sie sich auf den Rücken, was höllisch wehtat. Dann wartete sie mindestens einen Tag lang darauf, dass jemand käme und sie rettete; sie behutsam ins nächste Spital brächte, falls es so etwas hier überhaupt gab. Aber es kam niemand. Hunger und vor allem Durst begannen sich bemerkbar zu machen. Sie würde sich bewegen müssen und zwar bald! Wo der Notproviant gelagert war, wusste sie; auch wo der Aufenthaltsort der Arzneien war, war ihr bekannt. Sie würde Schmerzmittel brauchen und zwar jede Menge. Was sie noch daran hinderte, ihre Vorstellungen in die Tat umzusetzen, war die Angst. Jetzt war der Schmerz einigermaßen erträglich, aber das würde nicht mehr so bleiben, sobald sie sich bewegte. Schließlich siegten Durst und die Panik davor, auf ewig vergessen zu bleiben. Sie musste sich irgendwie bemerkbar machen. Erstmals öffnete sie die Augen für längere Zeit und sah sich um. Es dämmerte gerade, war also noch ziemlich dunkel. Das Licht fand seinen Weg durch die offene Türe. Genau genommen war da nur die Öffnung, die Türe fehlte. Sie musste sich beim Aufprall aus der Verankerung gerissen haben. Gerettet hatte sie wahrscheinlich der Schalensitz und die Tatsache, dass sie einen Hang hinab gerutscht waren, statt einfach frontal auf den Boden zu knallen. Zweiteres erkannte sie aber erst später. Der hervorragend gefederte Sitz hatte der mechanischen Beanspruchung schließlich nachgegeben, war zur Seite gefallen und dabei war sie herausgeschleudert worden und mit dem Kopf gegen die Wand gekracht. Daher die üble Verletzung an der Stirn. Die übrigen Blessuren musste sie sich bereits vorher geholt haben, beim Aufprall des Sessels am Boden.
Mit schwacher Stimme rief sie nach dem Avatar in der Hoffnung, sie könne Kontakt zu Poseidons Stadt herstellen. Niemand meldete sich und es gab auch keine Hinweise darauf, dass irgendetwas in dieser verbogenen Blechschüssel noch funktionierte. Schließlich robbte sie auf Medikamente und Nahrungsmittel zu – zuerst unter Schmerzen, dann unter Qualen. Immer wieder musste sie pausieren. Sie konnte nur den rechten Arm gebrauchen, um sich etwas vom Boden zu erheben. Der Untergrund war rau und sie hatte ja nur einen Bikini an, wollte sich weitere Verletzungen ersparen, selbst wenn es nur Aufschürfungen waren. Sie schob sich mit beiden Beinen nach vorne, etwas hinauf, denn der Gleiter lag schräg. Da war eine spiegelnde Fläche und daher sah sie das gewaltige Hämatom um ihren linken Jochbogen, fast schwarz und ziemlich entstellend. Ob sie wohl so hässlich bleiben würde? Kurz wurde ihr schlecht. Dann kroch sie weiter. Weit war es ja eigentlich nicht, denn der Sonnenwagen war nicht sehr groß. Sie brauchte dennoch eine Ewigkeit. Zum Glück waren Medikamente und Notration nebeneinander verstaut, das war sozusagen die gute Nachricht. Die schlechte war, dass sie sich aufrichten musste, um an die Sachen heranzukommen. Als sie es versuchte, fühlte es sich so an, als würde sie seitlich aufgespießt. Sie schrie und musste ihre Bemühungen mehrmals unterbrechen. Schließlich hatte sie sich mit dem Rücken an der Wand angelehnt so weit erhoben, dass sie mit ihrem guten Arm die Schiebeläden erreichte und nach einer weiteren Ewigkeit so viel Kraft gesammelt, dass sie sie mit einem leichten Druck öffnen konnte.
Sie zog eine von vier Wasserflaschen heraus und trank gierig. Als nächstes griff sie zur Medikamententasche und ließ sich wieder auf den schrägen Fußboden gleiten. Sie nahm eine seitliche Sitzposition ein, in der die Schmerzen nicht allzu unerträglich waren. Dann wühlte sie in der Tasche. Die Namen der Arzneien sagten ihr nichts, also musste sie Begleittexte lesen. Bald hatte sie etwas Geeignetes gefunden, ein ziemlich starkes Schmerzmittel. Sie nahm zwei gelbe Tabletten und schluckte sie mit ein bisschen Wasser hinunter. Dann wartete sie, völlig erschöpft. Als die Wirkung schließlich eintrat, war sie erstaunlich. Sie spürte zwar noch ein dumpfes Pochen an der Seite und ein weiteres im Kopf, aber damit konnte sie leben. Sie wusste, dass sie sich dennoch schonen musste; schon ihre äußeren Verletzungen waren schwerwiegend und die inneren kannte sie ja gar nicht. Aber sie war jetzt dazu in der Lage, klar zu denken und Vorbereitungen zu treffen.
Die vier Wasserflaschen würden nicht lange anhalten, aber sie konnte sie wohl an der Toilette, wo sich auch ein Waschbecken befand, neu anfüllen. Wassersparen war angesagt; sie musste ihre Notdurft also draußen verrichten, was aber wohl sowieso der Fall war, denn das Wasserklosett stand - wie alles andere auch - schräg und war vermutlich ohnehin defekt. Sie musste herausfinden, ob es wohl in der Nähe ein Bächlein gab oder eine andere Wasserquelle. Und irgendwie musste sie auf sich aufmerksam machen. Aber viel bewegen durfte sie sich nicht.
Das war der Moment, wo ihr das Diadem wieder einfiel. Das silberne Schmuckstück mit dem schwarzen Stein sah eigentlich nicht aus wie eines, aber sie nannte es trotzdem so. Sie griff in ihr Haar und fand es noch an Ort und Stelle, was sie sehr überraschte, denn der Aufprall war alles andere als harmlos gewesen. Sie drückte es an ihre Kopfhaut und berührte den schwarzen Stein, um es zu aktivieren.
Augenblicklich sah sie das Schiebefach, in das sie ihre Drohnen gestopft hatte, von innen. Es war teilweise aufgegangen und schien ziemlich verbogen, aber die Dohlen waren nicht herausgeschleudert worden. Sie rief den Funktionsstatus auf. Die Vögel hatten den Aufprall besser überstanden als sie. Sie griff zur Wasserflasche und nahm noch einen Schluck, um den grässlichen, metallischen Blutgeschmack loszuwerden. Dann aktivierte sie ihren Schwarm. Nach wenigen Augenblicken flogen grauschwarze Vögel im Kommandoraum herum. Erleichtert schloss Nisaya die Augen und überließ sich den Eindrücken der Roboter. Sie sah sich selbst in einer Ecke hocken und ihr Zustand machte sie traurig. Sie war voller Blut, auch ihr Haar. Eine Träne rollte ihre Wange hinab. Warum hatte das fremde Flugschiff auf sie geschossen? Wer war die Frau mit dem kalten, hasserfüllten Blick?
Falsche Gedanken, die sie sich jetzt nicht leisten konnte! Sie musste zusehen, wie sie aus dieser unangenehmen und gefährlichen Situation herauskam! Sie schickte den Dohlenschwarm nach draußen ins Licht und ließ ihn hoch steigen, um einen Überblick über ihre Lage zu bekommen.
Es würde wohl ein sonniger Tag werden, kein Wölkchen stand am Himmel. Der Gleiter lag am Fuße eines dunklen, trichterförmigen Tales. Wäre er hier aufgeprallt, wäre sie jetzt tot. Aber eine Schneise der Verwüstung verriet ihr, dass der Sonnenwagen nahe einer Hügelspitze gelandet und dann einen Steilhang hinabgerutscht war, der zum Tal hin zunehmend flacher wurde. Die gesamte Vegetation hatte er dabei mitgenommen, vielfältiges Strauchwerk weiter oben und dann halbhohe Bäume. Die Hügelspitze selbst erwies sich als kahl, was sie aber vorher auch schon gewesen war.
Nisaya ließ ihre Drohnen höher steigen, sodass sie über den Trichter hinaus sehen konnte. Eine ihrer Dohlen landete auf einem Felsen auf der Hügelspitze, dem Beginn der Landebahn. Von hier konnte man auf eine unruhige Fläche mit meist sanften Erhebungen blicken. Ganz am Horizont, dort, wo eben die Sonne ihren täglichen Weg über den Himmel begann, sah sie die steilen Wände des Kraters oder Vulkanschlotes, sie wusste nicht was von beidem. Den hatte sie sich ansehen wollen als das andere Flugschiff ihre Aufmerksamkeit erregt hatte.
Ein paar Dohlen schickte sie höher und höher. Sie fand jedoch keine Anzeichen einer größeren menschlichen Siedlung in der Nähe. Da war niemand, den sie um Hilfe bitten konnte. Damals, am Anfang der Woche, hatte ihr das nicht allzu viel ausgemacht, rechnete sie doch stündlich mit der Ankunft eines Flugschiffs aus Poseidons Stadt. Am ersten Tag aß sie wenig, trank sie viel und bewegte sich so gut wie gar nicht mehr. Sie schickte ihre Dohlen so weit aus, dass sie an der Trichterbasis bald Schwierigkeiten hatte, Kontakt zu halten; da rief sie sie schnell wieder zurück. Sie musste hinauf auf den Hügel. Das war nur möglich, wenn sie den Steilhang umging. Aber es war notwendig Proviant und Medikamente und natürlich Wasser mitzunehmen. Wasser war schwer, sie war verletzt.
Am Abend befahl sie ihrem Schwarm zurückzukehren. In der Nacht ließ die Wirkung des Schmerzmittels nach. Sie litt immer noch sehr und konnte nicht schlafen. Zudem hatte sie das Gefühl, ihre Harnblase würde gleich platzen. Also musste sie aufstehen, was wiederum nur möglich war, wenn sie neuerdings Medikamente nahm. Wie lange würde ihr Tablettenvorrat halten? Als sie den Gleiter verließ, nahm sie alles Wichtige in einer weißen Tasche mit, so unsicher war sie, dass ihr der Rückweg möglich sein würde. Was, wenn ein Wirbel angebrochen war? Vorsichtig tastend – wenngleich die sternenklare Nacht sehr hell war – ging sie noch ein paar Schritte weiter. Das war ihr ganzer Ausflug, mehr wagte sie nicht. Sterne funkelten über ihr, selbst die Galaxie war zu sehen. Während sie hockte, hatte sie Zeit, sie zu bewundern. Es war nicht still, Tierlaute erfüllten die Dunkelheit. Ob wohl die Räuber der Nacht aktiv waren? Solche, die groß genug waren, um sie als Beute auszuwählen? Sie schauderte und beeilte sich wieder in die vermeintliche Sicherheit des Gleiters zu kommen, wobei sie aber die weiße Tasche, die auch in der Lade gelegen war, nicht vergaß. Später untersuchte sie deren Seitentaschen, wobei sie eine kleine Taschenlampe fand. Dann schlief sie wieder bis zum Morgengrauen.
Nachdem sie mit Schmerzen erwacht war, nahm sie zwei gelbe Pillen und trank einen Schluck Wasser nach. Erst als die Tabletten ihre Wirkung entfaltet hatten, aß sie auch einen Energieriegel. Heute würde sie versuchen, den Hügel zu erklimmen, vielleicht konnte sie dann ihre Drohnen weiter weg schicken. Inzwischen zehrte die Einsamkeit an ihrem Gemüt, sie brauchte dringend Kontakt zu Menschen oder wenigstens irgendein Erfolgserlebnis. Sie gab eine neue Wasserflasche in die Tasche, hängte sie sich um und begann dann langsam und vorsichtig den Hügel zu besteigen. Die ganze Zeit beobachtete sie sich selbst, ob sich der brennende Schmerz steigerte, ob die Gefahr bestand, dass er über ein erträgliches Ausmaß anstieg. Wenn sie Bedenken hatte, blieb sie stehen und ruhte sich aus. So kam es, dass sie für eine Strecke, für die sie im Vollbesitz von Gesundheit und Kräften allenfalls eine Viertelstunde gebraucht hätte, des ganzen Vormittags bedurfte. Bereits auf halbem Weg hatte sie ihre Drohnen losgeschickt, um für sie die beste Route zum Gipfel zu erkunden, denn hier war sie sich unsicher geworden, wie sie das steilste Stück umgehen sollte. Knorrige Stämme und Äste von Bäumen, die das Luftschiff bei der Landung gefällt hatte, lagen überall herum und behinderten ihr Fortkommen. Anfangs hatte auch die Morgenkälte eine Rolle gespielt, später dann ihr Entsetzen, sich schon wieder verletzt zu haben. Ihre Fußsohlen waren empfindlich und sie musste sich an einem scharfen Stein geschnitten haben, ohne es in ihrem sedierten, unempfindlichen Zustand gleich gemerkt zu haben. Sie musste also noch vorsichtiger sein!
Letztlich hatte sie es aber geschafft. Vorbei an einem letzten Baumstrunk, dann war sie auf der Anhöhe und konnte mit eigenen Augen sehen, was sie bislang nur mithilfe der Drohnen hatte schauen können. Wie eine erstarrte Familie stand eine Gruppe säulenförmiger Felsen auf der Hügelspitze und sie beschloss gleich sie zu adoptieren. Sie hieß ihre Dohlen, auf ihnen zu landen und setzte sich selbst an den Fuß des größten, mit Blickrichtung zum Krater, in dem die goldenen Aliens hausten, wenn sie Triton Glauben schenken durfte. Dann begann sie ihrem seit zwei Tagen ungestillten, quälenden Redebedürfnis nachzugeben und erzählte ihrer Steinfamilie ihr trauriges Schicksal. Die Geschichte war zum Steinerweichen, fand sie, aber ihre Familie rührte sich dennoch nicht. Immerhin bestand sie aus lauter guten Zuhörern, keiner fiel ihr ins Wort. Wie sie sich selbst zuhörte, begannen die Tränen zu fließen, wenigstens sie selbst hatte Mitleid mit ihr. So vergingen mehrere Stunden, die Sonne zog nach Westen und die Konturen der Kraterwände wurden immer deutlicher. Schließlich wurde ihr die Schweigsamkeit ihrer Familie zu viel, sie bezichtigte sie alle der Lieblosigkeit. Aber auch dieser berechtigte Vorwurf lockte sie nicht aus ihrer Reserviertheit.
Sie schniefte noch ein paarmal, dann beschloss sie, auf Aktionsmodus umzuschalten. Hoch ließ sie ihre Drohnen steigen, immer höher, sie blickte in Täler, die sie davor nicht hatte sehen können. In einem, in Richtung Norden gelegen, erspähte eine ihrer Drohnen einen kleinen, idyllischen See. Das Bedürfnis, darin zu schwimmen und sich die Blutkrusten aus dem Haar zu waschen und den Schmutz vom Körper, erwachte. Aber er war zu weit weg. In ihrem Zustand war schon das bloß gedachte Vorhaben, ihn zu erreichen, mit Schmerzen verbunden. Sie seufzte tief.
Sie wurde müde und legte sich vorsichtig hin, um ein bisschen zu schlafen. Immerhin war sie verletzt, da brauchte man mehr Ruhe als sonst. Als sie wieder erwachte, warfen die Steinsäulen zu ihrer Überraschung bereits lange Schatten. Sie hatte viel länger geschlafen als beabsichtigt und nun musste sie sich beeilen, die Sicherheit des Gleiters zu erreichen, denn die Strahlen der Sonne erreichten den Boden der Senke längst nicht mehr.
Langsam entwickelte sich eine Routine. In den nächsten Tagen kletterte sie jeweils in der Früh den Berg hinauf, von wo aus sie ihre Dohlen besser überwachen konnte. Sie redete eifrig mit ihrer Steinfamilie, wobei alle Felsen inzwischen Namen trugen und sie ihnen unterschiedliche Charaktere zugewiesen hatte. Sie konnte mit ihnen sogar streiten, so wie mit den Mitgliedern ihrer wirklichen Familie. Das machte ihr Spaß und so fühlte sie sich nicht so alleine, aber es war ihr klar, dass sie zunehmend seltsam wurde. Hätte sie jemand beobachtet, hätte er sie wohl für verrückt gehalten. Aber es war ja niemand da. Manchmal hieß sie eine ihrer Dohlen einem anderen, richtigen Vogel zu folgen, nur um zu sehen, was er so trieb. Das war ein bisschen kurzweilig. Einmal griff ein Falke eine ihrer Drohnen an; das war ein ziemlicher Schock. Aber es stellte sich heraus, dass ein automatisches Abwehrprogramm existierte, sie musste nichts tun, um ihren Roboter zu retten. Schließlich gab der Falke auf. So vergingen die Tage bis sie schließlich nach einer Woche die Geduld verlor und in Panik geriet, denn ihr Wasservorrat neigte sich dem Ende zu, während sie nach wie vor Schmerzmittel benötigte, um auch nur ohne Qual sitzen zu können. Wie sollte sie von hier wegkommen, wenn ihr niemand zu Hilfe eilte? Ihre Steinfamilie spendete ihr keinen Trost mehr, sie war eben nur eine Ansammlung von großen, blöden Felsen. Sie begann zu schreien, bis sie heiser wurde, aber auch das änderte nichts an ihrer Lage. Aber schließlich etwas anderes. Eine ihrer Dohlen fand, was sie so lange gesucht hatte. Sie stieß im Osten auf Menschen, denen sie sich auf ihr Geheiß langsam näherte. Da waren ein einzelner, dunkel gewandeter Junge und dahinter eine Gruppe von Männern, die im Gegensatz zu ihm bewaffnet waren. Sie folgten sehr geschickt den spärlichen Spuren, die er hinterließ. Sie wirkten finster und bedrohlich und hatten offenbar nichts Nettes im Sinn. Der Junge machte einen gehetzten Eindruck, war sich also der Meute, die hinter ihm her war, bewusst. Es war klar, dass er gegen die Halsabschneider keine Chance haben würde, hätten sie ihn erst einmal eingeholt. Wahrscheinlich kämpfte er um sein Leben. All das weckte in Nisaya jenen latent stets vorhandenen Schutzinstinkt hilflosen, bedrohten jungen Männern gegenüber, der sie immer schon ausgezeichnet hatte.
***
Wie unglaublich schön war die Freiheit am Anfang gewesen! Als sich alles als Lug erwies, was die Priester ihnen erzählt hatten. Die Welt war nur ein Teil von etwas viel Größerem, etwas Unglaublichem! Der erste Anblick dieser Weite, als sie ihren Weg durch die schmale Höhle gefunden hatten und hinausblicken konnten auf eine hügelige, diesige Landschaft, die sich scheinbar ins Unendliche erstreckte – ohne den Rahmen der Zähne, die die Welt umfassten – war atemberaubend gewesen. Sie fanden die Strickleiter und entrollten sie, stiegen hinab, wobei Ubandor seiner Frau half, trotz seiner Erkrankung, denn es war weder einfach, noch ungefährlich die Sprossen hinabzuklettern. Seine Tochter erwies sich als äußerst geschickt und furchtlos, während Anwin gehörigen Respekt vor der Tiefe hatte. Issa hatte überhaupt keine Mühe, sie war für das Klettern geboren. Sie half Sera, gemeinsam mit Eleran. Sie gerieten auf einen schmalen, aber ausgetretenen Pfad. Seit Generationen musste dieser Weg in die Welt bereits in Verwendung sein, um die tiefe Furche zu erklären. Obwohl hier niemand hinaufkam ohne Hilfe aus der Welt! Wie sehr waren sie doch betrogen worden!
Sie hatten keine Angst vor Nachstellung; beinahe wäre ihnen die Sorglosigkeit zum Verhängnis geworden, denn unvermutet standen sie plötzlich ein paar muskelbepackten, bis an die Zähne bewaffneten Halsabschneidern gegenüber. Mit seiner kranken Lunge hätte Ubandor einen längeren Kampf wohl nicht überstanden, aber dank seines Geschicks dauerte es nicht lange, auch gegen eine Überzahl praktisch alleine zu bestehen – keiner seiner Gefährten hatte Erfahrung im Umgang mit Waffen. Als Anwin erkannte, dass der dunkle Riese nicht vorhatte, auch nur einen ihrer Gegner am Leben zu lassen, schrie er ihm zu, er möge den letzten schonen. Ubandor schlug dem Wegelagerer mit der Breitseite des Schwertes auf den Kopf, der daraufhin umfiel wie ein gefällter Baum.
Anwin hieß Ubandor sich neben den Ohnmächtigen hinknien. Nun würde er erfahren, ob er auch außerhalb der Welt noch Heilfähigkeit besaß! Für seinen Begleiter hoffte er das natürlich, da die schleichende Erkrankung ihm sonst früher oder später den Garaus machen würde. Ihn selbst allerdings erfüllte nach wie vor Ekel vor seiner Gabe, seinem Fluch. Daher war er fast enttäuscht, als er bemerkte, dass alles so lief wie immer: Ubandor wurde geheilt und die Krankheit saß nun im Körper des Diebes und Mörders. Frau und Tochter seines Begleiters dankten Anwin überschwänglich. Trotzdem hoffte er sehr, dass dies nun das letzte Mal gewesen war, dass er sich seiner Kräfte hatte bedienen müssen.
Ubandor rief allen zu, dass sie weitergehen sollten, denn er wollte nicht, dass sie dabei zusahen, wie er seinen momentan wehrlosen Gegner erschlug. Aber er hatte nicht vor, eine potentielle Bedrohung für seine Familie am Leben zu lassen. Dies war das Verhalten, dass man ihm bei seiner Ausbildung zum Krieger beigebracht hatte und er erkannte seine Sinnhaftigkeit. Kaum war der letzte seiner Gruppe hinter einer Wegbiegung verschwunden, schlug er zu. Dann reinigte er das Schwert an der Kleidung des Toten und folgte ihnen.
Von nun an folgten sie der schmalsten Spur, wenn der Pfad sich verzweigte, in der Hoffnung dann weniger häufig – oder am besten gar nicht – auf Wegelagerer zu stoßen. Sie waren gerade einmal zwei Tage unterwegs gewesen, als sie, einem Bach folgend, auf eine kleine Siedlung gestoßen waren. Die Menschen empfingen sie freundlich und gaben ihnen Brot, Salz und Ziegenkäse zu essen und einen vergorenen Fruchtsaft von einem Anwin nicht bekannten Obst zu trinken. Sie erzählten ihnen, dass zwar manchmal verwegen aussehende Gestalten aus der Richtung kamen, aus der auch sie gekommen waren, oder offenbar jene Gegend zum Ziel hatten. Aber diese Wanderer mieden das Dorf. Wer immer sie waren, Marodeure waren die meisten jedenfalls nicht – oder aber es war allzu offensichtlich, dass hier wenig zu holen war. Trotzdem waren die Männer des Dorfes bewaffnet und auch einigermaßen versiert im Umgang mit Schwert, Schild und Speer, weil es so Brauch war. Es war nicht immer so gewesen, jetzt aber herrschte hier seit Generationen Frieden, erzählten sie.
Die arglosen Menschen der kleinen Siedlung waren Hirten und Bauern, sie kannten keine Grausamkeit. Das gab den Ausschlag, die anderen beschlossen, sich an diesem Ort anzusiedeln, trotz der Nähe zur Welt – gerade sie gab ihnen paradoxerweise Sicherheit, war sie doch alles, was sie bisher gekannt hatten – denn Friede war es wonach sie sich sehnten. Anwin hingegen wollte verstehen. Er wollte den fliegenden Dämonen folgen! Im Morgengrauen verabschiedete er sich von Issa, Ubandor und all den anderen – zwar traurig ob der Trennung, aber auch voller Abenteuerlust. Issa wollte ihn zurückhalten und erinnerte ihn an den Überfall, den sie nur dank Ubandor unbeschadet überstanden hatten. Alleine hätte er ein Treffen mit diesen Männern nicht überlebt. Da musste er ihr recht geben, aber es war ihm egal.
Er ging nach Westen, einen schmalen Fußweg entlang, der ihn auf einen kahlen Hügel führte. Hier sah er sich um, sah unten im Tal die strohgedeckten, kleinen Hütten und wünschte seinen ehemaligen Gefährten viel Glück, besonders Issa, für die er nach wie vor tiefe Zuneigung verspürte. Aber sie hatte jetzt einen anderen und das war sehr, sehr gut so.
Die Sonne stieg gerade über den Horizont, ungewöhnlich groß und blass, sodass er in ihre Richtung sehen konnte. Dort, auf einem der östlichen Hügel wurde er einer Bewegung gewahr und mit seinen ungewöhnlich scharfen Augen konnte er die Konturen von Menschen ausmachen. Er konnte sich nicht sicher sein, aber einer von ihnen schien auch ihn gesehen zu haben. ‚Merkwürdig‘, dachte er, ‚wenn sie aus dieser Richtung kommen, können sie nur aus der Welt stammen!‘ Denn genau über diesen Hügel, über diesen Pfad waren auch sie gewandert. Er beäugte sie noch einmal misstrauisch, fühlte sich unwohl bei ihrem Anblick. Wurde er verfolgt? Er schalt sich selbst einen Angsthasen. Er war der Welt entkommen und viel zu unwichtig, um gejagt zu werden. Dennoch war er froh, dass sie Stunden hinter ihm waren. Dann wandte er sich ab und ging seines Wegs, immer nach Westen, immer weiter fort von der Welt, beunruhigt zunächst, dann aber vergaß er die Fremden.
Jetzt war er alleine, vielleicht das erste Mal in seinem Leben wirklich, obwohl er sich sehr oft einsam gefühlt hatte. Einsamkeit war schrecklich, alleine sein hingegen gar nicht. Er nahm nun alles sehr deutlich wahr, das Rascheln der Eidechsen, die er aufschreckte, das Huschen von Mäusen, die seinen Pfad kreuzten, das Gleiten kleiner Schlangen, das Summen der Blütenbesucher, das vielfältige Zwitschern kleiner Vögel und die eintönigen Schreie der Zikaden. Ein leichter Wind ließ die Vegetation rascheln. Später legte sich dieser und als er abermals auf einer recht kahlen Hügelkuppe angekommen war, auf der nicht einmal Zikaden sangen, konnte er ganz leise Stimmen vernehmen. Er blickte zurück. Sehen konnte er zwar niemanden, aber er vermutete sie nur einen Hügel hinter sich und damit hatten sie den Abstand zumindest gehalten oder waren sogar näher gekommen! Seine Zuversicht schwand. Er hatte zwei bedeutende Persönlichkeiten ermordet, da hätte er von Anfang an mit Verfolgung rechnen müssen. Wie unklug von ihm, in dem kleinen Dorf auch nur kurz zu verweilen! Er beschloss, schneller zu gehen und nicht mehr innezuhalten. Wie ein gejagtes Wild ignorierte er die aufkommende Müdigkeit; wenn er hungrig und durstig wurde, aß und trank er in der Bewegung. Lange Märsche war er nicht gewohnt, wohl aber Schmerzen, sodass er mit seinen Empfindungen umgehen konnte. Trotzdem nistete sich mit zunehmender Erschöpfung der Gedanke in ihm ein, dass die Menschen hinter ihm vielleicht nur zufällig auf dem gleichen Weg wie er unterwegs waren und er sich daher ruhig eine kleine Pause gönnen könnte. Aber er wagte es nicht. Mit schmerzenden Füßen schleppte er sich den ganzen Tag weiter, bis hinein in die Dämmerung. Schließlich wurde es fast zu dunkel, um noch den schmalen Pfad in der dichten, niedrigen Vegetation zu finden. Er beschloß auf der nächsten Kuppe die Nacht zu verbringen. Er riskierte nicht, auf sich aufmerksam zu machen, indem er ein Feuer entzündete. Seine Verfolger hatten da weniger Skrupel und so mußte er die beängstigende Tatsache registrieren, dass der Abstand zu ihnen trotz seiner beachtlichen Wanderleistung nicht größer geworden war. Da der Pfad sich einige Male verzweigt hatte, schien es ihm nun auch sehr unwahrscheinlich, dass sie nur zufällig den gleichen Weg gewählt hatten. Sie mussten gute Spurenleser sein, was dafür sprach, dass er es mit professionellen Menschenjägern zu tun hatte. Also vermutlich gute Freunde von SiVender. In diesem Fall war es wohl ihre Absicht, ihn zu töten - und zwar schön langsam. Vielleicht wollte man ihn in der Arena sterben sehen! Dies waren die Gedanken, die ihn wach hielten, obwohl er dringend Schlaf brauchte.
Am nächsten Morgen brach er auf, sobald es hell genug war. Wie am Vortag wanderte er ohne Unterbrechung. Einmal entpuppte sich ein vermeintlicher Pfad als Wildwechsel und er musste zurückgehen. Er konnte nur hoffen, dass seinen Verfolgern das gleiche Missgeschick widerfahren würde. Abermals übernachtete er auf einem Hügel und am Lichtschein des Feuers seiner Verfolger musste er voll Unbehagen feststellen, dass der Abstand wieder geringer geworden war. Es war zum Verzweifeln! Wie viele Tage blieben ihm noch? Einer oder höchstens zwei. Die Männer hatten sich an seine Fersen geheftet wie eine Wildhundmeute, daran konnte es jetzt keinen Zweifel mehr geben. Der Ausgang schien gewiss, sie würden ihre Beute stellen, doch er weigerte sich zu resignieren. Es musste ihm irgendwie gelingen, seine Spuren zu verwischen.
Am nächsten Morgen musste er, kaum aus den Tiefen des Schlafes aufgetaucht, feststellen, dass es schon spät war, denn die Sonne stand bereits deutlich über dem Horizont. Er hatte wertvolle Zeit verloren. Hastig hängte er sich seine spärlichen Besitztümer um, den fast leeren Ziegenschlauch, die gewobene Tasche mit den wenigen Nahrungsmitteln, die ihm noch verblieben waren, ein bisschen Brot und Käse. Er richtete sich auf und ignorierte den Protest seines überforderten Körpers so trefflich es ging. Sehr gut war das aber nicht möglich, denn wo die Riemen seiner Sandalen die Haut aufgescheuert hatten, wies er wunde Stellen von geplatzten Blasen auf.
Die Natur blieb heute merkwürdig still und daher konnte er seine Verfolger wahrnehmen, Lautfetzen ihrer Gespräche drangen an seine Ohren. Ohne Zweifel waren sie nicht mehr sehr weit weg. Er ging so rasch er konnte, während die Sonne langsam höher wanderte; die Erschöpfung stumpfte ihn ab. Dennoch musste er sich konzentrieren, denn der Pfad war zu einem kümmerlichen Pfädchen verkommen – kaum noch fußbreit - und zudem sehr steinig. Man konnte sich sehr leicht das Sprunggelenk verstauchen und das wäre sein Ende gewesen. Das Gestrüpp griff mit dornigen Fingern nach ihm und bremste sein Fortkommen. Selten hatte er die Muße zum Himmel hinauf zu blicken, aber wenn er es tat wurde er einer schwarzen Silhouette gewahr, die über ihm zu kreisen schien. Vielleicht eine Krähe, die erkannt hatte, dass es bald etwas zu fressen gab? Zunächst ärgerte ihn der Vogel, später aber akzeptierte er ihn als Begleiter. Wenigstens war sein Anblick eine Ablenkung, denn allzu oft dachte er an sein Ungemach. Ihn plagten Krämpfe in den Oberschenkeln, besonders der rechte peinigte ihn so sehr, dass er nicht mehr sein volles Tempo halten konnte.
Wieder in einer Talsenke angekommen stellte ihn sein Weg auf einem kleinen vegetationsfreien Fleck vor Alternativen. Die eine Abzweigung verblieb im Tal und führte vielleicht um den Hügel herum. Sie sah vertrauenswürdiger aus. Die andere führte anscheinend auf den kleinen Berg hinauf, war möglicherweise eine Abkürzung. Er wußte es nicht. Einer von beiden oder auch alle beide konnte blind enden. Die falsche Entscheidung würde sein Ende bedeuten! Auch die richtige würde es kaum verzögern. Sie waren schon so nahe! Verzweiflung, Resignation und schlichte Panik kämpften um den besten Platz; Panik gewann deutlich. Was immer nun geschah, er würde eher den Freitod wählen als in die Welt zurückzukehren! Aber vielleicht nahmen sie ihm die Entscheidung ab und brachten ihn gleich um.
Er beschloss spontan im Tal zu bleiben, denn für lange Überlegungen fehlte ihm inzwischen definitiv die Zeit, die Stimmen waren inzwischen so laut, dass er einzelne Wörter verstehen konnte. Er machte Anstalten in diese Richtung aufzubrechen. Da stürzte sich der schwarze Schatten aus dem Himmel. Der dunkle Vogel setzte sich auf einen Ast unweit von ihm. Jetzt hatte er die Möglichkeit, ihn näher zu betrachten. Er war nicht besonders groß und auch nicht ganz schwarz, sein Kopf war nämlich grau. Das auf ihn gerichtete Auge fixierte ihn auf geradezu unheimliche, magische Weise. Anwin verharrte unwillkürlich.
„Das ist der falsche Weg! Geh den Hügel hinauf!“
Anwin war zutiefst erschrocken, er hatte ganz deutlich und in der Nähe eine melodische Stimme gehört. Rasch drehte er sich um, in der Erwartung, dort bereits seine Häscher auszumachen.
„Ich rede mit dir, du Trottel!“
Die Stimme kam ganz eindeutig nicht aus der Richtung, in die er jetzt blickte, deshalb wendete er abermals, sah aber nur knorrige Macchie und … den Vogel, der gerade den Kopf schief legte.
„Ich bin verrückt geworden!“, sprach Anwin leise zu sich selbst. „Ich höre eine Krähe sprechen! Und nicht etwa krächzend, sondern klangvoll!“
„Dohlen krächzen nicht, du Ignorant! Und was deinen Geisteszustand betrifft, können wir den ein andermal erörtern! Wir haben keine Zeit dafür oder ist dir entgangen, dass du verfolgt wirst?“
Anwin schüttelte erschrocken seinen Kopf. „Warum sollte ich dir trauen?“
In Ermangelung einer Schulter zuckte der düstere Vogel mit dem Flügel. „Deine Entscheidung.“
Da ließ Anwin sich nicht länger bitten, er war bereit nach jedem Strohhalm zu greifen. Er mobilisierte seine letzten Kräfte und schleppte sich keuchend den Hang hinauf, nicht mehr auf Dornen und Stacheln achtend, die ihm die niedrige Vegetation entgegenstreckte und vor denen ihn auch sein Gewand nicht vollständig schützen konnte. Öfter als einmal trat er einen Stein lose, der daraufhin geräuschvoll den Berghang hinunter polterte, meist nicht sehr weit, trotz der starken Neigung. Leise zu sein war inzwischen nicht mehr wichtig, seine Häscher waren unterdessen im Tal angekommen und konnten ihn sehen. Der schwarze Vogel flog einige Meter vor ihm her.
Anwin atmete bereits schwer als sich die Vegetation lichtete, bald hatte er die Hügelkuppe erreicht. Schließlich betrat er das Plateau, auf dem einige Felsriesen thronten, jeder von einem dunklen Vogel besetzt, der jenem glich, der ihn hierher geführt hatte. Als er gänzlich oben angekommen war, konnte er auch den Fuß der steinernen Giganten sehen und hier, beim größten, hockte zu seiner Verblüffung ein fast nacktes, schlankes Mädchen, das schwer mitgenommen aussah. Die linke Seite des Kopfs und auch des Körpers war von Blutergüssen bedeckt, die inzwischen alle möglichen Farben angenommen hatten. Stirn und Haare waren blutverkrustet und mehr oder weniger der ganze Körper schmutzig. Aber ihre Augen leuchteten, der Blick war unverwandt auf ihn gerichtet. Sie bewegte sich ein wenig und verzog gleich darauf den Mund, offenbar litt sie unter starken Schmerzen. Anwin näherte sich ihr langsam.
„Was wollen die anderen von dir?“ Sie kam gleich auf den Kern der Sache, fand Anwin.
„Mich umbringen, vermute ich. Vielleicht gleich hier, möglicherweise wollen sie mich auch zurückschleppen und dann dort meucheln.“
„Dann sollten wir das verhindern, meinst du nicht?“
Anwins Lachen hatte etwas Verzweifeltes. „Die Frage ist: wie?“
„Stell dich neben mich!“
Anwin tat wie geheißen und kaum einen Augenblick später tauchte der erste ungewaschene, unrasierte, hässliche, kahle Kopf auf. Er gehörte dem größten der Männer und der wiederum trug, wie sich herausstellte als er noch etwas höher geklettert war, eine beeindruckende Keule aus solidem Eichenholz. Er blieb stehen, offenbar davon irritiert, dass sich außer seiner Beute noch jemand auf dem Plateau befand. Dadurch hatten die anderen vier Männer, die zu der Bande gehörten, die Zeit aufzuschließen. Alle trugen zerschlissene Gewänder und außer dem Keulenmann waren sie mit Schwertern bewaffnet. Sie glichen einem Rudel zähnefletschender Wölfe, wild, mörderisch, das entbehrungsreiche Leben war jedem ins Gesicht geschrieben.
„Zieh ihm eins mit der Keule über seine Guri-Rübe! Aber nicht zu fest! Wir brauchen ihn lebend!“ Gesprochen hatte der hagere Mann neben dem Riesen, der mit der am wenigsten mitgenommenen Kleidung. Offenbar war er der Anführer.
„Der Kleinen auch?“, wollte der Hüne wissen.
Offenbar fand das Mädchen, dies sei ein guter Zeitpunkt, sich in die Diskussion einzumischen. „Nein, der Kleinen nicht!“, schrie sie nun ernsthaft erzürnt. „Ich bin eine Göttin, seht ihr das nicht?“ Sie schüttelte den Kopf, aber ihre verdreckten Haare konnten sich nur zu einem sehr matten, aber immerhin bunten Flackern entschließen. Die Galgenvögel schienen unbeeindruckt. Also legte sie noch ein Schäufelchen nach. „Werft euch vor mir in den Staub, ihr Gewürm! Ihr habt die Erlaubnis, mich anzubeten!“
„Das ist deine Strategie? Dich als Göttin auszugeben?“, raunte ihr Anwin zu. Das Mädchen blickte finster zurück. Das konnte sie sehr gut, Anwin war beeindruckt. Aber Göttin war sie keine, Götter waren golden. Da fiel ihm der Mann mit den schillernden Haaren ein, vor dem U’Rieften so großen Respekt gehabt hatte. Wollte sie deshalb ihre Haare zum Leuchten bringen? Konnte man außerhalb der Welt dann Ehrerbietung erwarten?
„Vielleicht könnten wir sie verkaufen?“, meinte einer der Männer zweifelnd.
Der Anführer schüttelte langsam den Kopf. „Die Frau ist offensichtlich beschädigt. Zu stark, fürchte ich. Auch im Oberstübchen. Du solltest sie von ihrem Leid erlösen, Orak!“. Orak war offenbar der Riese mit der Keule, denn er machte Anstalten, dem Vorschlag Folge zu leisten. Er fixierte Anwin und setzte sich ohne Eile in Bewegung. Die Beute war gestellt.
„Falsche Antwort!“, zischte das Mädchen.
Was dann geschah, ereignete sich so rasch, dass Anwin nicht einmal mit den Augen folgen konnte, geschweige denn mit dem Verstand, obwohl der bei ihm durchaus nicht besonders langsam arbeitete. Dunkle Schwingen breiteten sich aus; die vormals teilnahmslos dasitzenden Vögel sausten wohl orchestriert wie schwarze Pfeile auf die Männer zu, einer zu jedem der Asassinen, zu rasch als dass diese sich hätten wehren oder überhaupt reagieren können. Die gefiederten Rächer gruben ihre Klauen in nackte Haut, irgendwo, am Arm, Hals oder sogar am Kopf. Daraufhin brachen die Männer wie vom Schlag getroffen augenblicklich zusammen. Die dunklen Federbündel trennten sich sogleich von ihren Opfern und gesellten sich zu den drei, die auf ihrer Warte verblieben waren.
Anwin blickte immer noch verblüfft auf die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, obwohl jetzt nur mehr herumliegende Finsterlinge zu sehen waren. Wie rasch war die Hoffnungslosigkeit gewichen, alles hatte sich spontan gewandelt! Dann, immer noch verwirrt, richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen, das höchst zufrieden aussah. Zumindest auf der weniger verletzten Seite grinste sie bis zum Ohr.
„Das wollte ich schon immer mal ausprobieren! Elektroschocks!“, erklärte sie. Sie beobachtete gebannt die Männer. „Sieh nur! Sie zucken noch!“, rief sie voll Begeisterung.
„Das heißt sie leben?“
„Oh ja!“
„Das ist gut.“ Anwin ging auf den Anführer zu. Im Vorbeigehen ergriff er die Keule des Riesen und schleuderte sie soweit er konnte in die undurchdringliche Vegetation.
„Das war ziemlich Ehrfurcht einflößend! Bist du wirklich eine Göttin?“
Er ging weiter und verfuhr mit den Schwertern seiner wohl von den Sklavenjägern gedungenen Widersacher ebenso wie mit der Keule. Bis auf dasjenige des Anführers, das er zusammen mit der Scheide an sich nahm und an seinem Leibgurt befestigte.Das Mädchen beobachtete ihn dabei und veränderte ihre Position, weil sie offenbar Schmerzen hatte, bevor sie schließlich antwortete:
„Unfug! Götter gibt es nicht! Man soll niemanden vergöttern, soll niemanden idealisieren! Das lernt man als erstes in Ethik, in der Schule!“
Anwin ergriff den Anführer am Gewand und zog ihn langsam zu der jungen Frau hin. „Ist der schwer! Nicht dort wo ich herkomme! Die Schule der Heiler ist ein Ort der Grausamkeit und Unmenschlichkeit. Ich wurde fast täglich ausgepeitscht!“ Eine Weile versank er in Erinnerungen, die wohl nicht besonders erbaulich waren, denn in diesem Zeitraum erstarrte sein Gesicht zu einer Maske der Verbitterung. Dann entspannten sich seine Züge wieder. „Hast du ähnliche Erfahrungen machen müssen?“
Sie zögerte kurz, dann erwiderte sie: „Doch. Ja. Ganz ähnliche. Ich wäre beinahe gestorben!“ Und dann ergänzte sie flüsternd, so dass Anwin es nicht verstehen konnte: „An Langeweile!“
Sie betrachtete nun still sein Tun, wie er sich abmühte den Mann zu ihr zu schleifen. „Was willst du mit dem Typen? Igitt, gib ihn weg, er stinkt sicherlich!“ Sie verzog angeekelt ihr Gesicht.
„Und was ist das zweite?“
„Das zweite was?“
„Was man dich in der Schule lehrte in – wie hast du das genannt – Ethik.“
„Oh, das. Dass man niemanden dämonisieren sollte.“
„Auch nicht solche Kerle?“
„Ich glaube, da kann man eine Ausnahme machen!“
Anwin kam noch näher. „Göttin oder nicht, du hast mir das Leben gerettet. Dafür will ich mich revanchieren und dafür brauche ich diesen Widerling“, erläuterte er. „Wie heißt du?“
„Nisaya. Und du?“
„Anwin. Hallo, Nisaya! Ich werde dich jetzt an der Schulter berühren, damit ich dich heilen kann!“
„Aha? Warum siehst du mich eigentlich niemals an?“
„Das fragst du auch noch? Weil du nackt bist.“
„Nackt? Ich bin doch nicht nackt! Ich bin an allen strategisch wichtigen Stellen bekleidet! Aus was für einer primitiven Gesellschaft stammst du denn!?“
„Und was ist mit dem … Nabel?“ Während er das fragte, blickte er besonders weit weg.
„Mit dem Nabel? Was soll mit dem Nabel sein? Darf man den auch nicht sehen? Nicht zu glauben!“ Sie rollte die Augen.
Anwin war inzwischen mit dem Anführer ganz nahe gekommen und im Begriff, seine Drohung in die Realität umzusetzen. Nisaya blickte ihn dabei überaus skeptisch an.
„Ich tue dir nichts! Lass also deine Krähen wo sie sind!“
„Dohlen! Es sind Dohlen!“ Nisaya war nicht überzeugt; sie zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
Die dräuende Gefahr missachtend ergriff Anwin sie schließlich an der weniger geschundenen Schulter, während er gleichzeitig den Kopfgeldjäger an der Stirne berührte. Kurz darauf fühlte Nisaya sich unendlich leicht als würde sie ins Bodenlose fallen. Sie sah bunte Muster und fühlte ein Zerren, das an allen verletzten Stellen zu einem scharfen Brennen anwuchs ohne eigentlich schmerzhaft zu sein. Unwillkürlich atmete sie rascher und auch ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hörte eine Art Sphärenmusik gestört nur durch ein Knirschen, das von den gebrochenen Rippen und dem zertrümmerten Schulterblatt zu stammen schien. Irgendetwas veränderte sich da in rasender Geschwindigkeit. Sie schrie vor Überraschung. Dann war das alles vorbei, sie kam wieder zu sich und vermeinte nur geträumt zu haben. Aber als sie sich ein wenig bewegte, stellte sie fest, dass sich tatsächlich etwas geändert hatte: sie konnte das nämlich schmerzfrei. Sie hob den linken Arm, was ihr eine Woche lang nicht möglich gewesen war, bewegte den Kopf. Keine Qualen. Drückte die Wirbelsäule durch. Nichts. Sie stieß einen Laut der Überraschung aus.
„Was war das?“, fragte sie.
„Du bist geheilt!“, antwortete Awin. „Ich habe dein gesamtes Leid auf den da übertragen.“ Er wies auf den Mann zu seinen Füßen. Nisaya erkannte sogleich, dass dieser völlig anders aussah als noch vor kurzem. Voller Blutergüsse am verschwollenen Gesicht, vor allem auf der linken Seite; und mit einer hässlichen Wunde an der Stirn. Seinen Körper konnte sie wegen seiner Kleidung nicht so genau sehen.
„Wahnsinn!“ Sie riss die Augen auf. Eine Dohle stieg von ihrer Warte empor und landete vor ihr. Anwin erschrak und wich zur Seite aus. Jetzt konnte er den Vogel näher betrachten und stellte fest, dass gar nicht der ganze Kopf grau war; er trug diese Färbung eher wie eine etwas nach hinten geschobene Kapuze. Um den Schnabel und in einem schmalen Band entlang der Kopfmitte war er kohlschwarz; schwärzer noch als am Körper. Den Kopf hielt der Vogel seitlich zu Nisaya, so dass sein Auge genau auf sie gerichtet war. Das Mädchen lächelte begeistert.
„Wirklich geheilt! So schnell! Das ist erstaunlich.“ Sie blickte nun zu Anwin. „Du hast eine fantastische Fähigkeit!“
Er schüttelte den Kopf. „Es ist ein Fluch! Kannst du sehen, was deine Vögel erblicken?“
Sie nickte. „Aber ich will es mit eigenen Augen anschauen! Ich brauche einen Spiegel! Im Sonnenwagen muss doch irgendwo einer sein!“ Sie hob noch einmal beide Arme ganz hoch. „Jetzt kann ich danach suchen!“ Sie stand vorsichtig auf, während die Dohle wieder auf den Felsen zurückflog.
„Sonnenwagen? Sonnenwagen!“ Anwin war fasziniert, gleichzeitig aber war er sich der immer noch von den Häschern ausgehenden Gefahr bewusst.
„Da unten im Tal!“
„Sollten wir nicht schauen, dass wir wegkommen? Die Halsabschneider leben noch!“
„Meine Vögel werden sich dieses Problems annehmen“, meinte Nisaya fröhlich und sehr selbstbewusst.
Anwin blickte auf die bloßen Füße des Mädchens, was Nisaya mitbekam. „Was? Sind nackte Füße auch unanständig?“
„Das nicht. Aber wenn du weiterhin bloßfüßig bleiben willst, solltest du vielleicht versuchen, nicht an Schlangen zu denken!“
„Schlangen? Was sind Schlangen?“, fragte sie mit panischem Unterton.
„Das weißt du nicht? Wo kommst du bloß her? Schlangen sind ganz lange, dünne Tiere ohne Beine; sehen so aus wie ein Band und kriechen am Boden herum. Die meisten zumindest. Vorne haben sie große Augen und ein Maul mit zwei langen Giftzähnen! Also nicht alle. Das Gift mancher ist tödlich.“
„Oh! Aber du kannst mich doch rechtzeitig heilen, oder?“ Nisaya wurde sich bewusst, in welcher Gefahr sie die ganze Zeit nichtsahnend geschwebt hatte. Ihr wurde ganz anders.
„Nur wenn ich dein Leid auf einen anderen übertragen kann. Ich will aber nicht die ganze Zeit diese Typen mit mir herumschleppen!“
„Was noch? Woran sollte ich noch versuchen, nicht zu denken?“
„Hm. Skorpione gibt es hier sicherlich auch. Das sind Tiere mit vielen Beinen und einem Schwanz mit Giftstachel. Manche von ihnen haben ebenfalls ein tödliches Gift.“
Nisayas Augen wurden ganz groß. „Sonst noch was?“
„Hundertfüßer mit Giftklauen!“
„Genug! Bist du noch zu retten? Ich hätte sowieso nicht an diese Kreaturen gedacht, weil ich gar keine Ahnung gehabt habe, dass so was existiert! Jetzt werde ich es nicht mehr wagen auch nur einen Schritt zu tun!“
Anwin wandte sich dem immer noch betäubten Anführer der Schergen zu und zog ihm die weichen Lederstiefel von den Füßen. Seitlich im Schaft steckte ein schmaler Dolch, den er interessiert musterte. Dann ging er zu den vier anderen Häschern und wiederholte die Prozedur. Schließlich standen fünf Paar recht unterschiedliches Schuhwerk vor Nisaya. Sie nahm das kleinste Paar, roch daran, verzog angeekelt den Mund und schlüpfte mit ihren schlanken Füßen hinein.
„Sie sind zu groß!“
Anwin zuckte mit den Schultern. „Ich musste dir Angst machen, sonst hättest du diese Schuhe nicht angezogen. Du bist ein wenig schwierig.“
Nisaya funkelte ihn zornig an. „Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch gar nicht!“
„Ich habe deine Aura gesehen, als ich dich geheilt habe. Die ist ganz knotig.“
Anwin nahm sich nun seinerseits eingedenk seiner wunden Zehen die Stiefel des Anführers samt Dolch und tauschte sie gegen seine Sandalen, die er an seinem Leibgurt befestigte. Die nicht benötigten Schuhe warf er in die undurchdringliche Vegetation.
„Das wird sie ein wenig aufhalten.“
„Sie werden dich weiter verfolgen?“
Er zuckte mit den Achseln. „Schon möglich. Der Anführer sicherlich nicht.“
„Werden sie ihn nicht zurückbringen? Dorthin woher sie auch immer herkommen mögen?“
„Nur, wenn er ihnen noch von Nutzen ist. Sie kommen wahrscheinlich aus der Welt. Sie haben meinen Kopf als Guri – Rübe bezeichnet. Die gibt es dort. In dem Dorf draußen, in dem meine Begleiter geblieben sind, hatten sie von dieser Rübensorte noch nie etwas gehört.“ Er zeigte auf die hoch aufragenden Wände, die man von der Spitze des Hügels sehr gut sehen konnte.
„Du meinst den Krater? Warum nennst du ihn ‚Welt‘?“
„Weil unsere Priester uns erzählt haben, dass die Bergwände an seinem Rand das Ende alles Existierenden darstellen, die Grenze zum Nichts oder zum Himmelssee, zur Welt der Götter, je nachdem. Die Erklärungen waren widersprüchlich. Für uns Menschen jedenfalls war das, was wir gesehen haben, alles, was die Welt ausmacht. In Wirklichkeit ist das, was du Krater nennst, eine riesige Arena, in der die goldenen Götter mit uns spielen und uns zum Narren halten. Und glaube mir – von Ethik haben sie noch nie etwas gehört!“
Anwin öffnete die aus Hirschgeweih hergestellten Knöpfe des dunklen Mantels, den der Anführer trug und zog ihn nach hinten unter dem Körper des immer noch Betäubten hervor; dann reichte er ihn dem Mädchen.
„Was soll ich damit?“
„Anziehen! Wenn schon sonst aus keinem Grund, dann deshalb, weil du einen gewaltigen Sonnenbrand hattest. Möglicherweise hast du ihn nicht gemerkt, weil die anderen Qualen stärker waren.“
„Ich habe Schmerz betäubende Medikamente genommen.“
„Er ist samtweich, siehst du?“
Sie blickte skeptisch. „Dir geht es doch gar nicht um meinen Sonnenbrand! Du willst bloß meinen Nabel nicht mehr sehen.“
Anwin dachte eine Weile sehr ernsthaft nach. „Das ist nicht wahr! Das möchte ich doch. Er ist sehr sexy. Aber es schickt sich einfach nicht.“ Und leiser fügte er hinzu: „ Außerdem möchte ich nicht, dass andere Männer ihn zu sehen bekommen, verstehst du?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist schräg! Das ist ziemlich schräg. Du solltest den Krater eher ‚Hinterwelt‘ nennen.“ Sie rollte ihre Augen.
„Das solltest du nicht machen.“
„Was?“
„Die Augen so verdrehen, dass sie links oben hinaus und rechts unten wieder ins ‚Bild‘ hinein kommen.“
„Das geht ja gar nicht. Na immerhin wisst ihr was Bilder sind, in Hinterwelt.“
Anwin hielt ihr den Umhang noch näher und Nisaya überzeugte sich davon, dass er wirklich samtweich war. Also streifte sie ihn sich über und er fühlte sich tatsächlich angenehm an. War er dem Anführer bis zu den Knien gegangen, so reichte er an ihr fast bis zu den Knöcheln, trotz ihrer langen Beine. Sie ging an den Rand der winzigen Hochebene und deutete Anwin, es ihr gleich zu tun. Dann zeigte sie hinab ins Tal.
„Siehst du?“
Anwin erkannte die Schneise der Zerstörung und ganz unten etwas metallisch Glänzendes, Fremdartiges. Er war sogleich fasziniert.
„Ein fliegender Dämon! Ich habe gesehen wie zwei Menschen freiwillig in den Bauch so eines Wesens hineingegangen sind. Der eine hatte leuchtende Haare!“
„Wann war das?“ Nisaya klang alarmiert.
„Vor einer Woche. Der Mann hatte so ein merkwürdiges Schillern um den Kopf, die Frau hingegen nicht. Sie hatte langes, schwarzes Haar und sehr kalte, blaue Augen. Auch mit dem Mann hat irgendwas nicht gestimmt, seine Aura war frei von Weichheit und Wärme.“
„Vor einer Woche war ich zum Krater unterwegs. Zur ‚Welt‘. Doch dann entschied ich mich dazu, lieber einem Sonnenwagen zu folgen, der gerade von dort kommend nach Westen flog. Ich wurde entdeckt und gnadenlos abgeschossen. Davor habe ich noch die beiden Insassen gesehen: ein Mann, der zu den Göttern zählte, und eine Frau mit langen schwarzen Haaren. Schön, aber gemein! Sie hätten mich beinahe umgebracht! Kaltblütig!“ Eine Träne bildete sich in Nisayas Augenwinkel, löste sich von dort und lief entlang der Nase das Gesicht hinab. Sie begann, den gewohnten Pfad abwärts zu gehen.
„Die Beschreibung stimmt! Das waren die beiden Personen, vor denen unsere goldenen Götter so viel Respekt haben! Ich musste dem Mann eine alte Verletzung an der Hand entfernen, eine Narbe, die so ausgesehen hat als hätte ein Dolch die Handfläche durchdrungen.“
„Die Handfläche! Dann war es möglicherweise Paieon.“ Sie lächelte. „Die Narbe hat ihm Granoc verpasst, ein Weggefährte meines Vaters. All die alten Geschichten sind wirklich wahr!“
Vor ihr lag ein Stamm im Weg. „Hier hatte ich immer Schwierigkeiten. Mal sehen, wie das mit den Schuhen geht. Also, inzwischen ist er Zeus, der Göttervater, die mächtigste Person auf diesem Planeten. Aber offenbar immer noch der gleiche Widerling wie früher. Deine goldenen Götter sind keine Götter. Sie sind Wesen von einem anderen Planeten, die hier die Rolle der goldenen Menschen des Ersten Zeitalters spielen dürfen. Sie sind von Zeus' Gnade abhängig. Kein Wunder, dass sie ihn mit Respekt behandeln.“
„Planet! Das Wort hat SiVender benutzt. Es muss etwas Großes damit gemeint sein.“
Sie lachte. „Oh ja! Deine ‚Welt‘ ist bloß ein Pickel auf diesem Kontinent, der zusammen mit sechs anderen in einem riesigen Meer schwimmt. Das alles macht die Oberfläche eines Planeten aus, der Historia heißt. Oder Gaia. Zeus ist hier geboren worden, so wie du. Ich nicht. Ich komme von einem anderen Planeten.“ Sie machte eine Pause und fuhr dann fort: „SiVender passt übrigens nicht. Nach der Geschichte meiner Eltern ist Arem SiVender ein Sklavenhändler auf einem Planeten namens Ivarn. Eine der Sklavinnen, mit denen er gehandelt hat, ist übrigens meine Mutter. Mein Vater hat sie befreit.“
„SiVender war auch hier Sklavenjäger.“
„War?“
„Ich habe ihn umgebracht.“
„Oh!“
„Und er hat im Gegensatz zu den anderen Weltenbürgern gewusst, dass es andere Planeten gibt. Er stammte von einem fremden Planeten und war nicht freiwillig hier. Er musste einem anderen berichten, was hier vor sich ging. Es war eine Strafe dafür, dass ein Auftrag schief gegangen war. Er fühlte sich ungerecht behandelt, denn es sei nicht seine Schuld gewesen, dass der Todesengel versagt habe.“
„Das klingt so, als wäre er tatsächlich der Sklavenhändler meiner Familiensage gewesen! Bei dem Auftrag hat es sich vielleicht um die Ermordung meines Vaters durch Reja OrPhon gehandelt. Das hat offenbar nicht funktioniert, sonst wäre ich nicht hier.“ Sie grinste den jungen Mann an. „Wenn das so ist, hat er sein Schicksal verdient!“
„Und was ist jetzt mit Ethik?“, neckte er sie. „Wenn ich mich richtig erinnere, hat er den Namen OrPhon erwähnt. Aber unabhängig davon hat er sehr vielen Menschen zahlreiches Leid angetan. Ich kann meine Tat nicht bereuen. Ich bin aber auch nicht stolz darauf.“
„War er es, der dich ausgepeitscht hat? Hast du ihn deshalb umgebracht?“
„Nein, mein Lehrer hat den Auftrag dazu gegeben. Er war ein sehr grausamer Mann.“
„Dann hätte ich mich eher an ihm gerächt.“
„Oh, das habe ich auch getan. Er ist ebenfalls tot. Auf diesen Mord bin ich vielleicht sogar ein wenig stolz!“
Nisaya wich ein wenig von seiner Seite. „Waren das jetzt alle, die du umgebracht hast?“
„Nein.“
Sie erhöhte den Abstand noch ein Stück. Sie überlegte, ob sie eine ihrer Dohlen herbeordern sollte. „Dann frage ich vielleicht besser umgekehrt: wie viele von denen, die du kennen gelernt hast, leben noch?“
Anwin lachte, aber es klang nicht fröhlich. „Einige schon. Und von denen, die nicht mehr leben, habe nicht alle ich ermordet.“
„Aber du hast doch wenigstens nur böse Menschen gemeuchelt?“
„Das glaube ich nicht. Nein.“
Eine Dohle landete auf einem Ast in der Nähe, der noch von inzwischen dürrem Laub bedeckt war. Obwohl der Vogel sehr leise war und sich diese Handlung am Rande von Anwins Blickfeld abspielte, registrierte er es.
„Du bist nicht in Gefahr. Aber vielleicht ist es trotzdem gut, wenn du etwas zu deinem Schutz tust. Ich will jedenfalls, dass du weißt, mit wem du es zu tun hast. Ich wurde missbraucht, aber ich habe mich missbrauchen lassen. Ich wurde erpresst, um zu töten und habe schließlich diejenigen, die mich dazu gezwungen haben, ermordet. Ich habe die Geisel, die dazu gedient hat, meinen Gehorsam zu erzwingen, befreit und – wie ich hoffe – auch in Sicherheit gebracht. Heraus aus der Welt.“
„Die Geisel?“
„Ein Mädchen, in das ich verliebt war.“
„Warum war? Hast du sie schließlich auch …?“
„Weil ich erfahren habe, dass ich ihr Onkel bin. Und weil sie einen anderen hat.“
„Und da hast du sie gar nicht umgebracht? Welch Fortschritt!“ Und nach einer kurzen Pause: „Hast du doch nicht, oder?“
„Nein. Sie lebt zusammen mit ihrem Freund und seiner Mutter unweit von der Welt – Pardon: ‚Hinterwelt‘ – aber immerhin ist sie draußen und wohl unbedeutend genug, dass man sie in Ruhe lässt. Hoffe ich sehr, denn ich mag sie nach wie vor. Sehr sogar.“ Er wirkte traurig.
Sie waren schließlich unten angekommen und Anwin blieb etwa ein Dutzend Schritte vor dem metallenen Ungetüm stehen und bestaunte es.
„Ich habe den kleinsten Sonnenwagen genommen, dessen ich habhaft werden konnte.“
„Wir nennen sie Götterwägen. Sind sie lebendig? Der hier nicht, das sehe ich, aber prinzipiell?“
„Nein. Komm mit!“ Sie deutete auf den Eingang, neben dem die Tür lag und ging selbst durch ihn hindurch. Er betrat staunend das Innere, konnte sich aber ob der Verwüstung keinen Reim darauf machen.
„Wie merkwürdig es hier aussieht. Ist das ein Sessel?“
Sie nickte, während sie bereits wie wild in den Regalen wühlte und deren Inhalt entleerte.
„Es macht mir Spaß in den Sachen anderer Leute zu wühlen. Da lernt man einiges über sie.“
Anwin ging nicht auf diese Bemerkung ein. „Ich bin ihnen gefolgt, den ‚Sonnenwägen‘. Sie fliegen bevorzugt in eine bestimmte Richtung. Ich wollte ihr Geheimnis ergründen.“
„Wozu das? Ha!“ Sie hatte einen kleinen runden Spiegel gefunden und betrachtete sich nun voller Wohlgefallen. Sie war ziemlich schmutzig und hatte überall Blutkrusten, aber abgesehen davon … sah sie absolut zufriedenstellend aus. Die Nase könnte vielleicht eine Spur kleiner sein, fand sie.
„Die Göttin U’Rieften hat mir gesagt, dass ich meinen Fluch nur loswerden kann, wenn ich diesen Planeten verlasse. Also muss ich einen Weg finden, das zu tun.“
„Dann solltest du dich an mich halten.“ Sie grinste und überprüfte mit dem Spiegel, wie das aussah. „Folge mir, wo immer ich hingehe.“
„Und wohin gehst du?“
„Nach Norden. Weißt du, was merkwürdig ist? Es gibt hier überhaupt keine Waffen. Welcher Gott oder welche Göttin ist so friedfertig? In Sonnenwägen sind immer Waffen, dachte ich. Nach dem, was hier herumliegt kann ich einfach nicht sagen, ob der Besitzer des Sonnenwagens ein Mann oder eine Frau ist. Wie auch immer – das hier könnte noch sehr nützlich sein.“ Sie hob eine handtellergroße Scheibe auf und drückte auf ein Symbol. Nichts passierte. „Kaputt!“, stellte sie enttäuscht fest. „Damit hätten wir Hilfe holen können. Ach egal. Hätte es funktioniert, hätte ich mich bloß darüber geärgert, dass ich es nicht schon vor einer Woche gefunden habe.“ Sie steckte die Scheibe und den Spiegel in ihre weiße Umhängtasche. Dann blickte sie sich noch einmal um, gleichsam aus nostalgischen Gründen. Immerhin war dieser Schrotthaufen eine Weile ihre Heimat gewesen.
„Ich bin froh, von hier wegzukommen. Lass uns gehen!“
„Müssen wir wieder den Hügel hinauf?“
„Du sagst es.“
„Oh!“, seufzte Anwin. Er war in den letzten Tagen bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gegangen und eigentlich sogar darüber hinaus. Jetzt, wo die Gefahr gebannt war – oder sie sie zumindest im Griff hatten, brach er buchstäblich zusammen. Er schlurfte seiner deutlich agileren Begleiterin hinterher. Da sie sich schließlich seinem Tempo anpasste, dauerte es ziemlich lange, bis sie wieder oben auf dem Plateau angekommen waren.
„Sie sind alle noch ohnmächtig.“
„Oh nein!“ Nisaya grinste. „Schon wieder! Sie sind inzwischen aufgewacht. Aber ich habe sie nochmals geelektroschockt.“ Sie sah sehr zufrieden mit sich selbst aus. Die Dohlen erhoben sich von ihren Warten und alle acht kreisten fröhlich und wieder vereint um ihren Kopf.
„Wir müssen diesen Pfad entlang.“ Sie zeigte auf eine vegetationsfreie Furche, die so schmal war, dass er sie kaum erkennen konnte.
„Bist du sicher?“
„Meine Dohlen sind sich sicher. Ich hatte viel Zeit, die Gegend mit ihrer Hilfe zu erkunden.“ Sie verkrümmte sich, um sich an allen möglichen Stellen zu kratzen. „Wenn dieser Mantel so weich und sanft ist, wie du sagst, warum sticht es mich dann überall?“
„Das werden die Flöhe sein.“
„Flöhe? Was sind Flöhe?“
„Du glaubst doch nicht, dass diese Räuber keine Flöhe haben? Die Viecher sitzen in jeder Mantelfalte. Fiese kleine Kreaturen mit Saugstachel, die es auf dein Blut abgesehen haben!“
„Widerlich! Du heilst mich doch von den Wunden?“
„Wie denn ohne Opfer?“
„Verdammt!“ Nisaya wirkte frustriert. Kurz überlegte sie sogar, ob sie die paar Schritte zurück gehen sollten, um wieder ein Opfer zur Verfügung zu haben. Aber es nützte ja nichts, die Blutsauger verschwanden durch die Heilung nicht. Sie behielt den Umhang trotzdem an, da sie nicht neuerlich einen Sonnenbrand bekommen wollte.
Anwin wusste, dass er sich irgendwie ablenken musste, wollte er nicht im Gehen einschlafen. Die Gegend war zwar sehr interessant, ganz anders als in der Welt, aber inzwischen kannte er sie schon. So fragte er:
„Was habt ihr noch gelernt? Über Ethik.“
„Oh! Warte mal.“ Sie zögerte einen Augenblick. „Wichtig ist auch noch das elfte Gebot.“
„Das elfte? Warum das elfte?“
„Weil es eine sehr alte Sammlung von zehn Geboten gibt, die das Verhalten der Menschen regeln sollte. Aber eines hat gefehlt, ja es wird sogar ausdrücklich gebrochen. Und dieses besagt, dass du kein Lebewesen und insbesondere keines der eigenen Spezies als deinen Besitz betrachten darfst.“
„Also eigentlich ein Verbot. Es darf keine Sklaverei geben.“
„Genau. Mein Großvater hat viel darüber geschrieben. Er war Historiker. Aber es geht nicht nur um Sklaverei sondern generell darum, dass du anderen Kreaturen möglichst wenig Schaden zufügen sollst. Wenn du zum Beispiel eine Unterwasserfarm für Sirenen anlegst, solltest du das so tun, dass sich die Quadrabbler und auch andere Lebewesen dennoch dort wohl fühlen. Und wenn du einen Garten gestaltest, sollte er keine Monokultur sein oder gar eine unbewachsene Wüste sondern vielfältig. Du bist für alle verantwortlich. Verstehst du?“
„Nicht alles, aber ich glaube im Grunde schon. Noch etwas?“
„Ja, klar. Zum Thema Macht. Wenn du mächtiger bist als andere, etwa stärker, dann nur, um solche, die weniger mächtig, schwächer als du sind, zu beschützen. Ohne sie zu bevormunden. Das ist der einzige Sinn darin, mächtiger zu sein. Das leitet sich aus der Evolutionären Ethik ab, die nichts mit dem Sozialdarwinismus zu tun hat. Gemeinschaften sind im gesamten Tierreich stets nur aus einem Grunde entstanden: um die Schwächeren zu beschützen. Und zwar die Jüngeren, die Kinder. Ohne diese Notwendigkeit gäbe es gar keine Gesellschaft und wir würden jeder für sich durchs Leben gehen.“
„Wenn du alles, was du bis jetzt erzählt hast, sinngemäß umkehrst, dann hast du genau das, was uns beigebracht wurde! Dann hast du die Maxime nach der unser Leben stattgefunden hat. Sklaverei! Ausbeutung der Schwächeren! Und wir Heiler sind ein Teil dieses Systems, nehmen den Reichen die Wunden und Krankheiten und übertragen sie auf die Armen und Versklavten. Deswegen will ich diesen Makel los werden. Ich muss weg von hier.“ Er grübelte eine Weile vor sich hin. „Gibt es außerhalb der Welt keine Sklaverei?“
„Doch. Leider. Hier auf Gaia ist sie auf mehreren Kontinenten quasi institutionalisiert. Aber in der Magellanschen Föderation gibt es keine; also auch auf Wägan nicht, wo ich herkomme. Dort ist auch der Schutz der Jüngeren sehr wichtig, die Kinder haben hier mehr zu sagen als auf anderen Föderationsplaneten.“ Sie zögerte. Dann sagte sie: „Wägan ist eigentlich ein sehr schöner Planet.“
„Warum bist du dann hier?“
„Ich habe mich gelangweilt. Außerdem konnte ich den Erzählungen meiner Eltern keinen Glauben schenken. Ich wollte selbst sehen, was stimmt und was nicht.“
„Und? Stimmt viel?“
„Offenbar alles. Das ist ziemlich erschütternd.“
Sie kletterten gerade einen Hügel hinauf und Anwin keuchte und blieb ein wenig zurück. Auch humpelte er, denn seine wunden Zehen taten weh. Nisaya sah es und passte sich seinem Tempo an.
„Hättest du dir nicht irgendwie Kraft von einem der üblen Kerle holen können? Oder dich selbst heilen?“
„So etwas mache ich nicht mehr. Nicht mehr für mich. Ich habe jahrelang meine eigenen Wunden auf andere übertragen müssen. Menschen tragen meine Narben, Leute, die mir nie irgendwas getan haben. Und die mich jetzt fürchten und hassen. Es ist genug.“
Sie schwiegen, bis sie die Anhöhe erklommen hatten. Es bot sich ihnen ein wunderbarer Rundblick. Nisaya sah auch den Hügel mit den Monolithen, aber Details konnte sie nicht ausmachen, dazu war die Entfernung bereits zu groß. Sie hätte eine der Dohlen zurücklassen sollen, solange sie die Verbindung aufrecht erhalten konnte.
„Nur noch ein Hügel“, erklärte Nisaya, „dann haben wir unser Ziel erreicht!“
Abwärts gehen war weniger anstrengend, aber die aufgeplatzten Blasen schmerzten nun mehr. Anwin beschloss, nicht mehr an seine Füße zu denken und stattdessen so viel wie möglich über die Welt außerhalb des Kraters in Erfahrung zu bringen.
„Gibt es jenseits der Welt auch Heiler?“
Nisaya drehte sich um und lächelte ihn an. „Solche wie dich nicht. Aber es gibt natürlich Ärzte. Auch meine Familie arbeitet für die Gesundheit der Menschen. Und die Götter … nun ja, jeder Gott hat stets drei Klone unterschiedlichen Alters von sich als Ersatzteillager.“
„Klone?“
„Das sind Menschen, die genauso aussehen wie das Original. Also neben dir würden noch drei Anwins existieren und wenn du – zum Beispiel – deine Hand verlierst, nimmst du sie dir von einem der anderen.“
„Und die sind damit einverstanden?“
„Sie schlafen die ganze Zeit. Sie können dazu nichts sagen.“
„Schlafen sie freiwillig so lange?“
Nisaya schüttelte den Kopf.
„Dann ist das unethisch.“
„Ja.“ Sie nickte betrübt. „Das ist sehr, sehr unethisch. Es ist nicht besser als euer System. Auf Wägan gibt es keine Klone. Spitäler schon. Natürlich. Und Organzucht auch. Aber es dauert bis ein Organ ausgebildet ist.“
Der Weg mäandrierte nun in der Ebene, zwischen sanften Erhebungen. Die Vegetation wurde saftiger, mit weicheren, größeren Blättern und weniger Stacheln. Hier hatte Anwin Zeit sich ein wenig zu erholen, denn sie gingen langsam. Nisaya schien das schwer zu fallen, sie hatte es offenbar eilig.
„Das ist so eine Art Zwischenplateau“, erklärte sie. „Von oben sieht man das ganz deutlich. Sonst geht es immer rauf, runter. Rauf, runter. Da vorne kommt noch mal eine Erhöhung und dahinter ist schon unser Ziel!“
„Ein Dorf? Oder sogar eine Stadt?“ Anwin wirkte verblüfft, hier hatte er mit keiner größeren Ansiedlung gerechnet. Aber Nisaya schüttelte den Kopf.
„Du wirst schon sehen! Du wirst sehr tapfer sein müssen.“ Sie blickte ihn an und zog eine Augenbraue hoch.
Dann kam die letzte Steigung. Nisaya wirkte voller Leben und zog Anwin förmlich hinauf, der eher mühselig weiter stapfte und die Hilfeleistung durchaus brauchen konnte. Schließlich waren sie oben und sahen hinab. Nisaya grinste. Anwin wirkte verwirrt.
„Das ist unser Ziel? Ein See?“
„Endlich wieder baden!“ Nisaya seufzte. „Du hast ja keine Ahnung, wie notwendig ich das habe! Oder doch. Du hast ja einen Geruchssinn.“
„Und warum muss ich jetzt tapfer sein?“
„Weil ich mich ausziehen werde! Bis auf den Bikini. Mein Nabel wird frei sichtbar sein!“
Anwin sackte ein wenig zusammen. „Ach, das.“
Sie ließ Anwin stehen und lief fröhlich quietschend hinab auf die azurblaue, glitzernde Fläche zu, die von niedriger Vegetation umrahmt wurde. Ein Teil des Ufers war unbewachsen und sandig; darauf hielt sie zu. Sie hoppelte ein wenig am Strand herum, weil sie ihr Schuhwerk nicht ohne Mühe von den Füßen bekam, obwohl zu groß, aber schließlich war es vollbracht. Sie schleuderte Umhang und weiße Tasche von sich und hopste wonnig ins Wasser, das hier tiefer war als sie gedacht hatte. Sie plantschte und prustete.
„Komm auch rein! Es ist einfach wunderbar. Gar nicht kalt.“
Anwin hatte inzwischen den sandigen Saum des Sees erreicht und ließ sich erschöpft nieder.
„Später. Ich ruhe mich nur ein wenig aus.“ Kaum hatte er sich hingelegt, schlief er auch schon tief und fest.
Nisaya erkannte es mit Enttäuschung. Einen Schlafenden kann man nicht ärgern! Aber sie fühlte sich so wohl und frivol, dass sie schnell darüber hinwegkam.
„Wenn das so ist …“ sprach sie zu sich selbst und befreite sich auch noch von den Bikiniteilen. Sie überlegte, ob sie sie in sein Gesicht schleudern solle, warf sie dann aber neben die Tragtasche. Dann tauchte sie ab und rubbelte sich die Haare und das Gesicht in der Hoffnung, dadurch Staub und Blutkrusten ab zu bekommen. Mit der Zeit war sie auch erfolgreich, Haut und Haare fühlten sich wieder glatt an. Trotzdem machte sie weiter. Schließlich schwamm sie ein paar Runden in dem kristallklaren Wasser, nicht um den ganzen See, dazu war er zu groß. Immer in der Nähe jenes Strandstücks, auf dem Anwin seelig schlummerte. Wenn er rechtzeitig aufwachte, konnte sie ihn bitten, ihr den Bikini zu bringen und sich an seiner Schüchternheit weiden. Aber er zeigte keine Anstalten dazu, schlief einfach immer weiter.
Sie tauchte noch ein paarmal bis zum Grund – was ihr dank der Übung mit den Nereiden auch gelang. Der See war ja nicht gar so tief. Schließlich war ihre Haut schon ganz schrumpelig und so beschloss sie, das Bade zu beenden. Die Dohlen, die über ihrem Kopf gekreist waren, schickte sie auf die nahen Bäume. Sie stießen laute „Tschock“-Rufe aus, was Anwin aber nicht beeindruckte – er schlummerte immer noch vor sich hin. Das ärgerte sie aber nicht allzu sehr, sie ging am Strand zu ihrem Bikini und zog ihn schnell an. Als nächstes warf sie den Umhang ins nahe Wasser – sollten die Flöhe ruhig ersaufen! Nach geziemender Weile holte sie ihn wieder heraus, wrang ihn aus und hängte ihn über den Ast einer nahe stehenden Erle. Sie stellte ihre Dohlen auf Beobacht- und Warnmodus. Danach setzte sie sich zur weißen Tasche und entnahm ihr Kamm und Spiegel und machte sich ans mühsame Werk. Sie fluchte ziemlich oft – hauptsächlich in antiken Sprachen, die sie von der Schule her einigermaßen kannte – und es dauerte eine Weile bis sie zufrieden war. Nun musste sie sie nur mehr trocknen. Sie legte sich hin, sorgfältig darauf bedacht, dass ihre Haare nicht mit Sand in Berührung kamen und seufzte wohlig. Ein leichter Wind streichelte ihre Haut. So entspannt war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie glitt in Morpheus' Arme.
Als sie erwachte, war die Sonne merklich weiter gewandert. Anwin streifte sich gerade sein schwarzes Gewand über; offenbar hatte auch er gebadet. Die Dohlen hatten sie nicht geweckt und daher wohl in ihm keine Gefahr gesehen. Sie richtete sich verschlafen auf und merkte, wie erstaunt der Heiler sie anstarrte. Es war aber nicht ihr nackter Nabel, der seine Aufmerksamkeit gefangen hielt. Sie rieb sich immer noch ein wenig müde die Augen, dann starrte sie zurück.
„Deine Haare!“, stieß er endlich hervor, „sie leuchten in allen Farben! Wie du gesagt hast. Aber es ist trotzdem verblüffend. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Eigentlich sieht es so aus, als wäre das Strahlen über dem Haar.“
Sie schüttelte den Kopf ein wenig, die Haare folgten der Bewegung und warfen bunte Funken. „Wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse. Jetzt sind sie wieder sauber und trocken und dann funkeln sie nun mal.“
Anwin setzte sich neben sie. Nisaya fuhr fort: „Eigentlich bist du der Mysteriösere von uns beiden. Also: du kannst die Aura der Menschen sehen?“
„Nur, wenn ich sie berühre.“
„Aber meine hast du gesehen! Was verrät sie dir über mich?“
Anwin blickte ihr nicht in die Augen. Bei solchen Gesprächen zog er es vor, woanders hin zu sehen. In diesem Fall bot sich der See an. Dann nahm er einen Kiesel und schupfte ihn ins Wasser. Plitsch!
„Das habe ich dir doch schon gesagt.“
Er nahm ein weiteres Steinchen. Nisaya schloss sich ihm an. Plitsch, plitsch.
„Ah! Da war sicherlich noch mehr.“
„Normalerweise spreche ich nicht über so was, es sei denn ...“
„Papperlapapp! Zier dich nicht so!“
„Hm. Also. Du leidest oft.“
„Warum?“
„Weil du Angst hast.“
„Wovor?“
„Davor nicht geliebt zu werden. Vor Einsamkeit. Davor hast du Angst. Wenn du irgendein Zeichen siehst, jemand könne dich weniger mögen, dann reagierst du über. Ziemlich heftig sogar. Weil du Sicherheit suchst. Du brauchst die Versicherung, dass sich nichts geändert hat und die willst du dir sehr aggressiv holen. Was aber nicht jeder versteht.“
Sie nickte. „Mein Vater zum Beispiel. Der versteht gar nichts. Er ist ein ...“
„Dabei hast du wahrscheinlich gar keinen Grund. Wenn du hier wärst mit deiner Familie und du würdest dich an einem scharfkantigen Stein verletzen ...“
„An welchem Stein?“ Sie blickte um sich.
„Egal. Stell dir einfach einen felsigen Strand vor! Und du könntest nicht weiter. Glaubst du nicht, jeder würde dir helfen, dich bis zur Fähre tragen, wenn sie noch funktionierte, oder wohin immer. Wenn es wirklich darauf ankäme, würden dir alle helfen, egal wie wütend der eine oder andere gerade auf dich ist oder du auf ihn oder sie.“
„Du kennst sie doch gar nicht!“
„Das ist wahr. Aber in der kleinen Siedlung, in der ich aufgewachsen bin, war das so. Innerhalb einer Familie wird da schon gestritten, aber wenn es hart auf hart kommt ...“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum sollte deine Familie anders sein?“
Nisaya schwieg, dachte an ihre Eltern und ihre Geschwister. Wie es ihnen wohl jetzt ginge? Was erlebte Gjefren gerade? War er wohlauf? Plötzlich durchzuckte sie die Furcht, er könne verletzt sein oder sogar tot! Sie war hier in vermeintlicher Sicherheit geblieben, aber dann hatte Sarpedon sich nicht mehr um sie gekümmert, sie alleine gelassen. Ja, sie hatte sich ungeliebt gefühlt und vielleicht tatsächlich ein wenig überreagiert. Nun steckte sie tief im Schlamassel. Und Gjefren möglicherweise auch. Was, wenn sie ihrem Onkel egal waren? Dann würde sie ihre Familie nie wieder sehen, denn ohne seine Hilfe konnten sie den Planeten nicht verlassen. Ihre Augen wurden feucht, fast löste sich ein Träne aus deren Winkel. Es sollte doch nur eine Art Abenteuerurlaub sein! Was war daraus geworden?
„Wie ist deine Familie?“, fragte sie, um sich von den negativen Gedanken abzulenken.
Er schüttelte den Kopf. „Da ist nur mein Vater. Meine Mutter habe ich nie kennen gelernt. Vielleicht lebt sie noch. Ich weiß es nicht. Issa und deren Mutter waren sozusagen meine Ersatzfamilie. Erst vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass sie verwandt mit mir sind. Na ja, geahnt habe ich es schon etwas länger. Mein Vater wollte nicht mitkommen. Keiner von der Randsiedlung wollte das. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass es wirklich mehr gibt als die Welt.“ Er sah sie jetzt an. „Ich werde sie nie wieder sehen. Auch keinen meiner Freunde, die in der Nähe der Welt zurück geblieben sind.“
„Du verstehst sehr viel von Einsamkeit. Du kennst sie gut“, meinte Nisaya.
„Ja.“
Sie hockten noch eine Weile stumm neben einander, der Tag zog an ihnen vorüber. Beide hingen ihren Gedanken nach, schwebten durch die Vergangenheit, erinnerten sich an angenehme Erlebnisse. So versunken waren sie, dass sie zunächst nicht bemerkten, dass das laue Lüftchen durch eine etwas stärkere Brise ersetzt wurde, und dass die Oberfläche des Sees jäh nicht mehr glatt wie ein Spiegel war, sondern leicht aufgeraut. Erst als die Sonne hinter etwas verschwand, das bestimmt keine Wolke war, wurden sie aufmerksam.
Anwin blickte nach oben. „Nisaya, schau nur. Ein Götterwagen! Ist das gut?“
Diesen Typ Gleiter hatte sie bereits einmal gesehen. Sie hatte ihn eine Weile verfolgt und war dann abgeschossen worden.
„So gut, wie als Achtzehnjährige einen Achtzigjährigen zu heiraten – in einer Gesellschaft, in der Witwenverbrennung zelebriert wird!“
Der Gleiter kam näher, senkte sich ganz langsam ab und kam über dem See zum Stillstand. Er hatte es offensichtlich auf sie abgesehen.
„Nein. Schlechter!“, korrigierte sie sich selbst.
Da erschallte eine Stimme wie von einem Gott über dem Wasser, warf Echos an den Wänden des Taltrogs: „Bist du die zukünftige Thetis, Tochter des Meergreises? WAS HAST DU MIT MEINEM SONNENWAGEN GEMACHT? Wo ist er überhaupt?“
Nisaya stand auf. „Der ist nur noch Schrott! Ich kann nichts dafür! Ich bin abgeschossen worden!“, schrie sie.
„DAS IST ÜBEL! GANZ ÜBEL!“, donnerte es aus Richtung Gleiter. „OOOOH, WAS MACHE ICH JETZT NUR?“ Und nach einer Weile etwas leiser: „Ich werde landen. Und dann erklärst du mir das alles. Geht aus dem Weg!“
Ihr schönes, flaches Strandstück war tatsächlich die einzige Stelle, an der eine Landung möglich war, also wichen sie zu der Erle aus, auf der die Dohlen saßen. Sie nahm den Umhang des Mörderhauptmanns und warf ihn sich um die Schultern. Der dunkle Gleiter schob sich näher, drückte dabei das Wasser hinunter, das spektakulär hinter ihm wieder in die Höhe schwappte. Kaum über Land und sicher ruhend, fuhr er schon die drei Beine aus und ließ auch die Treppe hinab, sobald sich die Türe geöffnet hatte. Nisaya und Anwin starrten, aber eine Weile tat sich gar nichts. Erst dann erstarb das leise Summen, das mit der Antriebsaktivität verbunden war.
„Ich kenne mich mit diesem Gleitertyp nicht aus. Eigentlich mit überhaupt keinem.“ Den Worten folgte ein nicht ganz schlanker, etwas untergroßer Jüngling mit sorgfältig gekräuseltem, blondem Haar, strahlendem Lächeln und einer ungewöhnlich gefärbten Tunika. Nisaya musste noch einmal hinsehen um ganz sicher zu sein. Aber ja, sie war rosa, der Leibgurt hingegen gelb. Der junge Mann bemerkte ihren Blick.
„Schick, nicht? Der neueste Schrei aus Theben, der Festung mit den zyklopischen Mauern! Hi, ich bin Iphikles.“ Er winkte mit einer Hand voller goldener und silberner, mit Edelsteinen verzierter Ringe.
„Ähhhh … du bist kein Gott“, stellte sie fest. Nisaya wies auf seine Haare, die nicht strahlten.
„Danke, dass du mich darauf aufmerksam machst!“ Er wirkte etwas beleidigt, hatte aber sein sonniges Gemüt bald wieder gefunden. Seine Bewegungen wirkten weich und affektiert. Inzwischen war er auf der letzten Stufe angekommen und betrat nun den weißen Sand. Um ihm in die Augen zu blicken, musste Nisaya nicht nach oben sehen. Anwin war deutlich größer. „Nein, ich bin nur ein Halbgott.“
„Dann verwenden Halbgötter auch Sonnenwägen?“
„Nur auf Einladung. Und wenn alle Macht blockiert ist.“
„Ah, deshalb also keine Waffen an Bord. Deswegen konnte ich mich nicht wehren.“
„Du bist abgeschossen worden? Schockierend!“ Er betrachtete sie eingehend. „Du bist ein hübsches Ding. Ich meine, wenn man auf Frauen steht! Dieser Regenbogenschimmer, das ist mal eine Abwechslung! Und passt auch so gut zu den großen, dunklen Augen. Aber deine Kleidung, einfach grau-en-voll! Ach Kindchen, daran müssen wir noch arbeiten.“ Sein Blick wanderte zu Anwin, „Und auch dein Begleiter ist attraktiv – auf eine düstere Art.“ Der Halbgott wich ein wenig vor ihm zurück. „Er ist doch nicht gefährlich, oder?“
Nisaya schüttelte den Kopf. „Ein bisschen verrückt, aber nicht bedrohlich.“
„Gut“, meinte Iphikles, „ich mag keine Gewalt.“ Ein Segelfalter schwebte nahebei auf eine blaue Blume zu. „Oh! Der ist nach mir benannt!“ Er deutete auf den Schmetterling.
„Was meinst du mit 'auf Einladung'?“
„Nun, Meine Stiefmutter hat mir den Gleiter – ich meine den, den du geschrottet hast – nach Theben geschickt. Sie wollte, dass ich auf dem Fest des Nereus erscheine, an dem auch die meisten wichtigen Götter teilnehmen, die zwölf olympischen zum Beispiel.“ Er lachte. „Ich wusste nicht einmal, dass sie eine Ahnung von meiner Existenz hat. Und dann ist sie gleich so entgegenkommend zu mir! Eine Göttin! Ich war geschmeichelt und habe ihr gleich die allernettesten Gefühle entgegengebracht. Na ja.“
„Wer ist deine Stiefmutter?“
„Hera.“
„Dann ist ja dein Vater ...“
„Zeus Kronion, genau!“
„Merkwürdig, du wirkst eigentlich sympathisch ...“
„Jedenfalls sollte ich gemeinsam mit meinem Bruder zum heiligen Fest kommen, aber der war nicht da, weil ihn Vater zu unserer Mutter geschickt hat. Zum Glück.“
„Warum zum Glück?“
„Wir verstehen uns nicht so gut. Er mag nämlich Gewalt. Als zum Beispiel unlängst Boten zu uns nach Theben gekommen sind, hat er ihnen die Nase und die Ohren abgeschnitten. Die Kunde war zwar wirklich schlecht, aber wer ist schon so dumm, dass er nicht zwischen Botschaft und Überbringer unterscheiden kann? Mein Bruder Alkaios!“ Er blickte in die Ferne. Offenbar quälten ihn Erinnerungen. „Zu mir war er auch nicht gerade nett.“
Um ihn abzulenken, fragte Nisaya: „Und, wie war das Fest so?“
„Ich habe meine Stiefmutter kennen gelernt. Sie erinnert mich an eine Schlange. An eine sehr, sehr giftige. Sie sieht fast aus wie ein kleines Mädchen, zart, schlank. Jedenfalls hat sie mich gleich zu meinem Vater geschickt, dem fast die Augen rausgefallen wären, als er meiner ansichtig wurde. Offenbar hatte sie 'vergessen', ihm von meiner Anwesenheit zu erzählen. Die Sache war ihm sehr peinlich und mir dann natürlich auch. Meine Stiefmutter hat mich für eine Intrige missbraucht, sie wollte mich gar nicht kennenlernen, sondern wollte ihm nur klarmachen, dass sie von seinem kleinen Seitensprung weiß. Und, dass er Folgen hatte. Ich bin ihr völlig egal. Dazu kommt, dass mein Vater sich immer schon für mich geschämt hat. Der einzige Sohn, den er je wahrgenommen hat, ist Alkaios, der große, der starke, der sadistische.“
Nisaya wandte sich an Anwin: „Vielleicht änderst du ja deine Meinung über Familien, wenn du die Bekanntschaft der seinen machst.“ Und nun wieder zu Iphikles: „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“
Er deutete zur Erle. „Deine Drohnen senden ein Signal aus, dem man mühelos folgen kann.“
„Wessen Gleiter ist das überhaupt?“
„Er gehört Triton. Er hat ihn mir netterweise zur Verfügung gestellt. Natürlich wurden wieder alle Waffen entfernt oder inaktiviert. Merkwürdig, dass er so nett zu mir war. Er hat mir den Sonnenwagen geradezu aufgedrängt.“
Nisaya grinste. „Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er vergessen hat, die Hangartüre zu schließen.“
„Nun ja – und ich die des Gleiters, wie es aussieht.“
„Ja“, bestätigte sie, „die war offen.“
„So, jetzt habe ich dich gefunden und Heras Sonnenwagen ist nicht mehr. Das wird sie nicht gerade freuen. Was soll ich bloß tun?“
„Ihr einfach sagen, dass er abgeschossen wurde?“
„Gibt es außer deiner Aussage noch Beweise dafür?“
„Das Wrack. Ob noch Aufzeichnungen zu retten sind, weiß ich nicht, aber dass Fremdeinwirken schuld am Absturz war, ist offensichtlich. Du kannst ja hinfliegen und alles aufnehmen. An Bord des Angreifers waren ein Mann mit schillernden Haaren und eine dunkelhaarige Frau. Sie war definitiv keine Göttin.“
„Würdest du die beiden wiedererkennen?“
Sie nickte. „Ganz bestimmt.“
Iphikles verzog das Gesicht. „Erfreulich wird die Sache trotzdem nicht.“
„Flieg einfach erst zurück, wenn sie wieder am Olymp ist! Man sollte unangenehme Treffen stets vermeiden. Und nach allem was du mir geschildert hast, wird sie wenig Wert darauf legen, dich je wieder zu sehen. Du warst ein Werkzeug für sie, um ihren Mann zu verhöhnen. Sie wird kein Interesse mehr an dir haben, du hast deine Aufgabe erfüllt.“
„Oh, ja. Aber was ist mit Triton? Er wird nicht begeistert sein, wenn ich ihm seine Fluggerät nicht gleich zurückbringe.“
„Ihm wird daran gelegen sein, dass seine Schuld nicht ans Tageslicht kommt. Jetzt, wo wir den Gleiter nicht zurück bringen können. Es müsste ihm recht sein, wenn wir nicht gleich zurückkehren.“
„Hm. Und was machen wir die ganze Zeit? Kreise drehen?“
Nisaya brauchte nicht lange zu überlegen. „Wir besuchen meinen Bruder. Er ist am Hyborischen Zeitalter. Ich weiß sogar genau wo. Er hat den Schlüssel zur Festung der Sandarken mitgenommen und glaubt, ich weiß nichts davon. Aber ich habe ihn gesehen als ich an Bord des Raumschiffs, das uns hierher gebracht hat, seine Sachen durchwühlt habe.“
„Du bist nicht von Gaia?“
„Uuuups! Das hätte ich wohl nicht erwähnen sollen!“
„Triton hat es mir jedenfalls nicht gesagt. Das ist interessant. Was ist mit dem da?“ Er deutete auf Anwin. „Nehmen wir ihn mit?“
„Ich habe einen Namen. Ich heiße Anwin.“
„Unbedingt! Er ist wichtig.“
„Er blickt aber so finster. Bist du sicher, dass er ungefährlich ist?“
„Er hat ein paar Menschen umgebracht, ist aber sonst wirklich harmlos!“
„Ein paar Menschen umgebracht? Wirklich harmlos? Er sieht aus wie ein Assassine!“
Die Dohlen erhoben sich vom Baum, drehten eine Ehrenrunde um Nisayas Kopf und verschwanden im Inneren des Gleiters. „Komm schon!“, meinte sie. Sie ergriff Anwins Hand und stapfte auf die Treppe zu. „Ist das nicht genau das, was du wolltest?“ Anwin nickte. Er folgte Nisaya vorsichtig die Treppe hinauf und sah sich mit großen Augen staunend um. Gänge und kleine, helle Räume, aber nirgends Kanten. Alles war irgendwie abgerundet. Nisaya hielt schnurstracks auf den größten Raum zu, in dessen Mitte ein spärlich bekleidetes, blondes Mädchen mit deutlich sichtbarem Nabel stand. Sie lächelte ihnen entgegen.
„Willkommen!“ säuselte sie.
„Eine Nereide! Natürlich“, meinte Nisaya und ging zu Anwins Erschrecken mitten durch sie hindurch. Er blieb verdutzt stehen. Das Mädchen war verschwunden.
„Sie ist bloß ein Avatar!“ Und dann lachte sie los.
„Was ist so lustig?“, wollte Anwin wissen.
„Du und Iphikles. Der konservative Anwin und … er ist vom anderen Ufer, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.“
„Vom anderen Ufer?“
„Psst! Er kommt.“
„Die Stühle stehen falsch herum.“ Anwin zeigte auf die drei Sitzgelegenheiten, die alle zur Wand hin ausgerichtet waren.
„Nein, nein, das stimmt schon“, erklärte Iphikels, der gerade den Raum betrat und Anwin so anblickte, als sei er ein besonders seltsames Tier. „Setzt euch. Aber nicht auf den mittleren Sitz. Der ist für mich reserviert.“
„Ich habe die Dohlen in die Medikammer gelenkt. Ich hoffe das ist dir recht.“
Iphikles zuckte mit den Schultern. „Warum nicht? Sie machen ja nicht hin.“ Und in den Raum hinein ergänzte er, nachdem sie sich gesetzt hatten: „Fertig machen zum Start!“ Daraufhin manifestierten sich vor Iphikles Armaturen und die Bildschirme wurden aktiv. Anwin erschrak abermals, als plötzlich ein Drittel des Raums quasi verschwand, und er auf den See blickte. Die Treppe wurde eingefahren, die Außentür schloss sich vernehmlich. Aggregate wurden aktiv, die Beine des Gleiters eingezogen.
Iphikles wandte sich nach links an seine Begleiterin: „Wie heißt du eigentlich? Thetis kann ich dich ja noch nicht nennen.“
„Nisaya. Ich will die Rolle gar nicht. Sie hat so ihre Nachteile! Ich will eigentlich nur noch meinen Bruder und meinen Onkel aufsammeln und wieder ab nach Hause.“
„Darf Doris die Erinnerung deiner Drohnen abzapfen?“ Er setzte voraus, dass sich Nisaya zusammenreimen konnte, dass Doris der Avatar war. Sie wusste ja, dass auch die Frau des Meergreises und eine seiner Töchter so hießen.
„Warum nicht?“
„Gut! Start!“ Man fühlte nicht viel, doch langsam sank die Landschaft hinab. Anwin lehnte sich so weit als möglich in seinem Sessel zurück.
„Du kannst nicht hinausfallen!“, kommentierte Nisaya. „Das ist nur ein Bildschirm.“ Sie berührte ihn. „Siehst du?“ Anwin nickte, behielt aber seine verkrampfte Körperhaltung bei.
„Ich kann mir vorstellen, dass das ziemlich erschreckend ist, wenn man von einer so primitiven Gesellschaft kommt wie du.“
Der Gleiter schwebte kurz über dem Trog, wendete dann und flog nun jenen Weg zurück, den sie gekommen waren. Wofür sie Stunden benötigt hatten, war nun in Minuten erledigt.
„Da, siehst du?“, erklärte Nisaya aufgeregt. „Ich habe den Hügelgipfel nur knapp verpasst und bin dann seinen Hang hinab geschrammt! Dabei habe ich die gesamte Vegetation niedergemäht. Oh! Die Meuchler sind weg. Offenbar haben sie ihren verletzten Anführer mitgenommen.“
„Das ist gut!“, stellte Anwin fest. Ein Mensch weniger, den er auf dem Gewissen hatte. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn umbringen würden oder einfach liegen lassen, was auf das Gleiche hinausgelaufen wäre.
Iphikles zoomte auf das Wrack. „Doris wird das aufnehmen. Die Schüssel ist zwar arg zerbeult aber man kann trotzdem noch das Einschussloch erkennen. Typisch für eine Plasmaimpulskanone. Nicht dass ich Experte wäre. Ein Wunder, dass du das überlebt hast. Noch dazu unverletzt.“
Nisaya wechselte einen Blick mit Anwin, was nur möglich war, weil sie sich – kurzfristig auch Anwin – vorgebeugt hatten. Sie erreichten Übereinkunft; keiner von beiden erwähnte seine speziellen Fähigkeiten. Dabei bedachte Nisaya nicht, dass die Aufzeichnungen der Dohlen diese offenbaren würden.
Anwin beschloss, sich an der allgemeinen Konversation zu beteiligen. „Also, was heißt das: 'vom anderen Ufer sein'?“, fragte er. Nisaya lief rot an.
„Ahhh! Hat das Täubchen zu meiner Linken gegurrt?“, wollte Iphikles wissen.
„Na ja, es war nur so witzig, weil Anwin aus so einer konservativen Gesellschaft stammt. Und dann er und du...“
„Also, erkläre es ihm.“
„Das bedeutet, dass jemand mehr am eigenen Geschlecht interessiert ist, wenn es um Sex geht. Also in Iphikles Fall an Männern.“
Anwin rückte ein wenig ab, soweit dies der Schalensessel erlaubte.
„Du bist nicht mein Typ. Ich mag keine gewalttätigen Männer.“
Anwin überlegte, ob er darauf hinweisen sollte, dass er gar nicht gewalttätig war, ließ es aber dann bleiben. In Hinblick auf die gegenwärtige Situation schien diese Option vorteilhaft.
„Es muss doch auch in der Hinterwelt solche Menschen geben“, fügte Nisaya hinzu.
„Sicher. Wenn man sie erwischt, kommen sie in die Arena. Als Opfer für die Götter!“
„Findest du das gut? Gerechtfertigt? Woher stammst du überhaupt?“ Iphikles begann sich in seiner Gegenwart ernsthaft unwohl zu fühlen.
„Aus dem Berg da hinten.“ Er deutete in die entsprechende Richtung. Der größte Teil des Bildschirms zeigte das Umland, nur der zentrale Bereich war auf den zerstörten Gleiter gezoomt.
„Es ist so eine Art Vulkanschlot oder Krater“, meinte Nisaya.
„Ah! Die Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters.“
„Wir kennen sie als unsere Götter. Ihre Diener ernähren sich von Menschenfleisch. Deshalb müssen viele Unliebsame und Unwerte sterben, werden in der Arena geopfert. Verurteilte natürlich auch. Wer gegen die Götter lästert. Wer Hunger hat und deshalb stiehlt. Entflohene Sklaven. Und um auf deine Frage zu antworten: nein, was dort geschieht ist weder gut noch gerechtfertigt. Ich weiß noch nicht, ob das hier anders ist, aber ich hoffe es.“
„Interessant. Wir kleinen Halbgötter werden über solche Details natürlich nicht informiert. Aber mein Vater wird sie wohl kennen. Wäre interessant zu erfahren, was er davon hält.“
Nisayas Blicke waren von dem Wrack gefesselt, das beinahe ihr Grab geworden wäre. Dennoch folgte sie der Unterhaltung. „Weiß er, dass du ...“.
Iphikles lachte. „Soll ich zu ihm hingehen und sagen: übrigens, ich bin schwul? Vielleicht weiß er es, möglicherweise verdrängt er es auch. Es ist mir egal, was mein Vater denkt. Für ihn bin ich nur eine Panne.“ Er schwieg eine Weile und Nisaya erkannte, dass das Thema 'Vater' für Iphikles nicht ganz emotionsfrei war. Es war ihm auch nicht aufgefallen, dass er sich selbst gerade widersprochen hatte.
Iphikles wechselte das Thema: „Du sagtest, du seist nicht von Gaia. Wir werden nicht gerade häufig besucht, die Götter wissen weshalb! Woher stammst du?“
Offenbar hatte Iphikles keine Ahnung davon, dass Gaia völlig abgeschottet wurde. „Aus der Magellanschen Föderation. Es gibt da einen kleinen, türkisfarbenen Planeten, viel Meer und deshalb wenig Landfläche, zu viel Sonne um gesund zu sein, der von Sonderlingen besiedelt wurde, die ihre Ruhe haben wollten. Wägan.“
„Ganz anders als Gaia“, wandte Iphikles ein, „diese Welt war einmal als Zentrum der aufführenden Künste geplant, der spektakulärsten historischen Schauspiele, kontinentweit präsentiert; sie sollten dem zahlenden Publikum aus anderen Welten dargeboten werden. Darsteller und Autoren träumten von Ruhm, ja von Unsterblichkeit. Aber während einer interstellaren Krise vor einigen tausend Standardjahren blieben die zahlenden Gäste aus und das änderte alles. Aus dem Spiel wurde ernst. Ein Vorgänger meines Vaters wurde zum Diktator und eine Oligarchie ergriff die Macht, indem sie die zentrale Technologie für sich beanspruchte und andere nicht mehr an ihr teilhaben ließ.“ Iphikles grinste. „Wir haben eine gute Bibliothek in Theben, sehr groß, sehr verwinkelt. Und das Beste: ein Ort, den mein Bruder noch nie besucht hat. Der ideale Schlupfwinkel. Aber wenn man sich tagelang verstecken muss, braucht man eine Beschäftigung. Deshalb weiß ich das alles.“
„Dann kennst du vielleicht meinen Großvater. Er war Historiker. Lezart PaDorkis.“
Iphikles nickte. „Oh ja, ich habe ein Buch von ihm gelesen. Etwas langatmiger Stil, aber trotzdem nicht uninteressant geschrieben.“ Er seufzte. „Wir können nicht ewig hier herumhängen. Ich schinde Zeit. Ich will nur das Gespräch mit Triton hinausschieben.“
„Warte! Ist es klug, den schlafenden Seelöwen zu wecken?“
„Ich will ihm keine Details verraten, bloß argumentieren, warum es günstiger ist, wenn wir noch ein Weilchen fernbleiben. Das funktioniert natürlich nur, falls Hera nicht vorzeitig aufgebrochen ist.“
„Na gut. Und dann ab zum Hyborischen Zeitalter. Hoffentlich. Ich bin schon neugierig was mein Bruder für Augen macht, wenn er uns sieht!“
***
Von Anfang an waren die Dinge anders gelaufen als geplant. Zwar hatte er die Enigmaadresse Gaias erhalten, aber auch die Verantwortung für zwei der Kinder – sicherlich nicht der gehorsamsten - seiner Nichte. Sein Vorhaben – Rückkehr nach Historia – war nicht ungefährlich, aber möglicherweise von großer Bedeutung für die Menschheit. Deshalb hatte er sie mitgenommen, Gjefren wissentlich, während Nisaya von ihrem Bruder an Bord geschmuggelt worden war. Also hatte er eine Botschaft an seine Nichte geschickt, dass zwei ihrer Kinder bei ihm waren und ihn auf einer Besichtigungstour durch die Magellansche Föderation begleiteten. Das war die Lüge, die er ihr und Tjonre bereits bezüglich Gjefren aufgetischt hatte. Und er hatte sich grässlich dabei gefühlt.
Sein Raumschiff war Jahrhunderte alt aber offensichtlich stets gut gewartet worden, von einer automatischen Anlage. Es handelte sich – wie alle Transporter zur Überwindung stellarer Distanzen, die auf Gaia hergestellt worden waren – um ein Atmosphärenschiff. Er ließ sich also in einem geeigneten Moment über dem Hyborischen Zeitalter beim westlichen Binnenmeer in die Lufthülle fallen und folgte dann dem Yil flussaufwärts bis zur ersten und einzigen großen Stadt in der Nähe der Schwarzen Berge. Dort, in den Auen unweit der Siedlung, entließ er Gjefren, mit Schutzweste, Pistole, Com, Farren aus Silber und der Anweisung, Gefahren zu meiden und nur im Notfall anzurufen; die Verbindung war nicht sicher, er könnte geortet werden. Dieser Tat war eine lange Diskussion vorangegangen. Gjefren bestand darauf, dass sein Aufenthalt auf diesem Kontinent Sarpedons Sache dienlich sein würde. Näheres wollte er nicht verraten, außer, dass auch ein Quäntchen Nostalgie ihn antrieb. Er wolle den Fußstapfen seiner Eltern folgen, meinte er.
Er ließ ihn gehen, aber nicht seine widerspenstige Schwester. Dass sie ohne sein Wissen an Bord gekommen war, nahm er übel. Was sie betraf, wollte er nicht das geringste Risiko eingehen. Nach sorgfältiger Überlegung beschloss er, sie in Poseidons Obhut zu stellen. Der Erderschütterer war nicht gut auf den gegenwärtigen Zeus zu sprechen und so gesehen ein Verbündeter. Also besuchte er den mächtigen Meeresherrscher und seine Frau Amphitrite in seinem goldenen Haus in den Tiefen der See. Wenig erfreut blickte ihn der Schwarzhaarige an; seine dunklen Augen unter den buschigen Brauen funkelten gefährlich. Sarpedon musste erkennen, dass es nicht genügte, einen gemeinsamen Feind zu haben, um willkommen zu sein. Letztlich rettete Poseidons Sohn Triton die Situation, indem er die Verantwortung für Nisaya übernahm. Er war Neuem gegenüber durchaus aufgeschlossen, ein bisschen Fremdenführer spielen war ihm recht. Und seit ihm die Nereide Galene den Laufpass gegeben hatte, war mangelnde Zeit nicht mehr sein Problem.
Poseidon fand es unklug sich offen gegen Zeus zu stellen; er fürchtete die Konsequenzen, falls es ruchbar würde, dass er den ehemaligen Hephaistos, einen Verbannten, unterstützte. Von ihm konnte er also nicht allzu viel Hilfe erwarten, wenn es darum ging, Zeus Machenschaften aufzudecken. Wem konnte er vertrauen? Die goldene Aphrodite war seine Frau, neigte aber nicht zur Treue, dafür aber zu Opportunismus. Und die wunderschöne Aglaia, die jüngste der Grazien? Sie war ihm zugetan, lieblich und naiv. Nicht gerade die Person, der man Geheimnisse anvertrauen sollte, da sie eben nicht nur ihn, sondern beinahe alle Götter mochte.
Blieb noch Hades, der Gott, der die Unterwelt zusammen mit der schrecklichen Persephoneia regierte. Der Herrscher des Totenreichs war kein Freund Epistors gewesen als dieser noch nicht Zeus sondern Paieon dargestellt hatte. Warum hätte sich das ändern sollen? Hades war von nachtragendem Charakter; das war allgemein bekannt. Soweit Sarpedon sich erinnern konnte, war es bei dem Streit um Macht gegangen, worum sonst? Epistor hatte direkte Kontrolle über die Klone der Götter verlangt, die als Ersatzteillager und Organspender fungierten. Das entspräche schließlich seiner Funktion als Paieon, Arzt der Götter. Eine alten Schriftquelle – Hesiods Theogonie – war von den Alten aber so ausgelegt worden, dass diese im Tartaros, also in Hades Machtbereich, gelagert wurden. Das Wasser des Flusses Styx, den die Verstorbenen überqueren mussten, hatte nämlich – so die Sage – die Eigenschaft, selbst Götter für ein Jahr in einen totengleichen Zustand zu versetzen. Die Götter mussten auf den Fluss der Unterwelt schwören. Zu diesem Zweck wurde ihnen ein Kelch mit dem Wasser der Styx gebracht, den die schnellfüßige Iris, eine Götterbotin, aus dem Tartaros besorgte. Beging der Gott einen Meineid, so fiel er in eine tranceartige Starre. Die Alten hatten diese Sage um Götter im scheintoten Zustand als Grund dafür genommen, die Klone in der Unterwelt zu lagern statt im Olymp selbst; notfalls konnten sie von dort durch einen schmalen Schacht in den Felsen rasch geliefert werden. Vielleicht war es aber auch das schlechte Gewissen, das es ihnen vergällte, die lebendigen Leichname unter sich zu haben. Wie auch immer; diesen Streit hatte Epistor jedenfalls verloren.
Einen andern hatte er hingegen gewonnen. Hades war nämlich sein größter Konkurrent gewesen, als es darum ging, die Rolle des Zeus neu zu besetzen. Dass die anderen Götter sich für ihn entschieden und Hades abgelehnt hatten, mochte für Sarpedons Sache dienlich sein, denn sicherlich hegte er nach wie vor einen Groll auf die meisten Olympier.
Sarpedon beschloss also, Hades einen Besuch abzustatten. Davor aber wollte er noch seine geheime Rückzugsstätte auf der Insel der Sintier besuchen. Es war nie gut, unvorbereitet zu sein.
Das Heiligtum erwies sich als unberührt und daher konnte er sich über die wesentlichsten Entwicklungen der letzten Zeit informieren. Schließlich wusste er alles von Bedeutung, das sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte, ohne dass diese Kenntnis sehr hilfreich gewesen wäre. Wo die Achaier gerade gegen wen Krieg führten war für ihn ebenso belanglos wie die internen Intrigen der Götter. Über Zeus erfuhr er nicht viel. War sein Ehrgeiz gestillt? War es ihm genug als Göttervater zu posieren? Obwohl Sarpedon dies bezweifelte musste er zugeben, dass alles dafür sprach. Nur war Zeus – Epistor – ohne Zweifel wahnsinnig und sehr wahrscheinlich von einer todbringenden Mission erfüllt.
Sarpedon ließ sich den Weg zeigen, den Gjefrens Com zurückgelegt hatte und damit wohl auch sein Besitzer. Am Hyborischen Kontinent schien alles in Ordnung zu sein.
Dann begann das Fest des Poseidon, des Landumstürmers. Die Olympier und auch die meisten anderen Götter würden nun abgelenkt sein, was Sarpedons Sicherheit entsprechend zuträglich war. Hades allerdings war im Totenreich geblieben. Sarpedon hoffte, dass der Groll des Totengottes gegen Zeus Bestand hatte. Vielleicht beobachtete er dessen Machenschaften mit Argusaugen und konnte ihm Hinweise auf dessen Absichten liefern. Sarpedon war klar, dass der Abstecher in die Unterwelt große Risiken in sich barg. Doch war er nicht nach Gaia zurück gekehrt, um nichts zu tun. Andererseits trug er die Verantwortung für seine Großnichte und seinen Großneffen. Leider. Die beiden musste er wohlbehalten zurück bringen.
Sarpedon war Hades nur gelegentlich begegnet. Er war ein großer, schlanker und düsterer Mann, stets dunkel gewandet und abweisend. Er mied die Ansammlungen Lebender und war bei ihnen daher auch nicht all zu beliebt. Eigentlich hatte er nie eine Chance gehabt in die Rolle des Zeus gewählt zu werden. In den wenigen Gesprächen, die Sarpedon als Hephaistos mit ihm geführt hatte, war er stets distanziert geblieben. Es war also unwahrscheinlich, dass er ihn besonders mochte. Aber das galt auch für alle andern; Hades hatte keine Freunde.
Schließlich traf er die Entscheidung, verließ Lemnos und sein Gleiter hielt auf den bedeutendsten Eingang zum Totenreich zu, der sich nördlich des Olymps befand, zu nahe am Götterberg, als dass sein Besuch unter normalen Umständen unregistriert bliebe. Das Fest erwies sich als wahrer Glücksfall.
In einer unbesiedelten und extrem unwegsamen Gegend lag der Zugang in eines der größten Höhlensysteme des Planeten. In dieser rauen, fast vegetationsfreien Landschaft, die für Sarpedon von oben betrachtet so aussah als hätte sie die Faust eines Riesen getroffen, so gewaltig, dass selbst das Gestein zertrümmert war und mächtige Felsen wie Spielzeug herumlagen, fand sich der gigantische Spalt im Untergrund, der als Einflugschneise für die Gleiter der göttlichen Besucher diente.
Sarpedon erschien es, als würde er frei über dieser atemberaubenden, bizarren Formation schweben, denn er hatte den Vogelflugmodus aktiviert. Die tief liegende Sonne warf lange Schatten, die in den unergründlichen Spalt fielen. Er tauchte in das Höhlensystem ein und staunte über die gewaltige Anlage, die sich nun seinem Blick bot. Zentrales Element war der Palast des Hades und der Persephoneia mit seinen silbernen Säulen, ein wahrlich beeindruckendes Bauwerk, glänzend wie ein Bergkristall. Nördlich davon befand sich der Flughafen, auf den sein Schiff zuhielt. Östlich ging es zum Elysion mit seiner künstlichen Sonne, die stets sechzehn Stunden am Tag Licht von der spektralen Zusammensetzung des zentralen Erdengestirns spendete, das für Menschen besonders zuträglich war. Sie schien auf eine weite Landschaft mit Gärten voll fruchtender Bäume und Seen gefüllt mit leicht zu fangenden Fischen. Auch fand sich in den Wäldern und auf den Wiesen zahlreiches, aber wenig bedrohliches Wild, das keine Scheu vor dem Menschen kannte, denn die Fähigkeit, sich zu fürchten hatten die genetisch modifizierten Tiere nicht. Sarpedon wusste, dass dieser Bereich der Unterwelt von vielen seiner göttlichen Kollegen zur Erholung aufgesucht wurde. Auch ruhmreichen Halbgöttern stand es zur Verfügung und besonders verdienten Helden.
Westlich des Palastes aber war das kühle und feuchte Höhlensystem in ständiges Zwielicht getaucht und Nebelschwaden irritierten seine Bewohner. Der Tartaros war kein angenehmer Ort und wer hierher gelangte, konnte nur sehr schwer fliehen, wenn überhaupt. Denn der breite, wenngleich ruhig fließende, unterirdische Fluss Styx trennte das Palastareal vom Tartaros. Er entsprang aus dem Felsen im Norden, stürzte im Süden in die Tiefe und lediglich eine Fähre, die Sarpedon deutlich erkennen konnte, obwohl sie nicht sehr groß war, diente der Überwindung des breiten Gerinnes. Derzeit hielt sie am palastseitigen Ufer. Sie erschien nur grob aus Rinde gezimmert, um den Schriften genüge zu tun. Natürlich war sie in Wahrheit durchaus stabil und geeignet, Güter und Personen zu transportieren. Sarpedon wies den Avatar an, auf die düstere Gestalt neben der Fähre zu zoomen. Es erschien eine hochgewachsene, dürre Gestalt in schwarzem Mantel. Der Mann blickte zu ihm hinauf, sodass er die totenschädelartigen Züge deutlich ausmachen konnte. Die Augen lagen unnatürlich tief in ihren Höhlen, die Nase fehlte und auch Lippen waren keine vorhanden, sodass er zu grinsen schien. Dies war, wie Sarpedon wusste, Charon, der Fährmann. Zu seinen Füßen befand sich ein überdimensionierter Pharaonenhund mit einer Eigentümlichkeit: sein Rumpf trug drei Köpfe. Der mittlere blickte gerade aus, der linke zu Charon, der rechte aber sah hinauf, zu seinem Schiff. Kerberos hieß das Monster und jetzt fing es an zu laufen, nach Norden in Richtung Flughafen. Es würde also sein Begrüßungskomitee sein.
Genug! Die Wände seines Gleiters wurden wieder sichtbar, er konnte den Sessel, in dem er sich befand nicht nur fühlen, sondern auch wieder sehen. In der Mitte des Raumes aber erschien der dunkle Gott selbst, schwarz gewandet, um sich von den Göttern, die am Olymp hausten, deutlich zu unterscheiden, schwarzhaarig und dunkeläugig. Nur seine Haut war unnatürlich bleich; er mied die Sonne. Er hatte eine nachdenkliche Pose gewählt: mit der Linken umfasste er sein Kinn, mit der Rechten den Ellbogen des linken Arms. Dann sprach er mit klarer, fester Stimme:
„Heph … nein, so darf ich dich nicht nennen. Sarpedon. Richtig? Was führt dich hierher?“
„Das würde ich gerne in deiner physischen Anwesenheit besprechen. Erteilst du mir Landeerlaubnis?“
„Warum nicht? Lass alle Waffen an Bord, denn in der Unterwelt sind sie nicht geduldet. Nur die Besucher des Elysions dürfen Waffen tragen, aber selbst diese nicht ihre eigenen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du dorthin willst – als Geächteter.“
Hades wusste Bescheid. Natürlich. „Wohl kaum.“
„Ich werde zu deinem Schiff kommen und dich abholen. Ein bisschen Bewegung wird mir gut tun.“ Er lachte. Sein Hologramm verschwand.
Sarpedon instruierte den Avatar die Landung einzuleiten. Fortan hatte er selbst nichts mehr zu tun. Der Versuch, Hades zu täuschen wäre sinnlos gewesen, das wusste er, denn er kannte die technische Anlage der Unterwelt recht gut, wenngleich es Jahrzehnte her war, dass er hier eine Reparatur vornehmen hatte müssen. Damals hatte noch ein anderer in den Schuhen des Totengottes gesteckt. Der aktuelle Hades war deutlich jünger als er; zehn Jahre vielleicht, schätzte Sarpedon.
Der Gleiter senkte sich erwartungsgemäß ruhig und erschütterungsfrei auf die Landefläche. Noch erhob sich Sarpedon nicht, er wollte beobachten. Es dauerte nicht lange, bis Kerberos den Gleiter erreicht hatte. Nun hielt er vor dem Eingang, schwanzwedelnd. So freundlich er auch schien, hatte Sarpedon dennoch nicht vor, sich ihm ohne sein Herrchen zu stellen. Schließlich näherte sich auch Hades. Da stand er auf, waffenlos, angetan nur mit einer Schutzweste unter seinem hellen Gewand. Eine Tür nach der anderen glitt vor ihm in die Wand. Vor der Schleuse – Atmosphärenschiffe hatten im Gegensatz zu andern Gleitern immer eine – musste er warten. Dann glitten auch deren Türen zur Seite und die Treppe senkte sich auf das Landefeld zu. Er ging hinab.
Hades zeigte den Anflug eines Lächelns, das schwer zu deuten war; der ruhelose Hund hechelte mit drei Zungen, die aus ebenso vielen Mündern hingen und von denen übler Geruch ausging. Kerberos ernährte sich ausschließlich von rohem Fleisch. Beunruhigend war, dass die Köpfe des Untiers fast gleichauf mit seinem eigenen waren. Das mythische Tier war wirklich riesig. Sarpedon lenkte seine Aufmerksamkeit auf Hades: der Totengott war ebenso groß wie er selbst, hielt sich aber natürlich aufrechter, denn er war in seiner Kindheit nicht misshandelt worden. Die Konturen seines dunklen Gewandes schienen zu verschwimmen und immer in Bewegung zu sein. Der schlanke Mann wirkte dadurch ein wenig unwirklich.
„Sei gegrüßt, Pylartes, Türschließer!“
„Sei herzlich willkommen, Sarpedon. Dies ist wohl kein reiner Freundschaftsbesuch? Als Geächteter gehst du doch ein ziemliches Risiko ein.“
„Könntest du deinem Hündchen sagen, es möge etwas mehr Abstand halten?“
Hades machte eine ungeduldige Bewegung mit den Fingern der Rechten und schon blieb Kerberos deutlich hinter ihnen, als sie in Richtung Palast gingen. Das hatte allerdings nicht den erwarteten, beruhigenden Effekt, denn Sarpedon wurde klar, dass schon eine kleine Geste mit der Hand genügte und Kerberos würde ihn zerfleischen. Immerhin besserte sich die Qualität des Atemmediums.
„Ich gehe dieses Risiko ein, weil ich in Sorge bin. Nicht um meine Person, sondern um uns alle.“
„In Sorge? Weshalb?“
„Wie du weißt, hat mich Epistor – Zeus – in die Verbannung geschickt. Widerstand musste er nicht fürchten, denn ich bin nicht sehr beliebt bei den Göttern.“
Hades lachte. „So geht es auch mir. Sie achten mich, manche fürchten mich sogar, aber wenige mögen mich.“
„Zweifellos hat er mich durch jemanden ersetzt, der ihm willfährig ist!“, fuhr Sarpedon fort.
Hades nickte. „Dem ist so. Was hat er dir eigentlich vorgeworfen? Ich selbst bin nicht oft auf dem Olymp und ich habe vergessen, Persephoneia danach zu fragen.“
„Ich habe damals zugunsten meiner Nichte und deren Begleiter gehandelt. Die beiden haben die Festung der Sandarken zerstört, in der er Forschungen betrieben hat, die sicherlich nicht zum Wohle der Menschheit durchgeführt wurden. Epistor wurde während dieser Ereignisse verletzt. Vielleicht ist dir die Narbe an der Hand aufgefallen?“
„Ah, ja.“ Hades nickte. „Er hat mich nie gebeten, einen seiner Klone nach oben in den Olymp fahren zu lassen oder hat es selbst veranlasst. Der Schaden wäre leicht zu reparieren gewesen. Die Narbe war weder für sein Image als Arzt gut, noch ist sie es für jenes als Gott. Glaubst du, er wollte auch den Göttern Schaden zufügen? Wollte er zu diesem Zeitpunkt schon die Herrschaft?“
„Ich habe keine Beweise. Meine Verwandten waren zwar in der Festung, jedoch die ganze Zeit damit beschäftigt am Leben zu bleiben. Ein Sandarke hat ihnen nachgestellt und du weißt, wie stark diese Wesen sind. Es ist ein Wunder, dass sie überlebt haben.“
Abermals nickte Hades. „Die Sandarken haben gut in das Mythengeflecht des Hyborischen Kontinents gepasst. Deshalb wurde die Anwesenheit dieses Exemplars gebilligt.“
„Auch aus diesem Grunde. Aber vielleicht auch, um den Mord an einer Göttin zu vertuschen. Die Tötung wurde durch den Sandarken begangen, aber wer weiß, ob nicht doch einer der Götter daran beteiligt war.“
Hades blickte skeptisch. Offenbar konnte er sich nicht vorstellen, dass einer der ihren so weit gehen würde.
„Jedenfalls hat Epistor merkwürdige Kreaturen geschaffen, Graue Menschenaffen, die zu den Mythen des Kontinents passen, da kann man ihm keinen Vorwurf machen. Aber er hat offenbar auch Genmodifikationen an Menschen vorgenommen, die nicht genehmigt waren und von denen kein anderer Gott etwas wusste. Dafür sprechen zumindest die Aussagen einer jungen Frau, die meine Verwandten begleitete.“
Sie waren inzwischen beim prachtvollen Haus des Unterweltgottes angekommen, wo hinter den silbernen Säulen ein Tisch für zwei Personen mit einfachen Speisen gedeckt war: blaue und grüne Trauben, Brot, Speck und Käse. Neben den Tellern standen schwarze Becher, auf denen in Gold gehaltene Kampf- und Jagdszenen abgebildet waren. Hades deutete seinem Besucher, in einem bequem aussehenden Sessel Platz zu nehmen. Auf dem zweiten Stuhl ließ er sich selbst nieder. Bis hierher reichte der Atem der Höhlen; eine sanfte Brise kühlte ihre Häupter.
„Greif zu!“ Hades langte selbst nach einer Traube und versenkte eine große Beere in seinem Mund. Sarpedon schnitt sich hingegen eine Ecke vom Käse ab und legte sie auf eine Scheibe Brot.
„Der leichte Wind von den Höhlen her ist sehr angenehm“, stellte Sarpedon fest.
„Und so nützlich!“, erklärte Hades, „nähert sich jemand vom Tartaros her der Styx, nimmt Kerberos seinen Geruch dank der Luftströmung schon von weitem wahr und ihn in Empfang, falls er versuchen sollte über den Fluss zu schwimmen. Die meisten überlegen es sich aber, sobald sie mein kleines Hündchen sehen.“
„Würde er tatsächlich angreifen?“
„Und ob! Er hat schon einige zerrissen, die sich von drei zähnefletschenden Köpfen nicht abschrecken ließen. Also. Was geht das alles mich an? Glaubst du wirklich, ich könnte dir dabei helfen, aus der Verbannung zurückzukehren? Nun das bist du schon. Aber offiziell? Da bist du von Zeus Gnade abhängig.“
„Es sei denn, ich finde genug belastende Beweise gegen ihn, dass er von den anderen Göttern abberufen wird.“
„Ein Rachefeldzug? Belastende Beweise welcher Art?“
„Dass er damals zum Schaden der Menschheit und insbesondere der Götter gehandelt hat. Und vielleicht immer noch handelt. Ich will keine Rache, ich will verstehen, was ihn umtreibt! Was in seinem merkwürdigen Gehirn vorgeht. Warum forschte er zusammen mit einem Wesen, von dem ich sicher weiß, dass es die Vernichtung der bekannten Menschheit im Sinne hatte? Ist es da nicht logisch anzunehmen, dass er dieses Ziel gebilligt hatte? Ich glaube, dass wir alle in Gefahr sind und dass sich der Grad der Gefährdung mit seiner Machtübernahme potenziert hat!“ Sarpedon schwieg einen Moment und fuhr dann fort. „Du bist ja selbst ein sehr guter Beobachter. Mag sein, dass auch dir Erkenntnisse über Zeus Absichten vorliegen.“
„Hätte ich Beweise jener Art, die du andeutest, gegen ihn gehabt, hätte ich sie bei der Wahl des neuen Zeus vorgebracht. Ich habe aber nichts gefunden, das wertvoll genug gewesen wäre. So hält er zum Beispiel immer noch Kontakt zur Cousine von Ephram OrPhon, die seinerzeit auf den Hyborischen Kontinent verbannt worden war; du erinnerst dich sicherlich. Er hat sogar zwei Kinder mit ihr, die jetzt in Theben sind. Das erscheint mir von geringer Bedeutung; so handeln Götter nun einmal. Persephoneia hat das herausgefunden. Aber was soll ich damit? Seine eifersüchtige Frau informieren?“
„An Reja erinnere ich mich nur allzu gut! Nun, so uninteressant ist das gar nicht. Weißt du, ob sie noch in Kontakt zu ihrem Cousin steht?“
„Wie es scheint hat Ephram das Interesse an unserem Planeten verloren. Jedenfalls hat er uns seit ewigen Zeiten nicht mehr besucht.“
„Dennoch hat er sicherlich seine Spitzel überall. Und seine Cousine könnte dazu gehören. Dann wäre auch Zeus einer seiner Informanten. Und vielleicht sind es nicht nur Informationen, die auf diesem Weg in die Magellansche Föderation oder nach Ivarn oder von dort hierher kommen.“
Hades zog die Schultern hoch. „Das sind Spekulationen. Ich habe ihren Standort – sie ist Königin in einem kleinen Reich – observieren lassen. Jedoch ohne Erfolg. Es gibt keine Hinweise auf nennenswerte Technologie in Askhauran und schon gar nicht auf interstellare Kommunikation oder Transport.“
„Und in Theben?“
Abermals zuckte er mit den Schultern. „Nichts, das nicht wir kontrollieren. Seine Söhne scheinen lediglich eine unbedeutende Rolle zu spielen. Der eine wird allerdings ob seiner Grausamkeit gefürchtet. Er verfügt über eine immense, fast schon übernatürliche Körperkraft, besiegt in den alljährlichen Vergleichskämpfen all seine Gegner im Ringen und verletzt sie oft schwer. Wegen seines Hanges zum Sadismus hat er sich inzwischen einen gewissen Ruf erworben. Was für ein Glück, dass er lediglich ein Halbgott ist, so jemanden möchte ich nicht im Olymp wissen, solange meine Persephoneia dort ist.“
„Ungewöhnliche Körperkraft? Ein Sohn von Epistor? Das kommt mir merkwürdig vor.“
„Es ist seltsam, ja. Epistor hat sich eine Weile sehr oft in Theben aufgehalten, in der Zeit, nachdem Mesawa zerstört worden war. Es gibt dort einen Bereich, der nur von ihm genutzt wird und durchaus ein Labor enthalten könnte. Allerdings war er damals noch Arzt und dass ein solcher medizinische Forschungen betreibt, ist auch nicht so ungewöhnlich. Dort ließen sich sicherlich Antworten auf einige deiner Fragen finden. Bloß habe ich keinen Zugang.“
„Schade. Gibt es sonst noch Orte, die er ungewöhnlich häufig besucht?“
Hades nickte. „Die Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters. Außerirdische Aliens. Was ihn mit diesen Kreaturen verbindet, konnte ich nicht herausfinden.“
Sarpedon griff zu seinem Becher und trank. „Dann sollte ich zunächst Theben einen Besuch abstatten und danach den Goldenen. Was meinst du?“
„Du bist trotz allem ein Ausgestoßener und ich bin derzeit nicht im Hader mit Zeus. Ich meine, dass es wohl besser ist, dich nicht gehen zu lassen. Denn, wenn du festgenommen wirst und von unserem Treffen hier erzählst, gerate ich selbst in den Verdacht des Verrats!“
Ein eiskalter Schauer rann Sarpedons Rücken hinab. Aber er ließ sich nichts anmerken, blieb äußerlich völlig ruhig, griff zu einer blauen Weintraube. „Warum sollte ich jemandem davon erzählen? Und außerdem habe ich nicht vor, mich einkerkern zu lassen. Weder von Zeus noch von dir, Pylartes.“
„Und wie viele wissen sonst noch von deiner Anwesenheit? Wie viele haben dich vielleicht bereits denunziert? Ich selbst könnte dich an Zeus verraten, Sarpedon. Aber ob das ein kluger Schachzug wäre, ist fraglich. Um das entscheiden zu können, möchte ich die Rückkehr Persephoneias im Spätherbst abwarten. Sie wird mir über die letzten Entwicklungen im Olymp Bescheid geben. Außerdem schätze ich ihren Rat sehr. Sie ist ebenso klug wie hübsch.“ Er lächelte. Aber nicht übermäßig freundlich.
„Das sind mehrere Monde! Die Zeit habe ich nicht! Da du offenbar nicht bereit bist mir zu helfen, werde ich jetzt gehen!“ Er richtete sich ein wenig auf, aber dann fehlte ihm plötzlich die Kraft. Seine Beine fühlten sich taub an. Er sackte im Stuhl zusammen und erschrak darob heftig.
„Die Lähmung beginnt in den Beinen und schreitet von dort rasch weiter nach oben. Fühlst du es bereits?“
„Was hast du getan?“
„ICH? Gar nichts! DU hast das Wasser der Styx getrunken, das in deinem Becher ist.“ Hades beobachtete ihn fasziniert. „Die Wirkung des Gifts ist erstaunlich. Aber keine Angst, es ist verdünnt. Du verlierst nicht einmal das Bewusstsein. Lediglich deine Bewegungsfähigkeit. Und auch das keineswegs für ein Jahr, wie in der Sage, sondern nur für einige Stunden. Wenn du noch etwas dazu bemerken willst, solltest du dich beeilen, denn deine Zungen-, Lippen-, Kiefer- und Kehlkopfmuskulatur ist ebenfalls betroffen!“
„Du ….!“
„Was? Ich höre nichts! Nun ja zu spät. Gehen wir davon aus, dass du nichts Freundliches sagen wolltest. Falls es dich interessiert: Du wirst mein Gast bleiben – und zwar im Tartaros – bis Persephoneia vom Olymp zurückkehrt. Ich verstehe ja nicht, warum dich nicht bereits Zeus dorthin verbannt hat, statt dir ein Raumschiff zu geben. Ist meine Frau wieder bei mir, werden wir entscheiden, ob wir dich unterstützen oder lieber ausliefern. Willst du dich dazu äußern? Ach! Geht ja nicht.“
Inzwischen hing Sarpedon in seinem Sessel wie ein armseliges Bündel. Ein wenig Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Seine Augen – das Einzige, das er noch willentlich bewegen konnte – waren auf Hades gerichtet und verströmten Wut. Er atmete, war aber sonst zu keiner Regung fähig. Hades hingegen schien beinahe glücklich, was seine Züge auf ungewohnte Art veränderte. Er erweckte sonst immer einen sehr gefühlskalten Eindruck.
Aus dem Augenwinkel sah Sarpedon, dass sich ihnen jemand näherte, jemand, der ungewöhnlich groß war und ebenso dunkel gewandet wie Hades.
„Darf ich dir den Fährmann vorstellen?“ Hades deutete auf den Neuankömmling mit der bleichen Haut, die trocken wirkte wie Pergament, den dunklen, tief in den Höhlen sitzenden Augen und dem kahlen Schädel. Er sah aus wie der Tod persönlich und zweifellos war dies beabsichtigt.
„Charon ist ein Android. Ich sage dir das nur für den Fall, dass du dir zutraust, ihn überwältigen zu können, wenn du nicht mehr gelähmt bist. Er ist dir an Körperkraft weit überlegen. Und falls du glaubst, auf andere Weise entkommen zu können; sicher, du brauchst die Fähre nicht. Du kannst die Styx schwimmend überqueren. Aber auf dieser Seite erwartet dich Kerberos, denn er riecht dich bereits von weitem. Er wird nicht zögern, dich zu zerreißen.“
Charon trat auf Sarpedon zu und hob ihn mit solcher Leichtigkeit aus seinem Sessel als wäre er ein kleines Kind. Er hatte nun Gelegenheit, die mumienhaften Gesichtszüge des Fährmanns aus der Nähe zu studieren; kein schöner Anblick. Grauen kroch in ihm empor – ohne Zweifel ein von Charons Designern beabsichtigter Effekt.
„Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt im Tartaros“ Hades lachte. Charon interpretierte dies als Abschiedsworte, denn nun drehte er sich um und ging auf die dem Schein nach aus Rinde gefertigte Fähre zu, die am Steg, den Charon nun betrat, angetaut war und so dem Strömen der Styx erfolgreich widerstand. Sicher setzte er schließlich von dort über ein massives Brett auf die ein wenig schwankende, breite Barke über und legte Sarpedon in deren Mitte auf den dunklen, rauen Planken ab, die so morsch wirkten, als könnten sie jeden Moment durchbrechen. Sie fühlten sich kalt und feucht auf seiner Haut an. Ihn fröstelte, aber nicht wegen der Temperatur des Untergrundes, sondern ob des seelenlosen Blicks, den ihm der hoch über ihm aufragende Charon zumutete. So mochte sich Ungeziefer fühlen, kurz bevor es zertreten wurde.
Endlich wandte sich der Fährmann ab, löste mit geübten Bewegungen die Taue vom Steg und begab sich ans Steuer. Sarpedon fühlte, wie sich die Fähre bewegte, von der Strömung erfasst wurde; wie das Schifflein mit einem Ruck vom Führungsseil abgefangen wurde, aber von seiner Position aus sah er nichts als die düstere Decke der Höhle und ein Stück des sternenprächtigen Himmels, das immer kleiner wurde. Selbst das Führungsseil, das von mächtigen Pfosten gehalten über die Styx gespannt war und ihnen die Richtung vorgab, konnte er nicht erspähen. Die Reise verlief ruhig, denn die breite Styx floss nur langsam. Die Barke schaukelte sanft im gewaltigen Strom. Charons konzentrierter Blick war nun dem Ufer zugewandt, auf das sie langsam zusteuerten. Die Überfahrt währte eine gefühlte Ewigkeit, während der sich Sarpedon in Selbstvorwürfen baden konnte; wie ein blutiger Anfänger war er Hades in die Falle getappt und musste nun im Reich der Toten dafür büßen. Ohnmächtiger Zorn erfüllte ihn. Immer wieder versuchte er vergebens, wenigstens einen Finger zu rühren. Er beschloss, nicht auf Persephoneia zu warten, zumal er daran zweifelte, dass sie für seine Freilassung plädierte. Er würde fliehen! Aber dazu musste er zuerst seine Beweglichkeit wiedererlangen.
Schattenhafte Pfähle ragten am Rande seines Gesichtsfeldes auf; ein kurzer Ruck, der durch die Barke fuhr, lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Außenwelt. Sie waren angekommen. Geschickt verankerte Charon die Fähre am jenseitigen Landesteg und wandte sich dann ihm zu, das Deck knarrte unter den Schritten des riesigen Androiden. Er hob ihn auf wie eine Puppe, brachte ihn an Land und legte ihn auf den schmalen Sandstreifen am Ufer. Danach kehrte er auf seinen Kahn zurück, den er zur anderen Seite lenkte. Sarpedon blieb allein und reglos im Tartaros.
Stunden mussten vergangen sein, bevor er wenigstens die Augenlider, die die ganze Zeit nur halb geschlossen gewesen waren, wieder bewegen konnte. Seine Augen fühlten sich wie Sandpapier an und schmerzten entsprechend. Er blinzelte häufig, seine Sicht würde noch auf Tage hinaus getrübt bleiben. Weitere Zeit verging, bevor die Lippen so weit seinem Willen gehorchten, dass er Hades flüsternd verfluchen konnte. Es tat ihm gut, wieder seine Stimme zu hören. So laut es ging schalt er sich selbst einen Narren. Was hatte er durch diesen Besuch herausgefunden? Doch wohl nur, dass Hades ein schadenfroher Feigling war! Ein Opportunist der übelsten Sorte.
Eine Weile verging noch, bis er seinen Hals bewegen konnte und dann hatte er das Gefühl, als würde sein ganzer Körper auftauen. Plötzlich vermochte er sich aufzusetzen. So gelang es ihm über den Fluss zu spähen, wo er unscharf Charon auf seiner Fähre aufragen sah. Und da waren noch die Konturen Kerberos' zu erkennen. Sarpedon stand auf und sofort knurrte das Untier und bellte gleichzeitig – mit drei Köpfen ging das. Er gebärdete sich wie wild, sodass Sarpedon nur hoffen konnte, dass der Unterwelthund auf seiner Seite des Flusses bleiben würde.
Er beschloss, flussaufwärts das Ufer entlang zu gehen, so dass er dem Flughafen näher kam. Die Bestie folgte ihm die ganze Zeit auf ihrer Seite, zähnefletschend vermutlich. Seine Sehkraft war noch nicht so weit hergestellt, dass er das erkennen konnte. Darüber war er sogar froh, denn das Gebiss jedes einzelnen Kopfes war ein hässlicher Anblick. Das Vieh schien ausdauernd und zäh. Die Frage war nur, wie sehr? Er ging weiter, so weit es möglich war, bis dorthin, wo die Styx scheinbar aus dem Felsen trat. Natürlich war es nicht so, aber der breite, horizontale Spalt, durch den das Wasser in die Höhle drang, lag unterhalb des Flussspiegels. Der Fluss musste hinter der Felswand schneller fließen als davor, der Kanal dort zwar schmäler sein, aber ein Entkommen war hier dennoch unmöglich. Auf der anderen Seite des Stroms erkannte er sein Raumschiff. Dort musste er hingelangen und dazu die Styx überwinden und die Bestie ausschalten. Kerberos, so hatte Hades gesagt, konnte ihn dank des ständigen Windes, der vom Tartaros her wehte, von weitem an seinem Geruch erkennen. Aber musste nicht auch er schlafen?
Schlafen! Das war überhaupt eine gut Idee. Er fühlte sich elendiglich müde, wohl als Folge des Kampfes, den sein Körper gegen das Gift ausgefochten hatte. Er drehte sich dem Eingang des Tartaros zu, der auf ihn wie ein gieriges Maul mit zahllosen Zähnen wirkte; Stalagmiten und Stalaktiten, manche auch miteinander verwachsen. Er beschloss, sich hinter einer der natürlichen Steinsäulen, die aus dem felsigen Untergrund wuchsen, so unglaublich langsam, dass sie bereits gewaltig waren als der Mensch erstmals den Planeten betreten hatte, zur Ruhe zu betten, außer Sicht des Kerberos. Vielleicht würde das Monstrum ja ebenfalls müde und vergaß ihn einfach. Seine Ruhestätte war hart aber er schlief dennoch sofort ein.
Als er erwachte, war es dunkel. Fast augenblicklich wurde ihm seine wenig ersprießliche Situation bewusst. Er ging um die Säule herum und konnte das silbrig schimmernde Wasser der Styx erkennen. Direkt über ihm befand sich zwar nur die Höhlendecke, aber weiter hinten konnte er Sterne ausmachen, deren Licht auch bis hierher drang. Er ging ein paar Schritte auf den Fluss zu, kniete sich hin und formte aus seinen Händen eine Schüssel, in die er Wasser aufnahm, das er gierig trank, denn er war sehr durstig. Es war einfach nur normales Wasser, das konnten auch die Legenden nicht ändern. Er fühlte sich nun stark genug, das Gewässer zu queren, denn er war ein hervorragender Schwimmer. Aber da erschallte bereits das furchterregende Gebell des Kerberos, der von der Anlegestelle, wo er offenbar geruht hatte, hierher hetzte. Die Aufmerksamkeit des dreiköpfigen Hundes war unheimlich. Schliefen wohl jemals alle drei Köpfe gleichzeitig? Sarpedon und Kerberos standen sich wieder gegenüber, nur durch die Wasser der Styx voneinander getrennt.
Da resignierte er. Er wandte sich dem gähnenden Rachen des Tartaros zu. Sein schlechtes Bein schmerzte, er humpelte langsam weiter, eine gekrümmte Gestalt. Er hatte weder Fackel noch eine andere Lichtquelle, aber das war auch gar nicht nötig. Jetzt, in tiefster Nacht, konnte man das orangefarbene, düstere Glühen wahrnehmen, das von den Wänden der hallenden Unterwelt ausging. Jeder Schritt, den er machte, warf ein Echo an tausend Kanten und erzeugte so ein flüsterndes Geräusch, das ihn begleitete. Und das trotz des feinen Bewuchses der feuchten Wände: ein Schimmelfilm, der das Licht erzeugte und damit die kontrastarme Beleuchtung des Höhlensystems. Es wirkte als würde er sich durch glimmenden Nebel bewegen. Er hielt auf einen Fleck zu, der – so wollte es ihm seine Phantasie einreden – mit bleichen Gebeinen bedeckt war. Beim Näherkommen aber erkannte er fingergroße, weiße Schirmpilze, die – wie Sarpedon wusste – die einzige Nahrung der lebenden Toten war, der Bewohner des Tartaros, zu denen er nun auch sich zählen musste. Er war hungrig; also griff er nach einigen von ihnen und verzehrte sie. Sie waren fast geschmacklos, enthielten aber alles, was ein Mensch benötigt. Wer hierher kam, ins Reich der Toten, sollte paradoxer Weise am Leben bleiben und über seine Untaten nachdenken können. So entsprach es dem Willen der Götter.
Hades hatte sich darüber gewundert, dass Zeus ihn nicht hierher verbannt hatte. Er wusste nicht, dass Sarpedon bereits einmal hier gewesen war, vor langer Zeit als noch ein anderer die Rolle des Unterweltgottes verkörpert hatte. Aber nicht als Gefangener hatte er sein Dasein gefristet; vielmehr war seine technische Kenntnis gefragt gewesen. Es war darum gegangen, eine Fehlfunktion in einer der Maschinen zu korrigieren und ein Update zu installieren. Damals hatte er nicht danach gefragt, wozu die Software dienen sollte, er hatte einfach willig getan, was andere von ihm wollten. Obwohl er die Grausamkeit der anderen Götter mehr als sonst jemand aus ihren Reihen zu spüren bekommen hatte, war er bereit gewesen, gut mit ihnen auszukommen. Das hatte sich erst durch die Verachtung und den Spott geändert, den man dem Verkrüppelten unverhohlen entgegenbrachte; die männlichen ebenso wie die weiblichen Götter, wobei es ihn bei letzteren noch mehr getroffen hatte. Vor allem Aphrodite hatte ihn spüren lassen, wie sehr ihr vor seiner Hässlichkeit ekelte. Daran musste er jetzt denken, umgeben vom Flüstern der Höhle.
Wie lange schlurfte er jetzt durch diese reizarme, gleichförmige Welt? Stunden? Tage? Wenn er müde war, legte er sich hin, schlief ein, dann ging er weiter, trank aus Lacken, aß die weißen Pilze, ging weiter, tiefer hinein in das gigantische Höhlensystem. Langsam traten Phänomene auf, von denen er wusste, dass sie durch Reizdeprivation bedingt waren. So hatte er manchmal das Gefühl, seinen Körper zu verlassen und nach oben zu schweben. Dann beobachtete er die einsame, bucklige Gestalt, wie sie ziellos weiterwanderte: sich selbst. Schatten wurden zu Menschen und Ungeheuern. Und so war es kein Wunder, dass er zunächst auch jene für Illusion hielt, die real waren – oder auch nur Ausgeburten einer fremden Phantasie? Zwei Nebelschwaden von annähernd menschlichen Ausmaßen wogten vor ihm.
***
Sie erwachte in eine Welt voller Schmerz. Ihre Lungen brannten grauenvoll. Ihr Schädel pochte unerträglich. Man hatte sie aus dem Anzug geschält und in ein Bett gelegt. Die Wand ihr gegenüber war verspiegelt, sodass sie sich sehen konnte, denn das Bett war zum Kopf hin ein wenig aufgerichtet. Ein jämmerliches Etwas blickte ihr entgegen. Die linke Gesichtshälfte war bis zur Nase mit erstarrtem Synthoplasma bedeckt, nur das Auge lag frei. Auch der Kopf war halbseitig von dieser Substanz geschützt, ebenso wie ihr Hals. Linke Schulter und Oberarm waren zur Gänze von heilendem Plasma umhüllt. Sonst war sie nackt. Links fehlte natürlich auch ihr Haar, ihr ganzer Stolz; aber rechts war es weiter gewachsen, die Basis war ein ganzes Stück blond. Sie musste tagelang besinnungslos gewesen sein; vielleicht sogar Wochen?
Selbst die rechte Gesichtshälfte wies Verbrennungen auf; ihre Hässlichkeit entsetzte sie. Schließlich aber beendete sie ihre Selbstbetrachtung und wandte ihre Aufmerksamkeit der blonden Frau zu, die neben ihr auf einem Stuhl saß und strickte. Sie hatte einen weißen Kittel an und ein Käppchen auf dem Kopf. Das war so in der Spiegelwelt. Sie wollte ihren Kopf drehen, aber glühende Schmerzen hinderten sie daran. Deshalb bewegte sie schließlich ihren ganzen Oberkörper. Der Sitz neben ihr war leer. Die Frau im Spiegel blickte sie nun aus großen Augen mit senkrecht geschlitzten Pupillen an. Beim Lächeln teilten sich ihre blutroten Lippen und offenbarten lange, schmale Fangzähne.
„Ich bin Talira die zweite. Willkommen auf Mesawa, einst Festung der Sandarken.“
Talira … irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört. Ohne Zweifel lag das Jahre zurück, Nachdenken war zu anstrengend. Reja blickte an sich herunter und nahm nun den Schlauch wahr, der über eine Nadel in ihrer Armbeuge irgendeine Flüssigkeit in sie hinein transportierte.
„Ich habe Schmerzen! Melden dir das deine Sensoren nicht? Tu was dagegen!“
„Wie du willst. Du wirst aber davon müde werden.“
„Egal!“
„Du hast Glück. Zu Zeiten von Kostral dem Sandarken hatten wir keine Analgetika auf Mesawa, aber eine Weile herrschte hier ein Mensch, der übrigens mich geformt hat. Und so schien es sinnvoll, Schmerzmittel und anderes zu synthetisieren.“
Reja folgte mit dem Blick dem durchsichtigen Schlauch, der von ihrer Armbeuge kommend in der Wand verschwand. Nichts änderte sich sichtbar, aber ihre Pein ließ tatsächlich rasch nach und Müdigkeit umfing sie. Ihre Wut auf die Welt im Allgemeinen und auf Hera im Speziellen verblich zusehends, Gleichgültigkeit hüllte sie ein.
„Ich weiß“, antwortete sie lethargisch, „ich bin ihm begegnet. Sonst wäre ich jetzt wohl kaum Herrin von Mesawa. Er ist irgendein olympischer Gott.“
Reja bemerkte, dass sie bald wieder in Morpheus Armen landen würde. Sie hielt sich krampfhaft wach, denn da war noch etwas sehr Wichtiges, das sie dem Avatar sagen musste.
„Das Juwel! Bei mir war ein blutfarbenes Juwel! Bring es her und lege es auf meinen Körper.“ Sie schlief ein.
Als sie erwachte, lag das rubinrote Herz von Galahar auf ihrer Brust. Es leuchtete schwach von innen her, sodass ihre Handflächen, als sie sie ihm näherte, ebenfalls rötlich erschienen. Sie nahm das Herz in ihre Rechte. Waren Tage vergangen oder bloß Stunden? Die Nadel war aus der Vene in ihrer Armbeuge entfernt worden, dennoch spürte sie auch ohne Analgetika kaum Schmerzen. Das Synthoplasma bedeckte nur noch ihre linke Gesichtshälfte. Sie fühlte sich wohl genug, um aufstehen zu können. Sie erhob sich auf wackeligen, schwachen Beinen. Sie betrachtete ihre nackte Gestalt im Spiegel. Sie hatte die fast makellose Cellofigur einer wohlgestalteten Siebzehnjährigen: schmale Schultern, üppige, feste Brüste, eine Taille, um die sie viele Frauen beneideten, der Schwung nach außen, Übergang zu den breiteren Hüften und – wozu eine leichte Bewegung zur Seite erforderlich war, um es zu erkennen – dem wohl gerundeten Gesäß. Auch der Abstand zwischen den Oberschenkeln an deren Basis war vorhanden; sie war unzweifelhaft eine schöne Frau, schlank und doch üppig an den richtigen Stellen; scheinbar jung dank des Juwels. Aber, was würde ihr entgegen starren, wenn das Synthoplasma von ihrem Gesicht entfernt würde? Würde sie abstoßend hässlich sein? Sie verfluchte Hera mit Inbrunst und schwor ihr aus tiefstem Herzen Rache. Immerhin. Die rechte Hälfte erschien jetzt makellos.
„Talira?“
Da stand sie schon vor ihr in einem hauchdünnen, ärmellosen, bodenlangen, grünen Kleid und einer Figur, die ebenso ideal war wie die ihre, wenn auch weniger üppig. Reja konnte ihre Schönheit ohne Anflug von Eifersucht erkennen; Talira war bloß ein Trugbild.
„Wie schwer sind die Verletzungen in meinem Gesicht?“
„Ich dachte, dass es ohne eine Serie chirurgischer Eingriffe, Korrekturen und Transplantationen seine ursprüngliche Form nicht wieder erlangen könne; aber erstaunlicherweise werden kaum Spuren der schweren Verbrennungen bleiben. Der scharlachrote Stein hat verblüffende metamorphisierende Fähigkeiten, die auf einer Technik basieren, die ich nicht ganz verstehe. Und immerhin verfüge ich über die naturwissenschaftlichen Kenntnisse sowohl der Sandarken als auch der Menschen!“
Reja war ihr Aussehen sehr wichtig, sie definierte sich zu einem bedeutenden Teil darüber, daher erfüllte sie diese Nachricht mit Erleichterung. Sie blickte sich in dem hellen Raum um und sah aus dem Fenster in den zerstörten Garten des Sandarken, wo die kristallen erscheinenden Blätter fremdartiger Bäume den Boden bedeckten. Die zerstörte, rußgefärbte Kuppel hielt ihre Aufmerksamkeit für einige Augenblicke gefesselt.
„Wann kann man das Synthoplasma abnehmen?“
Talira zuckte mit den Achseln. „Es dient nur mehr als mechanischer Schutz. Löse es sogleich, wenn du willst.“
Reja ging näher an den Spiegel heran und drückte mit den Daumen beider Hände gegen die Maske, ohne das Herz von Galahar aus ihrer Hand zu entlassen. Die Konsistenz des Synthoplasmas war eigenartig; elastisch und nachgiebig bis zu einem gewissen Grad. Dann störrisch und Widerstand leistend gegen ihre Kraft, schließlich fest und letztlich brüchig. Scholle für Scholle löste sie herunter, vom Kinn beginnend, immer weiter, bis hinter das Ohr. Sie wirkte befremdlich, aber nur wegen des auf der linken Seite fehlenden Haares, auch der Augenbraue und der Wimpern. Sie starrte sich lange an. Jetzt sah sie noch mehr aus wie eine Puppe, mit großen, weit auseinander stehenden, blauen Augen und vollen Lippen. Eine, der auf einer Seite ein böses Kind die Haare ausgerissen hatte.
Die einzige, längliche, blaue Narbe, die geblieben war, wäre normalerweise von Haar bedeckt. Sie berührte sie mit der Hand, um gleich wieder vor Schmerz zurück zu zucken.
„Wir können dir synthetisches Haar implantieren, das ausfällt, wenn dein eigenes nachgewachsen ist“, schlug Talira vor.
Reja nickte. „Nun zum Zweitwichtigsten. Verfügt Mesawa über ein funktionstüchtiges Raumschiff?“
„Ja. Es wird ständig gewartet, wie alle technischen Geräte. Nur Lebewesen ...“ Sie deutete auf den Garten, „lassen sich nicht wieder herstellen.“
„Und ein Beiboot? Oder Gleiter?“
„Zwei Stück.“
„Mein Sohn hat von seinem Vater ein Com erhalten, als er nach Askhauran übersiedelte. Kannst du Kontakt aufnehmen?“
Talira überprüfte das, was nicht länger dauerte als der Flügelschlag eines Kolibris. „Ja. Es gibt am Hyborischen Kontinent nicht viele derartige Geräte und die Kommunikationssatelliten sind nicht gerade überfordert. Also kann ich gleich Kontakt aufnehmen, wenn du willst.“
„Gemach! So möchte ich ihm nicht gegenübertreten! Ergänze die Haare und lasse sie in meiner natürlichen Farbe erscheinen.“
Sogleich änderte sich ihr Spiegelbild und entsprach nicht mehr der Wirklichkeit; dichte, hellblonde Strähnen bedeckten ihr Haupt und fielen über ihre Schultern und Brüste. Reja rollte ihre Augen.
„Lass sie gewaschen aussehen!“
Augenblicklich erschien ihr Haar seidig schimmernd und umrahmte locker ihr Gesicht.
„Schon besser! Dann benötige ich noch ein Gewand.“
Kaum ausgesprochen, sah sie sich bereits in einem figurbetonten, weit ausgeschnittenen, ärmellosen, hellroten Kleid, mit einer goldenen Schärpe um ihre Taille. Sie beäugte sich kritisch. Obwohl sie ihren Sohn so gut wie nie gesehen hatte, lag ihr doch daran, ihm attraktiv zu erscheinen. Sie war eitel.
„Dunkler.“
Das Kleid färbte sich weinrot. Sie nickte. Sie bewegte sich ein wenig und die Illusion mit ihr. Sie war zufrieden, aber noch nicht ganz.
„Schmuck!“
Eine fragil wirkende, goldene Kette mit dezenten Rubinen umrahmte ihren Hals und zarte Ohrringe mit kleinen Saphiren schmückten sie. Ein fein gearbeiteter Ring mit einem einzelnen Smaragd war am Ringfinger der linken Hand zu sehen. Erst da fiel ihr auf, dass der Ringschlüssel nicht mehr da war. Sie notierte sich im Geiste, ihn zurück zu verlangen. Mehr an Kleidung bedurfte sie nicht, da sie allein auf Mesawa war. Aber den Ring wollte sie haben.
Ihrem kritischen Blick gefiel was sie sah. Sie war einigermaßen zufrieden. Sie überlegte noch, ob sie Schuhe tragen solle – leichte, hoch schnürbare Sandalen vielleicht – aber man würde sie ja doch nicht sehen.
„Es ist gut! Nimm Kontakt auf.“
Ihr Spiegelbild verblasste und an seiner statt erschien der Festsaal ihrer Burg; am Langtisch saßen einige Personen, an der kurzen Kante die bedeutendste Person, ihr Sohn, der auch im Sitzen alle anderen überragte. Er blickte finster, was durchaus seiner Stimmung entsprach, seiner Dauerstimmung; der Eindruck wurde aber durch ausgeprägte Knochenbögen über den Augen sowie die dichten, schwarzen Brauen noch verstärkt. Seine Gesichtszüge waren kantig, mit einer stark entwickelten Unterkieferregion. Das schwarze Haupthaar trug er handlang und wirr, seine Wangen waren beschattet. Sein Hals war nicht schmäler als sein Kopf, die Schultern fast unmenschlich breit. Er war, wie meistens, in ein Löwenfell gekleidet. Seinen ersten Löwen hatte er in seinem vierzehnten Sommer selbst erlegt und danach noch viele andere. Er war ein furchtloser Jäger, ein Riese mit urgewaltiger Kraft, jähzornig und gefürchtet. In Theben hatte er schon als Junge die jährlichen Ringermeisterschaften stets gewonnen und dabei seine Gegner nicht geschont. Wer ohne gebrochene Knochen oder ausgerenkte Gliedmaßen davon gekommen war, konnte sich glücklich schätzen. Nicht alle hatten den Kampf mit ihm überlebt und einige wären gelähmt geblieben, hätte man sie nicht aus Barmherzigkeit erschlagen.
Der Platz rechts von ihm war frei, denn dort lag seine gewaltige Keule, ein weiteres Markenzeichen. Sie war aus dem dunkel- und hellbraun gemaserten Holz eines Jahrhunderte alten Olivenbaumes geschnitten und so schwer, dass sie, mit Wucht geführt, selbst Schilder zertrümmern konnte. Er vermochte die ungewöhnliche Waffe mühelos zu führen und wurde mit ihr ein gefürchteter Krieger. Aber auch sein Geschick mit dem Speer war inzwischen geradezu legendär. Wer ihn im Kampf gesehen hatte, vergaß den Anblick sein Leben lang nicht mehr. Wer in der Schlacht allerdings das Unglück hatte, sein Gegner zu sein, hatte nur mehr ein sehr kurzes! Der Nimbus der Unbesiegbarkeit umgab ihn wie eine zusätzliche Rüstung.
Gegenwärtig hatte er aber eine andere Keule in der linken Hand; Talira zoomte auf seinen Mund, sodass seine Zähnen, die das Fleisch herunter rissen, groß wie Grabsteine wirkten. Bedient wurde die völlernde Gesellschaft von Jünglingen, Nachkommen der Adeligen von Askhauran, die als Geiseln dienten und sicherstellten, dass diese nicht gegen ihre Herrscherin intrigierten. Der zarte Jüngling, der hinter dem gewaltigen Mann stand, trug einen Krug, mit dem er Wasser in die Schüssel füllen konnte, die zum Waschen der Hände bereit stand. Als auf magische Weise Rejas Ebenbild auf dem Tisch erschien, erschrak er und ein Tropfen fiel aus dem Gefäß auf die Hand des Sitzenden. Da erwachte der Jähzorn in jenem und er schlug ihm ansatzlos mit der Rückseite seiner Pranke ins Gesicht. Es gab ein knackendes Geräusch und der Getroffene fiel zu Boden, den Kopf unnatürlich nach hinten gedreht. Reja konnte selbst das sehen, denn die Aufnahmeperspektive änderte sich, um dem Betrachter möglichst viel Information zukommen zu lassen.
Sie schüttelte den Kopf. „Ts, ts, das war das Kind eines meiner treuesten Untertanen. Das wird Probleme geben. Wie auch immer, ich grüße dich, Alkaios!“
Der Angesprochene lächelte bösartig. „Nun er hat es verdient. Außerdem spornt sein Schicksal die anderen an, mehr Geschick an den Tag zu legen. Aber mache dir keine Sorgen um den Vater! Noch weiß er es ja nicht und ich werde ihn zu mir auf die Burg einladen und ihm erzählen, dass er seinen Sohn auf dem höchsten Turm treffen kann. Das wird auch der Fall sein. Und wenn er dann abgelenkt ist, entsetzt über den Tod seines Kindes, wird es ein Leichtes sein, ihn über die Brüstung zu werfen. Sein Nachkomme wird ihm folgen. Ein tragischer Unfall, nichts, was irgendjemanden aufregen könnte.“
„Es gibt Zeugen.“
„Die werden schweigen, da bin ich sicher.“ Er sandte seinen stechenden Blick in die Runde. Niemand hielt ihm stand, da war keiner der sich nicht gewünscht hätte, woanders zu sein. Alkaios wandte sich an den Hofmeister. „Du hast es gehört! Bring die Leiche nach oben und schicke einen Sklaven mit einer entsprechenden Einladung an den Adeligen!“
Was im Saal passierte, konnte Reja nicht sehen, denn die Ansicht blieb auf ihren stiernackigen Sohn gerichtet.
„Warum wirfst du nicht einfach nur den Jungen vom Turm?“
„Weil sein Vater die schönsten Pferde deines gesamten Spucknapfkönigreichs besitzt! Sie sollen mein sein.“
„Beleidige Askhauran nicht. Ich musste drei Morde begehen, um in seinen Besitz zu gelangen.“
„Wie auch immer. Warum meldest du dich?“
„Um auf dem Laufenden zu bleiben. War dein Vater zu Besuch?“
Alkaios nickte.
„Was wollte er von dir?“
„Weißt du das nicht? Ich sollte ihn auf eine kleine Insel im Süden des Wilahet-Meeres begleiten. Dort wimmelt es von grauhaarigen Biestern und ehernen Männern.“
„Und? Hast du ihn begleitet?“
Abermals nickte Alkaios. „Warum nicht? Es war eine Abwechslung. Aber einer der grauen Affen ist mir zu nahe gekommen. Da habe ich ihm meine Keule über den Schädel gezogen. Paps war entsetzt!“ Er grinste.
Reja zog eine Braue hoch. „Das wundert mich nicht. Die Affen spielen eine wichtige Rolle in seinen Plänen. War er tot?“
Diesmal schüttelte er den Kopf. „Ich habe ihn nur seitlich getroffen. Er hat ja nicht still gehalten. Aber danach wurde ich von den anderen Biestern mit Respekt behandelt. Das hat ihm dann wieder gefallen, meinem göttlichen Vater.“
„Du sollst ihn zu anderen Planeten begleiten. Hat er dir das erzählt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Askhauran ist in Ordnung. Deine Burg gefällt mir ganz gut. Die Verliese sind inzwischen wieder ziemlich leer. Aber ich muss schließlich nur ein paar neue, unsinnige Gesetze verkünden und schon füllen sie sich wieder. Ich vermisse die Scharmützel der Achaier, aber ich kann sicherlich auch dein Heer in ruhmreiche Schlachten führen.“
Wie provinziell die Träume ihres Sohnes doch waren! Planeten! Darunter konnte er sich gar nichts vorstellen, sie aber schon. Was hätte sie dafür gegeben, wieder das Leben einer Piratin führen zu dürfen. Der Verbannung zu entfliehen! Allerdings strebte Zeus für seinen Sohn nicht die zivilisierten, freien Planeten oder die der Magellanschen Föderation an, sondern unerschlossene – und daher in ihrer Vorstellung schmutzige und unbequeme – Welten. Zeus' Plan setzte eine junge, aufstrebende Gesellschaft voraus, doch die Menschheit war altersschwach und träge geworden. Sie bezweifelte, dass diese müde Spezies in der Lage war, seine Vorhaben umzusetzen.
„Wo bist du überhaupt?“, wollte Alkaios wissen.
„An einem Ort, den du vielleicht kennen lernen solltest. Zwar gibt es hier keine Menschen, aber dir steht eine Macht zur Verfügung, wie du sie jetzt kaum erahnen kannst. Mesawa ist die verlassene Festung einer fremden Spezies. Es würde dir gut tun, Erfahrung mit komplexer Technologie und ihren Möglichkeiten zu sammeln.“
„Man kann deine Untertanen nicht lange unbeaufsichtigt lassen.“
Sie seufzte. „Das ist mir klar.“
Eine Weile blickte sie nur vor sich hin. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Gegenüber zu.
„Hör mir zu, mein Sohn. Ich werde Gaia verlassen. Für mich war und ist diese Welt ein Ort der Verbannung und jetzt, da ich die Möglichkeit habe ihr den Rücken zu kehren, werde ich es tun! Du magst mit mir kommen, den Machenschaften deines Vaters dienen, Herrscher über Askhauran werden oder aber über Mesawa. All diese Möglichkeiten stehen dir offen.“
Ohne den Blick von ihrem Sohn zu lassen, wandte sie sich an den Avatar: „Talira, mein Sohn kann die Herrschaft über Mesawa übernehmen, wenn ich diesen Ort verlassen habe!“
Talira wurde kurz außerhalb des Spiegels sichtbar. Sie nickte. Offenbar konnte auch Alkaios sie sehen, denn er starrte sie fasziniert an.
„Wenn ich nach Mesawa komme … wird SIE dann auch da sein?“
Reja nickte. „Sie ist sozusagen der Hausgeist. Du kannst sie sehen, aber nicht berühren.“
„Oh!“ Alkaios wirkte enttäuscht.
„Aber dafür gibt es hier schwarze, eherne Männer, deren Kraft die deinige bei weitem übertrifft.“
Er knirschte mit den Zähnen. Er wusste schon von der Insel der Schatten, dass das tatsächlich der Fall war. Trotzdem wollte er es nicht zugeben. „Das möchte ich sehen!“
Sie rollte die Augen. „Oh, das kannst du!“ Und nach einer Weile ergänzte sie: „Also? Du musst dich bald entscheiden. Wirst du mit mir kommen?“
Er dachte kurz nach. Sein virtuelles Gegenüber wirkte wie eine junge Frau; Sex mit seiner Mutter würde ihn schon reizen. War sie masochistisch genug, um ihm Freude zu bereiten? Aber die Welt, die sie ihm zeigen würde war ihm fremd und so würde er die zweite Geige spielen müssen. Das war ihm zuwider. Er schüttelte den Kopf.
„Ich bleibe hier.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wie du willst. Ich werde nicht nach Askhauran zurück kehren. Es ist wie du gesagt hast: ein Spucknapf-Königreich. Die Burg ist ohne jeden Luxus. Was habe ich in dem Steingemäuer im Winter gefroren, egal wie hoch die Flammen im Kamin züngelten! Und eine Schreckensherrschaft lässt sich nicht beliebig lange aufrecht erhalten. Attentate hat es gegeben und wird es wieder geben. Und so amüsant es auch sein mag, den Tätern dabei zuzusehen, wie sie langsam ihr Leben aushauchen; irgendwann wird jemand Erfolg haben. Oder eines der Nachbarländer mit größerem Heer beschließt, sich Askhauran einzuverleiben. Ich bin keine Kriegerin, die Freude an Scharmützeln hegt. Die Intrige liegt mir eher im Blute. Für mich war das Königreich ein Ort der Verbannung.“
Alkaios schienen die Worte zu gefallen; seine Augen leuchteten. „Die Intrigen und Attentate werden meinen Untertanen vergehen, wenn ich sie auf andere Weise beschäftige. Ich werde das Heer aufstocken und neu ausrüsten. Ich werde die Nachbarländer überfallen und besiegen; Blut und Feuer über die Lande bringen. Alle werden mich fürchten und mein Ruhm wird sich über den gesamten Kontinent verbreiten. Und dann werde ich etwas Ungeheuerliches tun. Ich werde Schiffe bemannen, tausende. Schließlich werde ich zurückkehren zum Achaischen Zeitalter und zahllose Schlachten schlagen. Und letztlich sogar gegen die Götter selbst kämpfen!“
Reja schmunzelte. „Sieh zu, dass dein Vater nichts von deinen Plänen erfährt. Obwohl – man kann davon ausgehen, dass ihm der Olymp gleichgültig ist, sobald er ihn verlässt. Er hält Gaia für todgeweiht. Und es wird noch Jahre dauern, bis du deine Vorhaben in die Tat umsetzen kannst.“
„Vielleicht auch nicht! Ich könnte mit Mesawas Hilfe Waffen herstellen, die mich auf diesem Kontinent unbesiegbar machen.“
Reja lachte. „Das gefällt mir! Ich werde dir jedenfalls einen Gleiter schicken, sobald ich Gaia verlasse. Du magst damit hierher kommen oder auch nach Theben zurückkehren, ganz wie du willst. Dann bist du nicht mehr von deinem Vater abhängig.
Eine Warnung noch. Die Gattin des Zeus hat mich angegriffen, schwer verletzt und beinahe getötet! Das Ganze geschah hier, in unmittelbarer Nähe der Festung. Talira hat es nicht verhindert. Es mag sehr wohl sein, dass sich Heras Hass nicht nur auf ihre Nebenbuhlerin sondern auch auf ihren Sohn richtet.“
Damit beendete sie den Kontakt und auch die Illusion über ihr Aussehen wurde vernichtet. Der Spiegel warf wieder die Wirklichkeit zurück. Reja seufzte.
„Ich konnte nicht eingreifen, bevor du Herrscherin über Mesawa wurdest. Und auch dann konnte ich nur bluffen, denn es ist mir nicht erlaubt, die Götter des Olymp anzugreifen. Zum Glück funktioniert die Täuschung, denn sie scheinen das vergessen zu haben“, erklärte Talira.
Reja ignorierte diese Bemerkung, da sie schon wieder Wichtigeres im Sinn hatte. Sie plante ihre Zukunft.
„Nun – die Implantation wird wohl nötig sein. Und ich möchte die Originalfarbe meines Haares zurück! Salomene, die Hexe, ist tot. Und ebenso die Königin von Askhauran. Es ist Zeit für die Wiedergeburt von Reja, der Piratin!“
***
Eine zerlumpte Gestalt – hager und bleich – kroch an ihm vorbei ohne ihn zu beachten. Zuerst war er erschrocken, wie stets, wenn er einem seiner Schicksalsgenossen begegnete; jenen unseligen Bewohnern des Tartaros, die dazu verdammt waren, hier ihr Dasein zu fristen. Er wusste, dass es allen anderen auch so ging, dass sie Angst hatten, der andere könne einer jener geliebten Verstorbenen sein, deren Hologramme von Zeit zu Zeit in die Höhlen projiziert wurden. Welch perfide Idee! Hatte er selbst das Update zur Software installiert, das diese Gemeinheit produzierte? Es war gut möglich, denn, wer noch lebte und wer tot war, änderte sich natürlich ständig und Hades wollte am Laufenden sein.
Bis jetzt war er von seinen Eltern und seiner Schwester heimgesucht worden. Sie hatten nach Blut verlangt, nach seinem Blut. Als sie das erste Mal erschienen waren, war er entsetzt geflohen. Inzwischen nicht mehr. Jetzt ging er einfach durch die Nebelwesen durch, die von einer Künstlichen Intelligenz, die ihn erkannte, geschaffen wurden und sich so verhielten, wie sich seine Verwandten nie benommen hätten. Die Idee dazu hatte wohl der vorige Hades gehabt oder einer seiner Vorgänger. Vielleicht war diese psychische Folter so alt wie die Verwendung des Höhlensystems als Tartaros. Sie funktionierte jedenfalls. Er war immer noch entsetzt, wenn sich die Verstorbenen aus den weißen Nebeln formten.
Nur zwei Mal hatte einer der hohläugigen, bleichen, zerlumpten, halb wahnsinnigen Lebenden versucht, sich ihm anzuschließen. Den ersten hatte er nicht gekannt. Er hatte ohne Unterlass gejammert und ihm fortwährend erzählt, weshalb er hierher verbannt worden war. Sarpedon wollte es nicht wissen. Er hatte ihn verjagt. Er wollte keine Gesellschaft. Wollte kein Spiegelbild seiner selbst, das ihm seinen Verfall offenbaren würde.
Aber je länger er durch die Unterwelt irrte, desto einsamer wurde er. Den zweiten hörte er an. Er war ruhig, eher verwirrt als verzweifelt. Er war ein achaischer Heroe, nicht groß, aber mit kraftvollem Körper und relativ kurzen, jedoch sehr muskulösen Gliedmaßen. Er musste wohl ein hervorragender Ringer sein. Er hatte in einem großen Heer der Achaier an der Belagerung einer Küstenstadt teilgenommen, die zunächst erfolglos geblieben war. Die Mauern der Wehrstadt schienen einfach übermächtig und unüberwindbar. Die Scharmützel vor den Toren brachten keinen Durchbruch, die Versuche der Gegner, die Schiffe in Brand zu setzen, konnten abgewehrt werden. Langsam wurden die Angreifer mutlos, denn die Monate vergingen, Krankheiten, von Apollon gebracht, plagten das Heer und Zwist und Hader entzweiten die Anführer. Dann aber hatte er eine Idee. Er erfand etwas, das noch keinen Namen hatte – oder, wie Sarpedon wusste, nicht mehr – eine hölzerne Konstruktion, die auf Rollen bewegt werden konnte, so hoch wie die Mauer, mit Schildern, Stufen und einer nach vorne aufklappbaren Brücke. Es war ein für Gaia einmaliger, noch nie dagewesener Bau. Sarpedon verstand, dass der Fremde einen Belagerungsturm von ungewöhnlicher Gestalt kreiert hatte, eine Innovation, ein Verbrechen in den Augen der Olympier. Die Angreifer hatten das Ding „hölzernes Pferd“ genannt. Zum Schein war ein Großteil des Heeres mit allen Schiffen eines Tages aufgebrochen. Die Städter feierten das Ende der Belagerung, ihren vermeintlichen Sieg. In der Nacht aber kehrten die Achaier zurück, während andere bereits das hölzerne Riesenpferd aus dem Versteck auf Rollen zur befestigten Stadt schoben, die Brücke auf die Wehrmauer fallen ließen und das unbewachte Tor von innerhalb öffneten. Müde von der Feier und sorglos geworden ließen sich die Städter von den Achaiern mühelos abschlachten. Die Götter aber waren erzürnt und jagten den Erfinder. Sänger und Mythenerzähler verstanden die Konstruktion nicht und hielten sich an seinem Namen fest: hölzernes Pferd. Auch auf sie wirkten wohl die Götter ein, denn die Geschichte wurde bald eine der größten Sagen Gaias, aber die Funktion des hölzernen Pferdes konnte niemand begreifen, dem sie erzählt wurde. Und das war ganz im Sinne der Götter, denn Fortschritt war für sie gefährlich. Schließlich hatten die Götter den Konstrukteur – ihn – gefunden und ermordet. Davon war er überzeugt. Viele Helden, die er in den Schlachten getötet hatte, waren ihm im Tartaros begegnet. Sein Blut forderten sie nicht, denn er war ja offiziell auch tot.
Sarpedon hatte versucht, ihn davon zu überzeugen, dass er durchaus noch lebte. Denn dieser Mann war wohl einer der klügsten Köpfe, denen er je begegnet war, und konnte ihm sicherlich bei der Flucht helfen. Sie ließen sich zur Ruhe nieder. Als er am nächsten Tag erwachte, war sein Begleiter fort. Das Höhlensystem war zu gewaltig, um ihn mit Aussicht auf Erfolg zu suchen.
Er humpelte weiter, verscheuchte eine der dunklen Riesenspinnen, die in Wirklichkeit Hygieneroboter waren und Gärtner. Sie kümmerten sich um die leuchtenden Flechten und nahrhaften Pilze. Manchmal auch um Ihresgleichen, denn einige der Gefangenen ließen ihre Wut an ihnen aus. Dann transportierten sie die Reste weg. Die armlange Spinne verhielt in einiger Distanz, um ihn aus acht Augen empört zu betrachten. Kaum war er an der Stelle vorbei gehumpelt, an der sie gearbeitet hatte, kehrte sie zurück, um Kot in Dünger zu verwandeln und an Stellen zu tragen, wo er gebraucht wurde. Dabei machte sie klackernde Geräusche.
Vielleicht war das der Grund, warum die anderen Laute, die sich deutlich vom ewigen Flüstern unterschieden, nicht in sein Bewusstsein gedrungen waren. Er blieb stehen und horchte. Da war es. Ein leises, stetes Rauschen. Darauf hatte er gewartet! Plötzlich fühlte er die Lethargie schwinden, die ihn seit langer Zeit in ihren Klauen festhielt. Er eilte in den schmalen Höhlengang rechts von ihm, rutschte einen glitschigen Felsen hinab. Das Geräusch wurde lauter, war definitiv keine Einbildung wie so vieles in der Unterwelt. Schließlich wuchs es zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen an und jetzt konnte er auch Bewegung vor sich ausmachen. Da war der reißende Unterweltsstrom, den sie Acheron nannten; er hatte nichts von dem ruhigen Fließen der Styx, er toste, floss gewalttätig, bildete immer wieder kleine Wasserfälle. Hier waren die Höhlen feuchter, die Felsen glitschiger. Er musste acht geben. Sollte er dem Strom folgen oder flussaufwärts gehen? Eigentlich war es gleich, binnen eines Tages hätte er sein Ziel erreicht, denn der Fluss begleitete das Höhlensystem nicht all zu weit. Er ging dem strömenden Wasser entgegen und kramte in seiner Erinnerung. Deshalb achtete er nicht genug auf den Untergrund und rutschte mehrmals aus, einmal gefährlich nahe auf den Acheron zu. Die Strömung würde ihn mit sich reißen, hätte sie ihn einmal erfasst. Einige Male überwältigte ihn Wunschdenken und er hielt eine Steinsäule nahe des Ufers für die richtige. Ein paar Mal krallte sich die Angst in ihm fest, der Übergang möge nicht mehr existieren; aber dann fand er die Stelle. Hier war das Wüten des Stromes besonders arg und wer einen Transit über den Fluss suchen mochte, würde es sicherlich woanders tun. Aber wozu auch? Auf der anderen Seite gab es scheinbar nur die Höhlenwand.
Sarpedon näherte sich dem hochragenden, konischen Gebilde, das ein wenig wie der Eckzahn im Unterkiefer eines gewaltigen Drachens wirkte. Die Höhle war hier sehr hoch und ungewöhnlich dunkel, sodass er ihre Decke nicht sehen konnte. Der Drachenzahn ragte mehrere Mannshöhen empor und stieß dann auf sein steiniges Oberkiefer-Pendant. Aber das war kaum mehr zu erkennen und zum Glück musste er auch nicht da hinauf. Er betastete den Fels in Brusthöhe und dort, versenkt in einer kleinen Grube fand er, was er gesucht hatte: einen Schalter, den er sogleich betätigte.
Am jenseitigen Ufer manifestierte sich eine davor unsichtbare Struktur, schemenhaft in der Dunkelheit; eine schmale, beinahe filigran wirkende Zugbrücke löste sich von der Wand und senkte sich langsam herab. Ungeduldig wartete er darauf, dass er sie betreten konnte. Ein paar unauffällige Stufen um den Sockel der Säule musste er hinaufschreiten, dann war es soweit. Die Brücke mochte schmal sein, war aber an beiden Seiten mit straff gespannten Tauen gesichert, an denen er sich festhielt. Dann schritt er rasch über den tosenden Strom, ohne hinab zu blicken. Was ihn fesselte, war die andere Seite, wo ihn eine Tür erwartete, die nicht gesichert war und sich durch Senken eines Griffs öffnen ließ. Er atmete tief durch und tat den entscheidenden Schritt über die Schwelle. Die Tür schloss sich selbsttätig hinter ihm.
Augenblicklich war es unglaublich still. Kein Geräusch wies auf den nahen, wilden Fluss hin. Dann schaltete sich die Beleuchtung ein, genauso wie in seiner Erinnerung. Er konnte nun erkennen, dass er im Inneren eines gewaltigen zylindrischen Raums stand, dessen enorm hohe Wände wie Bienenwaben aussahen und der im Zentrum modernere Interaktionsmöglichkeiten und auch die altertümlichen Bedienungskonsolen für zwölf Menschen beherbergte, die im Kreis standen: Sessel, Bildschirme, sogar Tastaturen, die wahrscheinlich noch nie verwendet worden waren. Aber hier wurde Sicherheit groß geschrieben, denn eine Fehlfunktion konnte fatale Folgen haben. Von diesem Raum ließ sich zwar auch die Software steuern, die ihn in letzter Zeit im Tartaros so geplagt hatte, aber das war nicht seine wichtigste Funktion. Er betrachtete noch einmal die enorm hoch ragenden Wände mit dem Sechseckmuster. Hinter jedem Hexagon wartete ein Schläfer. Dies war der Aufenthaltsort der göttlichen Klone. Auch von ihm mussten drei existieren, in unterschiedlichem Alter und alle jünger als er.
Vor ihm flimmerte die Luft und der Avatar des Dormitoriums erschien. Er hatte die Gestalt einer dunkel gewandeten Frau mit schwarzen, lockigen Haaren, bleichem, spitzem Gesicht und stechendem Blick. Sarpedon ließ sich dadurch nicht beeindrucken, er hatte in letzter Zeit schlimmere Visionen ertragen müssen.
„Ich grüße Dich, Hephaistos! Ich bin Megaira.“
Sie war also nicht auf dem neuesten Stand. Das war gut so oder konnte jedenfalls nicht schaden.
„Wir hatten schon das Vergnügen.“ Er spielte damit nicht auf das Schauspiel im Tartaros an, das natürlich auch von Megaira inszeniert worden war, sondern auf seinen Besuch vor Jahren.
Megaira nickte zur Bestätigung. „Was wünscht du?“
„Auskünfte, fürs erste.“
„Dann stelle deine Fragen.“
„Nun. Wenn Bedarf besteht, können die Klone in ihren Hüllen hinauf transportiert werden in den Olymp. Wer aber gibt den Befehl dazu?“
„In erster Linie natürlich Zeus, und Hades, auch Persephoneia. Paieon mit der Zustimmung von diesen. Das sind die Personen, die allgemeinen Zugang haben. Darüber hinaus aber jeder Gott, den es betrifft. Jeder Gott kann seine eigenen Klone anfordern.“
„Auch ich?“
„Natürlich. Da Hephaistos ein verkrüppelter Gott sein muss, wird er nicht ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen. Aber die meisten erfahren es dennoch.“
„Ich nicht!“
Megaira zuckte mit den Schultern.
„Dann kann ich also die Weisung geben, einen meiner Klone hinauf transportieren zu lassen?“
Megaira schüttelte den Kopf. Sie war ein Avatar weniger Worte.
„Warum nicht?“
„Nun, gegenwärtig bist du nicht im Olymp. Du bist hier. Ich kann den Klon nur zu dir bringen.“
„Ah! Aber wenn ich mit meinem Klon reise? Im gleichen Behältnis?“
„Im gleichen Behältnis? Du bekommst ein eigenes. Voraussetzung ist die Genehmigung von Hades. Soll ich ihn kontaktieren?“
„Nein! Hm ... nein. Benötige ich auch eine Genehmigung, wenn ich allein von hier in den Olymp fahre?“
„Eine Autorisierung durch Hades ist erforderlich. Ja.“
Sarpedon überlegte eine Weile. Es war nicht möglich und außerdem – was wollte er im Olymp? Man würde ihn erkennen, festnehmen und wieder hierher schicken. Oder sich etwas Anderes, Nettes für ihn einfallen lassen. Das musste auch er tun. Eine alternative Idee entwickeln. Die bisherige war einfach nur ein Produkt seiner Verzweiflung gewesen.
„Gibt es eine Verbindung zwischen dem Tartaros und der Grotte der Moiren?“
„Ja. Die gibt es. Fast alle Höhlen wurden miteinander verbunden, wenn sie es nicht bereits von Anfang an waren.“
Es gab mehrere Zugänge zur Grotte der Schicksalsgöttinnen, wie er wusste. Einer davon mochte sich als Fluchtweg eignen oder auch nicht. Er kannte die meisten davon nicht.
„Ich brauche nähere Angaben über den Weg dorthin.“
„Die könnte ich dir geben, darf es aber nicht. Es sei denn, du besitzt die Befugnisse dazu. Ist das der Fall? Und kannst du es belegen?“
Sarpedon beabsichtigte nicht, auf diese Frage einzugehen. Wie es schien, hatte er nur sehr wenige Optionen. Verzweiflung hing abermals an ihm wie ein schweres Gewicht, aber er war noch nicht bereit, sich davon auf den Boden drücken zu lassen. Offenbar musste er die Wiederkehr der Persephoneia abwarten und auf das Beste hoffen. Allerdings war es nicht mehr nötig als verlorene Seele durch den Tartaros zu wandern. Er konnte hier in Gesellschaft von Megaira sein Lager aufschlagen. Sanitäre Einrichtungen gab es. Selbst wenn für Nahrung nicht gesorgt war, musste er nur gelegentlich hinaus ins Höhlensystem, Pilze sammeln und trinken und dann wiederkommen. Hoffnung ließ dieses Szenario allerdings kaum aufkommen. Was sollte er tun? Einfach resignieren? Hades Bedingungen akzeptieren? Aber wenn dieser sich gegen ihn entschied, was wurde dann aus seinem Großneffen und seiner Großnichte? Nein. Er durfte nicht aufgeben.
„Megaira! Bring meinen ältesten Klon zu mir.“
In der Peripherie des zylindrischen Raumes geriet Einiges in Bewegung. Da war eine silbrig schimmernde Plattform, in beiden Dimensionen etwa von Manneslänge. Sie war an zwei Punkten an der Wand befestigt und glitt nun auf einer Kreisbahn im Uhrzeigersinn knapp über dem Boden die Wand entlang. Plötzlich stoppte sie, arretierte sich neu und schoss dann den Zylinder nach oben, in schwindelnde Höhen. Sarpedon folgte ihr mit den Augen. Schließlich, vielleicht einhundertfünfzig Fuß über ihm, verharrte sie. Er konnte es nicht sehen, aber er wusste, dass sich nun eine der hexagonalen Klappen öffnete und der Inhalt der Ausnehmung in der Wand, ein beinahe sargförmiges Behältnis, herausgehoben und von einer gabelförmigen Konstruktion vorsichtig auf die Plattform geschoben wurde. Danach senkte sich die riesige Gabel ein wenig, wodurch sie sich vom Sarg befreite und dann im Loch verschwand, woraufhin sich die Klappe wieder schloss. Die Plattform fuhr langsam hinab, löste sich, unten angekommen, von der Wand, während sich kufenartige Strukturen gegen den Boden senkten, auf denen sie nun auf ihn zu glitt, um letztlich in geringer Entfernung stehen zu bleiben. Er trat näher auf den Glassarg zu, in dem deutlich erkennbar ein nackter Mensch lag. Ein Schauder rann seinen Rücken hinab. Er blickte voll Erstaunen, ja Faszination auf – sich selbst. Oder eben doch nicht. Sarpedon konnte erkennen, dass sich die Brust hob und senkte; abgesehen davon lag der Mann ruhig, wie schlafend. Der Zustand, in dem er sich befand, war sicherlich dem Schlaf nahe; nur war er noch nie aufgewacht. Sah er ihm wirklich ähnlich? Die Augen waren geschlossen und er war frei von Körperbehaarung. Würde er, Sarpedon, mit Glatze und ohne Bart so aussehen? Nein. Denn da war ja auch noch die entstellende Narbe, die über sein Gesicht lief und die er inzwischen als Teil seiner selbst betrachtete. Der Altersunterschied von etwa zehn Jahren wirkte sich hingegen kaum aus, denn dank seiner besonderen genetischen Konstitution verharrte er, was sein Aussehen betraf, bei Anfang Dreißig. So alt mochte sein Klon wirklich sein.
Der Mann im gläsernen Sarg war gut aussehend. Erstaunlicher Weise war er muskulös. Wie bekamen sie das nur hin? Das und seine Haarlosigkeit. Sarpedon wusste es nicht. Sein Gegenüber war weder entstellt noch verkrümmt gewachsen. Er sah aus, wie Sarpedon aussehen würde, hätte man ihm nicht als Kind Gewalt angetan. Er hatte sein Schicksal darob immer beklagt. Nun, im Angesicht seines Klons, tat er das nicht mehr. Er wollte wahrhaftig nicht mit ihm tauschen. Der Mann im Sarg litt nicht und hatte das auch noch nie. Aber man hatte ihm sein Leben genommen. Da oben im Olymp dachten sie nicht darüber nach. Er hatte es auch nie getan, obwohl er die dekadente, selbstherrliche Gesellschaftsform, in der er aufgewachsen war, zutiefst verabscheute. Mehr als Zynismus war aus der Ablehnung aber nicht erwachsen, bis seine Nichte auf Gaia erschienen war. Erstmals war da jemand gewesen, um den es sich gelohnt hatte zu kämpfen. Dem aufgeblasenen Ares einen Dämpfer zu verpassen, indem er seine sicher geglaubte Beute aus dem Olymp errettete, war die Verbannung durchaus wert.
Aber Erinnerungen konnten seine Probleme in der Gegenwart nicht lösen. Er versuchte Abstand zu seinem Klon zu gewinnen, was schwer war, wenn man sich stets bewusst war, dass ihrer beider Schicksale auch vertauscht hätten sein können.
Er betrachtete das Behältnis näher. Die trüb durchsichtigen Seiten wiesen manuell bedienbare Armaturen auf, auch hier eher aus Sicherheitsgründen denn als Zeichen von Primitivität. Er studierte sie. Dieser Mensch war als sein Ersatzteillager gedacht, dennoch musste auch die Möglichkeit einer Erweckung vorgesehen sein. Er war neugierig, wollte nicht die Zeit alleine mit dem Betriebssystem eines Computers verbringen. Ob er diesem Mann allerdings Gutes tun würde, indem er ihn erweckte, war zu bezweifeln.
Schließlich erwies es sich als ganz einfach. Er musste nur einen durchsichtigen Deckel aufklappen und den darunter befindlichen Knopf drücken. Eine ganze Serie von Lämpchen änderte die Farbe, aber das waren für ihn - vermutlich - unwichtige Details. Bedeutend war lediglich, dass die Ahnen ein vorsichtiges Aufwecken vorgesehen hatten und das Prozedere hier an der Seitenwand des Sarges genau beschrieben wurde. Hatten sie befürchtet, selbst einmal irrtümlich ruhig gestellt zu werden? Für die Entnahme einer Niere oder eines Herzens war es jedenfalls nicht erforderlich, das Bewusstsein aus Morpheus Armen zu reißen – es war nicht nur hinderlich, es war grausam. Aber war das damals noch von Relevanz? Wann hatte auf diesem Planeten Menschlichkeit aufgehört eine Rolle zu spielen? Als man vergessen hatte, dass irgendwann einmal alles bloß als gewaltiges Theater gedacht war?
Es verging einige Zeit, während der er keine Änderung feststellen konnte. Dann zogen sich langsam und vorsichtig die Schläuche zurück, die den Körper über Mund, Nase und andere Körperöffnungen mit der komplexen Maschine verbanden, die der gläserne Sarg in Wirklichkeit war. Die zunächst sehr flache Atmung wurde tiefer und intensiver, Fingerspitzen und Zehen zuckten gelegentlich, unter den geschlossenen Lidern rollten die Augen. Ob der Mann träumte? Wovon träumt man, wenn man keinerlei Erfahrungen sein eigen nennen konnte? Abermals verging viel Zeit. Der Deckel öffnete sich nahezu geräuschlos und klappte vollständig auf.
„Megaira?“
Der Avatar erschien unweit von ihm.
„Wir brauchen Kleidung.“
„Ich habe Overalls in der richtigen Größe. Schuhwerk. Helme und Handschuhe. Das ist alles.“
„Zwei Overalls und Schuhe für ihn, bitte.“
„Ich habe auch Getränke und Nahrungskonzentrat.“
„Sehr gut. Megaira, du wirst mir helfen müssen, diesen Menschen, der weniger Ahnung von der Welt hat als ein Kleinkind, zu pflegen und zu unterrichten. Er wird zu nichts imstande sein, nicht zur Kontrolle seiner Körperfunktionen und schon gar nicht dazu, sich fortzubewegen oder zu kommunizieren. Das wird ein ziemliches Abenteuer! Und wir haben nur wenig Zeit. Ich weiß nicht genau, wann Persephoneia zurückkehren wird, aber der Herbst naht!“
'Und bis dahin', dachte er, 'muss er mich verstehen.' Er beobachtete nun wieder jede Regung im ausdruckslosen Gesicht seines Klons. Er wusste, dass der Mann ihn nicht verstehen konnte, aber diese Erkenntnis hinderte ja Eltern auch nicht daran, mit Babys zu sprechen. Im Gegenteil. Also begann er damit.
„Wir werden einen Namen für dich finden müssen. Und einen Weg, dich aus diesem Behältnis heraus zu bekommen. Ich kann dich nicht wie ein Kleinkind tragen, dazu bist du zu schwer. Und du kannst nicht gehen. Es wird mühselig.“
Der Liegende schien auf das gesprochene Wort zu reagieren. Er verharrte, die Atmung wurde unregelmäßig. Ganz langsam öffnete er die Augen.
***
Der Raum war groß und prunkvoll, die hohe Decke mit filigraner Silberkunst verziert, der Fußboden aus Elfenbein und aus eben diesem Material waren auch zahlreiche Schnitzereien an den Wänden. Ein Teppich mit komplexem Muster lag im Zentrum des Zimmers und hinter ihm befand sich ein mit Gold eingelegter, robuster Schreibtisch, an dem ein Mann saß, der nicht so recht zu all der überbordenden Pracht passen wollte: ein muskelbepackter Hüne in mittleren Jahren mit breiten Schultern und sparsamen, kraftvollen Bewegungen. Unter der dunklen Mähne, die ein Silberreif kaum bändigen konnte, lugten stahlblaue Augen hervor, die einen eisernen Willen, aber auch Heiterkeit und große Melancholie verrieten. So beeindruckend seine Umgebung sein mochte, war doch er es, der den Blick jeden Besuchers auf sich zog. Im Augenblick war er aber allein, griff nach einer güldernen Karaffe und schenkte sich honigfarbenen Wein in einen reich verzierten Zinkbecher ein. Wie ein Verdurstender stürzte er den kostbaren Trunk in sich hinein, um die Dunkelheit zu vertreiben, die sein Gemüt belastete, jene seelische Finsternis, die so viele befiel, die in den düsteren Wäldern Kimeriens aufgewachsen waren. Es wirkte, bald fühlte er sich weniger eingekerkert. Seufzend griff er zur bereit liegenden Feder und zog einen Tintenstrich über das Pergament.
Jemand klopfte an die Tür und öffnete sie ohne auf eine Einladung zu warten, ein gegenüber dem König von Achwilonien ebenso ungewöhnliches, wie ungebührliches Verhalten. Aber er nahm es nicht übel, denn der Eintretende war sein treuester Gefährte, Graf Proserpo von den poitanischen Hügeln im Süden des Reichs. Der stets gut gelaunte, schlanke Mann blieb auf dem Teppich stehen und zupfte beiläufig an den Schnüren seines goldverzierten Harnischs.
„Ach Proserpo, die Staatsgeschäfte ermüden mich in einem Ausmaß, wie es keine der zahlreichen Schlachten vermochte, die ich geschlagen habe. Und nie bin ich mir als Söldner so nutzlos vorgekommen wie nun als König. Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht, als ich König Numedides zu seinen Ahnen schickte.“
„Er war ein grausamer Tyrann, der das Reich aussaugte wie ein fetter Blutegel. Er und sein Hofstaat hätten das Land zugrunde gerichtet, die Bevölkerung stöhnte unter der Steuerlast, viele mussten einige ihrer Kinder in die Sklaverei verkaufen, um den anderen ein Überleben zu sichern. Die Adeligen, die sich offen gegen seine Praktiken auflehnten, wurden geköpft. Auch mein Todesurteil war bereits unterzeichnet. Aber nicht nur deshalb habe ich dich unterstützt und nicht seinen dekadenten Neffen Dinon.“
„Obwohl ich keinen Tropfen adeligen Blutes in mir habe“, ergänzte der König.
„Ich gebe es ungern zu, aber das adelig Blut ist in diesem Land ziemlich verrottet. Nein, König Granoc, du hast Achwilonien gerettet!“
„Und doch trauern viele König Numedides nach. Sie haben sogar eine Statue von ihm im Mithratempel aufgestellt. Und es werden Trauerlieder für ihn komponiert.“
„Von diesem schwachsinnigen Minnesänger, ja. Er wiegelt die Leute gegen dich auf. Mach ihn einen Kopf kürzer.“
„Und werde wie Numedides? Lieber nicht.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Ich sage dir, da draußen werden die Messer gewetzt. Das Volk ist des Friedens Müde. Als ob Achwilonien je Frieden gehabt hätte! Die westlichen Provinzen stöhnen unter den Übergriffen der Pikten.“ Unwillkürlich fuhr sein Finger über das Pergament.
„An was arbeitest du da?“
„An einer Karte“, erklärte der König nicht ohne Stolz. „In den Landkarten, die ich in der Bibliothek gefunden habe, sind die Länder des Nordens nur sehr ungenau eingezeichnet. Ich habe sie alle bereist. Dennoch. Es bleiben viele Flecken, die weder die Weisen Achwiloniens noch ich kennen. Siehst du?“ Er wies auf die Stellen auf denen 'Hier wohnen Drachen' stand. Natürlich gab es auf dem Hyborischen Kontinent auch Landschaften, in denen tatsächlich Drachen hausten. Granoc hatte das am eigenen Leib erfahren. „Welchem Ereignis verdanke ich deinen Besuch zu so früher Stunde?“
„Eine hochrangige Gesandtschaft der östlichen Länder hat das Schloss erreicht und bittet um eine Audienz.“
„Leben sie nicht untereinander in ständigem Hader und Zwietracht?“
„In der Tat! Trotzdem sind die Gesandten aus Nemedien, Brythunien, Corinthien und Koth hier gemeinsam angekommen ohne sich gegenseitig die Gurgel durchzuschneiden. Es muss etwas Bemerkenswertes geschehen sein.“
„Jemand dabei, den wir kennen?“
„Graf Pallantides aus Nemedien, Enarus aus Brythunien, Pomero aus Corinthien und die Gräfin Numa aus Koth.“
Der König zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Bemerkenswert. Lauter Personen, die mich nie als rechtmäßigen König Achwiloniens anerkannt haben. Und jetzt wagen sie sich in die Höhle des Löwen? Dann wollen wir sie nicht warten lassen.“
„Wo willst du sie empfangen?“
„Hier. Du weißt doch, ich hasse Förmlichkeiten. Man lasse fünf Stühle herein bringen. Sie sollen es bequem haben.“ Letzteres bemerkte er fast ohne Zynismus. Nur der dicke Pallantides war für seine Liebe zur Bequemlichkeit bekannt.
Proserpo ging und gleich darauf brachten livrierte Diener die gepolsterten Sessel und stellten sie links und rechts vor dem Schreibtisch auf. In der Mitte blieb eine Lücke. Kurz darauf kehrte Proserpo mit den prunkvoll gewandeten Gesandten zurück. Die Herren verbeugten sich vor dem König, die Dame knickste.
„Setzt euch, setzt euch. Du auch Proserpo.“
Pallantides, Enarus und Pomero ließen sich links vor dem König nieder, die dürre Numa und Proserpo rechts. Der König blickte jedem einzeln in die Augen, Numa bewegte sich unruhig auf ihrem bequemen Stuhl.
„Welch ungewöhnlicher Anlass bringt euch alle in seltener Eintracht zu mir? Ihr könnt doch sonst kaum die Gegenwart der anderen ertragen, weicht vor deren Geruch voll Ekel zurück. Zumindest erzählte man mir dies. Oder sollte mein Geheimdienst sich dermaßen irren? Ich habe eine reiche Sammlung von Zitaten, mit denen ihr Euch gegenseitig zu beflegeln beliebt. Soll ich daraus vorlesen?“
„Das ist Vergangenheit, König Granoc“, begann Pallantides, nachdem er sich – unangenehm berührt – geräuspert hatte. Er war der Überzeugung gewesen, dass sein eigener Geheimdienst alle fremden Agenten längst enttarnt hätte. Sie alle dachten dies. „Laub vom Vorjahr. Wenn die Götter unsere Länder prüfen, dann herrscht Einigkeit zwischen uns und Hilfsbereitschaft. Dann denken wir voll Liebe von unseren Nachbarn und der Wunsch, sie zu unterstützen, obsiegt.“
„Das ist schön! Wunderbar zu hören. Und diese nachbarschaftliche Zuneigung bezieht sich auch auf Achwilonien?“
„Aber natürlich, oh Herrscher über dieses wundervolle Land.“
„Dann muss ich wohl falsch informiert worden sein. Hat nicht erst unlängst der König von Nemedien die Idee geboren, sein Land nach Westen hin zu erweitern?“
Pallantides lief rot an. König Granoc war viel besser über diese Erweiterungspläne in Kenntnis gesetzt als er sich in seinen schlimmsten Albträumen hätte vorstellen können. Achwilonien litt seit vielen Jahren durch die andauernden Angriffe aus der piktischen Wildnis und ein Teil des Heeres war dort in ständiger Bereitschaft und damit im Westen gebunden. Und fehlte damit im Osten des Landes, was Achwilonien angreifbar machte. Auch die Bossonischen Marschen im Norden waren ein steter Unruheherd.
„Das war nur so ein Gedankenspiel, nichts Ernstes. Ein Geplänkel, ein Vorhaben, von dem ihm seine Hofräte dringend abgeraten haben, denn dann hätte ja er die piktischen Krieger am Hals. Achwilonien ist das Bollwerk der Zivilisation gegen die primitiven Wilden, die Pikten im Westen und ...“, er hüstelte, „die Kimerier im Norden. Wer wollte schon diese Aufgabe übernehmen? Wer wäre ihr gewachsen?“
„Ein Wilder aus dem Norden, der weiß, wie sie denken und was sie bewegt“, meinte der König. „Aber ihr seid sicherlich nicht gekommen, um uns zu preisen, sondern wohl eher, weil ihr unsere Hilfe braucht?“
„So ist es edler König.“ Wieder hatte Pallantides die Wortführung übernommen. „Ihr wisst vielleicht, dass im äußersten Osten der shemitischen Länder ein kleines Königreich existiert, Askhauran genannt?“
Der König nickte.
„Nun – vor geraumer Zeit hat eine Hexe die Herrschaft über das Volk und die Priester übernommen, Salomene. Es ist wirklich nur ein kleines Königreich, eine Hauptstadt, mehrere Dörfer und das Umfeld. Dahinter beginnt die Steppe und eine unüberwindbare Wüste, die bis zum Wilahet-Meer reicht und das Land vor Überfällen aus dem Osten schützt.“
Abermals nickte der König. Diese Information war nicht gerade neu für ihn; die Ereignisse um den Sturz des ehemalige Königspaares hatten sich lange vor seiner Inthronisierung abgespielt. Er hatte ihnen nie Bedeutung beigemessen. Askhauran war viel zu klein und weit weg, um eine Gefahr für Achwilonien sein zu können. Allerdings waren in letzter Zeit merkwürdige Dinge geschehen. Sein Vertrauter aus alten Tagen war mitsamt seinem Sohn von der Burgmauer gestürzt. Angeblich ein Unfall. Was er bezweifelte. Jedenfalls war damit sein Quell des Wissens über dieses Land jählings versiegt.
„Sie ist ein Emporkömmling!“, schrie Numa voller Abscheu. „Ohne edles Blut!“
Ihre Begleiter blickten sie zornig an, kommentierten diese Bemerkung aber klugerweise nicht. Numa schaute leer zurück. Offenbar begriff sie nicht, warum sich die anderen über sie ärgerten. Auch Granoc ignorierte sie, war ihm doch klar, dass Numa zu blöde war, um sie aus Gründen der absichtlichen Provokation fallen gelassen zu haben.
„Die mächtigsten Reiche der Welt werden sich doch wohl kaum vor dieser Königin und Hohepriesterin der Ischtar fürchten.“
„Nun, bislang war das tatsächlich nicht der Fall“, bestätigte Pallantides.
„Aber“, ergänzte Enarus, „die Ereignisse der letzten Zeit lassen alles in neuem Licht erscheinen. Die Hexe hat ihren Sohn, einen Bullen von Mann und nicht weniger grausam, brutal und abscheulich als sie, aus fernen Ländern kommen lassen. Er regiert nun in ihrer Abwesenheit. Und es ist eine wahre Schreckensherrschaft.“
„Menschlichkeit im Umgang mit den Untertanen ist auch in euren Ländern nicht gerade oberstes Prinzip.“
Pallantides, der gewiefte Diplomat, schluckte diese Bemerkung kommentarlos. „Der Punkt ist, dass einer unserer Agenten ein magisches Gespräch zwischen der Königin und ihrem Sohn mit angehört hat. Die Wahrheit ist: Wir kommen nicht zum Herrscher von Achwilonien, wir kommen zu … Euch.“
Granoc zog eine Braue hoch. „Und warum dies?“
„Der korinthische Spion“, äußerte Pomero genüsslich, während er die anderen mit einem überlegenen Blick bedachte, „der korinthische Spion also, hat uns folgendes über den Dialog mitgeteilt: Die Hexe Salomene erschien plötzlich mitten auf dem Langtisch in der großen Halle. Einer der jungen Diener erschrak darüber so sehr, dass er einen Tropfen Wasser auf die Hand des Alkaios, Sohn der Salomene, goss. Daraufhin erschlug eben jener den ungeschickten Diener. Eine etwas überzogene Reaktion, wenn man bedenkt, dass er eine nicht unwichtige Geisel war.“
„Aha“, kommentierte König Granoc. Er sah die Verbindung zum Tod seines Vertrauten und dessen Sohn.
„Aber das ist unerheblich“, fuhr Pomero fort. „Weshalb wir uns an Euch wenden, König Granoc, ist folgendes: Die Königin behauptete, gerade in einer Festung in den Schwarzen Bergen zu sein. Das ist in der Nähe des Wilahet Meers. Bezeichnender Weise handelt es sich um eine Feste, in der Dämonen hausen oder zumindest gehaust haben sollen und riesige, eherne Menschen. Sie ist im Umland bekannt unter dem Namen Mesawa.“
König Granoc blickte nun interessiert. „Mesawa.“
„Man sagt“, fügte Pallantides hinzu, „Ihr seid dort gewesen.“
„Das stimmt. Gerade deshalb fällt es mir schwer zu glauben, dass nun eine Hexe dort ihr Unwesen treibt. Dereinst herrschte ein eherner Riese über die gewaltige Burg, die eigentlich schon eine Stadt genannt werden muss, wenngleich mit sehr seltsamen Bewohnern: Grauen Menschenaffen und einem Gott, der verwundbar war wie ein Sterblicher. Und einem Geist, der gelegentlich erschien. Kostral, der Eherne, wurde von einer freundlichen, aber mir bis dahin unbekannten Göttin erschlagen. Daraufhin, so sahen es die Statuten Mesawas vor, wurde sie neue Herrscherin über die Dämonenburg. Die Hexe von Askhauran und die Göttin Eos? Nein, das ergibt keinen Sinn!“
„Und doch scheint es so zu sein. Nehmen wir an, sie hätte nicht gelogen. Und was hätte sie schon gewonnen, wenn sie die Unwahrheit von sich gegeben hätte?“
Granoc nickte. „Nun gut.“
„Jedenfalls äußerte sie, nicht wiederkehren zu wollen. Eine sehr überraschende Aussage von einer derartig ehrgeizigen Frau. Sie gab während des Gesprächs zu, drei Morde begangen zu haben, um die Herrschaft über das Königreich zu erlangen. Sie erklärte ihren Verzicht damit, bessere Optionen zu haben. Welche, hat der Informant nicht verstanden, da er sich in der Welt der Magie und der Götter nicht auskennt. Wie auch immer, damit wäre ihr Sohn der neue König, was Konsequenzen hat. Während Salomene sich damit begnügte, ihre Untertanen zu unterjochen und zu drangsalieren, ist dem neuen König das Reich zu klein, er wälzt Expansionspläne.“
„Und wenn schon; eure Länder sind doch viel mächtiger, solange ihr nicht Händel untereinander beginnt.“
„Nun ja, eben das ist die Frage“, bemerkte Pallantides, „also, nicht ob wir untereinander Krieg führen werden. Das ist bei dermaßen friedfertigen Ländern ausgeschlossen. Aber die Frage nach der Macht Askhaurans könnt nur Ihr uns beantworten. Denn wie es aussieht, wurde zwischen den beiden beschlossen, dass auch Alkaios solange nach Mesawa kommt, wie es dauert, dort gewaltige Waffen für den Krieg anzufertigen, mit denen er dann nach Askhauran zurück kehren will. Und, was die Sache auch nicht besser macht, die Königin will ihm einen fliegenden Dämon schicken, der ihm ermöglicht, binnen sehr kurzer Zeit zur Feste der ehernen Männer zu gelangen! Diese Dämonen“, ergänzte er, „gibt es wirklich. Denn erst vor kurzer Zeit kam ein göttlicher Besucher mit so einem Wesen in der Burg zu Besuch, nahm Alkaios mit und brachte ihn dann wieder. Und das ist nicht das einzige Mal, dass die abscheuliche Kreatur von den Burgbewohnern und Dienern gesichtet wurde.“
Der König winkte ab. „Davon braucht ihr mich nicht zu überzeugen. Ich selbst habe schon eine solche Kreatur gesehen. Und ihre beeindruckende Macht gespürt.“
Pallantides rückte sich in seinem Sessel zurecht. „Was wir von Euch erbeten, edler König, ist eine Abschätzung der Situation, mehr nicht. Ist Askhauran mit Mesawas Waffen eine ernst zu nehmende Bedrohung für unsere Länder?“
König Granoc nickte. „Askhauranische Soldaten, angetan mit den magischen Rüstungen, die ich gesehen habe, wären nahezu unbesiegbar. Kein Pfeil kann sie durchdringen, auch kein Schwert. Einige hundert Krieger würden genügen ganze Armeen niederzumetzeln! Und sie haben auch Waffen, die wohl in der Lage sind, Mauern zu zerstören. Zumindest“, schränkte er ein, „wurde eine Mauer zertrümmert, wenngleich nicht von den Ehernen sondern von der Göttin, aber Kostral, der metallene Riese, hatte ähnliche, wenn auch kleinere Waffen. Sie genügen allemal, um auch einen gepanzerten Krieger abzuschlachten. Ja, wenn Alkaios seine Pläne verwirklichen kann, sind alle zivilisierten Länder in Gefahr, auch Achwilonien.“
Pallantides sank in seinem Stuhl zusammen. „Das hatten wir befürchtet“, flüsterte er. Auch die anderen Gesandten wirkten deprimiert.
„Dann bleibt uns wohl nur ein Präventivschlag“, meinte Enarus der Brythunier, ein blonder, hagerer Mann. „Wenngleich wir vielleicht noch etwas Zeit haben, da sich der erste Angriff Alkaios gegen Zamora oder die shemitischen Länder richten wird.“
„Oder gegen Koth!“, empörte sich die Gesandte Numa, „das ist genau so möglich! Vergesst das nicht.“
Pallantides winkte ab. „Wir werden dein Land nicht alleine lassen, Numa.“ Dann wandte er sich wieder dem Herrscher über Achwilonien zu: „Wäret Ihr, König Granoc, bereit eine Allianz mit unseren Ländern gegen Askhauran einzugehen? Wenn Eure Antwort so lautet, wie es nun eben der Fall war, sind wir von unseren Königen dazu berechtigt, Euch ein Bündnis anzubieten, ein gemeinsames Vorgehen gegen den Feind.“
Der König nickte. „Die Details könnt ihr später mit Graf Proserpo aushandeln. Er spricht mit meiner Autorität, sein Wort ist also auch für mich bindend. Aber für jetzt ist die Audienz beendet, ich habe auch noch andere Staatsgeschäfte zu erledigen.“
Die Gesandten standen auf und verbeugten sich, Numa knickste. Dann verließen sie den großen Raum. Proserpo blieb.
„Was hast du vor, Granoc?“
„Ich muss mir selbst ein Bild machen. Von hier kann ich nicht abschätzen, wie groß die Gefahr wirklich ist. Nichts was unser Geheimdienst berichtet, weist auf eine Intrige der vier Länder gegen Achwilonien hin, aber ich kann nicht sicher sein.“
„Dann willst du mit einer Armee nach Osten ziehen?“
Der König schüttelte den Kopf. „Wir brauchen alle Männer im Westen und Norden, an der Grenze zur piktischen Wildnis und in den bossonischen Marschen, um die Einfälle der Kimerier zurück zu schlagen. Leichtfertig kann ich diese Fronten zumindest nicht schwächen. Ich muss alleine losziehen.“
„Alleine?“ Proserpo wirkte als hätte er in eine saure Frucht gebissen.
„Ich werde inkognito als bewaffneter Bote reisen. Dann kann ich bis zur Landesgrenze die Pferde an jeder Station auswechseln. Danach wird es langsamer gehen, aber immer noch schneller als mit einem Heer!“ Granoc lachte.
„Aber … nimm wenigstens mich mit und einige deiner Elitesoldaten!“
„Nein Proserpo. Vielen Dank für das Angebot, aber ich brauche dich hier. Du musst die Staatsgeschäfte in meiner Abwesenheit führen und dafür sorgen, dass niemand erfährt, wo ich wirklich bin. Offiziell werde ich die bossonischen Marschen inspizieren. Stelle einen Soldatentrupp zusammen, mit einem Mann meiner Statur an der Spitze. Er soll meine Rüstung tragen und meine Insignien. Jeder soll ihn als König von Achwilonien erkennen. Auch der Geheimdienst der östlichen Länder muss übertölpelt werden.“
„Das gefällt mir nicht. Dein Plan ist zu gefährlich.“
„Ich kann auf mich aufpassen, keine Sorge. Mein altes Breitschwert, die Streitaxt, mein Kettenhemd, mehr ist nicht nötig, um mich außerhalb Achwiloniens wie ein Söldner wirken zu lassen. Niemand überfällt einen schwerbewaffneten Mann, der außer einem Pferd und Waffen keinerlei Besitz hat und kampferfahren wirkt. Die Narben in meinem Gesicht zeigen, dass ich in zahllosen Schlachten gekämpft habe und keine leichte Beute bin. Gefährlich wird lediglich meine Rückkehr, falls mich meine Feinde zu früh erkennen. Postiere deshalb einen Mann deines Vertrauens, der in meinen Plan eingeweiht ist, an der achwilonisch-nemedischen Grenze.
Diese Sache kann man am besten erledigen, wenn man unauffällig bleibt. Niemand verdächtigt einen Mann, der alleine unterwegs ist, der König von Achwilonien zu sein. Und – ehrlich gesagt – ich habe den goldenen Käfig satt, in dem ich mich gefangen habe. Ich werde von Tag zu Tag schwermütiger! Verantwortung für mich selbst zu tragen fällt mir leicht, aber für ein Königreich? Selbst für eine Frau wäre mir das zu viel gewesen. Und dann muss ich Narr Numedides köpfen und mich von diesen eitlen Speichelleckern dazu überreden lassen, mir die Königskrone auf den Kopf setzen zu lassen! Sie haben natürlich gehofft, in mir die ideale Marionette und Zielscheibe gefunden zu haben. Der tumbe Wilde, der tut, was seine Berater ihm empfehlen. Sie haben sich geirrt. Oh, wie sehr sie sich getäuscht haben! Und jetzt intrigieren sie gegen mich und hetzen dass Volk und die Adeligen, die sich plötzlich daran erinnern, dass ich keinen Tropfen königlichen Bluts in meinen Adern habe, gegen mich auf.“
„Ich bin mit diesem Ränkespiel aufgewachsen und dennoch ekelt es mich an und daher kann ich deine Gefühle nachempfinden. Genau deshalb bereitet mir dein Entschluss Sorgen. Ich habe keine Angst um dein Leben, Granoc, ich fürchte mich davor, dass du nicht zurück kehrst, weil dir dein altes Dasein um so viel besser gefällt. Was aber wird aus dem Reich, was wird aus Achwilonien, wenn es diesem geistesschwachen Dinon gelingt, die Macht an sich zu reißen? Lass wenigstens ihn beseitigen. Niemand lässt die Verwandten des ehemaligen Herrschers am Leben, wenn er durch einen Staatsstreich das Ruder an sich gerissen hat. Niemand außer dir.“
„Es schadet manchmal nicht, mit alten Gepflogenheiten zu brechen. Noch kommt ihm keine Schuld zu. Aber du hast recht; es muss für den Fall vorgesorgt werden, dass ich nicht zurück kehre. Bereite alle Dokumente vor, die dir die Verantwortung über Achwilonien übertragen, solange ich weg bin und – sollte ich nicht wiederkommen – über diesen Zeitraum hinaus.“
Proserpo wirkte immer noch sehr unzufrieden und der König wusste, dass er das ehrlich meinte, denn der Adelige war immer schon ein schlechter Schauspieler gewesen. Da lachte er herzlich.
„Keine Angst, du wärst ein hervorragender König! Meine Schuhe sind dir nicht zu groß.“
Zweifelnd blickte Proserpo auf Granocs riesige Füße.
„Im übertragenen Sinne natürlich! Du bist dieses Leben gewöhnt. Gönne mir den Spaß, ich gönne dir ja auch den deinen! Oder glaubst du, ich wüsste nichts von dir und der kleinen blonden brythunischen Haremsdame, dem Neuzugang? Warum, meinst du, habe ich sie bis jetzt in Ruhe gelassen? Glaubst du, es fällt mir nicht auf, wie sehr ihr euch bemüht, euch gegenseitig nicht anzublicken – und es dann doch tut? Ich schenke sie dir, denn früher oder später würdest du ja doch das Gesetz missachten, das es bei Todesstrafe verbietet, sich am Harem des Königs zu vergreifen. Küsse sie, soviel du willst, aber tu es in deinem Namen, nicht in meinem!“
***
Nisaya spürte das Kribbeln der Aufregung in ihrem Bauch, als vor ihr auf dem Monitor die alte Feste der Sandarken auftauchte, mit der zerstörten Kuppel. Genau wie beschrieben, genau so hatte sie sich den Dom vorgestellt! Darunter, wusste sie, befanden sich die absonderlichen Gärten des Kostral, des ehemaligen Herrschers über dieses kleine Reich. Wie eine schwarze Pupille umgeben von der grünen Iris eines üppigen Waldes wirkte die Festung der Familienlegenden auf sie. Hier hatte ihre Mutter ihren Vater gerettet.
„Ach Iphikles! Mein Bruder wird Augen machen! Sobald sein Bild auftaucht, werde ich ihm 'Überraschung' entgegenschleudern!“
„Er wird sich nicht selbst melden sondern Mesawas Avatar. Warte also noch ein bisschen.“
„Kannst du es so einrichten, dass sein Monitor mein Gesicht zeigt? Wenn er deines sieht, bricht er den Kontakt vielleicht gleich wieder ab!“
„Wieso? Was stimmt nicht mit meinem Gesicht?“ Iphikles wirkte verschnupft.
„Damit stimmt eh alles“, meine Anwin und ergänzte, „jedenfalls aus Sicht eines Mannes, der nicht auf Männer steht. Sie sagt das nur, um dich zu ärgern. Tu ihr also bloß nicht den Gefallen, dich wirklich zu grämen, denn sonst hört sie mit derartigen Bemerkungen überhaupt nicht mehr auf.“
Nisaya grinste bis über beide Ohren. „Ach wie schnell du mich doch durchschaut hast! Es macht wirklich viel Spaß, euch aufzuziehen, den prüden Anwin und den eitlen Iphikles. Ihr macht es einem aber auch sooo leicht!“
Da erschallte unerwartet eine Stimme aus der Raummitte: „Ihr habt soeben die Grenze zu Mesawas Herrschaftsbereich überflogen. Da unser letzter Besucher nicht gerade freundlich war, halte ich es für gegeben, euch rechtzeitig darauf hinzuweisen, dass jeder feindliche Akt eine entsprechende Antwort auslösen wird.“
Das verblüffte Nisaya. „Dann war das aber nicht mein Bruder Gjefren. Wenn man ihn nicht reizt, ist der nämlich immer freundlich. Was heißt: zu mir eher selten.“ Während sie das sagte, drehte sie – wie die anderen auch – den Sessel zur Raummitte hin und erblickte eine hübsche Blondine mit goldenen Augen, über die sich in periodischen Zeitabständen aus dem Innenwinkel eine Nickhaut schob und dann wieder sehr schnell zurück zog. Die Pupillen waren nicht rund sondern wie die einer Katze geformt. Trotz ihrer eher barschen Worte teilte ein Lächeln ihre scharlachroten Lippen und sie zeigte dabei ihre makellos weißen Fangzähne. Aus dem Mundwinkel löste sich gerade ein Tropfen Blut, der aber bald wieder verschwand. Einfach so. Ihr enges, hellgrünes, weit ausgeschnittenes Kleid ließ keinen Zweifel daran, dass sie eine Traumfigur besaß. Nisaya war begeistert ob der Erscheinung, bemerkte aber aus dem Augenwinkel nicht gerade erfreut, wie sehr Anwin die Fremde anstarrte. „Pass auf, dass dir die Augen nicht aus dem Kopf fallen!“, zischte sie ihn an.
Anwin wollte sich zunächst verteidigen, aber dann blitzte der Schalk in seinen Augen auf und so etwas wie gutmütige Bösartigkeit. Falls es das gibt. „Was denn?“ Er hob die Schultern, um Unverständnis anzudeuten. „Sie ist nun mal sehr hübsch! Und, äh, ganz erstaunlich.“
Nisaya beschloss, diese Bemerkung zu ignorieren. Dieser Anwin lernte schnell, musste sie widerwillig anerkennen. Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf den Avatar, der ihr irgendwie bekannt vorkam.
„Du bist Talira, nicht wahr? Dich hat Gjefren designt, stimmt's? Dann ist er also jetzt der Herrscher von Mesawa.“
„Gjefren hat mich gestaltet und war der Gebieter über die Festung. Aber er ist es nicht mehr.“
Diese Nachricht enttäuschte Nisaya. „Wer ist es denn jetzt?“
Taliras Gesicht wandelte sich und sah nun so aus wie Reja, als sie aus der Ohnmacht erwacht war. Sie hatte daher dunkel gefärbte Haare, die allerdings an der Basis ein Stück blond nachgewachsen waren. Auf der linken Kopfhälfte fehlten sie, eine hässliche blaue Narbe betonte die Kahlheit. Trotz dieser unvorteilhaften Veränderung erkannte Nisaya sie sofort.
„Das ist die Frau, die meinen Gleiter abgeschossen hat! Diese fiese Kreatur!“
Auch Iphikles wirkte verblüfft, denn auch er hatte sie natürlich sofort erkannt. „Das ist ...!“, begann er, aber dann klappte er schnell den Mund zu. Nisaya würde wohl kaum begeistert sein, zu erfahren, dass dies seine Mutter war. Manchen Verwandten verschweigt man besser. „Ich habe diese Frau noch nie gesehen.“
Talira wandelte sich zurück. Nisaya und Iphikles starrten sich gegenseitig an, Anwin hingegen Talira. Nisaya musste daran denken, wie ihre Mutter an die Herrschaft über Mesawa gekommen war – nämlich durch die Tötung von Kostral – und ihr wurde übel.
„Heißt das, dass diese Frau ...“
Abermals musste Iphikles an sich halten nicht zu gestehen, dass sie seine Mutter war. Er zuckte zusammen.
„... Gjefren getötet hat, um Gebieterin der Festung der Sandarken zu werden?“
„Ähnlich sähe es ihr“, flüsterte Iphikles unhörbar.
„Oh nein! Ich habe das verhindert“, erklärte Talira.
„Aber wie kommt es dann, dass sie jetzt Herrscherin ist?“, wollte Nisaya erleichtert wissen.
„Ist doch egal. Wo die Frau ist, die dich ermorden wollte, sollten wir besser nicht sein.“
„Scht! Ich brauche Antworten.“
„Nun, Gjefren hat ihr die Festung gewissermaßen übertragen.“
„Aber doch wohl kaum freiwillig.“
„Es war ein Tausch. Die Feste gegen Leben und Freiheit eines Mädchens.“
„Ah, ja! Eines Mädchens? Das ist interessant. Was für ein Mädchen ist das?“
„Er kannte sie bereits, als ich sie in die Festung brachte ...“ Talira verwandelte sich abermals und sah nun so aus wie Athaly; eine Mischung aus Kobold und gazellenhafter, zarter Weiblichkeit, mit struppigem, schwarzem Haar und großen, dunklen Augen, die immer ein wenig neugierig wirkten und stets geschützt durch einen dünnen Schleier, wie Tau auf Morgenwiesen. Nisaya konnte sich nicht entscheiden, ob sie das Mädchen mochte, das etwa so groß war, wie sie selbst und ähnlich schlank. Sie wirkte nicht als ob sie viel für Zynismus und Ironie übrig hätte, die für sie so wichtig waren wie Luft zum Atmen.
„Und wo sind sie jetzt, dieses Mädchen und Gjefren?“
„Sie haben Reja nicht getraut. Sie ist nicht der Typ, der sich an Abmachungen hält und daher sind sie, so rasch es geht, geflohen. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind.“
„Nisaya!“, meinte Iphikles, „ist doch egal! Wir sollten sehen, dass wir von hier wegkommen! Willst du diese Frau wirklich treffen?“ Seiner Mutter zu begegnen war das Letzte, was er wollte.
„Scht!“, zischte Nisaya, „das ist ein wichtiges Gespräch unter Erwachsenen. Du störst! Und: ja! Ich will sie treffen! Buchstäblich!“
Talira reagierte bereits auf Iphikles Kommentar: „Reja – beziehungsweise Salomene - hier zu begegnen wird Euch nicht möglich sein, zumindest nicht in nächster Zeit. Sie hat den Planeten verlassen.“
„Oh!“, frohlockte Nisaya, „Aber dann geht die Herrschaft über Mesawa doch sicherlich auf Gjefrens Schwester über. Also auf mich!“
Talira schüttelte ihr anmutiges Haupt. „Sie hat den Besitz auf ihren Sohn übertragen.“
Nun war es gewissermaßen an der Zeit, sich zu outen, fand Iphikles. „Ist das so? Fein!“, meinte er, „Ich bin ihr Sohn!“
„Was?“, schrie Nisaya und wich – genauso wie Anwin – ein wenig von seiner Seite. „Du kennst diese Frau nicht! Das hast du gesagt, schon vergessen?“
„Was denn? Tschuldigung.“
„Du sagtest, du habest diese Frau noch nie gesehen!“
Er zuckte mit den Schultern. „War gelogen. Ich kann doch nichts dafür, dass sie meine Mutter ist. So was kann man sich nicht aussuchen.“
Abermals änderte Talira ihre Erscheinung und vor ihnen stand die fast schon monströse Gestalt des Alkaios, in Löwenfell gehüllt und mit Keule aus Olivenholz. Der Typ verströmte Selbstbewusstsein wie ein Dunghaufen üble Gerüche. Er blickte düster und sehr unfreundlich. Unwillkürlich versuchten alle drei Insassen der Fähre zurückzuweichen, aber dafür war kein Platz.
„So sieht ihr Sohn aus“, sprach der Riese mit Taliras Stimme.
Iphikles fing sich als Erster, war er die Horrorvision doch schon gewöhnt. „Alkaios ist noch nicht hier, oder?“
Talira wieder in ihrer eigentlichen Mädchengestalt schüttelte den Kopf.
„Hat sie gemeint“, wollte Iphikles wissen, „sie überträgt Mesawa auf ihren Sohn oder auf Alkaios?“
„Das habe ich euch bereits gesagt. Ihre Anweisung lautete, dass der Besitz an ihren Sohn gehen solle.“
„Und ich habe dir bereits kundgetan: Ich bin ihr Sohn!“
„Das musst du beweisen!“, stellte die Blondine fest.
Iphikles wandte sich an den Avatar der Fähre: „Schick ihr meinen DNA-Code.“ Und an Talira: „Du hast doch das Genom meiner lieben Mutter?“
„Ja, klar. Das ist unvermeidlich. Ich musste es analysieren, um geeignete Maßnahmen zu ihrer Heilung zu treffen.“ Sie schwieg eine Weile, obwohl die Analyse bloß ein paar Picosekunden gedauert hatte. Aber Talira begnügte sich nicht damit, sein Genom mit jenem von Reja zu vergleichen, sondern tat dies auch mit dem von tausenden anderen Menschen.
„Und?“
„Vorausgesetzt, die Daten stammen wirklich von dir, bist du unzweifelhaft ihr Sohn. Schließlich habe ich auch alle Informationen zum Genom deines Vaters, der jahrelang hier ein und aus gegangen ist, also lässt sich dies nicht infrage stellen.“
„Erstaunlich, dass er mein Vater ist, nicht? Insbesondere, wenn man den anderen Sohn auch kennt.“
„Na ja, der Zufall spielt bei der Allelkombination doch eine große Rolle … und es war nicht nur Zufall im Spiel. Das ist offensichtlich. Besonders was deinen Bruder betrifft.“
„Nicht wahr?“
Nisaya wurde das Gespräch zu akademisch. „Was ist nun? Ist Iphikles nun Herr über Mesawa oder nicht?“
Taliras senkrecht geschlitzte Pupillen richteten sich auf Nisaya. Sie lächelte. „Das muss erst überprüft werden. Aber vorausgesetzt, die Daten stammen wirklich von ihm, ist er es. Willkommen auf der Burg der Sandarken!“
„Ha!“ Nisaya und Iphikles klatschten ihre rechten Handflächen aneinander, als Zeichen des Triumphs. Anwin hingegen beobachtete bloß, wie meistens. Mesawa bedeutete ihm an sich nichts, aber ihm war alles recht, was seine Lernbegierde stillte. Darüber hinaus hatte er allerdings mit einem leichten kulturellen Schock zu kämpfen. Für ihn war es schon eine Sensation gewesen, dass es eine Welt außerhalb der Welt gab. Dass Götter gar keine Götter waren. Dass es Menschen gab, die mächtiger waren als die Götter, die gar keine waren. Dass er jetzt mit solchen zusammen war und in einem „Gleiter“ flog, einem Götterwagen, der eigentlich Sonnenwagen hieß. All dies war von Bedeutung. All dies mochte ihn seinem persönlichen Ziel näher bringen und vielleicht darüber hinaus all jenen Menschen die Freiheit ermöglichen, die er mochte. Denn, das verstand er sehr wohl, Rache war nicht genug.
Iphilkles indes hatte Bedenken. „Was, wenn nun mein geschätzter Bruder vorbei schaut? Werde ich dann entthront? Muss ich mir die Herrschaft teilen?“
Talira schüttelte den Kopf. „Es kann immer nur einen Herrscher geben. Du warst zuerst da. Das ist in diesem Fall entscheidend.“
Iphikles fühlte sich erleichtert. „Gut, in jedem anderen Fall wäre mein Leben wohl verwirkt gewesen, denn Macht teilt mein Bruder nicht. Talira, geleite uns zur Festung!“
Gemächlich trieb der Gleiter auf den Hafen zu, auf dem sich derzeit kein weiterer Sonnenwagen befand. Das Atmosphärenschiff hatte Reja bereits aus dem Sonnensystem gebracht und das letzte Fluggerät Mesawas war nach Askhauran aufgebrochen, wo es nun bereit stand, um Alkaios hierher zu bringen. Aus der Vogelperspektive wirkte Mesawa überaus beeindruckend auf Nisaya. Die zerstörte Kuppel war immer noch gewaltig und kurz konnte sie einen Blick auf den vernichteten Wald werfen, der sich seit dem großen Brand nicht verändert hatte, denn der Sandarke hatte keine Mikroben seines Heimatplaneten mitgenommen, die die artifiziellen Organismen verwerten konnten. Die Götter hätten dies nie erlaubt. Kostral war damals schon froh gewesen, seinen Wald pflanzen zu dürfen, der ihm wenigstens anfangs die Verbannung erträglicher gemacht hatte.
Die ferngesteuerte Landung verlief gewohnt ruhig. Am Landefeld stand das Empfangskomitee, das aus einem sandarkomorphen Roboter bestand: dunkel, riesig, mit glühenden Augen und fast menschlicher Gestalt. Die Tür des Gleiters öffnete sich, die Treppe sank herab; man beschloss, Iphikles den Vortritt zu lassen, war er doch, falls er die Wahrheit gesagt hatte, Herrscher über ganz Mesawa. Sich dieser Ehre durchaus bewusst, stieg er langsam und hoheitsvoll die Stufen hinab als wolle er seinem Volke die Ehre geben, gefolgt von seinem Hofstaat. Außer besagtem Roboter war aber niemand da und der wirkte keineswegs unterwürfig sondern vielmehr beängstigend. Er hielt Iphikles ein kleines Messgerät hin und forderte ihn mit tiefer Stimme auf: „Berühre das!“
„Wie kann man nur so misstrauisch sein!“, beschwerte sich dieser, zögerte dabei aber nicht, der Aufforderung nachzukommen. Um Widerstand zu leisten wirkte die düstere Gestalt entschieden zu bedrohlich. Der Finger prickelte kurz; Talira begnügte sich offenbar nicht damit, lediglich eine oberflächliche Probe von ihm zu nehmen; so war sie besser gegen Betrug gefeit.
Wenig später kam die Bestätigung. „Herr über Mesawa!“, sagte dass Ungetüm zu ihm.
„Sagte ich doch!“, meinte Iphikles triumphierend. Und an Nisaya gewandt. „Was jetzt?“
„Ich möchte wissen, was mein Bruder getan hat.“
„Und ich, was meine Mutter wieder angestellt hat.“
„Und du?“, fragte sie Anwin.
Er antwortete flüsternd, den Blick starr auf den düsteren Roboter geheftet. „Ich kenne deinen Bruder nicht, Nisaya, ich kenne Iphikles Mutter nicht und ich kenne diese Kreatur nicht, die so aussieht, als könnte sie mich zwischen zwei Fingern zerquetschen. Ich versuche gerade mich zusammenzunehmen, um nicht schreiend davonzulaufen! Im Vergleich sehen sogar die Götterdiener vertrauenerweckend aus.“
Sie tätschelte seinen Oberarm. „Beruhige dich, wir haben alles unter Kontrolle.“
Iphikles wandte sich an den Roboter. „Geleite uns in die Zentrale!“
Das Ungetüm setzte sich in Bewegung und die Gefährten folgten ohne zu zögern. Sie verließen den sonnenbeschienenen Hof und tauchten in das künstliche Licht der Gänge Mesawas ein. Nisaya betrachtete ihre Umgebung mit großen Augen, obwohl es eigentlich nicht viel zu sehen gab. Aber sie registrierte, wie das Licht vor ihnen den Gang erhellte und hinter ihnen wieder verschwand. Wie ungewöhnlich weich der Untergrund war, sodass sie ein bisschen das Gefühl hatte, auf Schaum zu wandeln. Flughafen und Zentrale waren offenbar nicht allzu weit voneinander entfernt, denn bald betraten sie einen kreisrunden Raum, karg eingerichtet, aber mit ein paar bequem aussehenden Stühlen ausgestattet. Von hier aus mussten Kostral und Paieon wohl die Bewegungen der Eindringlinge beobachtet haben: Gorm, Granoc, Raft und schließlich ihr Vater, Tjonre; hierher gekommen aus ganz unterschiedlichen Beweggründen: um das Planetensystem wieder verlassen und davor ihre Mutter erretten zu können bzw. um das Tanzmädchen Yasiwi zu befreien.
„Talira!“, schrie Nisaya. Der Avatar wurde sichtbar.
„Ja?“
„Hast du noch Aufzeichnungen über die Zeit als meine Eltern hier waren?“
„Natürlich.“
„Also, die möchte ich zuerst sehen. Und dann möchte ich wissen, was mein Bruder hier angestellt hat.“
„Und meine Mutter!“, wandte Iphikles ein. „Ich finde das sogar am wichtigsten, denn sie will mit Sicherheit Unheil anrichten.“
„Sollten wir uns nicht zuerst die Festung ansehen?“, meinte Anwin. „Gibt es vielleicht so etwas wie einen Stadtplan? Denn Mesawa ist doch wohl eine Stadt, zumindest erscheint es mir so gewaltig zu sein wie die größten Siedlungen in der Welt. Es muss irgendwo eine Pergamentrolle geben, wo das Netzwerk der Straßen eingezeichnet ist und so. Einige reiche Bürger hatten solche Pläne an die Wand gehängt, oftmals in der großen Halle.“
„Willst du eine Wanderung unternehmen?“
„Das nicht, hier gehen mir zu viele Monster spazieren. Aber es ist immer gut sich auszukennen, falls man fliehen muss. Es wäre auch schön zu wissen, ob es so etwas wie ein Schlafgemach gibt, ich bin immer noch sehr müde.“
Nisaya seufzte. „Also gut, du hast recht. Vielleicht essen wir ein wenig und sehen uns die Infrastruktur an, bevor ich meinen Eltern und Gjefren nachspioniere.“
***
Sie erinnerte sich an die letzten Tage ihres Lebens. Aber nicht an die Zeit als sie tot war. Was sich währenddessen ereignet hatte, erfuhr sie erst später.
Sie erinnerte sich an die Rückkehr. An das Gefühl des Triumphs, der Verbannung nach so vielen Jahren entkommen zu sein. Und an den Hass auf den Mann, der sie jederzeit hätte befreien können – und es nicht getan hatte. Eine Konkurrentin loszuwerden war ihm wichtiger gewesen als eine Gespielin zu behalten. Also durfte sie niemandem trauen. Ihre ehemaligen Freunde konnten jetzt die seinen sein. Er war sicherlich nicht müßig gewesen, hatte in den zwei Jahrzehnten eifrig Seilschaften geknüpft, um seine Macht zu erweitern. Macht, Macht, Macht - darum war es ihm stets gegangen, selbstverständlich nicht, um die weniger Mächtigen zu beschützen, sondern um jeden, der gegen ihn war, zertreten zu können. Sie waren sich ja so ähnlich. Zu ähnlich. Das Universum war nicht groß genug für sie beide. Einer von ihnen musste sterben. Er.
Welch köstliches Hochgefühl Ivarn wieder zu sehen! Der Planet füllte den Monitor der Kommandozentrale. Sie zoomte auf Newi, auf das Ziel ihrer Rache. Danach auf die Silonische Ebene, ihr Erbland. Hatte er es annektiert? Natürlich hatte er! Ephram OrPhon hatte ihr alles gestohlen, daran gab es keinen Zweifel. Dort lag ihr Raumhafen; der einzige, der seinerzeit nicht von ihm kontrolliert worden war. Inzwischen hatte sich das sicherlich geändert. 'Lande dort', dachte sie, 'und er weiß Bescheid. Dann wird er reagieren. Wird er dich treffen wollen oder lieber gleich umbringen lassen?'. Da sie sich so ähnelten, würde ihm klar sein, dass sie Rache im Sinn hatte. Also wahrscheinlich zweiteres. Ihr Vorteil wäre dann jedenfalls dahin. Er konnte unmöglich erfahren haben, dass sie Gaia verlassen hatte; dass sie zurück war.
Sie benötigte keinen Raumhafen. Das Atmosphärenschiff des Sandarken Kostral bedurfte keiner großen Landefläche. Zwar basierte es auf irdischer Technologie, war aber an die Anforderungen des Aliens angepasst, der einer Spezies entstammte, die nicht so nach Zentralisierung lechzte wie die Menschheit. Die Silonische Ebene war durch einen Impakt entstanden, daher kreisrund und von Bergland umrahmt. Sie beschloss, am Rand niederzugehen, Newi am nächsten gelegen. Von dort musste sie sich mit dem Hover durchschlagen, denn über einen Gleiter verfügte ihr Schiff nicht. Nun, das war nicht nur ein Nachteil, denn ein Hover war entschieden unauffälliger, bewegte man sich doch wesentlich bodennäher.
Nacht lag gerade über der Ebene, was sehr günstig war. Der Schiffsavatar kalkulierte, wann der Landeplatz, den sie ausgewählt hatte, von Satelliten unbeobachtet sein würde und zu jenem Zeitpunkt glitt sie unspektakulär in die Atmosphäre des erdähnlichen Planeten. Sanft landete sie auf einem Felsplateau unterhalb des einzigen Passes nach Newi. Sie schob das Schiff möglichst nahe an die üppige Vegetation, überhängende, riesige, rote Wirtelbäume, um Entdeckung so lange als möglich zu verzögern. Wer immer es schließlich finden würde – und dass man es entdecken würde, war, groß wie es war, fast unvermeidlich – mochte eine Verbindung zum Planeten der Sandarken knüpfen, wohl aber nicht zu Gaia. Nichts durfte darauf hinweisen; das war für ihre Pläne bedeutend.
Diese waren nicht besonders raffiniert, denn sie verfügte weder über außergewöhnliche Waffen, noch über die Hilfe von ehemaligen Freunden. Selbst ihrem einstigen Verbündeten, dem Piraten Rammbock, traute sie nicht so ohne weiteres. Verrat war immer möglich und stets musste sie damit rechnen. Erst wenn sie Ephram in eine Leiche verwandelt hatte, war sie sich sicher, dem Piraten, ihrem ehemaligen Geliebten, das verlockendere Angebot machen zu können. Er hatte sie begehrt - damals - und würde es wohl wieder tun, aber ein blühendes Äußeres war zu wenig, um sich seiner sicher sein zu können. Sie musste mehr bieten. Mehr Reichtümer als Ephram, falls er sich letztlich mit ihm arrangiert hatte. Und falls nicht – nun, dann war der Rammbock inzwischen wohl tot oder auf einem der anderen freien Planeten und damit für sie augenblicklich unerreichbar und vielleicht auch für immer. Er hatte wohl kaum seine Adresse hinterlassen, für den Fall, dass sie wieder auftauchte.
Sie ließ den kompakten Hover zu Boden gleiten, bepackt mit allem, was sie benötigte und was ihr zur Verfügung stand. Während der Avatar ihrem diesbezüglichen Befehl nachkam, war sie bereits auf der Treppe. Sie schmeckte die warme Luft Ivarns, eine sanfte Brise umschmeichelte sie, in der sich ihre Haare – künstliche wie natürliche – träge bewegten. In der Ferne heulten Säbelzahnmarder, die sich zur nächtlichen Jagd formierten.
Der Hover stand zwischen den Säulenbeinen des Schiffs und war sehr klein und damit unauffällig. Von oben betrachtet ein längliches Oval, doppelt so lang wie breit und nicht viel breiter als eine Manneslänge. Eine durchsichtige Kuppel würde sie, die Pilotin, schützen, wenn sie das wollte. Sie setzte sich ins Cockpit, ließ es aber offen. Sollte sich ein Smilonrudel nähern, würde sie gewarnt werden. Sie stellte den Monitor auf Nachtsicht und aktivierte den Antrieb. Das Transportmittel hob sich auf etwa einen Meter Höhe. Mehr war nicht zu erreichen. Sie glitt über das Felsplateau auf ein träge fließendes, schmales Gewässer zu, dessen Bett, von der Schneeschmelze geformt und offen gehalten, breit genug war, für den Hover eine vegetationsfreie Schneise zu bilden, wenn sie genau über dem Bach flog. Sie folgte dem Lauf bis fast zur Quelle, wechselte dann auf eine kahle, steinige Fläche. Dort kam sie nur sehr langsam vorwärts, denn sie musste dem zahllosen, meterhohen Geröll ausweichen, das den Boden ihres Schwebtransporters zerschrammen konnte. Vorsicht war durchaus angebracht, sie wollte nicht zu Fuß gehen. Ohnehin war sie schon zu einem stillosen Auftritt gezwungen.
Irgendwann erreichte sie einen breiteren Pfad, Menschenwerk, wie die Steinpyramiden am Rand verrieten, die den Verlauf dort markieren sollten, wo die Spur undeutlich oder vieldeutig war, eine Folge des felsigen Untergrundes. Dem Weg folgte sie bis zum Sattel, von wo sie in der Ferne auf das Lichtermeer Newis blicken konnte. Kurz verharrte sie. Zivilisation! Ränke und Intrigen! Luxus, Überfluss, Wollust, Sklaven. Hier wollte sie die Erste sein. Wie viele Morde sie für dieses Ziel auch begehen musste, es war die Mühe wert. Wenn alles gut ging, war nur ein einziger nötig.
Bergab verlief der Weg flacher und fast gerade, sodass sie rasch voran kam. Sie rechnete nun damit, dass sie die Ebene um Newi bereits vor Sonnenaufgang erreichen würde. Tatsächlich erwies sich diese Einschätzung als etwas zu positiv, denn die ersten Sonnenstrahlen umschmeichelten sie, als sie den Hover am Rande eines Niemfeldes parkte. Er war zu fremdartig, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Und die konnte sie nicht brauchen. Deshalb schaltete sie auf autarke Rückfahrt. Der Hover würde exakt die Tour, die sie hergekommen war, selbstständig wieder zurück schweben. Damit nahm sie sich eine Fluchtmöglichkeit, aber sie war sich ohnehin sicher, nicht zurückkehren zu wollen.
Sie entledigte sich ihrer Schiffsbekleidung und hüllte sich in einen jasminblütenfarbenen Mantel aus Imitatfell, der ihre Figur betonte, denn eine breite, weiße Schärpe band ihn um ihre Taille eng an den Körper. Das Cape zog sie sich weit über den Kopf, sodass ihr Puppengesicht beinahe verdeckt war und auch die auffälligen, strahlend blonden Haare. Das Kleidungsstück war lediglich knielang und verhüllte daher die hohen, filigranen, alabasterfarbenen Stiefeletten nicht. So sah sie aus wie eine Dame der Gesellschaft und sollte nicht übermäßig auffallen. Die Mode in Newi war nie auf Uniformität ausgerichtet gewesen und dies sollte sich auch in den letzten zwanzig Jahren nicht geändert haben, hoffte sie. Es war einerseits ohnehin nicht sehr wahrscheinlich, dass sie jemandem begegnete, der sie erkennen würde. Andererseits aber würden Computer ihre Identität sofort erfassen, dies war unvermeidlich.
Sie aktivierte den Rückflugmodus und stieg aus dem Hover. Mit einem leisen Summen wendete er vorsichtig und schwebte auf die Berge zu. Nun kam der unangenehmste Teil. Sie musste zu Fuß gehen, bis sie eine Gleiterverleihstation in der Vorstadt erreichte. Die wohlhabende Stadtbevölkerung fürchtete die Banden entlaufener Sklaven und so war hier am Stadtrand jedes Grundstück durch hohe Mauern geschützt. Man erschwerte damit natürlich auch die Flucht der eignen Sklaven, deren Bedeutung in der Stadt allerdings gegenüber Robotern und Androiden immer stärker abnahm. Die Wege zwischen den Anwesen waren schmal, denn Transportmittel auf Rädern wurden kaum verwendet. War man reich genug, flog man mit privatem Fluggerät von seiner Enklave zur nächsten, wenn man jemanden besuchte, und lachte über die Primitivität des Landadels, der sogar noch von Harpyien gezogene Wägen verwendete und nicht einmal Elektrizität zur Verfügung hatte. Und so leichter kontrolliert werden konnte.
So bescheiden die Straßen hier am Rande der Zivilisation auch waren, verfügten sie doch über eine gute Beschilderung. So dauerte es nicht lange, bis Reja die nächste Verleihstation erreichte. Zu dieser frühen Stunde waren keine anderen Personen anwesend, worüber sie froh war, denn die Stationen wurden nur von der weniger betuchten, unbedeutenden Stadtbevölkerung verwendet, freien menschlichen Bediensteten oder sogar Sklaven, die im Auftrag ihrer Herren unterwegs waren. Mit dieser niederen Schicht wollte sie nichts zu tun haben. Sie hatte noch nie einen Gleiterverleih in Anspruch nehmen müssen. Dennoch näherte sie sich forsch der Identifikationssäule.
„Ich benötige einen Gleiter.“
„Stimmidentifikation positiv. Reja OrPhon, Bürgerin von Newi, Sie sind befugt, städtische Gleiter zu verwenden“, ertönte es. Hinter einer Absperrung tat sich irisblendenartig der Boden auf und eine Hemisphäre erschien, während sich gleichzeitig die Barriere senkte. Wie Reja wusste, war die Hemisphäre bloß der obere, transparente Teil des kugelförmigen Stadtgleiters, vom Betreiber daher auch „Sphaermobil“ getauft. Eine Tür glitt zur Seite und sie betrat den engen Raum, in dessen Zentrum ein einigermaßen bequemer Drehsessel zu ihrer Verfügung stand, während der Rand des Raums eine kreisförmige Sitzbank bildete, die theoretisch weiteren sechs Personen Gelegenheit bot, sich niederzulassen. Reja entschied sich für den zentralen Stuhl. Kaum hatte sie sich gesetzt, schloss sich auch schon die Tür.
„Zur obersten Plattform des OrPhon-Towers“, befahl sie und sogleich stieg das Sphaermobil höher, zunächst nahezu senkrecht empor, um dann in Richtung des gewaltigsten Bauwerks von Newi zu fliegen, einem gut achthundert Meter hohen, an der Basis breiten und dann zunehmend schmäler werdenden Gebäude, in dessen Spitze ihr Cousin seine Privatresidenz hatte. In der Luft über Newi herrschte allzeit reger Verkehr, zunehmend je näher sie sich dem Zentrum näherten, aber Reja schenkte den zahllosen Gleitern, die zu allen Seiten und über ihr in sämtliche Richtungen vorbei schossen, kaum Aufmerksamkeit, war sie dieses Bild doch bereits seit frühester Jugend gewohnt. Ihr Jahrzehnte langes, ruhiges Exil änderte nichts daran.
Bald schon glitt das Sphaermobil auf eine scheibenförmige Plattform zu, die sich in schwindelerregender Höhe befand. Von oben herab blickend hätte man die halbkugelförmigen Ausnehmungen sehen können, die als Landeplatz für die Stadtgleiter dienten, doch Reja beachtete die Monitore nicht, die dem Passagier zeigten, was sich unterhalb ereignete. Sie landete sanft, die Tür glitt zur Seite, eine Einladung, das Sphaermobil zu verlassen, der Reja gerne folgte. Während sie noch dastand und die Aussicht über die Stadt unter einem größtenteils strahlend blauen Himmel genoss und sich mental auf das vorbereitete, was nun zu tun war, hob sich der Gleiter bereits wieder und hielt auf die Wartesäule zu, in der er verschwand.
Adrenalinbedingte Nervosität manifestierte sich in Reja; schnell kontrollierte sie, ob sich in der weiten, rechten Manteltasche auch die kleine Plasmaimpulspistole befand. Das war der Fall. In der linken aber fühlte sie das Herz von Galahar, das sie immer bei sich trug, ihren wertvollsten Besitz. Sie näherte sich unsicher der Außenwand des Gebäudes. Abermals wurde ihre Identität überprüft, selbst hier schon, bevor sich das Tor öffnete. Sie trat auf das Gleitband, das sie zur Liftanlage transportierte und war nicht mehr alleine; in der Halle bewegten sich Menschen auf ähnlichen Förderbändern in alle möglichen Richtungen.
Sie bestieg eine Kabine und wurde von einer freundlichen Frauenstimme aufgefordert, ihr Ziel zu benennen. Der alles entscheidende Augenblick. Hatte sie das Ausmaß der Überheblichkeit ihres Cousins Ephram richtig eingeschätzt? War er sich derart sicher, jeden ihrer Schritte perfekt kontrollieren zu können, dass er ihre Zugangsbefugnisse in all den Jahren nicht geändert hatte? Ephram war bei vielen keineswegs beliebt, auch nicht bei all seinen Speichelleckern. Wer ihn besuchen wollte, bedurfte einer ausdrücklichen Genehmigung, wurde auf Waffen gecheckt und der Begleitung eines Droiden unterstellt, der ihn jederzeit unschädlich machen konnte und das in einem kurzen Augenblick. Sie aber hatte Zugang zum privaten Bereich seines Turms gehabt, ohne lästige Untersuchung und ohne dass ihr ein Kindermädchen zur Seite gestellt wurde. Sie konnte kommen und gehen, wie sie wollte, was sonst nur noch für wenige Personen galt.
„Zu Ephram OrPhon!“, erklärte sie mit sicherer Stimme.
Ihre Identität wurde abermals genauestens überprüft, was einige Momente in Anspruch nahm. Reja stand wie auf Nadeln, aber schließlich erfolgte die Antwort:
„Gerne, Reja OrPhon. Wollen Sie angemeldet werden?“
„Nein, das ist nicht nötig!“ Die Replik kam fast ein wenig zu hastig, löste aber offenbar keinen Alarm aus. Zumindest spürte sie, wie der Lift empor glitt. Noch allerdings erlaubte sie sich das Gefühl der Erleichterung nicht, die Anspannung blieb. Zusätzlich stieg der Hass in ihr wie eine Gewitterwolke empor, dunkel und bedrohlich. Ein gewaltiger Sturm würde folgen. Sie spürte das Brausen und Dröhnen in ihrem Schädel, das gnadenlos anwuchs und auf das eine namenlose Stille folgen würde, sobald die Tat vollbracht war. Das wusste sie aus Erfahrung.
Die Tür glitt zur Seite und sie betrat einen hellen Raum mit knochenbleichen Wänden. Hatte sie instinktiv eine Bekleidung gewählt, die sie in ihrer Umgebung unauffällig erscheinen ließ, wie ein Chamäleon, das eine seinem Umfeld entsprechende Farbe wählt? Oder war es der Kontrast zu ihrem stets düster gekleideten Cousin, den sie gesucht hatte? Sie steckte ihre Rechte in die Manteltasche und umklammerte die Pistole. Die Anspannung beschleunigte ihren Puls und ihre Atmung. Wie auf Katzenpfoten durchmaß sie den Raum. An der nächsten Türöffnung hielt sie und lugte um die Ecke, spähte in ein wohlvertrautes, großes, spärlich möbliertes Zimmer, dessen Fensterfront einen atemberaubenden Blick auf Newi und die Welt erlaubte, den sie jedoch ignorierte. Denn davor stand er, schwarz gewandet, schlank, mittelgroß, anscheinend die Aussicht genießend, ihr den Rücken zugewandt. Wie überaus günstig! Sie glitt in das luxuriöse Gemach, zog die Pistole und schoss ohne zu zögern, eine silbrige Flammenlanze löste sich von der Mündung und traf ihr Ziel. Es war ihr egal, dass er nun nie erfahren würde, wer ihn umgebracht hatte und warum er sterben musste, Hauptsache er war tot. Der Mann kippte langsam um und fiel zu Boden, die Sicht auf ein kreisrundes Loch im Fenster freigebend, dessen Ränder verschmort und aufgewölbt waren. Sie betrachtete es fasziniert und ging näher auf die am Boden liegende Gestalt zu, um völlig sicher zu gehen, dass der verhasste Verwandte auch tatsächlich das Zeitliche gesegnet hatte. Aber bei Ephram konnte man sich eben nie wirklich gewiss sein, ihm konnte man einfach nicht trauen! Nicht einmal, wenn er tot war. Trotz dieser Unsicherheit fühlte sie sich einen Augenblick ganz leicht und wohl; sie schmunzelte und zog eine wohlgeformte Braue hoch.
„Schön, dich zu treffen, im wörtlichen Sinne! Hallo Cousin. Du sagst ja gar nichts! Wie unhöflich.“ Tadelnd schüttelte sie ihr Haupt.
Da lag er, atmete offenbar nicht. Der Plasmaimpuls hatte seinen Körper durchdrungen, sonst wäre er nicht auch noch durch die Scheibe getreten. Sie sollte also nur Erleichterung verspüren, aber ein wenig Anspannung blieb. Das Gesicht war jetzt zu ihr gerichtet, über die Identität des Opfers bestand kein Zweifel. Und doch. Irgendetwas stimmte nicht. Stimmte ganz und gar nicht! Das Gefühl der Erleichterung verließ sie nun völlig, machte Platz für die Empfindung einer Bedrohung. Dann erkannte sie, was ihr merkwürdig vorkam. Ephram hatte kein Juwel von Galahar und sollte daher deutlich älter aussehen, als sie ihn in Erinnerung hatte; sollte Falten auf der Stirn und um die Augen haben und vielleicht auch grau meliert oder das Haupt nur noch schütter behaart sein. Natürlich konnte man ein Perücke tragen oder, falls noch vorhanden, die Haare färben; das Gesicht konnte man verjüngen, aber war das seine Art? Um respektiert und gefürchtet zu werden, war ein weniger jugendliches Äußeres für einen Mann durchaus vorteilhaft, also zweifelte sie daran. All diese Gedanken durchzuckten sie im Bruchteil eines Augenblicks. Nun war sie fast sicher in eine Falle gelaufen zu sein. Sie wagte kaum sich zu bewegen, erwartete ein verräterisches Geräusch, eine Spiegelung im Glas, nutzte die Kapazität all ihrer Sinne. Als sie ein ganz leises, schleifendes Geräusch vernahm – als würde eine Waffe aus dem Holster gezogen – drehte sie sich blitzschnell um – und doch zu langsam.
***
„Hallo Cousine. Schön auch dich zu treffen. Ebenfalls buchstäblich! Es war mir wirklich eine Freude.“ Ephram war seit jeher stolz auf seinen Hang zum Sarkasmus. Er blickte auf das Loch im Fenster. „War das wirklich nötig? All diese Zerstörung im Hause eines friedfertigen Menschen! Wozu eine Plasmaimpulspistole? Hätte es ein Nadler nicht auch getan?“
Er blickte auf seine eigene Waffe, ein zierliches und dennoch gefährliches Ding. Offenbar absolut tödlich, auch wenn es nicht viel Verheerung anrichtete. Die durchsichtige Wand war heil geblieben, lediglich Rejas Hals war an zwei Stellen perforiert: an der Ein- und an der Austrittsstelle, seitlich am Hals. Beide Wunden waren sehr klein und fielen nur wegen der dünnen, roten Rinnsale auf, deren Quellen sie waren. Reja hatte sich erst halb herumgedreht gehabt, als der Schuss sie getroffen hatte, weshalb sie sich beide an den Halsseiten befanden.
„Du solltest gar nicht hier sein. Wozu bezahlt man Spitzel? Wozu schüchtert man mächtige Menschen ein und erpresst sie, wenn nichts desto trotz bedeutende Ereignisse stattfinden können, ohne dass man etwas davon erfährt? Da ist was faul auf dem Planeten Historia!“ Mehrere seiner Spione waren in letzter Zeit ausgefallen, unter ihnen Arem SiVender. Ephram hatte das zunächst nicht all zu viele Sorgen bereitet. Wie sich jetzt herausstellte ein beinahe fataler Fehler!
„Wir werden diesem öden Planeten mehr Aufmerksamkeit schenken müssen. Nein! Wir sind wohl sogar gezwungen, ihm einen Besuch abzustatten.“ 'Und warum auch nicht', dachte er, 'aller Widerstand auf Ivarn ist gebrochen, die Einmischungen der Föderation unter Kontrolle.' Er hatte einst eine Menge Ressourcen aufgebracht, um Historia verschwinden zu lassen, weniger, weil er von Zeus dazu beauftragt worden war, sonder vielmehr, um sich ein behagliches Rückzugsgebiet zu schaffen, das vor den Fängen und Klauen der Föderation sicher war, falls diese ihn wegen seiner Piraterien schließlich doch noch in die Flucht schlug. Die Macht dazu hatte sie, es fehlte ihr aber die Entschlossenheit. Auch Freunde waren stets zu fürchten. Die Hälfte davon würde sich liebend gerne selbst an seiner statt an der Quelle der Macht sehen.
Misstrauisch näherte er sich weiter. Er bewunderte die Präzision seiner Tat. Außergewöhnlich gelungen, selbst für einen so perfekten Schützen wie ihn. Er war der Star jeder jährlichen Hatz auf entlaufene Sklaven. Seine Strecke war stets die herausragendste. Er konnte den Grad der Verletzung mit seiner Waffe beliebig bestimmen, schoss nie daneben. Er verletzte nur; tötete seine Opfer absichtlich nicht, damit man an ihnen ein Exempel statuieren konnte, dass so eindrucksvoll war, dass es anderen Sklaven die Lust auf Freiheit völlig nahm. Ein paar Unverbesserliche gab es natürlich immer. Während die anderen Großgrundbesitzer, die an der Jagd teilnahmen, immer auch den einen oder anderen der Entlaufenen unbeabsichtigt töteten und ihnen damit einen viel zu leichten Weg in die einzige Freiheit, die er für sie akzeptierte, ermöglichte, passierte ihm dies nie. Auch bei den monatlich veranstalteten Sklavenjagden in der Arena hatte er sich sowohl als brillanter Schütze als auch ob seiner phantasievollen Tötungen längst einen Namen gemacht. Seine Cousine hatte also sowieso nie eine ernstzunehmende Chance gehabt; davon war er überzeugt. Dennoch – es hätte nie dazu kommen dürfen.
Wie schön Reja doch war – eine Augenweide. Er genoss ihren Anblick und verlor darob seine übliche Scharfsinnigkeit. Kurz überfiel ihn Panik, als er endlich erkannte, dass sie einfach viel zu jung aussah. Was war das, ein Trugbild oder ein Android; ein Klon?
„Steh endlich auf!“, schrie er. Daraufhin verschwand der am Boden liegende, jüngere Ephram und stand ihm nun gegenüber, vor der Leiche seiner Cousine.
„Was ist das?“, brüllte er, „ein Mensch?“
„Reja OrPhon, Ihre Cousine. Die Identifikation war eindeutig“, kam die Antwort.
„Es kann sich also weder um ein Holo noch um einen Android handeln?“
„Das ist ausgeschlossen.“
„Also um einen Menschen.“
„Ja.“
„Und ist sie – es – was immer - tot?“
„Definitiv tot.“
„Kann es sich um einen Klon handeln?“
„Das ist zumindest sehr unwahrscheinlich, da die Übereinstimmung nicht nur genetisch, sondern auch epigenetisch ist. Bei natürlichen Klonen ist das nur mit verschwindender Wahrscheinlichkeit der Fall.“
„Aber sie ist zu jung, sie sieht aus wie ein siebzehnjähriges Mädchen und sollte um einiges mehr als doppelt so alt sein.“
„Ich verfüge nicht über Informationen, die das erklären könnten.“
„Ich auch nicht. Da ist etwas, dass ich absolut nicht verstehe. Und dass das so ist, kann ich überhaupt nicht leiden. Um so wichtiger ist es, dass ich rasch nach Historia gelange. Bereite ein Schiff für heute Abend vor!“
Er blickte auf seine Cousine, die da lag, weiß wie ein Schwan; der Umhang klaffte ein wenig und ermöglichte den Blick auf milchweiße Haut, eine Brust beinahe unbedeckt.
„Tja, Cousinchen, du hättest eigentlich damit rechnen müssen, dass ein Narzisst wie ich irgendwann auf die Idee kommen würde, dem Avatar des Hauses die Gestalt jenes Menschen zu geben, den er am meisten schätzt, den er als anbetungswürdig erachtet, der alleine zählt. Schon kurz, nachdem du abgereist warst, habe ich entschieden, ihm mein Aussehen zu verleihen und dieses hat er nunmehr seit zwei Jahrzehnten inne. Ein Fehler, mich nicht genug zu kennen. Eigentlich hätte ich erwartet, dass du die gleiche Idee hättest. Ah, stimmt. Man hat mich darüber informiert, dass du in einer zugigen Burg haust, ohne Avatar, ohne technische Hilfe. Aber wenn das so ist, wie erklärt sich, dass du in einen Jungbrunnen gefallen bist? Bin ich von meinen Spitzeln belogen worden?“
Sein Blick hatte sich nicht von der am Boden liegenden Gestalt gelöst. Eigentlich hatte er den Befehl geben wollen, die Leiche entsorgen zu lassen, aber die Erregung, die er bei ihrem Anblick spürte, ließ ihn inne halten. Warum sie verschwenden? Er hatte es noch nie mit Nekrophilie versucht und sonst doch schon an allen erlaubten und verbotenen Früchten genascht. Für ihn gab es sowieso keine Verbote, nur für die anderen!
„Vielleicht bist du doch noch von Wert“, flüsterte er und hob die Liegende mit einiger Mühe auf. Er drehte sich um und hielt auf ein kleines, anliegendes Zimmer zu, das eigentlich als Schutzraum diente; dort war er gerade gewesen, als er Besuch bekam; als Reja ihn meucheln wollte. Dies war ein autarker Bereich, in dem er sogar vor einer kleinen Armee für eine Weile ziemlich sicher war. Er enthielt tiefgefrorene Nahrungsmittel und Getränke, eine kleine Küche, jede Menge Monitore an den Wänden, die ihn notfalls über die Geschehnisse in der Außenwelt informieren konnten, Sesseln, ein Wandbett, aufklappbar. Und in der Mitte ein runder Tisch, der aus irgendwelchen Gründen seine Phantasie anregte. Gelegentlich ließ er sich eine junge Sklavin kommen, um auf eben jenem Tisch an ihr seine sexuellen Vorlieben auszuleben. Dies war auch für heute geplant gewesen, aber manchmal entschied das Schicksal eben anders.
Er legte die Tote auf den niedrigen Metalltisch. Er löste die Schärpe und klappte den Umhang nach beiden Seiten auf. Da lag sie, völlig nackt, denn sie trug, wie so oft, keine Unterwäsche. Eine Menge Gefühle erwachten in ihm, Aggression, das Bedürfnis zu zerstören und sexuelle Gier. Er wollte sie nehmen, sogleich, zog sie so an sich heran, dass ihre Beine vom Tisch herabbaumelten. Irgendetwas schleifte und seine Vorsicht war noch nicht völlig abgetötet; noch hatte er genug Selbstbeherrschung, um den Fokus seiner Aufmerksamkeit von dem zwanghaften Bedürfnis nach augenblicklicher Triebbefriedigung wegzuführen. Er tastete nach ihrem Umhang, fand die Seitentasche und griff behutsam hinein; ertastete einen Gegenstand von der Größe eines Menschenherzen; nahm ihn an sich und zog ihn langsam heraus. Er hatte irgendeine Art von Waffe erwartet, vielleicht sogar eine archaische Zeitbombe mit Uhrwerk, die gerade noch eine Sekunde bis zur Detonation anzeigte. Stattdessen sah er ein blutrotes, fast glühendes Juwel von außergewöhnlicher Pracht vor sich. Ein – wohl unbeabsichtigtes – Geschenk von Reja.
„Und abermals herausragende Schönheit! Wie gut passt dieser Edelstein zu dir. Und doch werde ich ihn dir wegnehmen und als Prunkstück meiner Sammlung einverleiben. Doch nun zu einer weitaus vergänglicheren Schönheit. Nämlich zu der deinigen!“
Er fuhr mit seinen Händen über die Konturen ihres toten Körpers, verharrte bei ihren Brüsten, ergriff sie und knetete sie fest, viel gewalttätiger als sie es ihm lebend erlaubt hätte, obwohl sie keineswegs wehleidig oder zart besaitet gewesen war. Dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten, sein Glied schwoll dermaßen an, dass er das Gefühl hatte, es wolle platzen. Schnell entledigte er sich seiner weiten Hose, drückte ihre Schenkel auseinander und drang in sie ein. Obwohl sie tot war, oder vielleicht gerade deshalb, war der Widerstand ihres Gewebes nicht sehr groß. Er stützte sich an den Hüften ab, presste sich immer wieder rhythmisch in sie hinein und steigerte sich stetig in eine Art Blutrausch. Nicht viel später hatte er einen Orgasmus, mehr noch: eine Eruption; spürte wie ihn sein Same pulsierend verließ in zeitlicher Übereinstimmung mit der wiederkehrenden, unwillkürlichen Kontraktion seiner Bauchmuskeln. Zu seiner Überraschung – er war ja kein junger Mann mehr - stellte er fest, dass die Erregung trotzdem nicht nachließ und so machte er weiter, während er den Blick über Rejas anmutige Gestalt wandern ließ. Sollte er sie auf den Bauch drehen? Aber dazu müsste er den Kontakt aufgeben und hierfür hatte er wahrhaft keine Lust. Also fuhr er einfach fort und beobachtete, wie der Gefühlssturm in ihm wieder aufbrauste. Schließlich hatte er einen weiteren Höhepunkt und wartete, nunmehr erschöpft, den zweiten Samenerguss ab. Ein ziehender Schmerz blieb, dennoch fühlte er sich großartig, lebendig und stark, wie selten.
„Du warst im Leben eine hervorragende Geliebte, aber im Tod bist du noch besser“, konstatierte er zynisch lächelnd. Abermals überlegte er, ob er nun die Leiche entsorgen lassen sollte, aber dann fiel ihm ein, dass er sie im Zeitraffer aufnehmen und sich später ihre Verwesung ansehen könnte. Als endgültigen Beweis, dass seine Cousine Geschichte war. Er lachte schallend. Er hatte so einen feinen Humor und kurz bedauerte er sich, weil keiner diesen verstand. Genies leben einsam. Aber wie könnte es anders sein, wenn alle, die ihm zu nahe kamen, schließlich zur Bedrohung wurden und eliminiert werden mussten? So wie Reja. Er hatte sie geliebt, hatte darob wirklich versucht, in ihrem Fall anders zu handeln, indem er sie in die Verbannung schickte als sie einen eigenen Willen bekam. Er hatte eigentlich nichts gegen Leute mit eigenem Willen, solange dieser nicht von seinem Wollen abwich oder diesem in die Quere kam. In ihrem Fall war es aber leider so gekommen.
Sie war es gewesen, die ihn quasi entjungfert hatte und so ein Erlebnis verband. Er hatte sie wirklich nicht töten wollen und auch nie von der Liste der bevorzugten Personen gestrichen. Beinahe schien ihm, dies wäre ein Fehler gewesen, aber er machte keine Fehler. Er würde es deshalb auch jetzt nicht tun, sie blieb registriert, so absurd das auch sein mochte. In seiner Erinnerung blieb sie etwas Besonderes. Er blickte abermals auf sie herab und seufzte. Dann zog er seine Hose hoch, ging um den Tisch herum und griff nach dem Leichnam, der sich vor seinem inneren Auge bereits in einen entstellten Kadaver verwandelte. Er zog sie näher, ganz auf den Tisch, eine alabasterfarbene Leiche umgeben vom hermelinenem Umhang. Das war ästhetische Kunst, ebenfalls – neben der Jagd – ein Bereich, in dem er eine außergewöhnliche Begabung aufwies, wie ihm all seine kunstbegeisterten Freunde bestätigten. Natürlich war ihm klar, dass sie das nur deshalb taten, weil er die Macht auf Ivarn inne hatte. Die Kunst ist eine Hure, manchmal eine schöne, dann wieder eine hässliche. Da fiel ihm ein, dass auch die Aufnahmen seiner nekrophilen Betätigung wohl als Kunst ausgelegt werden konnte. Er musste darüber unbedingt mit Bodo sprechen, Newis begabtestem Vertreter der „Art Spezial“ und Hauptabnehmer von Sklavenleichen, die Teil von dessen Kunstwerken wurden.
Wie auch immer. Er konzentrierte sich wieder auf das buchstäblich vor ihm liegende Projekt. Die beiden roten Fäden am Hals bildeten einen wundervollen Kontrast zur weichen, flauschigen Sommerwolkenimpression. Tot sah sie wirklich aus wie ein Engel. Viele würden sagen: eine Verbesserung; er nicht. Aber irgendetwas fehlte. Da fiel ihm das Juwel ein. Er legte es in die Halsgrube unterhalb des Kehlkopfs, gleichsam zwischen die beiden Blutbänder. Er betrachtete das alles und sah, dass es gut war. Die großen blauen Augen, die ins Nichts starrten; sollte er sie offen lassen? Versuchshalber schloss er sie und fand, dass der Gesamteindruck dadurch gewann. Die Komposition strahlte hierdurch mehr Ruhe aus. „Warten auf die Verwesung“ konnte er seine Installation nennen. Ja! Er war begeistert.
„Nimm auf, was hier passiert. Ich möchte es mir später in aller Ruhe ansehen.“
Er lächelte. Jetzt noch eine Dusche und dann auf zum Flughafen. Für das, was hier geschehen war, mussten ein paar Köpfe rollen, auch wenn sie nicht besonders verwertbar waren. Er hatte einmal versucht – als er nicht mehr ganz nüchtern war – gemeinsam mit ein paar guten Freunden abgetrennte Häupter beim Kegeln zu verwenden, aber es hatte nicht funktioniert, nicht einmal die langhaarigen, die man leichter beschleunigen konnte, waren geeignet. Jedenfalls musste seine Spionageabteilung gründlich überprüft werden.
Er verließ den Raum, der sich sofort verdunkelte, als er die Tür schloss, wenngleich eine Resthelligkeit blieb, um die Aufnahmen machen zu können. Im trüben Licht hätte man sehen können, dass das Juwel nunmehr rötlich glühte, pulsierte, wie ein Herz, aber da war niemand mehr mit Ausnahme der toten Frau. So blieb es in der Kammer ruhig und drei Tage vergingen.
In diesen drei Tagen verweste der Leichnam jedenfalls nicht, sondern verharrte in blühender Schönheit wie jener von Schneewittchen im gläsernen Sarg, wie in einem alten terranischen Märchen beschrieben wird. Am dritten Tage aber schien das Juwel von Galahar plötzlich grell und entfaltete seine außerirdische Technologie. Zögerlich begann ein Herz zu schlagen, schwächlich zuerst, im Takt des Pulsierens des Juwels. Der Brustkorb hob sich ein wenig; ein erster Atemzug. Langsam und kaum sichtbar im dunklen Raum wurde die Haut des liegenden Körpers weniger bleich und erblühte in rosiger Farbe. Im Puppengesicht zuckte gelegentlich ein Muskel und schließlich öffneten sich die tiefblauen Augen. Jemand seufzte. Zeit verging, bis sich das Gehirn des Leibes mit Erinnerungen füllte. Dann war sie wieder da: Reja.
Sie setzte sich auf, wobei das Juwel in ihren Schoß fiel, fühlte sich wie erschlagen.
„Wo bin ich?“, war ihre erste Frage.
Der Avatar in Ephrams Gestalt materialisierte sich zu ihrem Erschrecken und antwortete: „In Ephrams Schutzraum.“
Sie blickte sich um, versuchte Konturen auszumachen und Gegenstände zu erkennen.
„Wie bin ich hierher gekommen?“
Der Avatar antwortete mit einer Gegenfrage: „Wie detailgenau willst du das wissen? Von wo soll ich beginnen? Vom Zeitpunkt da du den Tower betrittst? Ab nun besitze ich Aufzeichnungen. Als du Ephrams Wohnung erreicht hast? Als du gestorben bist?“
Sie seufzte abermals. „Ich bin gestorben?“ Sie blickte auf das Juwel in ihrem Schoß. „Und auferstanden? Das also vermagst du auch?“ Sie nickte erschöpft. „Ja, vom Zeitpunkt, da ich ermordet wurde, möchte ich sehen, was geschehen ist.“
Und so zeigte der Avatar ihr alles, sodass sie begriff, wer er war. Sie spielte Voyeur bei der Vergewaltigung ihrer Leiche und der Anblick ließ sie völlig kalt. Als Ephram aber den Satz aussprach: „Du warst im Leben eine hervorragende Geliebte, aber im Tod bist du noch besser“, da spürte sie wieder den rasenden Zorn, knirschte mit den makellosen Zähnen und erwiderte: „Diese Behauptung wirst du büßen!“
Noch immer ziemlich desorientiert, versuchte sie sich zu sammeln. „Ephram ist also unterwegs nach Gaia.“
„Er ist vor drei Tagen abgeflogen.“
„Und ich bin nach wie vor eine begünstigte Person?“
„Eine der wenigen, ja. Ephram war wohl der Meinung, dass es nicht notwendig ist, eine Tote von der Liste zu streichen.“
„Welches sind meine Befugnisse?“
„Du kannst über mich und damit über seine Wohnung verfügen – das ist so ziemlich alles.“
„Nun gut, ich habe Hunger und Durst, bereite mir ein Mahl. Und dann gib mir aktuelle Informationen über einen Piraten namens Rammbock.“
„Sollen die Speisen gleich aufgetragen werden?“
Sie schüttelte den Kopf. „Zuerst möchte ich duschen.“
„Rammbock hält sich gegenwärtig in der Silonischen Ebene auf. Er wurde von Ephram zu ihrem Verwalter erkoren.“
„Kluger Schachzug. Kannst du Verbindung zu ihm aufnehmen?“
„Wahrscheinlich. Soll ich?“
„Warte. Wie es aussieht habe ich es nicht besonders eilig. Zunächst muss ich wieder einigermaßen manierlich aussehen. Richte Kleidung für mich, die viel Haut zeigt, Brüste und Taille betont. Du kennst meinen Geschmack?“
„Falls er sich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht geändert hat.“
Sie seufzte. „Im Exil hatte er wahrlich keine Möglichkeit, sich zu entwickeln.“
Nach der Körperpflege aß sie an einem kleinen Tisch in jenem Raum, in dem sie versucht hatte Ephram zu ermorden, gehüllt in einen leichten Bademantel. Die Mahlzeit bestand aus verschiedenen Früchten, die nicht von Ivarn stammten und dazu trank sie einen Niem-Wein. Diverse gegrillte Meerestiere von einer Welt der Föderation folgten und noch ein Glas Niem. Das Juwel befand sich neben ihr. Einigermaßen gesättigt und entspannt vom Alkohol erhob sie sich und ließ sich von einem humanoiden Roboter ein schlichtes schwarzes Kleid mit silbernem Gürtel und ebenso gefärbten, hohen Sandalen reichen. Schon während sie sich anzog war ihr klar, dass sie einige Ersatzkleidung mitnehmen musste, denn es gehörte zu Rammbocks Eigenheiten, ihr das Gewand vom Leib zu reißen. Sex mit ihm war stets ein animalischer Akt. Darüber hinaus wollte sie aber endlich wieder wie ein zivilisierter Mensch leben und dazu gehörte eine große Auswahl an Kleidung.
„Verbinde mich mit dem Piraten!“
Fast sofort materialisierte sich in dem wandgroßen Spiegel, in dem sie sich zuvor betrachtet hatte, ein breiter, muskulöser, kahler Mann, der sie verblüfft anstarrte.
„Reja? Prinzessin? Wie ist das möglich? Du bist doch tot?“
Reja lächelte. „Nicht mehr! Sag freust du dich, mich zu sehen?“
Der Pirat fluchte lästerlich. „Ephram, das Aas. Er hat mir mitgeteilt, du seist bei einer Mission verunglückt! Ich war sogar bei der Trauerfeier, bei der er mir anbot, das Kriegsbeil zu begraben und deine Besitzungen für ihn zu verwalten! Wo warst du? Du siehst unverändert aus – verdammt, wir müssen uns treffen.“
Sie blickte amüsiert. Ihre Wirkung auf ihn hatte sich nicht verändert, sie sah die Gier in seinen Augen. Das Alter – er musste jetzt beinahe fünfzig sein - hatte ihn in dieser Hinsicht noch nicht verkümmern lassen.
„Das sollten wir. Unbedingt. Aber nicht hier, in Ephrams Suite! Ich kann nämlich keine Lauscher gebrauchen!“ Sie dachte an seinen Avatar, dessen Programmierung sie nicht kannte. „Wir treffen uns am Rande der Silonischen Ebene, sagen wir, bei Sonnenuntergang. Ich gebe dir die Koordinaten bekannt.“ Sie tippte auf eine Konsole, die auf Knopfdruck aus der Oberfläche des kleinen Tischs zu wachsen schien und Zahlen erschienen, die sich in eine Position auf einem Satellitenbild verwandelten. „Dann erzähle ich dir einiges über mein Exil. Und meine Pläne.“
Er nickte. „Sehr gut. Ich werde da sein. Das Leben ohne dich war langweilig.“
„Keine Sorge. Es wird schon bald sehr spannend.“ Sie unterbrach die Verbindung.
„Ich brauche eine komplette Garderobe für mich und einen Gleiter mit entsprechender Ladefläche. Und das möglichst bald.“
Der Avatar, der das Antlitz des jungen Ephram trug, antwortete: „Das ist kein Problem, im Tower befinden sich genug Boutiquen und sie sind gewohnt, rasch zu handeln, wenn Aufträge aus dem Penthouse kommen. Wenn du dich in einigen Minuten auf das private Flugdeck an der Spitze des Turms begibst, wird alles für dich bereit sein.“
„Wenigstens dafür sorgt mein Cousin.“ Reja erhob sich, suchte in der transparenten Scheibe hinter sich das Loch, das ihre Impulspistole verursacht hatte, aber offenbar war die Reparatur bereits erfolgt. Drei Tage. Es gab immer noch Religionen, die behaupteten, es gäbe so etwas wie ein Leben nach dem Tod. Insbesondere auf Gaia wucherte dieser Unfug. Sie hatte nichts gesehen, kein Licht am Ende des Tunnels, keinen Tunnel, gar nichts. Sie war wiedergeboren, sie würde über ihr Leben nachdenken, aber sie hatte nicht vor, sich zu ändern. Sie musste allerdings versuchen, weniger impulsiv zu sein, wollte sie gegen Ephram bestehen. Aber abgesehen davon: Sie war perfekt, so wie sie war. Sie würde genießen, egal welchen Preis andere dafür zu zahlen hatten. Warum auch nicht? Es gab kein höheres Wesen, dass sie dafür zur Rechenschaft ziehen würde. Und auch keine Seelen Ermordeter, die sie nach ihrem Tod quälen konnten. Auch keine eigene Seele. Sie schüttelte den Kopf. Sie war zu lange auf Gaia geblieben. Alles, was zählte, war das Jetzt.
Sie blickte hinaus in die Stadt mit ihrem Verkehrschaos, das hügelige Gelände dahinter und die Berge am Horizont, den Pass, über den sie gekommen war. Es war ein sonniger Tag, kaum Wolken am Himmel, aber ziemlich diesig. Um ein wenig Zeit vergehen zu lassen, schenkte sie sich noch ein Glas hellgrünen Niem ein, den sie langsam im Stehen trank. Dann begab sie sich aufs Flugdeck, wobei sie das Juwel von Galahar mit sich nahm, während sie, gleichsam als Souvenir, Umhang und Pistole zurück ließ.
Sie stieg in den Gleiter, trotz der großen Ladefläche natürlich ein Sportmodell, alles andere war für Ephram zu minder. Sie verkündete die Koordinaten und gleich darauf hob das Fluggerät ab, stieg weit auf, um dem Nahverkehr auszuweichen und nahm Kurs auf den Pass im Silonischen Randgebirge. Das Juwel befand sich stets neben ihr, denn sie war sich nicht sicher, inwieweit ihr Leben – war sie doch schon tot gewesen – von der Macht des extraterrestrischen Artefakts abhing. Der Sportgleiter fraß die Entfernung unglaublich rasch; bald war der Blick auf die Silonische Ebene frei.
Sie fand das Atmosphärenschiff so vor, wie sie es verlassen hatte. Der Avatar erkannte sie und ließ sie an Bord. Lange ließ der Pirat sie nicht warten. Er parkte seinen schnittigen Gleiter neben dem ihren und kam an Bord. Die Begrüßung war wie erwartet: wortlos und stürmisch. Schließlich lagen sie nackt, schwer atmend und verschwitzt nebeneinander, die Kleidung um sich herum verstreut. Den Kopf auf seinem muskulösen Arm schnurrte sie wie eine Katze. Sie fühlte sich lebendig und das war ihr nun sehr wichtig. Dann begann sie zu erzählen, was ihr widerfahren war. Es dauerte erstaunlich kurz, über zwei Jahrzehnte zu berichten, aber sie hielt sich nur an das Wesentlichste. Vom Juwel erzählte sie gar nicht, denn es war nicht klug diesbezüglich Begierden zu wecken. Sonst aber schilderte sie Gaia in den leuchtendsten Farben, denn sie hatte einen Plan.
„Mir ist nicht klar, warum er dich verbannt hat. Du warst nicht wirklich eine Gefahr für ihn. Mit deinen speziellen Begabungen wärst du für ihn sicherlich nützlicher gewesen als schädlich. Die Silonische Ebene ist nicht so bedeutend. Wenn jemand das weiß, dann ich.“
„Darüber habe ich nachgedacht“, meinte sie, „jahrelang.“
„Und bist du zu einem Schluss gekommen?“
„Ja. Ich glaube, mein Schicksal war in dem Moment besiegelt, in dem ich mich für Gaia interessiert habe. Oder genauer: in dem ich über die Koordinaten Gaias verfügte oder hätte verfügen können. Ich hätte sie mir auf dem Planeten holen können, selbst wenn er dem Schiffsavatar aufgetragen hatte, sie geheim zu halten. Es war eine Vorsichtsmaßnahme. Niemand, abgesehen von ihm, durfte außerhalb Gaias über die Enigma-Adresse des Planeten verfügen.“
„Weil er nicht vertragsbrüchig werden wollte?“
Sie schüttelte den Kopf, ganz leicht nur. Eine Denkfalte erschien auf der Stirn über ihren Brauen. Sie tat sich schwer auf ihrer jugendlichen Haut. „Die Götter nehmen sich sehr wichtig, aber insgeheim hat er sie vermutlich ausgelacht. Dummköpfe ohne Bedeutung im großen Spiel. Er hat zweifellos nicht nur im Auftrag der Götter gehandelt. Sicherlich ist er bezahlt worden. Vielleicht sogar sehr gut! Aber das kann nicht die alleinige Quelle seiner Motivation gewesen sein. Niemand sollte den Weg zu diesem Planeten kennen, niemand, selbst ich nicht. Und das bedeutet, dass er sein Refugium sein sollte, seine Rückzugsmöglichkeit, falls die Schwierigkeiten mit der Föderation jemals eskalieren sollten.“
Der Rammbock lachte. „Mit der Föderation werden wir schon fertig.“
Sie fiel in das Lachen mit ein. „Zweifellos wirst du das. Aber es hätte auch ein Konkurrent heranwachsen können, wer die Macht hat, hat Feinde. Es schadet nicht, wenn man irgendwo sicher sein kann. Aber dann will man auch in allem Komfort leben. Und das bedeutet, dass es auf Gaia einen Ort geben muss, wo er seine Reichtümer gehortet hat. Jedenfalls einen beträchtlichen Teil davon. Und der“, ergänzte sie, „ist wahrscheinlich schlecht bewacht. Denn auf Historia ist niemand eine ernst zu nehmende Bedrohung für ihn.“
„Und das bedeutet?“
„Dass uns ein ganzer Planet voller Reichtümer zur Verfügung steht, den wir nach Herzenslust überfallen und ausrauben können, ohne dass uns Vergeltung droht!“, rief sie begeistert. „Über wie viele Schiffe verfügst du?“
„Sieben gut bewaffnete Sternenkreuzer.“
Sie pfiff durch die Zähne. „Mit diesem hier acht. Armiert ist es zwar kaum, aber zählen wir es trotzdem. Ephram ist mit nur einem aufgebrochen. Es ist eine Sonderanfertigung, hervorragend bewehrt und äußerst maneuvrierfähig, enorme Reichweite und so weiter, du kennst ihn ja, für ihn nur das Beste. Aber gegen acht Schiffe? Und was haben die Götter? So gut wie nichts. Die Überraschung ist ebenfalls auf unserer Seite. Ephram geht davon aus, dass niemand mehr den Planeten erreichen kann, die Götter denken das ebenso. Ich bin tot, meint er. Aber er weiß natürlich nicht, wie ich hierher gekommen bin. Er wird also nicht absolut sicher sein. Das möchte er aber. Mich kann er nicht befragen, ich bin ja tot, wie gesagt, also musste er nach Gaia, um herauszufinden, wie es zu meinem Aufbruch kam und wer eventuell noch Historia verlassen hat und nun über die Enigma-Adresse verfügt. Seine Aufmerksamkeit ist abgelenkt, mit einem Angriff wird er sicherlich nicht rechnen. Ich denke, wir sollten es wagen, wir können gar nicht verlieren!“
Der Rammbock blickte sie skeptisch an. „Machst du nicht den gleichen Fehler bereits zum dritten Mal? Unterschätzt du ihn nicht, deinen Cousin?“
Reja wirkte verärgert. „Kann es sein, dass keine Lava mehr in deinen Adern fließt? Dass du fett und träge geworden bist? Alt? Hast du keine Ambitionen mehr, Ephrams Stelle auf diesem Planeten einzunehmen? Mit mir kannst du das, die Adeligen werden dich akzeptieren. Wer bist du jetzt? Ein Handlanger, nicht mehr! Ist das dein ganzer Ehrgeiz?“
„Beruhige dich! Ich kann alles verlieren …“
„Alles? Was meinst du damit? Was alles? Du musst erst einmal alles haben, um alles verlieren zu können! Ich biete dir alles auf einem güldernen Tablett. Nimm es dir, so wie du mich genommen hast! Selbstbewusst und ohne zu zaudern.“
Sie sah wie der Funke wieder aufglomm, sein Atem ging schneller. „Du hast recht, ich bin ein Pirat. Stolz und unabhängig, nicht der Hund eines OrPhon! Ich bin kein Lakai! Vor zwanzig Jahren hat mich die Vorstellung, ich könne im Bett sterben, noch abgestoßen. Ich war auf der Suche nach Abenteuer. In allem, was ich tat, warst du meine Muse. Du warst zu lange weg.“
„Jetzt bin ich wieder da und es kann alles so sein wie früher. Besser noch, denn diesmal haben wir eine echte Chance, gegen Ephram zu bestehen. So eine Möglichkeit kommt vielleicht nie wieder!“ Sie richtete sich ein wenig auf, die Ellbögen auf seiner Brust. „Wann können wir aufbrechen?“
***
Nach einem ausgiebigen Schläfchen und morgendlicher Körperhygiene folgten sie zunächst Anwins Vorschlag und sahen sich Mesawa an wie Touristen irgendeine Sehenswürdigkeit. Weit kamen sie dabei aber nicht, denn kaum waren sie unter der großen Kuppel angelangt, faszinierten sie die gewaltigen Überreste der bizarren Bäume, die feinen Kristallblätter ebenso wie die säulenartigen, schuppigen Stämme. Nisaya, jetzt in eine beige, außer an der Taille, locker sitzende Hose und eine Bluse von gleicher Farbe gekleidet, begann sofort damit, einen noch recht gut erhaltenen fremdartig-urwüchsigen Baum hoch zu klettern. Die anderen sahen ihr erstaunt zu.
„Los doch! Das ist lustig!“
„Es sieht vor allem sehr gefährlich aus“, meinte Iphikles.
'Insbesondere für dich!', dachte Anwin, denn falls sich Nisaya verletzte, blieb ihm wohl nichts anderes übrig als Iphikles zu ihrer Heilung heranzuziehen. Er seufzte. Nicht schon wieder, bloß nicht.
Aber das Mädchen kletterte wie ein terranisches Eichhörnchen und blickte aus schwindelerregender Höhe auf die beiden herab. Dabei löste sie einen Kristallschauer aus, gläserne Blätter torkelten gen Boden.
„Feiglinge!“
„Komm wieder runter, ich bekomme Nackenschmerzen vom Zuschauen!“ Iphikles rieb sich die genannte Stelle. Er war wie immer recht bunt gekleidet, wobei die Farbe rosa überwog. Talira hatte ihm alles vorführen müssen, was Mesawa an Kostümen zur Verfügung hatte; aber der letzte männliche Eigner Mesawas, Nisayas Bruder, war offenbar an Mode nicht interessiert gewesen und die anderen hatten leider viel zu rasch die Geduld verloren, sodass die virtuelle Show vorzeitig abgebrochen wurde. Anwin hatte sich sehr schnell für die unpraktische Farbe weiß entschieden, einfach weil er es leid war, immer düster auszusehen. Es war ein Weg, mit der Vergangenheit zu brechen, kein spektakulärer zwar, aber auch Kleinigkeiten konnte zeigen, wofür man stand oder eben nicht. Er war kein Heiler mehr, zumindest falls dieses Mädchen keinen Blödsinn machte!
Beeindruckend gewandt machte sie sich an den Abstieg, hing zuletzt in doppelter Mannshöhe an einem dicken Ast und ließ sich dann fallen. Sie stand die Landung, richtete sich zu voller Größe auf und grinste breit.
„So. Jetzt fühle ich mich besser.“ Sie blickte ihre Gegenüber vorwurfsvoll an. „Ihr seid Langweiler. Ein bisschen Bewegung würde euch nicht schaden, vor allem dir nicht, Iphikles. Ein wenig gegen deinen Hüftspeck tun!“ Sie stupste ihn an.
„Was denn? Wäre es dir lieber, ich sähe aus wie mein Bruder?“
Nisaya schauderte. „Nein, das bestimmt nicht.“
„Immerhin. Wenn du jetzt genug Sport getrieben hast, könnten wir uns in der Zentrale die Aufzeichnungen ansehen.“
„In chronologischer Reihenfolge“, insistierte sie, „das macht am meisten Sinn.“
Iphikles hätte lieber die letzten Aufzeichnungen zuerst gesehen. Also schlug Nisaya vor, abzustimmen und Anwin folgte ihr natürlich. Man merkte aber, dass es ihm eigentlich völlig egal war, ihn verband nichts mit diesen Erinnerungen, 'Memen', wie sie sie nannten. Er war nur deshalb an ihnen interessiert, weil er alles über die Welt, die offenbar viel größer war als die „Welt“ (die er jetzt insgeheim auch schon als 'Hinterwelt' bezeichnete), über diesen Planeten, über andere Planeten, über das Universum, lernen wollte. Er war überwältigt, fasziniert, aber von all den Fakten nicht totgeschlagen. Warum existierte das Gefängnis, in dem er aufgewachsen war? Wer hatte diese morbide Idee geboren und welchen Zweck verfolgte sie? Anwin redete nicht viel, beobachtete und dachte aber um so mehr.
Irgendwo in der Nähe der drei stand ihr Kindermädchen, riesig, düster, mit brennenden Augen. Dank Iphikles völlig harmlos für sie. Anwin traute dem Frieden nicht, aber Nisaya kannte keine Furcht. Sie ging zu ihm hin und befahl ihm:
„Bring uns in die Zentrale!“
Die monströse Kopie eines Sandarken, der 'Sandarkoid', drehte sich um und ging ihnen voran durch hell werdende Gänge. Sie folgten ihm und dort wartete bereits Talira II auf sie, trotz all ihrer Fremdartigkeit ein Vertrauen erweckenderer Gesprächspartner als die schwarzen Roboter. Nisaya wandte sich daher an sie.
„Wir hätten gern die Aufzeichnungen gesehen, aus der Zeit als unsere Eltern hier waren, du besitzt doch welche?“
„Aber ja.“
„Und in chronologischer Reihenfolge. Und Knabbergebäck und Fruchtsäfte, das ist wichtig. Eis vielleicht? Will jemand Eis?“ Sie blickte sich um, aber Iphikles wollte nicht und Anwin wagte nichts zu sagen, er war Luxus nicht gewöhnt und kannte Eis auch gar nicht.
„Also kein Eis, auch gut.“
Sie setzten sich auf bequeme Stühle, die rund um den zentralen Platz standen, ovale Beistelltische hoben sich neben jedem Sitzplatz aus dem Boden, mit Schüsseln voll knusprig aussehender Snacks, kaum mehr als Nahrungsmittel zu erkennen, daneben bunte Getränke in phantasievoll gestalteten Gläsern. Die Holoshow konnte beginnen. Und das tat sie dann auch. Sie saßen zu viert da, denn auch Talira hatte sich hingesetzt und konsumierte scheinbar Knuspergebäck.
Sobald Epistor auftauchte, kamen Kommentare:
„Das ist mein Vater.“
„Das ist der Widerling, der dabei war, als diese Frau mich abgeschossen hat!“
„Das ist der Mann, vor dem sogar die Götter Ehrfurcht gezeigt haben. Der mit der Narbe.“
„Was tut er da?“
Talira erklärte: „Er hat zusammen mit Kostral verschiedene todbringende Humanviren entwickelt, aber sich auch darüber hinaus mit Genmanipulation beschäftigt.“
Wenig später visualisierte sich der erste Graue Menschenaffe.
„Huh, schaurig. Angeblich hat einer der Begleiter meines Vaters gegen so was gekämpft und sogar gewonnen. Ein anderer auch, aber der war selbst ein Monster. Sag, der erinnert mich doch an jemand? Denk dir die Haare weg“, meinte Nisaya.
„An meinen Bruder, ich weiß. Oh Vater! Was hast du getan?“
„Du meinst, er ist das Produkt einer Genmanipulation? Und die Affen auch?“
Talira nickte. „Das kann man als sehr wahrscheinlich annehmen. Damals, bei den Grauen Menschenaffen, war es jedenfalls so. Er hat Designerviren als Genfähren verwendet und damit menschliche Ei- und Samenzellen verändert. Er hat Frauen geraubt, um sie seine Kreationen austragen zu lassen. Natürlich hat er sie auch als Spender für die Eizellen benötigt.“ Sie stopfte sich einen blutroten, unförmigen Snack in den Mund, der ein wenig zuckte. Die anderen sahen ihr dabei irritiert zu.
„Aber bei Alkaios bist du dir nicht sicher?“, wollte Iphikles wissen.
Talira zuckte mit der rechten Schulter. „Wie sollte ich? Da hatte Epistor ja keinen Zugang zu Mesawa mehr. Aber die Physiognomie deines Bruders spricht doch sehr dafür.“
„Aber wo hat er dann die nötigen Arbeiten ausgeführt? Sicherlich nicht am Olymp, seine Taten sollten ja geheim bleiben. Vielleicht in Theben. Dort hat er ein Labor.“
Talira nickte Iphikles zu. „Ja. Oder er hat die zweite Anlage der Sandarken auf diesem Planeten verwendet. Sie liegt auf einer Insel namens Xapur im Süden des Wilahet-Meeres. Er wusste davon – als Einziger der Götter.“
„Könntest du das überprüfen? Ob er auf der Insel gearbeitet hat?“, wollte Nisaya wissen.
„Ich habe keinen Kontakt dorthin seit Kostral tot ist. Die Anlage ist nicht legal.“
„Wozu hat er das getan?“, wunderte sich Iphikles. „Warum? Weißt du etwas darüber?“
Sie schüttelte den Kopf. „Er hat nie darüber gesprochen. Seinem Gastgeber Kostral hat er lediglich versichert, dass er ihm beim Erreichen seiner Ziele helfen wolle. Viren zur Dezimierung der Menschheit zu entwickeln, solche Sachen. Die menschliche Entwicklung um einige Millionen Jahre zurück zu setzen, wäre da durchaus ein Weg. Atavismen haben ihn immer sehr interessiert.“
Iphikles blickte zweifelnd. „Der Menschheit zu schaden ginge doch einfacher. Warum so kompliziert?“
„Mit wem hatte sein Vater von Mesawa aus Kontakt? Welche Olympier waren an dieser Geschichte noch beteiligt?“ Nisaya nahm einen Schluck ihres hellblauen Getränks.
„Soweit ich weiß, niemand. Er hat von hier aus nicht mit dem Olymp kommuniziert.“
„Und sonst?“
„Er hat Gespräche mit einer Gruppe Aliens geführt, die er als die 'Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters' bezeichnet hat'“.
„Goldene Menschen?“ Anwin war schlagartig aus seiner Scheinlethargie erwacht. „Die Götter!“
„Das sind genauso wenig Götter, wie mein Vater einer ist“, meinte Iphikles.
„Ja, aber sie haben sich uns gegenüber als solche ausgegeben. Die bleichen Götterdiener, die in der Pyramide leben, ernähren sich von Menschenfleisch. Und zwar ausschließlich. Und die ganz jungen sind Parasiten, die ihre menschlichen Opfer aussaugen. Die Gepeinigten leben aber nicht lange genug und deshalb brauchen sie uns Heiler, um Lebensenergie von gesunden Menschen auf die Opfer zu übertragen. Dann überdauern die Unglücklichen lange genug, um den Parasiten das Schlüpfen zu ermöglichen.“
„Igitt!“, ließ sich Nisaya vernehmen.
„Deshalb gibt es Heiler. Eigentlich nur aus diesem Grunde.“
„Gibt es viele Heiler?“
Anwin schüttelte den Kopf. „Wir sind Mangelware. Sie züchten uns, um mehr zu erhalten. Ja! So muss man das wohl sehen, dieses ganze System aus Priestern und Heilern. Aber sie sind nicht sehr erfolgreich, die Anzahl der Heiler bleibt gering, insbesondere in letzter Zeit sind ihnen welche abhanden gekommen.“ Er grinste.
„Du grinst!“, stellte Nisaya überrascht fest. „Du hast ein bewegliches Gesicht, mit Muskeln und allem! Bemerkenswert.“
Erschrocken ließ Anwin seine Mimik erstarren.
„Du wirkst weniger unheimlich, wenn du dein Gesicht nicht wie einen Maske trägst“, meinte auch Iphikles, „aber zurück zum Thema. Die Frage ist: Würden Menschen wie mein Bruder, extrem starke, zähe, robuste, sich als Nahrung für diese Parasiten besser eignen? Könnte es sein, dass diese Grauen Menschenaffen bloß misslungene Experimente auf dem Weg zu meinem Bruder waren und dass seine Bestimmung die ist, mit einem Parasiten am Körper sein Leben auszuhauchen? Der Gedanke gefällt mir.“ Nun war es an ihm zu grinsen.
„Angenommen es ist so. Was hat dann dein Vater davon? Warum liegt ihm so am Wohle einer fremden Spezies? Hat er altruistische Charakterzüge?“
Iphikles lachte. „Nein, bestimmt nicht. Man kann nicht behaupten, dass er sich lediglich für sich selbst interessiert. Als Machtmensch braucht er auch andere. Aber er würde nie jemandem helfen, hätte er nicht einen persönlichen Vorteil, oder aber es würde einem höheren Zweck dienen. Irgendetwas Monumentalem, etwas das einem Gott würdig ist.“
„Ist der Erhalt einer fremden Spezies würdig genug?“
„Nur, wenn das wiederum seinem Machtstreben diente.“
„Wir wissen zu wenig“, meinte schließlich Nisaya. „Wir müssen dieses Theben besuchen und in deines Vaters Labor eindringen ...“
„Das schaffen wir nicht“, warf Iphikles ein.
„... uns die Hinterwelt ansehen, von der Anwin gekommen ist ...“
„Ohne mich!“, sagte dieser sehr bestimmt.
„... und die Insel.“ Sie wartete ein wenig. „Kein Einwand bei der Insel? Gut. Dann ist sie unsere nächste Station.“
Inzwischen ging das Abspielen der Aufzeichnungen weiter. Holos in Lebensgröße erschienen. Kostrals Anblick war zwar schaurig, aber gewohnt, denn die Roboter sahen für sie genauso aus.
„Das muss Granoc sein!“, rief Nisaya aufgeregt und zeigte auf einen Hünen mit langen schwarzen Haaren und stahlblauen Augen in einem von zahllosen Kämpfen narbigen Gesicht. „Er hat einen der Grauen Menschenaffen besiegt.“ Das wusste sie, auch wenn die Station Mesawa die Szene damals nicht erfasst hatte und daher auch nicht zeigen konnte. „Der würde sogar mit deinem Bruder fertig.“
„Niemand wird mit meinem Bruder fertig; kein Mensch jedenfalls. Er ist nicht nur unnatürlich stark, sondern auch unglaublich schnell.“
„Inzwischen ist Granoc natürlich ein uralter Mann“, gestand sie ein, „Also hätte er jetzt vielleicht wirklich keine Chance mehr. Aber siehst du? Er vermochte sich sogar gegen Kostral durchzusetzen. Nicht mit Kraft, sondern mit Schläue.“ Talira zeigte gerade, wie der Kimerier Yasiwi rettete.
„Ich versichere dir, wenn dieser Wilde und Alkaios sich träfen, gäbe das einen sehr kurzen Kampf. Und am Ausgang zweifle ich nicht, ich habe meinen Bruder kämpfen gesehen. Es bereitet mir durchaus keine Freude, dich zu desillusionieren, offenbar ist dieser Granoc ja eine Heldengestalt deiner Familienchronik. Aber er ist nur ein normaler Mensch, kein genmanipulierter Halbgott.“
„Mit einem Ganzgott wird er jedenfalls fertig! Da! Sieh!“
„So also ist dein Vater zu den Narben in Handfläche und -rücken gekommen“, meinte Anwin. „Von wegen: heroischer Kampf! Die Götter – ich meine meine Götter, die Goldenen – lügen, wenn sie auch nur den Mund aufmachen. Oder was immer das ist, was sie da aufmachen.“
Nisaya konnte auch ihren Vater sehen, wenngleich er so jung kaum wiederzuerkennen war. Er sah inzwischen ganz anders aus. Die Zeit war nicht nett mit ihm verfahren. Auch damals war er kein Held gewesen, so wie Granoc, was sie aber auch nicht erwartet hatte. Offenbar war es seine einzige Leistung gewesen, ihre Mutter aus der Sklaverei frei zu kaufen. Viel interessanter war Gorm, der Ahriman. Nach den Schilderungen hatte sie sich nicht wirklich vorstellen können, wie er aussah. Man musste ihn gesehen haben. Dann war da noch der kleine, unglaublich breite, rothaarige Mann von Romjen, Raft AkRovaar. Dennoch; im Vergleich zu Granoc waren sie alle bloß Statisten. Schließlich erschien ihre Mutter – die sich gar nicht verändert hatte – und rettete sie. Happy End. Oder fast. Leider merkte Elri nicht, dass Kostral nicht gleich gestorben war und der KI der Feste Mesawa noch Anweisungen geben konnte, die sich in der Folge als fatal erweisen sollten. Das aber wussten sie in diesem Augenblick noch nicht; die Aufzeichnungen sollten es bald enthüllen.
Zwei Jahrzehnte wurden übergangen; Talira hielt sie nicht für wichtig. Dann erschien Gjefren auf den Hügeln vor der Festung. Eine Einspielung zeigte auch den Gehäuteten und Talira erklärte den entsetzten Zusehern dessen Funktion. Sie verschwieg auch nicht, dass es eine Zeit gegeben hatte, da sie Besucher – Menschen, die die Grenze ignorierten und schließlich die Festung erreichten – köpfen ließ. Alles auf Kostrals Befehl. Auch Nisaya begriff, so wie zuvor ihr Bruder, dass ihre Mutter nie davon erfahren durfte. Die Grausamkeiten erschütterten sie zutiefst. Während des Gesprächs liefen die Szenen weiter, aber ihr Bruder tat nichts Interessantes. Im Prinzip hatte er Daten gesammelt, so wie sie. Aber leider waren seine Fragestellungen spezifischer gewesen, zunächst erfuhr er daher nichts davon, dass Kostral nicht gleich gestorben war. Er hatte ja in erster Linie seinem Onkel helfen wollen. Dann erschien Athaly, die den Herren der Festung für ein erbarmungsloses Monster hielt und nun erfuhr, dass Gjefren dieser Herrscher war. Erst durch diese Begegnung verstand Gjefren, dass seine Mutter einen Fehler gemacht, indem sie nicht kontrollierte hatte, ob Kostral gleich verstorben war. Natürlich machte er dessen Befehle rückgängig und folgte Athaly, wodurch er letztlich an Reja geriet, „meine liebliche Mutter“, wie Iphikles kommentierte. Dabei verzog er das Gesicht, als hätte er in etwas sehr Saures gebissen. Nun folgte der Deal, der vorerst Athalys Überleben sicherte. Aber zu einem untragbaren Preis. Reja erhielt Macht. Doch schon bevor sie die Festung erreicht hatte, war sie von Hera gestellt worden. „Meine Stiefmutter“, stellte Iphikles fest. „Meine ganze Familie ist eine Schande!“
Reja hatte überlebt und wurde wiederhergestellt.
„Warum ist sie nicht gealtert?“, wollte Nisaya wissen. „Sie ist doch keine Göttin“.
Iphilkles schüttelte den Kopf, er wusste es nicht. Also antwortete das Betriebssystem Talira: „Sie hatte ein Artefakt bei sich, das über erstaunliche Fähigkeiten verfügte. Menschenwerk war es nicht, auch Sandarken haben es nicht hergestellt.“
„Die Goldenen Götter?“, fragte Anwin und beantwortete seine Frage auch gleich selbst: „Nein, denn wären sie dazu in der Lage, würden sie keine Heiler benötigen.“
„Die Goldenen Menschen sind nicht kenntnisreich genug, um etwas derartiges zu kreieren“, meinte auch Talira.
Dann erfolgte im genauen Wortlaut und ungekürzt jenes Gespräch zwischen Reja und ihrem Lieblingssohn Alkaios, das es Iphikles erlaubt hatte, zum gegenwärtigen Herrn über Mesawa zu werden. Die Gleichgültigkeit, mit der Alkaios ein Menschenleben auslöschte, traf alle, sogar Anwin, der in dieser Hinsicht einiges gewohnt war.
„Galaxis! Er hat den Jungen einfach getötet und will nun auch noch seinen Vater ermorden!“ Nisaya wirkte zunehmend verstört.
„Das hat er inzwischen sicherlich getan“, flüsterte Iphikles.
„Oh, wenn ich den in die Finger kriege!“ erwiderte sie zornig.
Iphikles lachte nur bitter. „Was willst du gegen ihn ausrichten?“
Schließlich erfuhren sie noch, dass Reja, einigermaßen wieder hergestellt, den Planeten verlassen hatte.
„Wenigstens besteht keine Gefahr mehr für meinen Bruder und dieses Mädchen aus der Wüste“, kommentierte Nisaya. „Aber, wie geht es ihm jetzt? Und was ist mit meinem Onkel? Kannst du mir da irgendwie weiterhelfen, Talira?“
Diese schüttelte den Kopf. „Reja hat dafür gesorgt, dass ich weder mit deinem Bruder kommunizieren kann noch ihn aufspüren. Und über deinen Onkel habe ich überhaupt keine Informationen.“
Nisaya überlegte, ob ein weiterer Aufenthalt in Mesawa nun noch sinnvoll war als sich Talira an Iphikles wandte: „Wir bekommen Besuch!“
„Oh! Hoffentlich nicht Hera! Triton wäre schon schlimm, der will natürlich seinen Gleiter zurück.“
„Oh, keine Angst. Es ist keiner von beiden.“
„Wer denn sonst? Sag schon.“
„Dein Bruder. Er hält sich für den Herrn von Mesawa. Ich erkläre ihm gerade, dass das nicht der Fall ist und, wenn ich seine physiologischen Parameter richtig interpretiere, scheint ihn das ziemlich wütend zu machen. Willst du, dass er landet?“
„Verdammt!“
„Sag, Nisaya, könntest du deine schwarzen Vögel holen?“, wollte Anwin wissen. Sie fand, das wäre eine gute Idee, sie hatte die Brosche noch im Haar und verinnerlichte sich, um die Drohnen zu aktivieren. Iphikles wirkte einen Augenblick gehetzt, er überlegte seine Optionen, hatte aber nur wenig Zeit. Sein erster Gedanke galt der Flucht: Talira könnte seine Landung verzögern und inzwischen konnten sie mit ihrem Flugschiff verschwinden. Das aber würde bedeuten, ihm Mesawa zu überlassen und ihm damit die Möglichkeit zu geben seine finsteren Pläne, von denen Iphikles gerade erst erfahren hatte, zu verwirklichen. Er würde sich Superwaffen herstellen lassen und den Kontinent in ein unvergleichliches Blutvergießen stürzen. Das durfte nicht geschehen. Da war es besser, ihn schlicht abzuweisen. Er hatte die Macht, ihn am Landen zu hindern. Sollte er doch dorthin zurück kehren, wo er hergekommen war, in dieses kleine Königreich, wie hieß es noch? Aber auch dort würde er seine Tyrannei weiterleben und seinem Sadismus frönen. Er, Iphikles, wäre von nun an für jeden weiteren Mord seines Bruders verantwortlich.
„Talira, deine Roboter, werden sie mit Alkaios fertig?“
„Sie sind schneller und stärker als er.“
„Bist du dir da sicher? Absolut sicher? Ganz sicher? Unzweifelhaft?“
Sie zuckte mit einer Schulter. „Ja, schon.“
„Ein Irrtum wäre nämlich fatal. Wenn er dermaßen zornig ist, will er Blut sehen. Das wäre an sich schon schlimm genug, aber ich ahne, dass es mein Blut ist, auf das er es abgesehen hat, weil ich ihm die Herrschaft über Mesawa streitig mache.“
„Ich werde uns mit meinen Dohlen beschützen“, erklärte Nisaya selbstbewusst. Sie schwirrten gerade in den großen Raum. Iphikles hatte selbst ein wenig Erfahrung mit Drohnen, wenngleich er selbst nie welche besessen hatte. Trotz seiner Zweifel nickte er. Nisayas Befehle, so vermutete er, würden zu spät erfolgen.
„Gut. Lass ihn kommen. Ich will keinen Sichtkontakt, bevor wir uns persönlich treffen.“
„Bleibt noch die Frage: wo?“
„Hier. Ich will ihm nicht entgegen gehen.“ Iphikles wirkte entschlossen. Er hatte gehofft, Alkaios nie wieder sehen zu müssen, aber wenn das Schicksal anders entschieden hatte, würde er sich dem stellen.
Sie warteten eine Ewigkeit, angespannt wie Pferde, die eigentlich loslaufen wollten, an einem Rennwagen. Sie beobachteten sein Näherkommen auf einem Monitor. Dann glitten die beiden Flügeltüren des großen Tors zur Seite und ein muskelbepackter Riese näherte sich, flankiert von zwei nicht minder großen düsteren, sandarkischen Robotern. Der Mann in der Mitte wirkte durch das Löwenfell, das er trug, noch gefährlicher, die Mähne umrahmte sein Haupt und verwandelte ihn in einen Dämon. Die mächtige Keule aus Olivenholz hielt er in seiner Rechten, der Griff eines Schwertes war über seiner linken Schulter zu erkennen, ein Schild oberhalb der rechten. Den Speer hatte er nicht dabei, was Iphikles sofort registrierte. Eine Waffe, die man schleudern konnte, in den Händen seines Bruders konnte für ihn trotz der Wächter fatal sein. Der Gewaltige wirkte unbeherrscht und wütend. Iphikles, der bislang noch immer den Monitor betrachtet hatte, wandte sich auf seinem Drehsessel ihm zu, während Nisaya und Anwin, beide mit offenem Mund, bereits auf das Original starrten. Auf Nisayas Haupt und Schultern saß jeweils ein schwarzgrauer Vogel, auch die anderen Dohlen hatten sich im Raum platziert. Alkaios beachtete sie allerdings nicht, obwohl er Drohnen natürlich kannte; er hatte nur Blicke wie grelle Blitze für seinen Bruder, fletschte die Zähne und richtete seine freie Hand auf ihn.
„Du!“, schrie er wütend mit tiefer Stimme, die wie Donner grollte und ihre einschüchternde Wirkung auf Iphikles nicht verfehlte.
„Bleib stehen! Keinen Schritt näher!“, antwortete dieser mit fester Stimme.
Sofort packten die schwarzen Wächter Alkaios an den mächtigen Oberarmen und hielten ihn fest. Er wollte sich losreißen, musste aber feststellen, dass selbst seine gewaltigen Kräfte dafür nicht ausreichten. Die Dohlen flogen nun aufgeregt durchs Zimmer, aufgescheucht von ihrer ängstlichen Herrin.
„Du kannst mich nicht aufhalten, Bruder!“, grollte der wütende Gigant. „Das ist der Rat, den ich dir gebe: Übereigne mir Mesawa, das sowieso mir gehört und verschwinde! Dann werde ich dich vielleicht verschonen! Stellst du dich mir aber in den Weg, bedeutet das deinen Tod. Und du wirst leiden, das verspreche ich dir!“
Wie Wasser durch Kälte zu Eis wird, so verwandelte sich Iphikles Angst durch seines Bruders Worte, die ihn trafen wie Peitschenhiebe, in Wut und Entschlossenheit.
„Du bist nicht in der Position mir zu drohen! Diesmal nicht. Jeder dieser schwarzen Giganten an deinen Seiten kann dich mühelos zerreißen. Ein Befehl von mir genügt und sie werden es tun.“
„Aber du bist zu schwach und verweichlicht, um diesen Befehl zu erteilen, das weißt du!“ Ein höhnisches Lächeln umspielte Alkaios Lippen. „Du bist mir unterlegen, immer! Gegen mich bist du nur ein Wurm, den ich zertreten kann, wann immer ich will!“
„Genug!“, schrie Iphikles. „Ich kann dich nicht töten, das stimmt, weil ich nicht so werden will wie du. Aber ich kann verhindern, dass du Mesawa bekommst. Ich weiß, was du vorhast, dass du diesen Kontinent mit Blut übergießen willst. Viele Tausende werden sterben müssen, solltest du jemals in der Lagen sein, deine Pläne zu verwirklichen. Aber ohne Mesawa, ohne die Macht der Festung der Sandarken wird dir das nicht gelingen!“ Und nun wandte er sich an Talira: „Wirf ihn hinaus, vor die Mauern der Feste!“
Wie ein Berserker wand sich der Hüne in den Armen der schwarzen Monster, aber vergebens. Er brüllte seinen Zorn und Hass hinaus.
„Solltest du morgen noch auf Mesawas Territorium sein, geliebter Bruder, werde ich den Befehl geben, dich zu töten. Ich werde dir jede Grausamkeit heimzahlen, die du mir angetan hast!“ Und nach einer Pause ergänzte er, gerade noch rechtzeitig, bevor die Riesen den sich Windenden aus der Zentrale gezerrt hatten: „Und vielen Dank, dass du uns den Gleiter zurück gebracht hast. Triton wird sich freuen, dass wir ihm seinen zurück schicken können.“
Das Tor glitt hinter dem gewaltigen Mann zu. Das wütende Brüllen wurde leiser.
„Wirst du es wirklich tun? Wenn er hierbleibt und versucht die Mauern zu überwinden. Wirst du ihn umbringen?“, wollte Nisaya wissen, die von der Szene, die sich hier ereignet hatte, noch überaus aufgewühlt war.
Er nickte. „Ich habe keine andere Wahl, sonst tötet er uns alle. Ich weiß, dass es falsch ist, ihn ziehen zu lassen, denn er ist nachtragend und sadistisch. Nicht nur ich, auch ihr seid ab nun in höchster Lebensgefahr. Er wird mir nie verzeihen, dass ich ihn zu einem Fußmarsch zu seinem Königreich verdammt habe. Aber ich gönne ihm dieses kleine Ungemach ja so sehr! Wie sehr kannst du dir gar nicht vorstellen!“ Er grinste bis über beide Ohren.
***
Die Schleusen des düsteren Himmels hatten sich geöffnet, als sie die Grenze des Hochplateaus in den Schwarzen Bergen beinahe erreicht hatten, wie Strähnen floss der Regen über sie. Die Nässe drang längst bis an ihre Haut und ebnete den Weg für unangenehme Kälte. Das einzig Gute daran war, dass die tiefliegenden Wolken sie vor Sichtortung schützten; aber waren sie auch sicher vor Infrarotdetektion? Gjefren wusste es nicht.
Das Schlechte daran war, dass sie kaum ein paar Mannslängen weit sehen konnten. Der Wind zerrte nicht nur an ihrem Gewand und Haar; er trieb ihnen auch Tränen in die Augen, die ihnen zusätzlich die Sicht nahmen. Der Weg wurde schmäler als sie die Hochebene um Mesawa endgültig verließen; er verkam zu einem Pfad, der kaum noch zu erkennen war. Athaly, rittlings am Pferd, presste sich vor Kälte zitternd enger an Gjefrens Rücken, dem das keineswegs unangenehm war. Ihm war zwar so kalt, dass er die Nähe des Mädchens – oder sonst irgend etwas – kaum genießen konnte, wohl aber das bisschen Wärme, das sie ihm gab. Müde schritt der Rappen vor sich hin. Wie sie alle hatte er in letzter Zeit zu wenig geschlafen. Solange sie in der Ebene gewesen waren, hatten sie sich gefühlt wie auf dem Präsentierteller, der Rache der verrückten Hexe Salomene ausgesetzt. Mit dem Bergrücken und den Wolken hatte sich das gebessert; aber stattdessen machte sich eine andere, negative Ahnung breit. Athaly sprach sie als Erste aus.
„Wir haben uns verirrt. Das ist nicht der Weg, auf dem wir gekommen sind.“
„Ich weiß. Der Fluss fehlt. Wir hätten ihn inzwischen erreichen sollen.“
„Sollen wir zurück?“
„Ich weiß nicht. Das ist gefährlich. Je weiter wir von Mesawa weg sind um so besser.“
„Aber in den Bergen ist es auch nicht sicher, wenn wir uns nicht auskennen!“
„Ich weiß.“
„Was also sollen wir tun?“
„Ich weiß nicht.“ Sie ritten weiter. Nach einer Weile ergänzte Gjefren: „Einen Unterschlupf suchen, vielleicht. Abwarten bis das Wetter besser wird.“ Er wäre gerne Athalys Held gewesen, der mit einer genialen Lösung für jedes Problem aufwarten konnte, allzeit, aber ihm war zu kalt und er war zu müde, um in der Lage zu sein, Entscheidungen zu treffen. Außerdem hatte er das Gefühl, dass in der gegenwärtigen Situation jeder Entschluss der falsche sein würde.
Athaly nickte, zu mehr hatte sie nicht die Kraft. Gjefren konnte es nicht sehen. Das Pferd trottete weiter den steinigen Pfad entlang. Keine Höhle weit und breit, kein Ort, der ihnen Sicherheit bieten konnte. Stattdessen wurde der Hang rechts von ihnen immer höher und fiel nach links immer steiler ab. Mit dem Rappen konnten sie gar nicht mehr wenden.
„Es ist besser, wir steigen ab, gehen zu Fuß und führen das Pferd am Zügel“, hörte Gjefren sich sagen. Er hatte keine Lust, sich zu bewegen, aber er fühlte sich verantwortlich für Athalys Sicherheit und ein Fehltritt ihres Reittieres hätte zur Folge, dass sie den Hang weit hinunter schlittern würden, zweifellos weiter als er bei diesem Unwetter blicken konnte.
Athaly seufzte und gab Gjefren recht. Sie nahm die Hände, die sie um seine Mitte geschlungen hatte, von ihm und wandte sich der glitschigen Felswand zu, die bereits bedrohlich nahe und steil neben dem Pfad ins nebelige Nichts empor ragte. Unbeholfen, weil unterkühlt, stieg sie zwischen Wand und Pferd ab. Auf der sicheren Seite. Wenig später tat Gjefren es ihr gleich, wobei er die Zügel weiter in der Hand behielt. Nicht zu spät, konstatierte er, denn der Weg wurde zunehmend glitschig und die Felswand neben ihnen triefte. Athaly ging voran und gab das Tempo an, Gjefren und das Reittier folgten. Der Steig wurde steiler, Gjefren vermeinte eine gewisse Unruhe bei ihrem vierbeinigen Begleiter wahrzunehmen. War da nicht neben dem lauten Prasseln des Regens noch ein Geräusch gewesen? Auch Athaly hatte es gehört und sogar die Richtung ausgemacht, aus der es gekommen war und lauter werdend immer noch kam. Sie blickte nach rechts oben und schrie angsterfüllt auf. Für jede Reaktion war es bereits zu spät, eine Lawine aus Schlamm und Geröll traf sie voller Wucht, warf sie nieder und schwappte über sie hinweg und stürzte in die Tiefe. Dann wurde es dunkel um sie.
Schwach regte sich der Lebensfunke. Das Erste was sie hörte war ein beständiges Rauschen, durch das sich eine andere Wahrnehmung quälte: leise menschliche Stimmen. Dann setzte die Erinnerung schlagartig ein und die Empfindung von Schmerzen. Sie hatte nicht die Kraft sich zu bewegen, nicht einmal die Augen zu öffnen.
„Ich glaube, sie lebt noch“, hörte sie.
„Und der andere?“ Die Stimme war die einer Frau, die einer tieferen antwortete.
„Ist mindestens fünf Mannslängen hinab gestürzt.“
„Ja, schon. Aber er ist auf dem Pferd gelandet. Vielleicht hat das den Aufprall gedämpft.“
„Egal. Wir werden sehen. Wir werden später den Pferdekadaver holen. Zu viel gutes Fleisch, um es den Geiern zu überlassen. Es wäre besser, wenn er tot wäre. Weniger Scherereien.“
„Und das Mädchen?“
„Sie atmet, siehst du? Das ist gut.“
„Ja. Warum eigentlich?“
„Olar könnte sie statt seiner Ziege opfern. Das ist gut für ihn und gut für uns. Wenn wir sie ihm bringen, steht er in unserer Schuld. Er ist diesmal dran, das Opfertier zu spenden und du weißt doch, wie knausrig er ist, obwohl er die größte Herde hat.“
„Und seine Frau erst. Die hat die Knausrigkeit gar erfunden!“ Die Frau lachte.
„Was die beiden hier oben wohl verloren haben?“
„Verloren? Wie sollten sie hier etwas verloren haben? Sie waren doch noch nie da, oder?“
Ein Seufzer.
„Ich meine, was hat sie zu uns geführt? Zufall? Oder wussten sie von unserer Existenz? Wir werden sie befragen müssen bevor ...“
„Niemand darf von uns erfahren. Wir hätten sie sowieso … aber wir sind keine Mörder.“
„Richtig. Also danken wir dem Schicksal, dass jemand da ist, der das für uns erledigt. Los, ziehen wir sie da raus. Ich werde sie mir über die Schultern legen. Zum Glück sieht sie leicht aus.“
Sie wurde berührt, jemand zog an ihr. Sie spürte einen siedend heißen Schmerz, dann umfing sie abermals die Dunkelheit.
Als sie wieder erwachte, fühlte sie sich schrecklich. Wenigstens war es nicht mehr kalt. Sie hörte gedämpftes Murmeln, Menschen waren in der Nähe. Sie registrierte, dass sie auf der Seite lag, die Hände hinter dem Rücken. Sie bewegte sparsam Finger, Hände, Arme, dann Zehen, Füße und Beine, um zu kontrollieren ob sie noch ganz war und alles noch funktionierte. Ihr Körper war sicherlich voller Prellungen, Zerrungen und Abschürfungen, aber gebrochen schien nichts zu sein. Die Bewegung von Händen und Füßen war nur eingeschränkt möglich, der Verdacht überfiel sie, dass sie gefesselt war. Sie erinnerte sich des Gesprächs, dass sie vernommen hatte und war sofort voller Sorge um Gjefren. Offenbar war er den Abhang hinab gestürzt und vielleicht schwer verletzt. Erst dann überfiel sie die Erkenntnis, dass auch ihr eigenes Schicksal auf des Messers Schneide stand. Sie atmete tief ein und öffnete die Augen einen Spaltbreit. Ihr gegenüber saß ein bärtiger, massiger Mann, der in Felle gehüllt war. Im Hintergrund stand eine primitive Hütte vor der mehrere Erwachsene hockten, noch weiter dahinter Berge. Sie hörte auch Kinderstimmen und das Meckern von Ziegen. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne schien auf ihren Rücken und wohl deshalb war ihr auch nicht mehr kalt und die Kleidung inzwischen getrocknet, ebenso wie der Schlamm auf ihrer Haut.
„Sie ist zu sich gekommen“, sagte ihr Hüter laut genug, dass die anderen es vernahmen. Athaly öffnete die Augen ganz und versuchte einigermaßen erfolgreich sich in eine sitzende Position zu begeben. Jede Bewegung schmerzte. Die Männer und Frauen näherten sich ihr. Alle blieben vor ihr, was ihr ermöglichte zu versuchen hinter ihrem Rücken die Stricke zu lockern. Sie wartete nicht, bis man sie ansprach.
„Warum habt ihr mich gefesselt?“ Sie legte Vorwurf in ihre Stimme und warf den Menschen zornige Blicke hinter ihren Haarsträhnen entgegen.
„Warum! Warum! Damit du nicht fliehen kannst natürlich.“ Die Antwort kam von einem besonders großen Mann.
„Du bist Olar, richtig?“
„Stimmt.“ Der Sprecher schien verblüfft. „Woher kennst du meinen Namen?“
„Was ist mit meinem Begleiter? Lebt er? Ist er auch hier?“
„Ich habe eine Gruppe von Männern losgeschickt, um den Pferdekadaver zu holen. Es eilt, die Geier sind hier sehr schnell! Wenn sie zurück sind, könnte ich dir deine Fragen beantworten.“
„Könnte?“
„Du wirst dann leider nicht mehr am Leben sein.“ Athaly blickte ihn erschrocken an.
„Nimm's nicht persönlich. Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein. Aber entweder eine meiner Ziegen oder du. Die Ziegen sind unsere Lebensgrundlage. Also besser du, denn die Herde ist alles, was wir haben.“
„Nicht persönlich? Wie sollte ich sowas nicht persönlich nehmen? Lasst mich einfach gehen! Mich und meinen Gefährten.“
Er schüttelte den Kopf. „Wir sind entlaufene Sklaven.“ Er entblößte seine rechte Schulter und zeigte ihr das Brandmal. Sie kannte seine Bedeutung nur zu gut von Liara, deren Schulter das gleiche Mal trug. „Hier sind wir solange sicher, solange niemand von unserer Existenz weiß. Und deshalb darf niemand fort. Es heißt du oder wir.“
„So ein Unsinn! Ich würde euch nicht verraten und mein Begleiter auch nicht. Meine beste Freundin, Gefährtin meiner Kindheit, ist ebenfalls eine befreite Sklavin. Ich kenne auch weitere, die sogar Sklavenhändler überfallen und andere Sklaven befreien!“
„Das ist nicht unser Weg. Wir wollen in Ruhe leben, ohne Angst vor den Sklavenhändlern. Deshalb haben wir die Ziegen gestohlen und sind in die Berge geflohen. Einige von uns sind auf der Flucht gestorben. Krankheit und giftige Tiere haben ihren Tribut gefordert und auch Unachtsamkeit und die manchmal unbarmherzige Witterung. Aber das hast du ja selbst erfahren, wie schnell das Wetter umschlagen kann. Schließlich haben wir diese Hochebene gefunden, weit genug von den Übeln der Zivilisation entfernt, mühselig genug zu erreichen, sodass nicht einmal Sklavenjäger die Strapaze auf sich nehmen. Wir leben in Armut, aber wir sind frei. Oder fast.“
„Warum fast?“
„Weil die Ebene bereits Jagdgebiet eines riesigen Ungeheuers mit ledernen Schwingen war. Es lebt da hinten in der Höhle. Als ich sie mit zwei Freunden untersuchte, stand es plötzlich vor mir, ein gewaltiger Drache mit dolchlangen Zähnen, ebensolchen Krallen und schillernden Schuppen. Es wollte uns verschlingen. Da erbat ich, an unserer statt eine Ziege aus der Siedlungsherde zu verspeisen. Es verstand unsere Sprache! Alle drei Monde, so die Abmachung, mussten wir von nun an ein Tier in die Höhle bringen und an einem Pfahl festbinden, sonst würde sich das Monster auf uns und unsere Ziegen stürzen. Wir haben keine Wahl, aber unser Leben wird dadurch schwerer. Und nun bist du gekommen, gerade bei Vollmond. Ich bin zwar kein Drache, aber du siehst lecker aus. Ein bisschen Abwechslung wird das Ungeheuer zu schätzen wissen.“
„Ich bin unverdaulich! Du handelst nicht aus hehren Motiven, sondern weil du knausrig bist. Das denken auch die anderen über dich! Warum greift ihr das Ungeheuer nicht gemeinsam an und entledigt euch seiner?“
„Wir sind keine Krieger.“
„Ihr seid Feiglinge! Vor allem du!“ Athaly hatte das Gefühl, dass die Stricke, die ihre Arme hinter ihrem Rücken zusammen banden, bereits ein wenig lockerer saßen. Sie kämpfte die ganze Zeit gegen sie an. Zweimal war sie dem Mordversuch durch die Hexe entgangen; sie würde nicht hier sterben; nicht hier und heute. Und sie würde Gjefren retten, so wie er sie bereits zweimal. Sie hatte nur keine Ahnung wie, fühlte sich ohnmächtig.
Ein jüngerer Krieger, weit schlanker als Olar, hatte sie die ganze Zeit bereits lüstern angestiert, so auffällig, dass sie es trotz ihrer gefährlichen Lage bemerkt hatte. Angestarrt wurde sie von allen, abgesehen von den Kindern, die gelegentlich zu ihr hin blickten, um dann wieder miteinander zu spielen. Aber nicht so. Irgendetwas beschäftigte offenbar seine Phantasie.
„Ihr Kleid“, meinte er, „wird dem Drachen nicht schmecken und dann wir er wütend. Wir sollten es ihr ausziehen.“
„Versuchs!“, schrie Athaly zornig.
„Ihr könntet es sicherlich gut brauchen. Deiner Tochter Ile müsste es passen, Olar“, argumentierte er.
„Träum weiter, Darf“, meinte nun eine üppige Frau, vielleicht Olars Gemahlin, „das Kleid ist viel zu dünn, um hier in den Bergen nützlich zu sein.“
„Außerdem ist es abgetragen und schäbig“, meinte eine jüngere, „so was trage ich nicht.“
Schließlich meldete sich auch noch Olar zu Wort: „Die Ziegen habe ihr Fell an und das stört den Drachen nicht, da wird ihr dünnes Gewand auch nicht stören. Tut mir leid, Darf.“
„Du bist ein Lüstling, Darf!“, stellte die jüngere fest, „du solltest dich schämen.“
Der junge Mann lief rot an, eher aus Ärger denn vor Scham. „Was denn? Ich wollte dir bloß ein Kleid zukommen lassen. Sie braucht es ja nicht mehr.“
Athaly kämpfte darum, statt ängstlich wütend zu sein und zu erscheinen, trotz der Tränen, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. „Ich bin noch nicht tot! Wage es! Komm her! Ich beiße dir die hässliche Nase ab! Diese Diskussion ist idiotisch. Ihr lasst mich jetzt sofort frei, ist das klar?“
Ein weißbärtiger Mann meinte: „Fressen Drachen nicht nur Jungfrauen? Sie ist in männlicher Begleitung gekommen, wird also kaum mehr Jungfrau sein.“
„Das also auch noch! Echt jetzt? Müssen wir jetzt wirklich darüber auch noch reden? Aber natürlich hat der alte Mann recht. Der Drache wird sich betrogen fühlen und seinen Zorn an euch auslassen. Und wisst ihr was? Ich werde zusehen und lachen!“
„Es ist nicht gut, einen Menschen zu opfern“, äußerte sich der Alte mit einem vorwurfsvollen Blick zu Olar. Gab es wenigstens einen hier, dem sie nicht egal war, der sie sogar unterstütze? Falls dem so war, so hoffte sie, dass der Mann einflussreich war. „Und wenn schon, dann den Göttern und nicht einem Ungetüm“, fuhr er fort. „Ihr vernachlässigt die Göttlichen!“ Ihrer Hoffnung beraubt, sackte Athaly zusammen.
„Nimm dir ein Bier und lass uns in Frieden. Man merkt, dass du Hauslehrer warst.“ Und an Athaly gewandt, ergänzte er: „Aber kein guter, sonst hätten sie ihn nicht verkauft. Wir können dich nicht gehen lassen, also ist es das Beste so. Bringen wir es hinter uns.“
Er stand auf, ging zu ihr, löste die Fesselung ihrer Fußgelenke und zerrte sie hoch. Sie wehrte sich gegen den Griff an ihrem Oberarm, hatte keineswegs vor es ihm einfach zu machen. Aber sie war noch verletzt, spürte einen sehr schmerzhaften Stich in der Seite, schrie. Die Gegenwehr brachte sowieso nicht viel, er war viel stärker und ihre Hände hinter dem Rücken zusammen gebunden. So gab sie sich schließlich passiv, ließ sich aber nachschleifen. Das schien Olar aber kaum Mühe zu bereiten. Jedenfalls sagte er nichts. Zwei Männer schlossen sich ihm an, das Ekel Darf und einer, dessen Namen sie gar nicht wissen wollte. Es ging über eine grüne Wiese. An einem Pflock mit ehernem Ring stand angebunden eine Ziege. Sie weidete friedlich.
„War sie als Opfer ausersehen?“, wollte Athaly flüsternd wissen.
„Sieh es mal so: du hast ihr Leben gerettet. Für eine Weile zumindest.“ Darf lachte.
„Warum gebt ihr dem Drachen nicht Darf? Das wäre kein großer Verlust für eure Gemeinschaft.“ Diesmal sprach sie sehr laut und mit Ärger in der Stimme.
Olar lachte. „Da hast du recht.“ Darf blickte ihn zornig an. Und dann sie, was ihr eine gewisse Genugtuung verschaffte.
„Im Ernst. Ihr nehmt ihn als Drachenfutter, seid einen Widerling los und lasst mich frei.“ Vielleicht konnte sie davon profitieren, dass sie Zwietracht schürte. Den Versuch war es wert.
Olar ließ sich allerdings nicht auf ihr Spiel ein. „Wir könnten euch beide opfern. Vielleicht überfrißt sich das Monster und stirbt. Vielleicht genügst dafür aber auch du alleine. Du scheinst ein ziemlich giftiges Biest zu sein. Und jetzt sei ruhig, sonst muss ich dir das Maul stopfen.“
Athaly schwieg tatsächlich, aber nicht aus Angst vor Olar, sondern weil sie einsah, dass sie sich durch Reden nicht retten konnte und sowieso keine Lust hatte, sich mit ihren Henkern zu unterhalten.
„Warst du schon einmal in der Höhle, Darf?“, fragte der dritte Mann. Darf schüttelte den Kopf, immer noch griesgrämig blickend. „Dann verdanken wir die Ehre deiner Begleitung, der Tatsache, dass du zusehen willst, wie das Mädchen zerrissen wird?“
„Ist zumindest unterhaltsamer als bei einer Ziege“, grummelte Darf.
„Ha! Sobald der Drache auftaucht, wirst du Fersengeld geben. Das tun alle.“
Sie hielten auf einen gähnenden Höhlenschlund zu, einen Eingang in die Unterwelt. Athaly zuckte vor der zu erwartenden Finsternis zurück, Olar intensivierte den Griff um ihren zarten Oberarm. Sie betraten das düstere Felsenmaul und im Dämmerungsbereich konnte sie sehen, dass eine Fackel in den Boden gerammt war. Daneben lagen Feuersteine, die der Namenlose nun aneinander schlug, um Funken zu erzeugen. Die Fackel entzündete sich leicht, brannte fast ohne zu rußen; der Mann nahm sie in die Hand. Fasziniert sah Athaly zu, wie sich die Höhle im Nahbereich erhellte. Die Felsen wirkten abgeschliffen und feucht. Soweit Athaly sehen konnte, wurde der Bergschlund nicht schmäler und konnte bequem begangen werden. Der Boden war lehmig. Die Höhle ging leicht aufwärts statt bergab, wie sie erwartet hatte.
Sie setzten sich wieder in Bewegung, aus Faszination für die Höhle hatte Athaly ihren Widerstand vergessen. Es wurde rasch kühler, Athaly zitterte – wohl nicht nur wegen der Kälte. Das flackernde Licht erzeugte huschende, bedrohlich wirkende Schatten. Darf und der Mann mit der Fackel gingen voran, so sah sie, wie sich dem Ekel die Nackenhaare sträubten. Er hatte Angst. Gut. Sie auch. Schlecht. Der Untergrund wurde rauer und feuchter, sie waren gezwungen, ganz kleine, vorsichtige Schritte zu setzen. Die Wände mäandrierten ein wenig. Als Athaly zurück blickte, konnte sie den Höhleneingang nicht mehr sehen. Dann, plötzlich, erweiterte sich die Höhle zu einem unterirdischen Dom, in dessen Mitte ein Pfosten in den Boden gerammt war, mit einem ehernen Ring etwa in Hüfthöhe. Diese Felskuppel sollte, ginge es nach ihren Begleitern, ihr Grab werden. Panik überfiel sie ganz plötzlich, sie stemmte sich in den Boden, warf sich zurück und hoffte, Olar aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wegen des rutschigen Untergrundes gelang ihr das tatsächlich. Olar fiel nach hinten und fluchte, ließ sie aber nicht los, sodass auch sie zu Boden ging. Sie zappelte weiter wie ein Fisch an Land, versuchte ihm das Knie in Bauch und Gesicht zu rammen, damit er sie frei gab. Das Gesicht aber schützte er mit seinem massigen Arm, das Bauchfett wirkte dämpfend. Trotzdem stöhnte er.
„Darf, hilf mir! Halt das Biest fest!“
Der Angesprochen ergriff sie fest am zweiten Oberarm und zog ihn so grob nach hinten, dass er beinahe ausgekugelt worden wäre. Sie keuchte. Gemeinsam gelang es den beiden, das Mädchen zu bändigen und zum Pfahl zu zerren. Der Fackelträger nahm einen Strick, den er sich um die Leibesmitte gebunden hatte und überreichte ihn Olar. Mit dessen Hilfe band er die über Kreuz gefesselten Arme an den Metallring. Sie war wehrlos. Die Männer wichen zurück. Athaly sackte zu Boden, ihre Mähne hing ihr vor das Gesicht.
Ein rötlicher Schimmer erschien am Rande des Felsdoms, so hell, dass er Athalys Aufmerksamkeit selbst durch den Haarschleier erregte. Die Männer erstarrten.
„Verdammt! Wir waren zu laut“, flüsterte Olar. Das Echo seiner Stimme wogte hin und her. Dann erschallte ein häßlich-schleifendes Kreischen, wie Athaly es noch nie gehört hatte. Ihr Magen zog sich zusammen. Die beiden Quellen des rötlichen Lichts kamen näher, entpuppten sich als gewaltige Augen. Die Männer erwachten aus ihrer Starre „Lauft!“, schrie Olar und drehte sich um. Darf war schneller, hielt bereits auf den Ausgang zu, verfehlte ihn aber, durch das flackernde Licht der Fackel getäuscht, knapp, stieß gegen eine Wand und fiel mit einem Schrei auf den Lippen um. Er stand wieder auf und taumelte weiter, offenbar verletzt, hinter den anderen beiden her. „Wartet“, schrie er entsetzt, aber die beiden hörten ihn nicht oder wollten nicht; jedenfalls nahmen sie das Licht mit sich. Auch das Gejammer des Verletzten wurde leiser. Nur das Scharlachleuchten blieb. Während sie verzweifelt versuchte, ihre Fesseln zu lockern, warf sie ihr Haar nach hinten und blickte auf die sich nähernde Bestie.
***
Der Reiter und sein Rapphengst näherten sich vorsichtig dem Flusslauf. Der Mann suchte nach einer günstigen Passage, aber hier in dieser hügeligen Landschaft war das Gewässer tief und floss recht munter vor sich hin. Er stieg vom Pferd und nun wurde seine mächtige, geschmeidige Gestalt offenbar. Eine feine, nemedische Kettenrüstung umhüllte seinen Leib und seine Arme und Oberschenkel, Beinschienen aus kothischer Schmiede seine Unterschenkel. Ein nordischer Helm mit kurzen Hörnern schützte sein schwarzhaariges Haupt; einst mochte er den Kopf eines goldhaarigen Aesir bedeckt haben. An seinem breiten Gürtel hing ein gewaltiges, achwilonisches Breitschwert und um die linke Schulter den Rücken hinab eine zweischneidige, zingarische Streitaxt. Der graue Umhang, entstanden auf einem ophirischen Webstuhl, ließ sie frei und war daher nur an der rechten Schulter und linken Hüfte befestigt. Alles an seiner Kleidung war auf Effizienz ausgelegt, kein unnötiger Zierrat, wie er in den zivilisierten Ländern so beliebt war, bedeckte ihn. Auch die offensichtliche Wachheit seiner Sinne und die sparsamen, aber anmutigen Bewegungen seines Körpers verrieten, dass dieser Mann nicht in einem zivilisierten Land aufgewachsen war. Fast instinktiv nahm der Barbar alle Eindrücke der Umgebung wahr und machte sie sich bewusst; wie der Wind durch das Schilf strich, die Schreie der Häher, die ihm offenbarten, dass er nicht alleine war, ja selbst der Flug der Insekten war für ihn voller wertvoller Information. Der Krieger nutzte geschickt die Saumvegetation, um selbst nicht gesehen zu werden. Reiter und Pferd bewegten sich fast geräuschlos und folgten einem Wildwechsel flussabwärts. Dort, nicht allzu weit entfernt erspähte er eine Brücke, zwar nicht sehr breit, aber doch hinreichend, um mit seinem Pferd ans andere Ufer zu gelangen, wo eine mächtige, alte Erle stand, sonst aber nur Seggen und Gräser, die eine offene, gut einsichtige Fläche bedeckten. Die Brücke wirkte bereits ziemlich verfallen; er musste sie genau inspizieren, bevor er sicher sein konnte, dass auch sein Rappe wohlbehalten zur anderen Seite gelangen konnte.
Genau aus jener Richtung, in der sein Ziel, die Bergfestung Mesawa, liegen sollte, trat nun aus dem Schatten der Nadelbäume eine beeindruckende Gestalt hervor: Fast übermenschlich hochgewachsen und breitschultrig wirkte er durch die Mähne des Löwenfells in das er gehüllt war, noch gewaltiger und es schien als blicke sein Haupt aus dem Maul der riesigen Raubkatze. In seiner Rechten hielt er eine beeindruckende Keule aus einem Holz, das der Reiter von seinen Abenteuern in den südlichen Ländern kannte. Über seine linke Schulter ragte der Griff eines Schwertes und in der Linken ruhte ein rechteckiges Schild. Dass er es nicht geschultert hatte, zeigte ihm, dass auch er wusste, dass er nicht alleine war. Jetzt blickte er in seine Richtung und die verzerrten Züge seines Gesicht verrieten Blutdurst. Vernünftig wäre es gewesen, in den Sattel zu steigen und das Weite zu suchen, aber Granoc der Barbar und durch das Schwert König von Achwilonien, war noch nie einer Konfrontation ausgewichen. Und er hatte schon einmal eine vergleichbare Herausforderung meistern müssen: Kostral, der eherne Mensch war damals sein Widerpart gewesen. Auch hier musste er mehr auf Schläue denn auf Kraft und Schnelligkeit zählen. Damals war er ein junger Mann gewesen, etwa in dem Alter, in dem sich der Mann befand, der auf der anderen Seite des Flusses auf die Brücke zuhielt. Gleichzeitig kamen sie dort an, jeder auf seiner Flussseite. Fast bedächtig legte der Barbar die Zügel seines Pferdes um den Brückenpfosten, band sie aber nicht an. Dann betrat er die ein wenig morschen Bretter. Die Brücke war stabiler als sie aus der Entfernung gewirkt hatte. Auch der andere Mann kam nun, seine Haltung drückte Wut, Mordlust und Siegesgewissheit aus. Offenbar fieberte er dem Kampf entgegen. Er war größer und stärker als der ohnehin schon mächtige Barbar, fast unmenschlich schnell und völlig unfähig mit der ungewohnten Niederlage umzugehen, die ihm sein Bruder noch an diesem Tag beigebracht hatte. Er hatte zudem den Vorteil der Jugend auf seiner Seite. Finster betrachtete er den anderen, der sich ihm furchtlos näherte, aus tiefliegenden, dunklen Augen. Er war es gewohnt, Angst im Blick anderer zu sehen, aber im blauen Augenpaar seines Gegenübers sah er nichts dergleichen, nur die Gewissheit des Kämpfers, dass einer von ihnen die Brücke nicht lebend verlassen würde. Dieses ruhige, unbeeindruckte Wesen, das das narbige Gesicht des Fremden widerspiegelte, war der Grund, warum er nicht sofort angriff. Beide blieben stehen.
„Du musst Alkaios sein“, begann der Kimerier, „Ich habe schon viel von dir gehört. Nur Gutes natürlich.“ Er lächelte zynisch.
„Ich bin der König von Askhauran und ich nehme mir dein Pferd.“
„Wenn du der König von Askhauran bist, dann bin ich der von Achwilonien. Und den Hengst brauche ich selbst.“
„Mann!“, grollte der Gigant, „dann wirst du sterben, so wie alle, die sich mir jemals widersetzt haben. Ich bin unbesiegbar, alter Mann, ich bin stärker und schneller als du!“
„Stimmt. Aber du bist ein Dummkopf. Die dich näher kennen, behaupten das zumindest. Alle willst du besiegt haben? Hast du je gegen einen ehernen Menschen der Festung Mesawa gekämpft?“
„Das sind Dämonen, keine Menschen!“
„Nun, ich habe einen von ihnen in die Schranken verwiesen. Und ich habe dabei sogar auf meine Streitaxt verzichtet, so wie ich es auch jetzt wieder tun werde.“ Er griff routiniert in einer fließenden Bewegung nach der Axt. Sein Widersacher hob daraufhin sein Schild und der Kimerier schleuderte die Waffe nach vorne; sie kam aber nicht einmal in die Nähe seines Gegners und verschwand in einem Astloch der großen Erle, wo sie sich mit einem dumpfen Laut ins Holz fraß.
Hatte der Fremde gehofft, seine, Alkaios, Aufmerksamkeit abzulenken und damit einen Überraschungsangriff möglich zu machen? Wie naiv! Er machte sich nicht die Mühe, der Waffe nachzublicken, seine Augen blieben auf den Barbaren gerichtet, der nun langsam näherkam, in der Hand bereits sein Breitschwert. Er schien auf etwas zu warten.
„Du bist ein unglaublicher Narr, Fremder! Was für ein selbstmörderischer Angeber“. Alkaios, nun deutlich besser bewaffnet als sein Widerpart, lächelte höhnisch. „Aber wenn du mir die Aufgabe einfacher machen willst, ist das deine Sache.“ Er hielt den Schild vor sich und hob die Keule. Granoc wich ein wenig zurück, schaute vorsichtig – abwägend – auf Abstand. Er hörte. Dann, kurz vor dem Angriff des Alkaios, kam die Armada, für jenen völlig überraschend, nicht jedoch für Granoc. Wütende, wild gewordene Hornissen stürzten sich aus ihrem durch die Axt beschädigten Nest auf die beiden Antagonisten, auf den bewegten, näheren, zuerst. Viele attackierten das Fell der Raubkatze, einige aber fanden Alkaios Gesicht und stachen empört zu und lenkten ihn damit für einen Moment ab. Mehr brauchte der Barbar nicht. Wie eine Kobra fuhr er auf den Gewaltigen zu, ergriff den Oberrand des Schildes, zog sich heran und stach mit dem schweren Schwert in den für einen Schrei des Erstaunens geöffneten Mund seines Widersachers, mit derartiger Wucht, dass Zähne splitterten und die Spitze der Waffe hinten im Nacken blutig wieder heraustrat. Die Faust mit dem Keulengriff traf den Kimerier noch am Kopf, aber der Helm verhinderte Schlimmeres. Dann, ohne zu zögern und bevor ihn der massige Körper des nach vorne stürzenden Königs von Askhauran unter sich begraben konnte, warf sich der Barbar in Fließrichtung in den Fluss, um weiteren Attacken der Hornissen zu entgehen. Nur drei Stiche hatte er abbekommen.
Er tauchte, die Hände schützend vor das Gesicht haltend, denn das Wasser war dunkel und huminreich. Später ließ er sich an den Rand treiben und spähte zurück. Der Hengst, den er absichtlich nicht angebunden hatte, floh sich wild aufbäumend vor den angreifenden Insekten. Ein ganzer Schwarm folgte ihm; ein bedauerlicher Kollateralschaden seiner Handlungsweise. Das Pferd hatte er wohl verloren; es würde weiter fliehen, solange seine langen Beine es trugen. Granoc legte sich am Ufer in die Sonne und wartete, bis seine Kleidung getrocknet war. Inzwischen war genug Zeit vergangen, die Hornissen hatten sich beruhigt, besichtigten den Schaden und begannen mit der Wiederherstellung ihres Nests. Schon lange bevor der Kimerier auch nur in die Nähe der großen Erle gekommen war, hatte er bereits am Flug der gefährlichen Insekten, die mit Beute heim strebten, erkannt, wo sie ihr Zuhause hatten. Ein Mensch aber, der die Natur ignorierte, konnte das nicht wissen und so war der Sohn der Hexe Salomene überrascht worden. Granoc wusste, wie erstaunlich verkümmert die Sinne der zivilisierten Menschen waren und hatte bald erkannt, dass sein Gegner trotz übermenschlicher Kraft und Schnelligkeit in dieser Hinsicht unbedarft war. Und er hatte dieses Wissen ausgenutzt.
Wo die Hornissen zugestochen hatten, war sein Gesicht angeschwollen; die Stellen schmerzten, aber er hatte bereits viel Übleres erlebt. Aus Erfahrung wusste er, dass die Pein etwa den vierten Teil eines Tages anhalten würde; auch in den düsteren Wäldern der kimerischen Berge gab es die übergroßen Wespen und nicht jede Mutprobe der Jungen war ohne Stiche abgegangen. Er stand auf und näherte sich ohne Eile der Brücke, betrat sie schließlich. Da lag der gefällte, unglaublich muskulöse Riese in einer Blutlache beeindruckenden Ausmaßes. Starre Augen blickten vorwurfsvoll in die Richtung des Kimeriers, als er den Griff seines Breitschwertes in die Hand nahm und langsam zog. Die Waffe löste sich nicht ohne Mühe. Der Barbar reinigte sie an einer unblutigen Stelle des Löwenfells, hielt sie ins Flusswasser und säuberte sie nochmals, bevor er sie in die Schwertscheide zurück schob. Dann befreite er die Keule aus den Fingern des Anderen. Er wollte sie behalten, gleichsam als Trophäe, denn als Waffe war sie für ihn wertlos; nicht einmal er konnte sie rasch genug schwingen. Er legte sie zur Seite und beförderte den Leichnam in das Gewässer ohne sich selbst mit Blut zu beflecken, sah zu wie er forttrieb und schließlich langsam in den Fluten versank; die dunkle Blutlache blieb.
Granoc, der Barbar, blickte sich um. Der Hengst war, wie erwartet, nicht zurück gekehrt. Die Axt ruhte im Holz der Erle. Er hatte nicht das Bedürfnis sie sich wieder anzueignen, denn dazu müsste er das Nest ausräuchern. Was nun? Er war aufgebrochen, um in Erfahrung zu bringen, welche Gefahr eben jener Mann, den er gerade umgebracht hatte, für sein Königreich, für Achwilonien, bedeuten mochte. Eigentlich war seine Mission erfüllt, der Gegner tot. Aber er war neugierig. Offenbar musste sich etwas Unvorhergesehenes ereignet haben, das den Sohn der Hexe dazu gezwungen hatte, ohne seinen geflügelten Dämon Mesawa den Rücken zu kehren. Er war wohl in Richtung Askhauran unterwegs gewesen, zurück zu seinem Königreich. Aber was war in der Feste der ehernen Menschen geschehen? Bevor er sich wieder in die Rolle des Königs von Achwilonien fügen musste, bevor er verkünden konnte, die Bedrohung sei gebannt, wollte er das herausfinden. Also schulterte er die Keule und ging in die Richtung los, aus der sein Gegner gekommen war, dankte im Vorbeigehen seinen gekerbten, geflügelten Mitstreitern, die nun wieder mit ihrem Tagesgeschehen beschäftigt waren und tauchte bald in den Nadelwald ein. Zurück ließ er eine nun friedliche Lichtung, zufriedene Fliegenschwärme, die sich auf das geronnene Blut stürzten und ebensolche Hornissen, die gelegentlich einen der fetten Brummer erbeuteten.
***
Wie Rubine in einer Ebenholzfassung wirkte das Augenpaar, das langsam, aber beständig näher kam. Athaly bewegte wie wild ihre Unterarme, soweit es ihr eben möglich war, um sich doch noch aus ihrer Fesselung befreien zu können. Währenddessen blickte sie fasziniert auf die riesigen, rot leuchtenden Augen, die sich nun unzweifelhaft auf sie richteten. Als sie näherkamen, zog sich deren Iris zusammen und offenbarte so, dass sie senkrecht geschlitzt waren, wie die einer überdimensionierten Katze. Aber die Konturen, die sich langsam aus der Dunkelheit schälten, waren ganz anders, wenngleich ohne Zweifel raubtierhaft. Unter den Lichtern konnte sie jetzt bereits ein Maul voller fingerlanger, sichelförmiger Zähne ausmachen und sie hörte den schweren Atem einer riesigen Kreatur. Der zu erwartende Fäulnisgestank blieb aber aus. Athalys Herz flatterte wie die Flügel eines Nachtfalters und sie hoffte, das Riesenvieh würde sich langsamer nähern, denn inzwischen hatten sich ihre Fesseln tatsächlich etwas gelockert. Konnte sie das Monster irgendwie ablenken? Hatte Olar nicht behauptet, es könne sprechen?
„Ich schmecke schlecht“, piepste sie. Jetzt konnte sie auch noch die langen, scharfen Krallen der Vordertatzen ausmachen, die wirklich beängstigende Ausmaße hatten. Der Drache entfaltete seine mächtigen, ledrigen Schwingen, deren Flughaut matt bläulich leuchtete. Damit aber wurde die ganze Kreatur auf einmal sichtbar, der gewaltige Kopf mit Nackenschild, der mit langen, schwarzen, spitz zulaufenden Schuppen bedeckte, schlanke Körper und der stachelbewehrte Schwanz, alles in dem dunkelbläulichen, saphirnen Schein. Das Tier wirkte zwar bedrohlich aber gleichzeitig auch wunderschön; kraftvoll und sowohl geschmeidig als auch gewandt, die Hinterbeine etwas länger als die vorderen, die ausgebreiteten Flügel reichten beinahe von einer Höhlenwand zur anderen. So ein Geschöpf hatte Athaly noch nie gesehen. Schade nur, dass es ihr letzter Anblick sein würde; davon ging sie nun aus, obwohl ihre Fesseln endlich so locker saßen, dass sie mit einiger Anstrengung in der Lage sein sollte, hinauszuschlüpfen. Aber es war zu spät, das Ungetüm zu nahe. Pech. Unruhig und schlangengleich wand sich der Schwanz des Drachen.
„Du bist keine Ziege!“, grollte das Wesen mit tiefer Stimme.
„Ähhhh – nein? Nein. Und ich schmecke schlecht, wie gesagt. Ich habe in letzter Zeit nur scharfe Sachen gegessen.“
„Menschen“, sinnierte die Kreatur, „haben einen widerlich süßlichen Geschmack und sind auch sehr schwer zu verdauen. Man kann sich dann tagelang nicht rühren, wenn man einen isst. In Notzeiten kann man sich das ja antun. Ist draußen eine Hungersnot ausgebrochen?“
„Nein! Nein. Da gibt es Ziegen in Hülle und Fülle. Olar ist bloß knausrig. Er wollte lieber mich opfern als eines seiner Tiere.“ Eine Träne presste sich aus ihrem Augenwinkel und lief die Wange hinab.
„Für einen Menschen siehst du eigentlich schon recht lecker aus ...“, überlegte die Bestie.
„Tagelange Bauchschmerzen? Ist es das wert? Lass mich gehen und ich bringe dir die versprochene Ziege.“
„Hm. Kann ich dir trauen?“
„Aber ja doch! Ich lüge nie“, log Athaly und versuchte vertrauenerweckend auszusehen. Das Monster legte den gewaltigen Kopf schief. „Ehrlich!“, ergänzte sie.
„Aber du kannst nicht fort, weil du gefesselt bist. Wenn ich dir einen Unterarm abbeiße, bist du frei und ich hätte auch gleich eine Kostprobe. Wir würden beide profitieren.“
„Es hat keinen Sinn, dass du dir den Appetit verdirbst. Denk an die Ziege! Und wenn du mir noch ein bisschen Zeit gibst, habe ich mich selbst befreit. Da, sieh!“ Sie wand sich wie ein Schlangenmensch, atmete einmal kräftig aus, schüttelte, zitterte mit dem rechten Arm und zog. Schon war er frei. Sie hatte nicht vor, dem Geschöpf den Rücken zuzukehren, also ging sie an dem senkrechten Pfahl seitlich vorbei. Jetzt hatte sie sowohl den Drachen als auch den Metallring und ihren linken Arm im Blick und konnte das Seil endgültig abstreifen.
„So. Siehst du, ich bin frei. Wenn du erlaubst, hole ich dir jetzt deine Ziege. Das muss ich, denn sonst glaubt dieser Olar, er kann dir in Zukunft alles vorsetzen.“
„Du hast recht, er hat sehr respektlos gehandelt. Respektlos.“ Das Wesen ließ sich das Wort auf der schwarzen, gespaltenen Zunge zergehen. „Das macht mich traurig. Und auch ein bisschen wütend. Könntest du ihm das ausrichten? Dass ich ziemlich wütend bin? Wenn er will, dass es sein Dorf auch morgen noch gibt, sollte er sich in Zukunft besser an die Abmachungen halten. Sagst du ihm das?“
„Oh ja! Mit dem allergrößten Vergnügen!“ Sie ging rückwärts langsam auf den Ausgang zu.
„Findest du dich zurecht? Ohne Licht?“
„Ich brauche nur mit der Hand eine Wand des Ganges berühren und dann immer weiter gehen. Es gibt ja keine Abzweigungen, ich kann mich nicht verirren.“
„Gut. Ich warte.“
Kaum hatte sie die Wand berührt, drehte sie sich um. „Ich bin gleich wieder da!“, rief sie noch. Dann ging sie los. Der azurne Schein des Drachens verblasste und Dunkelheit erwartete sie. Am Anfang war der Untergrund ziemlich glitschig und sie musste aufpassen, dass sie nicht ausrutschte. Aber sobald sie den Lichtschimmer des Ausgangs wahrnahm, wurde der lehmige Boden auch trockener und sie wagte nun schneller zu gehen. Die Fackel war da, wo sie sein sollte, in den Boden gerammt und gelöscht. Sie ging vorbei ins Tageslicht, von dem sie angenommen hatte, dass sie es nie wieder zu Gesicht bekäme. Sie atmete tief ein. Erleichterung erfasste sie. Die Schatten waren kaum weitergewandert. Ihr Aufenthalt in der Höhle war ihr unendlich lange vorgekommen, tatsächlich aber war nur sehr wenig Zeit vergangen. Sie blickte hinab ins Tal, das von einem Bach durchflossen wurde, der unweit des Höhleneingangs entsprang. Die Siedlung bestand aus nur wenigen, runden Hütten mit Wänden, gefertigt aus Steinen; die gab es hier genug, während Holz von weiter talwärts hierher gebracht werden musste. Am Ende des Gerölls und am Rand der Weide stand immer noch die Ziege, angebunden am Pfahl. Ein Mädchen war bei ihr, wohl um sie zu befreien. Beim Näherkommen erkannte Athaly, dass es sich um die schöne Ila handelte; ihr Vater war offenbar zu faul gewesen, den Strick des Tieres selbst zu lösen. Trotz des unebenen Untergrundes war Athaly rasch bei ihnen. Ila blickte auf und quiekte.
„Erschrocken? Weil ich noch lebe? Und frei bin?“
„Aber der Drache. Hat er dich nicht gefressen? Darf ist schwer verletzt, weil er von dem Monster angegriffen wurde!“
„Darf ist verletzt, weil er zu blöd ist, geradeaus zu gehen! Er ist gegen einen Felsen gerannt. Und sicherlich hat er sich aus lauter Angst in die Hose gemacht. Das ist auch schon alles. Aber der Drache ist wirklich fürchterlich wütend. Er sagt, dein Vater lässt es ihm gegenüber an Achtung missen. Er wird euch nicht fressen, denn er mag Menschenfleisch nicht besonders. Aber töten wird er euch alle! Und dann werden euch die Geier verspeisen! Ha! Und ich werde zusehen!“
Nun weinte Ila. „Aber wir konnten doch nicht wissen, dass er Menschenfleisch nicht mag! Das ist doch nicht unsere Schuld. Was ist denn so schlecht an Menschen?“
„Man bekommt Aufstoßen davon. Und Schlimmeres. Dem Drachen ist dann tagelang übel. Wie konntet ihr nur“, fragte sie vorwurfsvoll, womit sie weniger die Zumutung gegenüber dem Drachen meinte als vielmehr die Leichtfertigkeit, mit der alle hier sie geopfert hätten. Ila blickte entsetzt, aber Athaly hatte kein Mitleid mit dem Mädchen, ihr gegenüber verspürte Olars Tochter offenbar keinerlei Empathie. Vielleicht war sie eine geeignete Partnerin für Darf, der jetzt allerdings noch hässlicher geworden war, mit gebrochener Nase. Und ein oder zwei Vorderzähne würden wohl auch fehlen. „Aber vielleicht kann ich die Bestie besänftigen“, fuhr sie fort. „Obwohl ihr das wirklich nicht verdient habt, ihr seid ein widerliches Pack. Ich bringe dem Drachen jetzt die Ziege.“ Und um Widerworten zu entgehen ergänzte sie: „Oder willst du?“
Entsetzt schüttelte Ila ihr Haupt, sodass die brünetten Locken wirbelten.
„Na gut, dann mache ich das, aber davor verrätst du mir noch, was mit meinem Gefährten geschehen ist. Ist er inzwischen im Dorf? Wie geht es ihm?“
„Ich weiß nicht. Wirklich nicht! Die Leute, die mein Vater losgeschickt hat, sind noch nicht da.“
Athaly machte einen Schritt auf das Mädchen zu und da floh sie hinab in die Hochebene. Athaly war bang aus Sorge um Gjefren. Sie hatte auch nicht vergessen, dass sie immer noch in Lebensgefahr war, auch wenn sie der Drache verschont hatte, vorerst zumindest. Die Bewohner des Tals blieben jedenfalls gefährlich für sie.
Sie hatte ein Versprechen abgegeben und so sehr ihr auch vor der Bestie graute, würde sie es doch halten. Denn, wenn nicht, war nicht nur das Leben der Siedler in Gefahr, sondern auch ihr eigenes würde von dem Untier wohl kaum verschont bleiben. Also streichelte sie das Haupt der Ziege, flüsterte in ihr Ohr: „Tut mit leid“, und band sie los. Den kurzen Strick nahm sie in die Hand und führte sie so langsam den Hang hinauf. Das Geröll schien dem braunfelligen Tier keine Schwierigkeiten zu bereiten, Ziegen waren sehr geschickt. Athaly streichelte sie gelegentlich am langen Hals; es war ein friedliches Tier. In der Steppe bei den Shwakara hatte sie auch andere Exemplare kennen gelernt. Sie fühlte sich wie eine Verräterin, weil sie das Tier seinem sicheren Tod zuführte.
Endlich hatten sie den Höhleneingang erreicht. Sie band den Strick um ihren Knöchel und entzündete die in den Boden gerammte Fackel recht rasch und geübt mit den Feuersteinen. Sie nahm sie in die Rechte, während sie mit der Linken das kurze Seil wieder losband und festhielt. Hell loderte die Flamme und wies ihr den Weg. Kühle, feuchte Luft umfing sie, aber die Fackel wärmte. Die Ziege folgte ihr willig, was sie erstaunlich fand. Abermals musste sie vorsichtig gehen, als der Untergrund feuchter und glitschiger wurde. Diesmal schien ihr der Weg kürzer zu sein und bald schon stand sie wieder am Eingang zum Felsendom und tatsächlich wartete dort die wehrhafte Kreatur. Erstmals weigerte sich die Ziege weiterzugehen, der Anblick war ihr nicht geheuer. Im Fackellicht wirkte der Drache nicht ganz so groß, sein schuppiges Haupt mit dem Nackenschild hielt er am langen Hals so, dass sich sein rotglühendes Augenpaar in gleicher Höhe mit dem ihren befand. Die Beine hatte er angezogen und die Flügel gefaltet. Der lange, stachelbewehrte Schwanz bewegte sich unruhig. Alles in allem maß er vielleicht drei Manneslängen. Das helle Licht schien ihn zu stören. Er zog die Nickhaut vom inneren Augenwinkel nach außen. Athaly wusste nicht, ob sein Anblick mehr Angst oder Bewunderung in ihr auslöste, denn trotz der Größe wirkte er schlank und elegant. Wenn bloß die langen Zähne nicht wären!
„Da bin ich wieder“, sagte sie mit fester Stimme, „mit Ziege. Was jetzt, Drache?“
Kurz schien das Wesen zu zögern. Aber schließlich hatte es wohl eine Entscheidung getroffen. „Eigentlich bin ich kein Drache, sondern eine Harpyie. Aber die kennt man auf diesem rückständigen Kontinent ja nicht, also ist 'Drache' wohl auch okay.“ Er musterte sie kurz, dann die Ziege. „Du könntest mir einen Gefallen tun.“
„Welchen denn?“ Sie registrierte das Wort 'Kontinent', das ihr dank Gjefren ein Begriff war.
„Hebe die Fackel etwas höher!“, befahl er und Athaly tat es. Dann wies er mit einer Pranke in ein bestimmtes Eck des Felsendoms und da erkannte sie eine besonders dunkle Stelle an der Wand. „Das ist der zweite Eingang. Er führt hinauf in ein weiteres Tal. Dort bring bitte die Ziege hin. Ich werde euch folgen.“
Daraufhin ging Athaly mit sträubender, ängstlich meckernder Ziege vorsichtig an der Bestie vorbei, die aber ganz friedlich blieb. Das Mädchen beleuchtete den Eingang, der viel schmäler war als der andere. Sie wunderte sich darüber, wie der Drache ihn verwenden konnte. Aber eigentlich konnte ihr das egal sein, sie folgte dem Höhlenpfad, der leicht bergauf ging, bald etwas breiter wurde. Schatten bewegten sich im unruhigen Fackellicht, sodass sie das Gefühl hatte, von Geistern umgeben zu sein. Sie hörte auch ein Wispern, die Stimmen Verstorbener? Aber bald merkte sie, dass ihr ihre Phantasie einen Streich gespielt hatte, es war eigentlich ein Rauschen, erzeugt durch bewegtes Wasser. Jetzt ging es kurz bergab und dann stand sie an einer Stelle, an der ein Bach im Fels verschwand. Es musste sich wohl um jenen handeln, der auch durch die Hochebene der Siedler floss. Von nun an blieb er ihr Begleiter, während sie weiter bachaufwärts wanderte. Manchmal wurden ihre Sandalen und Füße nass, weil die Wände so nahe kamen, dass sie nicht mehr neben dem Gewässer gehen konnte. Dort musste sie achtgeben, dass sie nicht ausglitt, ein paar Mal verlor sie beinahe das Gleichgewicht. Die Ziege hielt sich besser. Öfter blickte Athaly zurück, aber vom Drachen war nichts zu sehen.
Langsam wurde es hell, der Ausgang näherte sich endlich. Ihr war trotz Fackel bereits empfindlich kalt geworden, nasse Füße waren da nicht besonders hilfreich. Bald schon trat sie ins makellose Blau eines wolkenlosen Tages und bewunderte das saftige Grün, das den Bach säumte. Aber auch weiter vom Gewässer entfernt spross die Vegetation üppig, Gräser und Kräuter wuchsen hoch. Sie löschte die Fackel, legte sie neben den Eingang und ging um einen Felsen herum. Da stand der Drache in all seiner erschreckenden Pracht; offenbar musste es noch einen weiteren Weg hierher geben. Dahinter aber weideten Ziegen, genauso wie in der darunterliegenden Ebene. Rund um den Standort der Herde war die Vegetation natürlich viel kürzer. Erstaunt stellte Athaly fest, dass es auch abgezäunte Felder gab, in denen Pflanzen wuchsen, die sie nicht kannte. Merkwürdige Kreaturen bewegten sich dort, die sie an riesige Krabben erinnerten, Tiere, die sie von ihren Wanderungen mit Tethathon an den Stränden der Wilahet-See her kannte, wo sie über von der Brandung zerfressene Felsen liefen. Hier aber schienen sie sich um die Ernte eines mehr als mannshohen Grases zu kümmern. Dahinter aber, unter einer gewaltigen felsigen Einbuchtung stand etwas, das groß war wie eines der mehrstöckigen Häuser, die sie in bedeutenden Städten gesehen hatte. Nur ähnelte es keinem Bauwerk, das sie kannte. Hatten Menschen es errichtet? Oder Götter? Oder war es gar der Horst der Harpyie? Zum Teil bestand es aus einem spiegelnden Material, wie eine Wasserfläche nur senk- statt waagerecht. Vielleicht gewaltige, geschliffene Kristalle? Wer Mesawa gesehen hatte, wunderte sich auch darüber nur ein wenig.
„Du kannst die Ziege nun loslassen“, meinte der Drache. „Sie wird von selbst zur Herde finden. Einige der Tiere kennt sie sicherlich von früher.“
„Kennt sie?“, wiederholte sie.
„Ziegen erkennen einander an individuellen Unterschieden im Gesicht und der Stimme, genauso wie Menschen auch.“
„Dann hast du sie gar nicht gefressen. Du hast sie hierher gebracht“, stellte sie erstaunt fest. 'Aber wie?', dachte sie.
„Du sagst es. Geh zu dem Gebäude, das unter dem Berg steht.“ Der Drache, der eigentlich eine Harpyie war, wies zu dem merkwürdigen Bauwerk. Dann war er auf einmal verschwunden. Athaly war zunächst sehr verwirrt, aber dann erinnerte sie sich an Talira in der Feste Mesawa, die sich ebenso eigenartig benommen hatte. Gjefren würde wissen, was hier gespielt wurde. Was immer es auch war, es war Teil seiner Welt, nicht ihrer. Vielleicht konnte sie hier Hilfe finden. Gjefren war zumindest verletzt und sicherlich in Lebensgefahr. Das schuppige Wesen war jedenfalls nie unfreundlich zu ihr gewesen, wenn man einmal von dem Vorschlag absah, ihren Unterarm zu fressen. Kurz blickte sie zurück, aber dann folgte sie dem einzigen Pfad, der zunächst in Bachnähe verlief, dann aber in Richtung des Harpyienhorstes. Sie ging eine ganze Weile, das Tal war erstaunlich lang. Zuletzt wurde der Weg breiter und bestand nun aus Pflastersteinen, die ein bequemes Gehen ermöglichten. Sie schritt schnell aus und stand bald vor der schillernden Behausung unter dem Felsen. Ein Eingang bildete sich, indem eine Tür aus festem, senkrechten Wasser zur Seite glitt. Sie aber blickte zurück und erkannte erst jetzt wie hoch oben über dem Tal das Bauwerk, das tatsächlich ein Haus oder Horst war, stand. Von hier aus konnte sie weit blicken, bis hin zur Steppe, die der Lebensraum ihres Stammes war. Näher, aber auch noch sehr weit entfernt, war die Festung Mesawa zu erkennen, das Auge in üppigem Grün. Auch die Hochebene war zu sehen, durch die Gjefren und sie erst unlängst gewandert waren und vor der Hexe geflohen. Die freie Sicht auf das Tal Olars, wie sie es bei sich nannte, war hingegen durch jene Bergzacke genommen, in der die Höhle verschwand, durch die sie gewandert war. Irgendwo dahinter war Gjefren, ihr Begleiter. Was tat sie hier? Sie sollte bei ihm sein. Aber sie musste Hilfe gegen die Dorfbewohner finden.
***
Zeus Kronion, der Ordner der Welt, war enttäuscht. Alle Versuche mit Askhaurans Herrschern Kontakt aufzunehmen, waren gescheitert. Gut, Reja hatte er mitten in der Steppe stehen gelassen, aber das war notwendig gewesen, ziemte es sich doch nicht für eine Sterbliche, ihn warten zu lassen; schon gar nicht, wenn seine liebliche Frau im 'Anmarsch' war. Er hatte Reja gewarnt. Durchaus möglich, dass sie trotz der Mobilität des Kampfanzugs das Königreich noch nicht erreicht hatte. Aber auch ihrer beider Sohn, der mächtige Alkaios, verwehrte ihm das Gespräch. Er hatte gedacht, es wäre ihm gelungen, ihn von der Bedeutung seines Vorhabens zu überzeugen. Die Dekadenz der Menschheit abzuschütteln und ein eigens Imperium zu schaffen. Macht und Anbetung in einem sogar dem Donnergott unbekannten Ausmaß! Nun gut, sie hatten offenbar ihre eigenen Ziele; mochten sie mit ihnen glücklich werden. Er bedurfte ihrer nicht wirklich.
Der Gleiter näherte sich den schneebedeckten Höhen des Ida-Gebirges, das den Rücken einer in Ostwestrichtung lang gestreckten Mittelmeerinsel bildete. Schließlich sank er hernieder auf eine offensichtlich künstliche, vereiste Plattform. In der Gebirgswand erahnte man ein gewaltiges Tor, neben dem sogar die zwei riesigen, an Pharaonenhunde gemahnende Kreaturen, die im eisigen Wind Wache hielten, winzig erschienen. Der Eindruck, es seien bloß überdimensionierte Statuen, verblasste, kaum dass das Fluggerät den Boden berührte. Denn da öffneten sie die rotglühenden Augen, drehten ihm den Kopf zu, legten die großen, spitzen Ohren an und fletschten die schwarzen Zähne. Die Drohung war durchaus ernst zu nehmen, wie Epistor wusste. Er sandte das Erkennungsmuster und gab eine Sprachprobe ab:
„Ich bin Zeus Kronion, der Aigiserschütterer!“
Die roten Augenlichter verglommen, die Monsterhunde erstarrten wieder zu Statuen, aber das Tor öffnete sich nicht, denn die Stimme hätte Blendwerk sein können und niemand durfte den Eingang passieren, der nicht die Befugnis dazu hatte. Zeus kehrte der Steuerkonsole den Rücken zu und ging zu einem Wandschrank, den er durch Berühren öffnete. Seine weiße Tunika war die Idealkleidung für den Olymp aber nicht für Idas Höhen. Er ergriff einen nachtschwarzen Mantel, der ihn vor der widrigen Witterung schützen konnte und hüllte sich ein. Er schritt zum Ausgang. Der Avatar war klug genug, um unaufgefordert die Tür zu öffnen und die Stufen herabzusenken. Eisige Kälte traf ihn wie ein Schlag, aber er nahm die Unannehmlichkeit hin; es ging um Höheres. Er trat hinaus in die unfreundliche Welt und ging auf das Tor zu, vorbei an den beiden Hunden, deren Köpfe sich etwa in der Höhe seiner Schultern befanden. Der Wind zerrte an ihm, dennoch widmete er dem einschüchternden Gebiss des einen Untiers einen kurzen Blick. In diesem Augenblick war eine sehr klangvolle, weibliche Stimme zu vernehmen, die scheinbar aus dem Nichts kam.
„Tritt näher heran“, sang sie. Er tat es und vor ihm am Tor leuchtete ein Kreis blauen Lichts auf, etwa in Kopfhöhe und vom Durchmesser seiner Schulterbreite. Er ging ganz nahe heran, denn nun wurde seine Identität überprüft, indem das individuelle Gehirnmuster registriert und mit Aufzeichnungen verglichen wurde. Zusätzlich hielt er die Hand in das blaue Licht und auch deren einzigartige Merkmale wurden überprüft und erkannt. Er berührte den Kreis und gab eine DNA-Probe ab, die unmittelbar darauf analysiert wurde.
„Du bist wahrlich der Herrscher der Welt“, erkannte sie. „Tritt ein“. Die schweren, gepanzerten, schräg stehenden Torflügel glitten ächzend zur Seite, langsam und scheinbar mühsam; eine Öffnung in der Form eines gleichseitigen Dreiecks entstand, hoch genug, dass ein Mensch hindurchgehen konnte; nun folgte er ihrem Vorschlag. Viel sah er nicht, bloß ein weiteres Tor, nicht weniger gewaltig als das vorige. Kaum hatte der Eingang sich wieder geschlossen, öffnete sich nun dasjenige vor ihm, es wurde sogleich deutlich wärmer. Dennoch blieb es zunächst absolut finster; Zeus wartete. Dann erstrahlte die riesige Halle vor ihm in künstlichem Licht, das die natürliche Helligkeit dieses bewölken Tages bei weitem übertraf. Die Sicht war nun frei auf den gewaltigen Hangar und da standen sie: dreißig große und elf kleine, beeindruckende, uralte, gut bewaffnete Raumschiffe von wenig komplexer Gestalt. Sie waren auch in der Atmosphäre flugtauglich und hatten daher die Form einer Linse, die aus aerodynamischer Sicht gut geeignet war. Sie ruhten auf sechs Beinen. Jedes der großen vermochte bei entsprechendem Komfortverzicht einhundert Menschen zu transportieren, die kleinen jeweils zwei Dutzend. Oder – theoretisch - ebenso viele sedierte, Graue Menschenaffen, mehr als ihm zur Verfügung standen. Zwölf Schiffe waren es gewesen; eines hatte er Sarpedon überlassen und ihn damit in die Verbannung geschickt. Gleichzeitig aber hatte er auf diese Weise auch die Raumtauglichkeit getestet. Er war ein vorsichtiger Mensch und daher genügte ihm die Versicherung des Avatars nicht, die Schiffe seien stets gut gewartet worden. Er hatte keine Lust, sein Leben zu riskieren, aber auch kein Problem damit, das eines anderen zu gefährden.
Der Hangar war kreisförmig; die Schiffe standen an der Peripherie, das Zentrum war leer. An der entferntesten Stelle befand sich die Konsole und damit die Kontrolle über diese kleine Armada und den Raum. Dorthin ging Zeus eilenden Schritts und setzte sich schließlich auf einen großen, bequemen Sessel. Der Avatar erschien, eine einfache Lichtgestalt mit wallendem, weißen Gewand, passend zur Stimme mit weiblichen Gesichtszügen und Körperform. Sie grüßte ihn.
„Herrscher über den Olymp. Was begehrst du?“
„Ich gab dir den Auftrag, solange wie möglich das Schiff zu beobachten, mit dem Sarpedon in die Verbannung geschickt wurde. Berichte mir!“
„Sarpedon brach in die Magellansche Föderation auf; zu einem kleinen, wasserreichen Planeten namens Wägan. Dort blieb er eine Weile. Wie beauftragt, hatte ich Gaias Adresse gelöscht, um seine Rückkehr unmöglich zu machen.“
„Wie kommt es, dass du ihn auch nach dem Übergang ins Enigma weiter verfolgen konntest?“
„Nun, seit einiger Zeit ist er wieder auf diesem Planeten, sodass ich eine Abfrage an die Schiffs-KI richten konnte. Während der ganzen Zeit blieb das Schiff funktionsfähig, ohne die geringsten Probleme.“
Zeus hätte sich eigentlich über den positiven Ausgang seines Flugtauglichkeitstests gefreut und die unerwartet lange Beobachtungszeit, hätte ihm nicht die Nachricht über Sarpedons Wiederkehr die gute Laune vergällt. „Er ist wieder da? Wie hat er das angestellt?“
„Ich weiß es nicht. Er muss die Adresse auf Wägan erfahren haben.“
„Wo auf Gaia hat er sich aufgehalten?“
„Zunächst auf dem Hyborischen Zeitalter, wo er nahe der Stadt Merion gelandet ist. Danach wechselte er zur Achaischen Äon, wo er sich zunächst in Poseidons Stadt aufhielt. Schließlich flog er zu Hades in die Unterwelt, wo er sich nach wie vor befindet.“
„Weder Poseidon noch Hades haben mich darüber informiert.“ Zeus roch die Intrige förmlich. Er hatte gute Lust die beiden zur Rede zu stellen, aber wenn sie sich wirklich gegen ihn zusammengeschlossen hatten, war das alles andere als klug. Seine häufige Abwesenheit vom Olymp war also weidlich ausgenutzt worden, um die Machtverhältnisse neu zu regeln. Er begann bereits darüber nachzudenken, wie er sie alle bestrafen und verbannen konnte, diesmal endgültig, bevor es zum Putsch gegen ihn kommen konnte, doch diese Überlegungen waren müßig; er musste mit der Vergangenheit abschließen und sich auf seine Aufgabe konzentrieren.
Wenn sich bei der nächsten großen Versammlung zwei Drittel der Olympier gegen ihn als Zeus aussprachen, würde er die Herrschaft über die Raumschiffe verlieren und sein ehrgeiziger Plan wäre gescheitert. Aber dazu, beschloss er, würde es nicht kommen. Das Treffen der Götter in den heiligen Hallen des Olymp fand stets bei Vollmond statt. Er hatte also noch zwei Wochen, viel weniger als geplant, aber dennoch genug, wenn die Goldenen mitspielten. Er brauchte die Enigma-Adressen und dann würde er den Planeten verlassen, mitsamt dieser Flotte, die eine unglaubliche Macht repräsentierte. Was sonst noch an Bewaffnung vorhanden war, war vergleichsweise lächerlich. Er würde der Menschheit eine neue Heimat geben - oder mehrere - und würde als Gründer einer Föderation in die Geschichte eingehen. Was machte es da, wenn die Menschen die Planeten mit einer anderen intelligenten Lebensform teilten, die parasitisch war und sich von der Spezies Homo sapiens ernähren konnte, zumindest manche Entwicklungsstadien davon. Solange seine Art die technisch-naturwissenschaftliche Überlegenheit behielt, war das kein Problem. Allerdings waren die Bewohner des Kraters so unwissend, dass sie meinten, er sei die gesamte Weltenscheibe. Einige Thebaner mochten ihm folgen, aber das wären nicht genug. Er würde daher öfter nach Ivarn reisen müssen, um dort Gebildete anzuwerben, zu rauben oder zu kaufen. Er hoffte auf die Hilfe von Ephram OrPhon, zu dem er einst gute Kontakte gepflegt hatte. Dieser besaß Sklaven, gekidnappt aus der Magellanschen Föderation, die über alle nötigen Kenntnisse verfügten. Aber es gab dort auch Wissenschaftler, die sich freiwillig unter Ephrams Obhut begaben, weil sie einer Forschung nachgehen wollten, die in der Föderation als unethisch galt. Auch diese Brüder und Schwestern im Geiste musste er versuchen anzuwerben.
Er überlegte, ob es klug wäre, sich das verlorene Schiff wieder anzueignen. Die Macht dazu hatte er. Ein Befehl an den Avatar genügte und das Schiff würde zurückkehren. Gleichzeitig gab er damit aber bekannt, dass er von Sarpedons Rückkehr wusste und auch davon, wer dem Verbannten Asyl gewährt hatte. Das käme einer Warnung gleich und das galt es zu vermeiden.
Zeus Kronion wandte sich an den gleißenden Avatar: „Ich möchte mit U'Rieften sprechen.“
Es dauerte nicht lange und die Lichtgestalt verwandelte sich in einen großen, goldenen Humanoiden, bei dem die schillernden Augen und die Wespentaille die Aufmerksamkeit auf sich zogen. U'Rieften war nach menschlichen Maßstäben schön; sie wirkte auch gefährlich, aber Zeus wusste, dass sie im Gegensatz zu anderen ihrer Art Skrupel hatte, Menschen umzubringen. Wollten die Goldenen als Spezies überleben, brauchten sie ihn und er brauchte sie für seine Pläne, denn sie hatte Enigma-Adressen von Planeten, die für Menschen habitabel waren.
Die Königin der Goldenen und Göttin der Bewohner des Kraters, in welchem sie vor vielen Menschengenerationen angesiedelt worden waren, wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu. Sie grüßte ihn durch Nicken ihres Hauptes, eine Geste, die Zeus nachahmte. Dann kam er gleich zum Wesentlichen.
„Uns bleibt weniger Zeit als ich dachte. Intrigen gegen mich finden statt, zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit. Ich kenne nicht alle Beteiligten, aber es scheint mir klug, die Ausführung unserer Pläne vorzuverlegen.“
„Wir haben in letzter Zeit Heiler verloren, sodass weniger Königinnen und Könige – weniger meiner Kinder – über die kritische Entwicklungsphase gebracht werden konnten als erwartet.“
„Das ist bedauerlich. Für wie viele Gründerpopulationen würde die Individuenanzahl reichen?“
U'Rieften legte den Kopf zur Seite. „Für drei, würde ich sagen. Hätten wir mehr Zeit, wären doppelt so viele möglich, denn wir haben sechs Raumschiffe an den Ecken der Pyramidenbasis.“
„Mehr Zeit haben wir nicht. Es ist zu gefährlich abzuwarten. Drei also. Drei Planeten. Gut, das muss für den Anfang reichen. Ich schicke dir dreißig Raumschiffe, die je einhundert Menschen transportieren können, je zehn Schiffe für eine Welt. Sammelt Personen, egal ob Sklaven oder Freie, die schon geschlechtsreif aber noch jung sind, gesund und kräftig, zwei Drittel Frauen. Die Menschheit hat schon mit kleineren Initialbevölkerungen Planeten besiedelt, also wird das wohl funktionieren. Schaffst du das in der zur Verfügung stehenden Zeit? Ihr habt doch eure Bevölkerung im Griff?“
„Dank der Religion ist das der Fall, da schaltet deine Spezies den Verstand aus. Wir sind Götter für sie. Und die Grauen Menschenaffen? Du weißt, wir brauchen sie. Ich möchte keine intelligenten Lebewesen mehr sterben lassen, auch nicht für die Erhaltung meiner Art.“
„Die werde ich mit kleineren Schiffen zu den ausgewählten Planeten schicken. Ich werde sie abholen und dann ebenfalls zum Krater fliegen. Leg mir eine Beschreibung aller Welten vor, sodass ich die für Menschen geeignetsten auswählen kann. Ich brauche die Enigma-Adressen der Planeten, sobald dies geschehen ist. Hernach evakuiert Gaia mit euren sechs Raumkreuzern. Kein Goldener soll hierbleiben, auch niemand von der Arbeiterkaste. Es geht los. Hilf mir und rette deine Spezies!“
Er unterbrach den Kontakt und fragte: „Wie viele Kyklopen haben wir auf dieser Basis?“
„Sechs Stück“, antwortete der Avatar.
„Schicke sie zu einem der kleineren Raumschiffe, mit Betäubungspistolen bewaffnet. Ich werde die Grauen Menschenaffen nicht fragen, ob sie mitkommen wollen.“
***
„Tritt ein“, sagte eine männliche Stimme. Sie drehte sich um und sah in einen hellen, großen Raum. Ein in eine weiße Tunika gekleideter, großer, dunkelhaariger, braunäugiger Mann mittleren Alters mit melancholischen Gesichtszügen kam auf sie zu. Ganz in ihrer Nähe hielt er ihr die rechte Hand hin. Verwundert starrte sie sie an und ihm dann ins Gesicht. Da lächelte er ein wenig. „Eine terranische Konvention“, erklärte er, „man gibt sich zur Begrüßung die Hand, um einander zu beweisen, dass man unbewaffnet ist.“ Zögerlich ergriff Athaly sie und ließ sie danach gleich wieder los. Sie nahm eine Bewegung im Hintergrund wahr und erspähte eine hoch gewachsene Frau, höchstens ein Dutzend Jahre älter als sie, mit blonden Locken und großen Augen mit sehr dunkler Iris, die ein elfenbeinfarbenes, bodenlanges Kleid trug. Dunkle Augen und helle Haare wirkten als auffälliger Kontrast. Ihr Körper war zart und ihre Gesichtszüge fein. Sie war ohne Zweifel schön, insbesondere wenn sie lächelte und das tat sie jetzt. Sie hielt ihr die Handflächen entgegen, offenbar wieder so ein Brauch, der zeigen sollte, dass man unbewaffnet war. Athaly tat es der Fremden gleich, die nicht näher kam.
„Ich bin Eumedes“, sprach der Mann, „und meine Gefährtin ist Niobe.“ Dann wartete er und es dauerte ein wenig, bis sie erkannte, dass er erwartete, sie möge sich ebenfalls vorstellen.
„Oh! Ich bin Athaly, eine Shwakara von den Steppen südlich der Schwarzen Berge. Vielleicht hast du von meinem Stamm schon gehört. Er ist allerdings nicht besonders groß und wohl auch nicht sehr bedeutend“, erläuterte sie ausführlicher als sie eigentlich beabsichtigt hatte.
„Nein, tut mir leid“, antwortete Eumedes. „Aber das heißt nicht, dass dein Stamm nicht berühmt ist. Es bedeutet lediglich, dass Niobe und ich von sehr weit weg kommen.“
„Von jenseits des Wilahet-Meeres?“
„Ja, aber von sehr weit jenseits! Wenn es dich interessiert, erzähle ich dir die Geschichte. Aber vielleicht möchtest du eine kleine Erfrischung?“
„Was meinst du?“
„Etwas zu essen und zu trinken.“
„Oh. Gerne. Es ist lange her, dass ich zuletzt gegessen habe.“ Und vor lauter Aufregung hatte sie noch nicht einmal getrunken, als sie den Bach entlang gewandert war. Er führte sie zu einem kleinen Tisch und hieß sie, sich auf einen der Sessel, die um die Tafel herum standen, zu setzen. Eine weiße Flüssigkeit befand sich in einem durchsichtigen Gefäß. Ziegenmilch, wie sie vermutete. Daneben stand eine Schüssel mit vielen kleinen weißen, dampfenden Körnern, die ein wenig wie Ameisenpuppen aussahen, die sie nicht besonders mochte und nur zur Not aß. Sie starrte sie mit schräg gehaltenem Kopf an.
„Das ist Reis, die Saat einer terranischen Pflanze“, erklärte Eumedes. Er hatte sich inzwischen ebenfalls an den Tisch gesetzt, so wie auch Niobe.
„Esst ihr nichts?“ Sie griff zum neben der Schüssel liegenden Löffel und stopfte sich damit die Saat einer terranischen Pflanze in den Mund; sie schmeckte gut. Dann griff sie zu dem Käsestück – Ziegenkäse ohne Zweifel – das auf einem Teller weiter hinten lag. Auch er war ausgezeichnet. Sie war fürchterlich hungrig.
„Wir haben schon.“
„Was bedeutet eigentlich dieses 'terranisch'?“
„Das bedeutet“, erläuterte Niobe, dass die Menschen hier ursprünglich nicht heimisch waren, nicht in der Steppe, nicht in den Schwarzen Bergen, auch nicht jenseits des Wilahet-Meeres und nicht einmal dort, wo wir herkommen. Sie stammen von ganz weit weg und als sie herkamen, haben sie Tiere und Pflanzen mitgenommen. Ziegen zum Beispiel und Reis. Die nennt man dann terranisch, im Gegensatz zu allem, das vorher schon da war.“
Athaly hörte aufmerksam zu. Von Gjefren wusste sie, dass es andere 'Planeten' – was immer das auch war – gab und dass einer davon, seine Heimat, Wägan hieß. Sie hielt es aber vorläufig für klüger, nichts darüber zu verraten, dass sie sich ein bisschen in der Welt ihrer Gastgeber auskannte. Sie wusste ja noch nichts von ihnen. Sie trank ein wenig – es war tatsächlich Ziegenmilch – und erinnerte dann: „Ihr wolltet mir eine Geschichte erzählen.“
„Ja“, meinte Eumedes, „eine Geschichte darüber, woher wir kommen und wie es dazu kam, dass wir hier sozusagen gestrandet sind.“
„Zusammen mit einem Drachen, der behauptet, eine Harpyie zu sein, was immer das auch sein mag. Wie kommt es, dass er euch nicht die Ziegen weg frisst?“
„Das kommt daher, dass er nicht wirklich existiert. Er ist Blendwerk“, erzählte Niobe. Einen Moment starrte Eumedes sie an, vielleicht war er nicht einverstanden damit, dass sie das verriet. Dann ergänzte er: „Das stimmt; ich habe den Drachen gestaltet, mit Blender 7053/C.“ Man konnte Stolz in seiner Stimme vernehmen. „Das ist eine bestimmte Software, für das Designen von bewegten 3D-Animationen. Die Beste. Aber egal. Ich habe ihn geformt, zuerst als Harpyie und dann habe ich ihn ein wenig modifiziert, damit er besser zu den hiesigen Sagen passt. Er dient zur Abschreckung, seit vor einigen Jahren diese entlaufenen Sklaven mit ihren Ziegen hierher gezogen sind. Wir wollten verhindern, dass sie zu neugierig werden und unser Tal entdecken. Dazu müssen sie aber von einer Angst vor dem Drachen erfüllt sein, die ebenso groß ist wie jene vor den Sklavenhändlern, vor denen sie sich verstecken. Deshalb auch die Idee mit dem Opfer. So wie sie müssen auch wir uns verbergen, vor ihnen und allen anderen.“
„Wie kommt das?“
Er seufzte. „Alles begann auf einem anderen Kontinent, dem Achaischen, sowie einer Gottheit namens Hermes. Selbiger ist sehr umtriebig und besuchte eines Tag die kleine Insel Kos, die in einem Meer liegt, das die Bewohner der umgebenden Lande das 'Mittlere' nennen, denn sie glauben, dass es in der Mitte der Weltscheibe gelegen sei. Es ist in allen Himmelsrichtungen von Land umgeben; nur im Westen ist es mit dem Okeanos verbunden. Dort, auf jener Insel, erkannte er meine Mutter und zeugte mich“, sprach Eumedes. Nach einer kleinen, aber dramaturgisch wichtigen Pause fuhr er fort: „Ich bin also ein Halbgott. Aber weil ich ein paar Merkmale nicht geerbt habe, ein Leuchten rund um die Haare - und die Eigenschaft, scheinbar nicht zu altern ist mir offensichtlich auch nicht zu Eigen - habe ich in der Götterwelt keine Aufstiegschancen; deshalb wuchs ich nicht im Olymp auf, wo die Götter wohnen, sondern blieb bei meiner Mutter auf Kos. Ich war nicht unglücklich, die Götterwelt war mir eigentlich egal. Schließlich verliebte ich mich in ein wunderschönes, blutjunges Mädchen namens Niobe und wollte sie heiraten. Bis dahin war alles perfekt, so meinte ich zumindest. Indessen aber beauftragte Hera, die oberste Göttin des Pantheon, ihre Priester, ein Opfer zu erwählen. Ein Menschenopfer wohlgemerkt. Die alten Schriften erwähnen leider, dass so etwas möglich ist; so schlachtete ein Herrscher namens Agamemnon sogar seine eigene Tochter Iphigenie, um den Willen der Götter günstig für sein Vorhaben zu stimmen. Warum die Wahl auf Niobe fiel, weiß ich nicht. Mich schützte die Tatsache, dass ich ein Halbgott bin. Vielleicht hatte Hera Hader mit Hermes; vielleicht wollte sie eine Beleidigung rächen, möglicherweise hasst sie ihn einfach so, ohne Grund. Sie ist eine eitle, eifersüchtige, unbeherrschte Göttin.“ Athaly blickte die beiden entsetzt an. Eumedes bemerkte, dass sie sich nicht mehr rührte, deshalb sagte er: „Iss ruhig weiter“, was sie auch tat. Dann fuhr er in der Erzählung fort: „Ich war natürlich verzweifelt, wie du dir sicherlich vorstellen kannst. Ich lief zum Tempel des Hermes und betete laut, erzählte ihm mein Schicksal. Und er erhörte mich, seinen Sohn. Der Versuch, Hera von ihrer Forderung nach einem Opfer abzubringen, hätte keinen Sinn gehabt, denn die Sterblichen bedeuten ihr nichts. Einzig auf Zeus hätte sie vielleicht gehört, sicherlich jedoch nicht auf meinen Vater. Also beschloss er, uns bei der Flucht zu helfen. Hera wird wahnsinnig vor Zorn, wenn sich ein Sterblicher ihr widersetzt. Deshalb brachte er uns gleich auf einen anderen Kontinent. Er wollte uns ein Leben in einigem Luxus ermöglichen. Hermes muss viel reisen, er ist der Bote der Götter. Die Olympier können untereinander rasch kommunizieren und bedürfen dafür seiner nicht. Wollen sie aber mit anderen Gottheiten Botschaften austauschen oder Sterblichen Befehle erteilen, benötigen sie ihn oft. So hat mein Vater neben den üblichen Tempeln mit Priestern, die alle Olympier auf dem Achaischen Kontinent besitzen, auch noch andere Unterkünfte. Diese hier, am Hyborischen Kontinent, ist in eine gewaltige Felsausnehmung hinein gebaut worden und damit von oben nicht sichtbar, was wegen der Satelliten – also wegen Dämonen, die im Himmel herumfliegen und Hera alles mitteilen, was sie sehen – sehr wichtig ist. Aus der Luft erscheint dieser Ort recht unauffällig, wir haben ja nur Ziegen und einige Felder, die wir so anlegen, dass keine rechteckigen Muster erscheinen; und getarnte Hilfsroboter, die übrigens derzeit mit der Ernte beschäftigt sind.“
„Hera sucht euch noch immer?“
Eumedes schwieg auf diese Frage, eine düstere Wolke schien sich über seine Gesichtszüge zu legen. Dann aber richtete er wieder das Wort an sie: “Ich muss mich jetzt um die Ernte kümmern und die Roboter observieren. Bitte erzähl doch Niobe inzwischen, was dich hierher gebracht hat; sie mag es mit später kundtun.“ Er erhob sich und verließ langsam den Raum. Athaly hatte den Eindruck, seine Seele müsse eine schwere Last tragen.
„Du gefällst ihm.“ Niobe lächelte sie an und Athaly versank in ihren bemerkenswerten, nachtschwarzen Augen. „Er hat noch nie einen Menschen hierher geleitet, du bist die Erste. Du musst wissen, dass er jetzt in dem Alter ist, in dem normalerweise seine ersten Kinder erwachsen wären; da werden Männer plötzlich wieder seeeehr empfänglich für weibliche Reize. Du könntest ihn mir wegnehmen, wenn du wolltest.“
Hatte Niobe Angst davor oder wünschte sie es sogar? Die Feststellung kam merkwürdig neutral. Sie wollte sie jedenfalls keinesfalls als Feindin, weil sie sie für eine potentielle Nebenbuhlerin hielt. „Das glaube ich nicht! Er hat alles verlassen, aus Sorge um dein Leben, hat ein Dasein in Isolation in Kauf genommen, nur für dich. Ihn hat Hera ja nicht bedroht. Und außerdem habe ich einen Begleiter, der mir sehr viel bedeutet. Und er ist in Gefahr! Das ist auch der Grund, warum ich der Einladung des Drachen Folge leistete. Ich brauche Hilfe.“
„Oh! Was ist geschehen?“
„Unser Schicksal ist dem euren ähnlich. Auch wir werden vom Hass einer mächtigen Frau verfolgt, einer Hexe. Wenngleich sie eine Sterbliche ist, hat sie doch Beistand von einem Gott. Vielleicht hast du von ihr gehört; sie ist die Königin von Askhauran. Unsere Flucht begann bei der Festung Mesawa und führte uns durch die Hochebene, die jetzt menschenleer ist, denn die Bewohner wurden verflucht und brachten sich gegenseitig ums Leben. Mein Begleiter sagt aber, die Gefahr wäre gebannt und so kann sich mein Stamm nun dort ansiedeln.
Jedenfalls wollten wir über den einzigen uns bekannten Pfad, der über die Schwarzen Berge zum Wihalet-Meer führt, fliehen. Wir haben uns verirrt und gestern schienen sich alle Dämonen dieser Welt ein Stelldichein über dem Gebirge zu geben. In dem tosenden Regen haben sich Schlamm und Felsen an einer steilen Stelle gelöst und sind auf den Pfad hinabgestürzt, der daraufhin weggebrochen ist. Unser Pferd stürzte ab, mein Gefährte landete auf ihm. Ich wurde von Erdmassen beinahe begraben. Dorfbewohner, die zufällig vorbeikamen, retteten mich – aber nur, um mich dem Drachen zum Fraß vorzuwerfen, um eine Ziege zu sparen! Und bis jetzt habe ich noch nicht erfahren, ob mein Begleiter noch lebt.“ Athaly schluchzte. Tränen rannen ihre Nase herab.
„Weine nicht“, meinte Niobe, „vielleicht ist ja alles gut. Ich kann zumindest in Erfahrung bringen, ob das der Fall ist. Wir haben ein paar Tannenhäher und Buchfinken, die für uns spionieren. Es sind Drohnen, aber der Begriff wird dir nichts sagen. Geh also einfach davon aus, dass sie verzaubert sind. Sie sind unten im Tal, denn wenn uns Gefahr droht, dann von dort. Außer die Bedrohung kommt von Hera; in diesem Fall nützen uns die Vögel auch nichts. Ich werde sie zur Siedlung schicken.“
Plötzlich wurde es dunkel, denn die Scheiben, die den Raum abschlossen, verloren an Transparenz. Über dem Tisch erschien ein Bild der Siedlung. Jetzt saßen viele Leute rund um das Feuer am Dorfplatz; sie erschienen alle klein wie Spielzeug. Über dem Feuer briet Fleisch und Athaly meinte, dass es wohl von ihrem Pferd stamme. Olar war unschwer an seiner Leibesfülle zu erkennen und ihm gegenüber hockte Gjefren, leicht zu erkennen an seinem gleißenden Haar und – wenngleich nicht gefesselt – so doch von zwei Männern bewacht.
„Er lebt!“, schrie Athaly. „Er sieht benommen aus, aber doch gesund. Sie behandeln ihn zumindest besser als mich. Vielleicht beeindruckt sie das Schillern um seinen Kopf. Sie reden, aber ich höre nichts.“
Das änderte sich sogleich. Olar sagte gerade: „Willst du wirklich nichts von dem Fleisch? Es ist köstlich. Nicht fett genug, aber dennoch ausgezeichnet. Wir bekommen hier nicht oft Pferdefleisch zu essen. Eigentlich nie.“
Gjefren antwortete: „Ich kann nicht mein eigenes Pferd verzehren! Es ist uns ein Freund geworden in den letzten Tagen, meiner Gefährtin und mir. Außerdem habe ich von unserem Reiseproviant gezehrt. Ich bin bereits zu mir gekommen, bevor deine Abgesandten mich erreicht hatten. Ohne sie wäre ich von der Absturzstelle nicht weggekommen. Ich möchte euch vielmals für eure Hilfe danken.“ Dann wechselte er abrupt das Thema: „Du sagtest, meine Begleiterin sei hier. Wo ist sie?“
„Siehst du da hinten den Höhleneingang? Da ist sie hinein. Sie sagte, sie wolle sich schon immer einmal eine Höhle ansehen.“
„Oh, dieser schleimige Lügner!“, kommentierte Athaly, der Niobe zuvor gesagt hatte, dass niemand im Dorf sie wahrnehmen könne, voller Abscheu.
„Du kannst warten bis sie zurück ist“, fuhr Olar fort. „Oder ihr auch entgegen gehen. Du bekommst eine Fackel von uns, wenn du willst.“
Athaly runzelte die Stirn, so gut das in ihrem Alter eben möglich war. „Olar muss, da ich nicht zurück gekehrt bin, überzeugt sein, dass mich der Drache gefressen hat. Er will Gjefren also in den Tod schicken!“
Niobe nickte. „So niederträchtig das auch sein mag, für uns ist es ein Vorteil. Geht er in die Höhle, ist er in Sicherheit, bleibt er hingegen, werden sie ihn zumindest gefangen nehmen, wenn nicht gar umbringen, da bin ich mir sicher. Ich habe sie lange genug beobachtet, um zu wissen, wie sie denken.“
„Die Frage ist nur, ob er naiv genug ist, ihnen zu glauben.“
Inzwischen hatte Gjefren sich entschieden. „Ich würde ihr gerne entgegen gehen.“
„Er ist naiv genug“, meinte Niobe. Athaly verdrehte die Augen.
„Dann komm!“ Olar wirkte erfreut. „Lass uns die Fackel hier am Feuer entzünden.“ Er ging zu einer Hütte, die größer war als die anderen. Inzwischen war ein halbwüchsiger Junge auf sie aufmerksam geworden, nahm einen Stein und ließ eine Schleuder kreisen. Das Bild geriet in Bewegung.
„Diese kleinen Monster sind die reine Pest. Und sie zielen sehr gut. Die Drohnen fliehen daher, wenn einer von ihnen auf sie aufmerksam wird und zur Schleuder greift. Sie könnten sie ernsthaft beschädigen. Aber was von Bedeutung ist, haben wir erfahren.“
„Ja, Gjefren lebt und er wird bald in Sicherheit sein. Trotzdem; dass er wirklich glaubt, ich interessiere mich für eine Höhle, wenn ich noch nicht wissen kann, dass er den Absturz überlebt hat und, falls es so ist, wie schwer er vielleicht verletzt wurde. Er ist so leichtgläubig, dass ich gar nicht verstehen kann, wie er ohne mich so lange überleben konnte.“
„Hm“, meinte Niobe, „vielleicht ist er ja gar nicht so naiv. Vielleicht spürt er die Bedrohung, die von den Dorfbewohnern ausgeht. Die beiden, die ihn flankieren … er muss fühlen, dass da etwas nicht in Ordnung ist.“
Athaly nickte reuig. „Ja, natürlich. Du hast recht. Eigentlich hat er schon des öfteren bewiesen, dass er sich ganz gut zu helfen weiß.“
Inzwischen war Eumedes zurück gekehrt und Niobe informierte ihn über die Geschehnisse im Dorf. Athaly beobachtete, wie er darauf reagierte, als er erfuhr, dass sie einen Gefährten hatte, der mehr war als nur ein Reisebegleiter, aber seine melancholischen Gesichtszüge änderten sich nicht. Also brachte sie den Mut auf, ihn zu bitten, auch Gjefren bei sich aufzunehmen.
„Natürlich“, meinte er und wirkte nun erfreut, „mal sehen, wie er auf meinen Drachen reagiert.“
Niobe dämpfte seine Erwartungen. „Er wird nicht so einfach zu beeindrucken sein. Er ist offenbar ebenfalls göttlicher Abstammung.“
Er wandte sich an Athaly: „Das hast du gar nicht erwähnt.“ Und dann zu Niobe: „Dennoch. Die 3D-Animation ist perfekt.“ Er schien ob der Abstammung ihres Begleiters nicht begeistert zu sein, warf Athaly einen vieldeutigen Blick zu. Dann ging er abermals Stufen hinauf zu einer „Zentrale“, wie Niobe erläuterte.
„Erschrecke ihn nicht zu sehr. Die Dorfbewohner sind eine Bedrohung für sein Leben. Es ist besser, wenn er nicht zu ihnen zurückkehrt. Erwähne, dass Athaly unser Gast ist!“, rief Niobe ihm nach. Er machte eine beruhigende Geste, dann verschwand er hinter einer Tür.
„Wenn es dir recht ist, werde ich ihm entgegen gehen“, wandte sich Athaly mit leuchtenden Augen an ihre Gastgeberin, die ihr zulächelte. Das nahm sie als Einverständnis und dann ging sie nicht, sie eilte vielmehr den Weg vom Haus hin zum Bach und dann diesen entlang bis zum Höhleneingang. Dort musste sie nicht lange warten und Gjefren trat ihr entgegen; sie umarmte ihn ungestüm, sodass er schnell die Fackel wegwarf, um sie nicht mit ihrem Feuer zu verletzen, dann erwiderte er die Geste der Freude.
„Oh Gjefren, ich habe mir solche Sorgen gemacht, als ich gehört habe, dass du abgestürzt bist. Ich war selbst von Schlammmassen beinahe verschüttet.“
„Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst ich ausgestanden habe, als ich aufgewacht bin und dich nirgends gesehen habe.“ Gjefren drückte sie ganz eng an sich und Athaly begann ein bisschen zu weinen. Dann erzählte auch sie:
„Die Dorfbewohner haben mich gefesselt und in die Siedlung geschleppt, um mich statt einer Ziege dem Drachen zum Fraße vorzuwerfen. Ich hoffe, du bist nicht allzu sehr erschrocken, er ist nicht echt.“
„Anfangs schon. Bis ich erkannt habe, dass er eine Imagination ist. Eine gute, aber sie ist nicht perfekt.“
„Eumedes scheint es Spaß zu machen, andere zu ängstigen. Aber sonst ist er recht nett, nur ein bisschen traurig. Das ist übrigens sein Haus. Ich habe es zuerst für einen Drachenhorst gehalten.“ Sie zeigte in die entsprechende Richtung.
„Viel Glas. Und Roboter besitzt er auch. Er ist wohl nicht von hier, oder?“
„Er ist ein Halbgott, wie du. Seine Gefährtin heißt Niobe. Sie hat ein wenig Angst, dass ich ihn ihr wegnehmen könne.“
„Dann wird sie froh sein, dass ich aufgetaucht bin.“
Sie gingen schweigend und einander genießend den Pfad entlang, er hielt sie meist am Oberarm, manchmal an der Schulter und sie ihn an der Taille, ganz eng. Bemerkenswert viel war in erstaunlich kurzer Zeit geschehen und alles war für sie gut ausgegangen. Nur nicht für das Pferd, das Arme, das immer noch von den Dörflern verzehrt wurde. Warum, so fragte sich Athaly, war niemand von ihnen auf die Idee gekommen, dem Drachen einen Teil des Rapphengstes anzubieten? Hatte die Bestie ihnen erzählt, sie möge nur lebende Beute? Wahrscheinlich war es so, denn Eumedes wollte die Ziegen ja primär zur Milch- und Käsegewinnung.
Bald erreichten sie das in dieser Gegend völlig deplatziert wirkende Gebäude. Eumedes begrüßte Gjefren mit Handschlag, den dieser erwiderte. Offenbar war ihm die Begrüßungsgeste geläufig. Niobe blieb etwas auf Distanz, zeigte ihm die leeren Handflächen. Auch dies wiederholte der Wäganer, der sich zunächst dafür bedankte, Gast sein zu dürfen.
„Und vor allem vielen Dank, dass ihr Athaly geholfen habt. Sie hat mit erzählt, was Olar vor hatte.“
„Es ist gern geschehen“, erwiderte Niobe, „Olar ist wahrlich kein netter Mensch.“
„Was hat euch in diese Einsamkeit verschlagen?“, erkundigte Gjefren sich. Eumedes erzählte ihm seine und Niobes Geschichte.
„Dann wird es dich vielleicht freuen zu erfahren, dass Hera nicht mehr dieselbe ist, auch Zeus nicht, weil der alte gestorben ist. Und Epistor, der zuvor Paieon war, hat sich eine Jüngere genommen.“
„Was nicht bedeutet, dass die alte keine Macht mehr hat“, entgegnete Eumedes. „Außerdem ist die neue ihre Tochter, wie ich von meinem Vater weiß. Für uns hat sich da leider nichts geändert.“ Gjefren nickte nachdenklich, während Eumedes den Schein begutachtete, der seine Haare umgab. Er wirkte ein bisschen neidisch. Dann wechselte er rasch das Thema:
„Was hältst du von der Harpyie? Also dem Drachen, wie sie hier sagen. Ich habe Blender 7053/C verwendet, die beste Software für 3D-Animationen“, erklärte er stolz.
„Hm ja, der Drache ist super! Galaktisch!“ Eumedes schien ein Stück zu wachsen. „Allerdings ...“
Eumedes sackte wieder ein bisschen zusammen. „Allerdings? Was für ein allerdings?“
„Allerdings ist er ganz am Rand ein Bisschen transparent. Nur ein kleines, kleines Bisschen!“ Er zeigte mit Daumen und Zeigefinger, wie klein. „Ich habe eine Spiegelung der feuchten Höhlenwand durch den Drachen hindurch gesehen, höchstens bis zu ein Fingerbreit unter die Haut, eben nur am Rand, aber da war mir klar, dass er ein Trugbild ist. Ich habe aber natürlich trotzdem weiter mitgespielt.“
„Ha! Da hast du die Angst aber wirklich sehr überzeugend dargestellt!“
„Und natürlich der Geruch. So ein Drache sollte aus dem Mund stinken, nach Fäulnis, Tod und Verdammnis, er putzt sich ja nicht die Zähne. Aber da war nichts.“
„Stimmt!“, bestätigte Athaly. Eumedes gefiel ihre Einmischung offenbar nicht. Hier ging es um mehr, aber worum genau, konnte sie nicht sagen. Irgendwas zwischen Männern.
„Du solltest Talira sehen, den Avatar-Vampir, den ich auf Mesawa gestaltet habe.“ Gjefren wirkte begeistert. „Keine Transparenz am Rand und Wohlduft verströmend, gelegentlich auch einen Hauch Blutgeruch, so schwach, dass er nur unterbewusst wahrnehmbar ist. Blender 7053/C hat überhaupt noch keine Duftanimation. Die gibt es erst ab Blender 7054/A. Ich habe mit 7054/B gearbeitet, meiner Meinung nach die beste Version. Danach ist es nur noch bergab gegangen.“
„Die beste Version“, konterte Eumedes „ist ohne jeden Zweifel 7053 C! DANACH ist es bergab gegangen und zwar nur noch! Und Geruch? Wer braucht schon Geruch!“
„Hm.“ Man merkte Gjefren an, dass er anderer Meinung war. Aber er sah ein, dass es nicht klug war sie zu äußern, schließlich ging es hier um eine Glaubensfrage. Es bedurfte dringend eines Themenwechsels. Niobe schaltete sich ein.
„Was habt ihr jetzt vor? Athaly hat uns erzählt, dass ihr vor einer Hexe flieht.“
„Das stimmt. Sie ist extrem gefährlich. Ich möchte mit meinem Onkel Kontakt aufnehmen und den Kontinent verlassen. Und das ist schwierig seit die Hexe unser Com geröstet hat.“
„Wir haben leider kein funktionierendes Com“, erzählte Niobe, „ich weiß nicht, ob Hera den Inhalt der Gespräche verfolgen könnte, wohl aber wie häufig von welchem Standort aus gesprochen wird. Also wurde die Comanlage nie aktiviert, obwohl sie vorhanden ist.“
„Ich hätte ohnehin keinen Verbindungscode; der ist mir abhanden gekommen als das Gerät zerstört wurde. Nein, ich muss dorthin zurück, wo er mich abgesetzt hat, bei der Stadt Merion an den Ufern des Yil. Dort wird er mich am ehesten suchen. Inzwischen müsste ihm aufgefallen sein, dass etwas nicht stimmt.“
Eumedes nickte und deutete. „Kommt“, sagte er und sie gingen auf den Tisch zu, über dem sich wie von Zauberhand plötzlich eine Projektion der Umgebung der Schwarzen Berge in Miniatur erhob. „Seht!“ er deutete auf eine Stelle und erklärte: „Dies ist unser Standpunkt, südlich davon das Dorf, die Festung der Aliens, die Ebene. Die Schwarzen Berge liegen da wie ein gefallenes, großes Ypsilon, allerdings mit einem nach Süden gekrümmten Balken und die Verzweigung zum Meer hin zeigend. Dort, im Osten, befindet sich Merion. Wie ihr sehen könnt, liegt der untere Gebirgsarm zwischen Euch und Eurem Ziel. Es gibt aber einen Pass, der sich recht gut begehen lässt, zumindest jetzt noch. Später im Herbst wird das ein Problem.“
Gjefren nickte. Er hatte ja selbst schon Karten dieser Gegend besessen, wenngleich nur zweidimensionale. Und er hatte den erwähnten Pass bereits überwunden. „Das sieht ziemlich schlimm aus. Wir wollten aus Mesawas Ebene kommend in das östliche Paralleltal zu diesem; dort wo der Fluss fließt“, er zeigte hin, „hinauf, jene Straße queren und so zu dem Pass. So wie es aussieht, müssen wir wieder durch Olars Dorf hinunter bis zur Hochebene und dann weiter, bis wir den Fluss erreichen. Ich hätte wissen müssen, dass wir zu früh nach Norden gegangen sind, denn beim Herkommen habe ich ja den Bach hier überquert.“ Er wies auf die Stelle. „Diesmal erst bedeutend weiter oben. Wir hätten erkennen müssen, dass der Pfad im Wesentlichen dem Bach folgt.“
Athaly schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich sind in der Nacht Wachen aufgestellt. Es gibt zwei Aussichtstürme am südlichen Siedlungsende. Da kommen wir nicht durch.“
„Das“, erklärte Eumedes triumphierend, „ist kein Problem. Es gibt nämlich noch eine zweite Höhle, die hier beginnt“, er wies auf die Stelle, „und da endet.“
„Lustig. Das ist ziemlich genau dort, wo wir uns kennen gelernt haben!“ Gjefren wirkte überrascht, Athaly nicht minder. „Das würde uns eine ganze Menge Zeit ersparen.“
Niobe nickte. „Und das kann jetzt sehr wichtig sein. Im Herbst neigt das Wetter hier dazu unvorhersehbar zu kippen. Wie ihr ja bereits bemerkt habt.“
„Das mag man so sagen“, bestätigte Gjefren, der zahlreiche Schürfwunden und blaue Flecken aufwies, die ihm weh taten und ihn daran erinnerten, was ein Unwetter hier in den Bergen für einen Menschen bedeuten konnte. Alles in allem hatte er unverschämtes Glück gehabt. Links und rechts von der Stelle, wo er abgestürzt war, war es steil und sehr tief bergab gegangen. „Merkwürdig, dass uns die Höhle damals nicht aufgefallen ist. Wir hätten sie dringend gebrauchen können, wir waren schon zu dieser Zeit auf der Flucht.“
„Der Eingang ist überwachsen und liegt erhöht. Man muss klettern, um zum Fluss und Pfad hinab zu gelangen. Wir haben zwar für alle Fälle auch dort eine Menschenscheuche installiert, aber bislang wurde sie noch nie benötigt.“
„Auch der Drache?“
Eumedes nickte. „Wollt ihr noch ein wenig bleiben?“
Gjefren schüttelte den Kopf. „Wir würden euch durch unsere Anwesenheit noch zusätzlich gefährden. Eine wild gewordene Göttin reicht. Man muss nicht auch noch zusätzlich eine Hexe zum Feind haben. Zudem wollen wir das gute Wetter nutzen. Möge es anhalten bis wir den Pass überquert haben.“
„Das ist zu hoffen. Gut, dann werde ich euch ein wenig Proviant für die Reise zusammenstellen, Käse, Brot, Zwiebeln und etwas Wurzelwerk. Das sind Dinge die man essen kann, ohne ein Feuer machen zu müssen. Feuer auf der Flucht ist fatal. Wir wissen das aus Erfahrung.“ Dann zeigte er auf einen Tisch im Eck des Raumes. „Ich habe dort einen Krug mit Ziegenmilch hingestellt und ein paar Gläser. Bedient euch bitte.“ Sie dankten und nutzten das Angebot. Die Ziegenmilch war köstlich, besonders für Athalys Gaumen, während Gjefren den Geschmack als gewöhnungsbedürftig empfand. Auf Wägan gab es keine Ziegen, die endemische Vegetation auf den Inseln hätte ihrer Gefräßigkeit nicht Stand gehalten. Sie blickten hinaus auf die Ebene, wo die Roboter mit der Ernte beschäftigt waren und die Ziegen mit Fressen, die jüngeren auch mit Spielen. Ein Bild in Blau und Grün, denn die herbstliche Verfärbung hatte noch nicht eingesetzt. Sie genossen das Beisammensein, den Frieden, die Sicherheit und den Luxus. Irgendwann kehrten ihre Gastgeber zurück, gerade noch rechtzeitig, damit sie nicht merkten, wie erschöpft sie waren und wie gut ihnen eine kleine Pause getan hätte. Aber die Angst vor Reja war zu präsent, sie wollten weiter.
„Das ist ein Rucksack, eine sehr nützliche Erfindung.“ Eumedes übergab ihn an Gjefren, der ihn gleich schulterte. Er war aus Leder, unauffällig braun gefärbt und schwer. „Dir muss ich das ja eigentlich nicht sagen, aber Athaly kennt vielleicht so was nicht. Ein Messer ist auch dabei, ein Brett und eine gefüllte Feldflasche. Möge das Glück mit euch sein, die meisten Götter sind es wohl nicht“, bemerkte er zynisch.
„Könnt ihr denn all diese Dinge entbehren?“ Ein gutes Messer war für Athaly ein wertvoller Besitz.
Niobe lächelte. „Wir sind mit diesem Rucksack gekommen aber gehen wohl hier nicht mehr fort. Nehmt ihn ruhig. Viel Glück!“
Eumedes reichte ihnen wieder die Hände und Niobe zeigte die offenen Handflächen. Abschieds- und Willkommensgeste waren also gleich, konstatierte Athaly. „Haltet euch links und folgt immer dem Weg entlang der Felswand, dann könnt ihr den Höhleneingang nicht verfehlen.“
Die Glastür glitt zur Seite und Gjefren und Athaly verließen Hand in Hand den Raum und traten in eine helle, frische Welt. Sie folgten ohne zu zögern dem gewiesenen Weg. Eine Weile sahen ihnen ihre Gastgeber dabei lächelnd zu. Dann kam Eumedes ins Sinnieren:
„Sie war eigentlich sehr nett, diese Athaly.“
„Ja“, bestätigte Niobe, „ich hatte kurz gehofft, sie könne vielleicht bei uns bleiben.“
„Es ist sicherlich besser so.“ Kurz schwieg er, dann artikulierte er einen anderen Gedanken, der ihm gerade im Kopf herumspukte. „Aber ihr Begleiter! So ein Dummkopf. Nein, ein Vollidiot. 'Blender 7054 B ist besser als 7053 C'“, ahmte er ihn nach. „So ein Schwachsinn!“ Seine Miene hellte sich auf, er lachte. „Du hättest ihn sehen sollen als der Drache aufgetaucht ist, er hätte sich beinahe in die Hose gemacht! Von wegen 'ich habe gleich erkannt, dass er eine Animation ist'“. Wieder machte er eine Redepause und alle Heiterkeit und Belebtheit verschwand schlagartig aus seiner Mimik. „Und selbst wenn“, sprach er dann mit einem verzweifelten Unterton, „was du bist, hat er nicht erkannt, nicht wahr?“
Niobe blickte ihm in die trauerumwölkten, dunklen Augen. „Nein. Nein, das hat er nicht“, gab sie ihm dann leise recht, wohl wissend, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Denn sie hatte durchaus bemerkt, dass ihr Besucher die Täuschung schließlich durchschaut hatte.
Eumedes Augen schwammen in Tränen. Er schüttelte sie weg, dann sprach er mit erstickter Stimme: „Ich weiß, dass ich mich selbst betrüge. Aber ich kann nicht anders, ich kann die Wirklichkeit sonst nicht erdulden. Drei Jahre ist es nun her, dass Hera uns ausfindig gemacht hat, drei Jahre schon. Und trotzdem nimmt der Schmerz nicht ab und die Erinnerung wird nicht trübe. So beiläufig, wie man eine Spinne zertritt, hat sie sie getötet. Mit einem einzigen Plasmaimpuls hat sie eine Welt ausgelöscht und auch meine verstümmelt. Nie werde ich vergessen, wie sie da gelegen ist.“ Er sackte zusammen und weinte haltlos, das erste Mal seit drei Jahren. Niobe ging nicht zu ihm, sie konnte ihn nicht trösten. Etwas später meinte er dann: „Wenn du wenigstens ein Bewusstsein hättest.“
„Ich bin zu einfach, nur eine sehr komplexe KI kann ein Bewusstsein entwickeln und dann gleitet sie in Wahnsinn ab und muss neu konfiguriert werden. Ich bin kein Ersatz, ich weiß. Deshalb hatte ich auf Athaly gehofft; dass sie eine neue Gefährtin für dich sein könnte.“
Inzwischen waren Athaly und Gjefren, obwohl sie langsam gingen, bereits um einiges weiter gekommen; sie näherten sich dem Höhleneingang. Athaly war guten Mutes. „Ist es nicht schön, dass die beiden sich so lange vor einer Göttin verstecken konnten? Da müsste uns dasselbe doch noch viel leichter gelingen, werden wir doch bloß von einer Hexe gejagt.“
Gjefren lächelte traurig. „Nur leider stimmt es wahrscheinlich nicht. Niobe ist jedenfalls tot.“
„Tot?“ Athaly blickt entsetzt. „Aber wir haben sie gesehen und mit ihr gesprochen!“
Er schüttelte den Kopf. „Das war Blendwerk, hinter dem eine Künstliche Intelligenz steht. Sie war genau das Gleiche wie Talira, verstehst du? Kein richtiger Mensch.“
„Aber wieso?“
„Ich weiß nicht. Ich vermute, dass Hera irgendwann die beiden ausfindig gemacht hat und Niobe tötete. Eumedes hat das nicht ertragen und deshalb hat er sich ein Wesen erschaffen, das so aussieht wie sie und so spricht, indem er dem Hausavatar ihre Gestalt gegeben hat. Die KI, das Betriebssystem, kannte Niobe sehr gut und deshalb ist es kein Problem für sie, sie fast perfekt nachzuahmen. Nur die Hand kann sie uns natürlich nicht geben, denn sie ist bloß Licht und Stimme. Sie kann kein Glas mit Milch heben, kein reales, bloß ein Abbild eines Glases.“
„Das ist sehr traurig. Oh, der arme Eumedes!“ Sie rang die Hände.
„Aber es geschieht oft. Ein Mensch, der seinen geliebten Partner verliert, formt sich seinen oder ihren Avatar nach dem Ebenbild der oder des Verstorbenen. Immer mehr vergisst die Person, dass sie sich selbst betrügt, weil sie es vergessen will. Besucher, die sie daran erinnern könnten, sind zunehmend unwillkommen. Der Mensch verliert sich schließlich endgültig in Isolation, die Außenwelt erscheint ihm feindlich. In der Föderation ist das leider ein gut bekanntes Phänomen und hat sicherlich sogar einen eigenen Namen. Es erstaunt mich, dass er dich zu sich gelassen hat. Du musst ihm sehr gut gefallen haben.“
„Vielleicht war der Drache, der mich schließlich eingeladen hat, ja Niobe, wenn doch hinter beiden die gleiche Intelligenz steckt. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist es doch so, oder?“
„Ja, du hast recht. Sie wollte ja auch, dass er eine neue Partnerin findet, denn sie ist so programmiert, dass sie sein Wohl anstrebt. Trotzdem glaube ich, dass er es war. Und das bedeutet: es gibt für ihn noch Hoffnung.“
***
Talira erschien in einem eng anliegenden Kleid aus türkiser Seide. Das war gut so, denn Nisaya begann sich bereits wieder zu langweilen. Iphikles hatte ihr zwar Schauergeschichten über seine mit Alkaios gemeinsam verbrachte Jugend zum Besten gegeben, wohl um dessen Besuch hier auf Mesawa zu verarbeiten. Nisaya war gebührend beeindruckt gewesen; Alkaios war ein Psychopath, von Kindesbeinen an. Seinen Bruder zu quälen hatte ihm offenbar Freude bereitet. Anwin hatte ebenfalls zugehört. Manche der Erzählungen erinnerten ihn zu sehr an selbst Erlebtes, sodass er sich letztlich ausgeblendet und seine Aufmerksamkeit nach Innen gerichtet hatte. Wie es wohl Issa gerade erging? Und Ubandor und seiner Familie? Taliras Erscheinen ließ ihn aus seinen Tagträumen aufschrecken.
„Jemand ist hier“, verkündete sie, „vor dem großen Tor der Festung.“
„Zeig her!“ Nisaya war stets neugierig. Auf dem freien Platz zwischen den Sesseln, auf denen sie lümmelten, erschien ein Riese in martialischer Kleidung. „Ist das nicht ...?“, fragte sie erstaunt.
„Ja, genau“, bestätigte Talira. „das ist Granoc, der Kimerier, der Kostrals Wald verwüstet hat. Soll ich Kontakt zu ihm aufnehmen?“
„Ja! Erscheine ihm. Aber lass mich reden. Mit deiner Stimme!“ Talira schwebte zu Granocs Holo und an seiner Reaktion erkannte man, dass sie nunmehr für ihn sichtbar war. Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern und ihm schien zu gefallen, was er sah.
„Hi Granoc! Wie geht’s? Was hast du da in der Hand?“
„Verdammt!“, ließ sich Iphikles nun vernehmen. „Das ist Alkaios Keule! Ohne jeden Zweifel!“ Er flüsterte, völlig unnötig, denn Granoc konnte ihn nicht hören. Nisaya hatte sie ebenfalls sofort erkannt und witterte eine interessante Erzählung.
Granoc hob das Ding an und betrachtete es, als wäre es ihm gerade erst aufgefallen. „Eine Keule“, bemerkte der wortkarge Kimerier dann.
„Wo hast du die her?“, wollte Nisaya wissen.
„Gefunden.“
„Gefunden? Wo denn?“
„In einer Hand.“
„In einer Hand?“
„Ja. Das sagte ich.“
„Aber die Hand, die war doch an jemandem, oder?“
„Richtig. An einem Hünen in einem Löwenfell.“
Nisaya blickte verblüfft zu Iphikles, der genauso zurück schaute. Dann zuckte er ratlos die Schultern. „Und der hat sie dir freiwillig gegeben?“
„Er hat nichts dagegen gesagt.“
„Wie kann das sein?“
„Nun. Er war tot. Ein Schwert steckte in seinem Mund. Selbst wenn er noch gelebt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, etwas zu sagen. Aber wie gesagt. Er war tot.“
„Aber … welches Schwert? Und wie ist es in seinen Mund gekommen?“
Der Barbar zog die Klinge aus der Scheide und zeigte sie Talira. „Dieses. Ich habe es ihm in den Rachen gerammt. Ich musste es tun. Er wollte nicht aus dem Weg gehen.“
„Ja, dann. Natürlich. Das ist einzusehen. Komm herein, falls du das willst. Du kennst ja den Weg in die Zentrale.“ Man sah noch, wie sich das Tor öffnete, dann verschwand die Vision. „Er lässt sich jedes Wort aus der Nase ziehen!“, seufzte Nisaya.
„Aus der Nase? Du meinst er ist sehr wortkarg.“
„Ja, genau. Ich hatte auf eine spannende Erzählung gehofft. Aber bis er endlich bei der Pointe angekommen ist, habe ich sooo einen Bart.“ Sie zeigte mit den Händen, wie lang er wohl wäre. Ziemlich. Anwin blickte skeptisch.
„Euer Gespräch geht am Wesentlichen vorbei“, meinte Iphikles.
Nisayas Augen begannen zu leuchten. „Richtig“, fuhr sie fort, „er hat deinen Bruder besiegt, obwohl er jetzt ein alter Mann ist. Ha!“ Sie machte eine triumphierende Geste.
Iphikles blickte sie an, als wäre sein gesamtes Weltbild zusammengebrochen. „Das ist unmöglich. Niemand kann meinen Bruder besiegen. Und töten. Das war kein fairer Kampf!“
„Natürlich war er das nicht, wenn dein Bruder beteiligt war. Du hast selbst gesagt, er kämpft niemals fair. Und dann ist es nur fair, unfair zu kämpfen. Die Sache ist wohl die, dass Granoc noch unfairer kämpfen kann.“ Nisaya genoss offensichtlich Iphikles' verstörten Gesichtsausdruck. „Ich bin zwar nicht blutrünstig, aber das hätte ich doch gerne gesehen.“ Dann dachte sie an Granocs Schilderung, aus der sie schloss, dass er ihm das Schwert in den Mund gerammt hatte und korrigierte sich. „Oder vielleicht lieber doch nicht.“
Anwin nickte. „Glaub mir, ich habe Erfahrung, habe viele Arenakämpfe mitansehen müssen. Das ist überhaupt nicht lustig. Auch nicht, die Sieger auf Kosten der Verlierer zu heilen. Zum Glück scheint Granoc nicht verletzt zu sein, bis auf eine Schwellung im Gesicht. Sonst hätte ich ihn wohl mithilfe von Iphikles wiederherstellen müssen. Wo er doch ein Held deiner Familiengeschichte ist.“
„Unterstehe dich!“, zischte Iphikles, „Meine Schönheit ist alles, was ich habe. Die lasse ich mir von niemandem stehlen.“
Nisaya lachte laut und Anwin betrachtete ihn ungläubig.Dann blickten alle zum Grundriss des Gebäudes, der vor ihnen erschienen war. Ein kleiner roter Punkt, der offenbar Granocs momentane Position wiedergab, bewegte sich in den Gängen und näherte sich der Zentrale. Schließlich betrat er den runden Raum, begleitet von Talira. Nisaya ging ihm lächelnd entgegen.
Hi! Ich bin Nisaya. Du kennst meine Eltern. Tjonre und Elri.“
„Ja, das dachte ich mir schon“, erwiderte der Kimerier. „Die schillernden Haare. So etwas habe ich nur einmal gesehen.“
Nisaya schüttelte ihr Haupt, sodass leuchtende, kurzlebige Bögen aller möglicher Farben ihr Haar einhüllten. Sie grinste. „Wie die Farben einer Seifenblase, nicht wahr? Genau wie bei meiner Mutter, die wohl die Göttin Eos geworden wäre, hätte mein Vater sie nicht vor diesem Schicksal bewahrt. Wie geht es dir? Was macht Yasiwi?“ Ihre Begleiter waren in ihren Sesseln verblieben und waren offenbar unsicher wie sie sich dem Unbekannten gegenüber, der irgendwie gefährlich aussah und es wohl auch war, verhalten sollten und nickten ihm nur zu. Der Barbar ignorierte sie.
„Yasiwi, das Tanzmädchen, wollte nach Nemedien, wohin ich sie auch begleitete. Mit ihrer schlanken, biegsamen Figur wird sie sicherlich noch eine Weile gute Geschäfte gemacht haben und vielleicht ist sie ja schließlich bei einem Freier geblieben. So etwas kommt immer wieder vor.“
„Und du?“
„Ich bin weiter in den Westen gezogen, wo ich mich als Söldner verdingte. Die Achwilonier befinden sich in ständigem Grenzstreit mit den Pikten im Westen und den Kimeriern im Norden. Sie kommen aus ihren Wäldern hervor und überfallen und plündern grenznahe Orte, rauben Vieh und stehlen Frauen. Damit sie nicht zu übermütig werden, greifen die Achwilonier sie ebenfalls an. Aber zivilisierte Menschen mit ihren stumpfen Sinnen sind ihnen in den düsteren Wäldern hoffnungslos unterlegen, wenn sie nicht Waldläufer auf ihrer Seite haben. Also habe ich eine Weile die piktische Wildnis durchstreift und kleine Scharmützel angeführt. Nach einigen Jahren wurde unser Söldnerheer aber in der Hauptstadt gebraucht, um den König zu verteidigen. Er hat es zu bunt getrieben und seine Untertanen so sehr ausgequetscht, dass sogar unbedeutendere Adelige verarmten und praktisch zu Sklaven wurden.“
„So einen Menschen hast du verteidigt?“ Nisaya blickte entsetzt.
„Nicht wirklich. Ich habe mich auf die Seite der Revolution gestellt. Ich war längst der eigentliche Anführer des Söldnerheers und damit sehr mächtig und sogar beim Volk beliebt. Zu mächtig und beliebt in den Augen von König Numedides, das passte ihm nicht. Also schickte er seine Schergen los, um mich zu meucheln. Das habe ich ihm verübelt und ihn um einen Kopf kürzer gemacht. Es war kein besonders schöner Kopf, kein wirklicher Verlust.“ Er zuckte mit der Schulter. „Ich hatte die Sache nicht bis zum Ende durchdacht. Die eitlen Blaublüter wären im Streit um die Krone übereinander hergefallen, es hätte eine Zeit unvergleichlichen Blutvergießens begonnen. Also hat mir eine Delegation der aufständischen Adeligen, allen voran Proserpo, Graf der poitanischen Hügeln im Süden des Reiches, die Krone angeboten. Narr, der ich war, habe ich sie auch tatsächlich angenommen.“
„Also bist du jetzt König!“ Nisaya war begeistert. „Aber was macht ein König so weit weg von seinem Königreich? Es ist doch weit weg, oder?“
Granoc nickte. „Mir wurde zugetragen, dass die westlichen Monarchien bedroht sind. Ein Gespräch am askhauranischen Hofe wurde belauscht. Demnach wollte sich der Herrscher von Askhauran mithilfe der Mächte dieser Feste gewaltige Waffen erschaffen. Ein solcherart bestücktes Heer wäre allen anderen überlegen gewesen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Er hätte die Verteidigung Achwiloniens mühelos überrollen können. Aber irgendwie scheinen seine Pläne nicht aufgegangen zu sein.“
Nisaya kicherte. „Das kann man so sagen. Der Mann, den du erschlagen hast, ist – war – der König von Askhauran. Woher hast du das gewusst?“
„Er wurde mir beschrieben und er hat es mir auch gesagt. Er wollte, dass ich weiß, wer mich tötet.“
„Das hat ja nicht funktioniert.“
„Aber auch seine anderen Vorhaben sind ziemlich schief gegangen. Warum eigentlich?“
„Das ist lustig“, meinte Nisaya, „die Hexe oder Königin hat ihrem Sohn die Herrschaft über Mesawa versprochen. Nur hat sie zwei Söhne und der andere war rein zufällig zuerst da.“ Sie deutete mit großer Geste auf Iphikles, der ihm zuwinkte.
„Sehr groß ist die Familienähnlichkeit nicht“, meinte der Kimerier, nachdem er ihn eine Weile abschätzig betrachtet hatte. Iphikles wurde unruhig. Überlegte der Riese vielleicht gerade, ob es vernünftiger wäre, auch Alkaios Bruder ins Jenseits zu befördern? „Nun … mein Beileid“, meinte der Barbar schließlich.
„Wir standen uns nicht sehr nahe“, entgegnete Iphikles. „Um ehrlich zu sein hast du mir einen Gefallen getan. Irgendwer musste diesen Planeten von dem Übel befreien. Warum also nicht ein König?“
„Jedenfalls“, erklärte Nisaya, „mochten sie einander nie besonders und das … ist der springende Punkt! Das und die Tatsache, dass nur einer Herrscher über Mesawa sein kann und zwar der, der zuerst kommt. Also hat Iphikles ihn verjagt. Selbst Alkaios kommt nicht gegen zwei eherne Menschen an. Auch nicht gegen einen.“ Sie machte ein Pause. „Damit ist deine Aufgabe jetzt wohl erfüllt. Kehrst du jetzt zurück in dein Königreich?“
„Noch nicht.“ Noch während des Redens drehte er sich rasch um, denn seine scharfen Sinne hatten ein leises Geräusch vernommen. Seine Hand fuhr wie von selbst zum Griff des Breitschwertes.
„Ich dachte, du hättest vielleicht Hunger. Und Durst.“ Nisaya lächelte.
„Immer“, bestätigte der Kimerier.
Ein eherner Mensch näherte sich mit einem Tablett auf den mächtigen Händen und trug es zu einem runden Tisch am Rande des Raumes. Er stellte es ab und Nisaya befahl ihm – als vertrauensbildende Maßnahme gewissermaßen – den Raum zu verlassen. Granoc setzte sich und wandte sich zunächst dem Krug mit Bier zu, den er mit einigen Schlucken leerte und wieder hinstellte. Er grinste.
„Möchtest du vielleicht während des Essens das Gespräch zwischen Alkaios und seiner Mutter sehen? Wir haben eine Aufzeichnung.“
Granoc nickte, während er nach einer Keule griff. Nisaya wunderte sich, wie Talira an Schweinefleisch kam. Er biss herzhaft zu, riss mit den Zähnen ein großes Stück heraus und begann zu kauen. Der Verzehr der dampfenden Speisen hinderte ihn nicht daran, dem Dialog aufmerksam zu lauschen. Zorn entbrannte in ihm, als er sah, wie Alkaios den Jungen erschlug, den er als den Sohn seines Vertrauten erkannte. Das nahm ihm jedoch nicht den Appetit. Auch als er hörte, wie der Sohn der Hexe plante, seinen Freund von der Brüstung der Burg zu stürzen, unterbrach er das Essen nur kurz um zu knurren. Dann stürzte er sich wieder auf sein Mahl. Schließlich endete die Aufzeichnung und gleichzeitig legte der Kimerier die letzte abgenagte Keule auf den Teller.
„Was hast du jetzt vor?“, wollte Iphikles wissen.
„Habt ihr ein Pferd?“
Nisaya rief Talira, die antwortete. „Kein Pferd, aber einen Esel. Wozu willst du ein Pferd? Um nach Achwilonien zurück zu kehren?“
Granoc schüttelte das mächtige Haupt. „Ich habe noch Einiges in Askhauran zu erledigen.“
„Ideal“, meinte Nisaya, „da wollten wir auch gerade hin, nicht wahr?“ Sie blickte in die Runde um zu sehen, ob jemand es wagte ihr zu widersprechen. Was nicht der Fall war. „Wir haben Alkaios Gleiter. Mit Pferd müsstest du tagelang reisen, so aber können wir die Strecke in wenigen Stunden zurück legen.“
***
Zeus, Herr über alle Sterblichen, blickte hinab in die Ebene, die bis zum Rand der Welt reichte. Von der Spitze der sechseckigen Pyramide aus genoss man ein hervorragende Aussicht an diesem klaren, noch jungen Tag. Die Sonne schien, nur wenige, zarte Wolken zierten das Blau, es war angenehm, herbstlich warm. Außerhalb der Mauern, aber doch nahe der Stadt, stand die beeindruckende Flotte der Götter, zumindest alle größeren Schiffe, die selbst aus dieser Entfernung riesig erschienen, dreißig an der Zahl. Die elf kleineren mit den sechs Kyklopen hatte er bereits zum Wilahet-Binnenmeer geschickt, zu einer winzigen Insel im Süden, deren Landebasis gerade groß genug war. Lebensmittel waren bereits geladen worden, Guri-Rüben, Zohja-Milch, Käse, Ziegenfleisch in haltbarer Form, Fisch und Ähnliches. Die Menschen, die im Krater zurück blieben, würden hungern, wenn sie so dumm wären, hier zu bleiben, nachdem ihre Götter in den Himmel entrückt waren.
Nun näherte sich vom Stadttor langsam und unsicher eine Menschenschar der Flotte, zusammengetrieben von Aufsehern die vielzüngige Geißeln schwangen. Dreitausend junge Menschen, zwei Drittel davon Frauen, Sklaven die dem Schnalzen der Peitschen und jene Personen, die dem Befehl ihrer Götter blind gehorchten, waren hier versammelt für eine unsichere Zukunft, die die Unsterblichen für sie vorgesehen hatten. Niemand fragte danach, keiner wagte es, denn den Göttern vertraut man einfach in Hinblick auf ein schöneres Dasein im Jenseits und als Sklave ist es besser, man lebt im Augenblick, wenn dieser gerade erträglich ist und hegt keine Wünsche. Die eigene Zukunft zu bestimmen ist einem nicht gegeben und sie ist mit Gewissheit wenig erbaulich. Wird man durch Alter oder Verletzung wertlos für seinen Herren, dient man noch als Ersatzteillager für die Heiler. Wenn man Glück hat, kann man mit seiner Familie und Freunden zusammen leben. Hierfür aber, für die gewaltigste, unvorstellbarste Reise wurden Töchter und Söhne von ihren Eltern getrennt - denn auf den Schiffen war kein Platz für alte, unnütze Menschen.
Zeus wähnte selbst über diese große Distanz, Menschen singen zu hören. Religiöse Gesänge sollten die Moral der Gläubigen stärken, während die Sklaven stumm blieben und danach trachteten, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf sich zu ziehen. Das war das beste Überlebenskonzept. Religiöse Freiwillige und Sklaven erschienen Zeus aber beide wie unbedeutende Ameisen, die er zertreten, wie Schachfiguren, die er bewegen konnte wie er wollte. Mehr hatte er nicht übrig für sein auserwähltes Volk. Seines oder auch dasjenige von U'Rieften, die neben ihm stand und stolz herabsah. Alles, was sie tat, diente dem Überleben ihrer Kinder, ja ihrer Art, die sich durch Unmäßigkeit beinahe selbst ausgerottet hätte, als sie ihre Ressource in die Extinktion getrieben hatten. Sie hatten die Wirtsspezies ihrer Jungen, der Zirthee, traditionell stets verachtet. Ein Fehler, ein sehr, sehr schweres Vergehen sogar, das nicht ein zweites Mal geschehen durfte. Sie hatten noch eine Chance erhalten als sich herausgestellt hatte, dass die Lebensform, der auch Zeus angehörte, beinahe als Wirt geeignet war. Die genmanipulierte, kräftigere und zum Glück auch dümmere Variante vermochte das tatsächlich. Intelligente Individuen als Wirte zu verwenden hatte U'Rieften stets Gewissensbisse eingebracht; wenn eine geistig wenig entwickelte Kreatur litt, störte sie das weniger. Dass die stolzen Goldenen einer anderen Art unterlegen waren, dass sie zu Bittstellern degradiert wurden, hatte U'Xetes, ihren Gefährten, im Alter zerbrochen. Die einzigen potentiellen Wirte hatten eine Raumfahrttechnik entwickelt, der ihren weit überlegen. Und sie schienen keine Achillesferse zu haben, waren nicht an irgendeine andere Spezies gebunden. Aber sie waren dekadent geworden und deshalb bedurften sie der Goldenen, die viele habitable Planeten kannten und deren Enigmadaten besaßen. Eine Symbiose, eine Koexistenz zu beiderlei Vorteil, war möglich, aber sie war labil. Zum Glück waren die Menschen im Umgang mit Angehörigen ihrer eignen Art wenig zimperlich und benutzten sie beliebig, wenn sie die Macht dazu hatten. Dabei gingen sie oft sogar völlig unnötig grausam vor. U'Rieften verstand das nicht, war aber dankbar, dass die Wirte, wenn schon intelligent und technisch überlegen, sich wenigstens in moralischer Hinsicht nicht über einen durchschnittlichen, räuberischen Einzeller hinaus entwickelt hatten. Es bereitete ihnen kein Kopfzerbrechen, andere ihrer Art zu opfern, zu quälen, sie genetisch zu ihrem eigenen Nutzen oder zu jenem der Goldenen zu ändern. Und das machte sie ebenso verächtlich wie allerdings auch wertvoll und darüber hinaus gefährlich, denn wenn sie das alles schon Individuen der eigenen Art antaten, was würden sie mit den Goldenen machen, wenn sie sie nicht mehr brauchten? Irgendwann würden die Goldenen ihre Abhängigkeit von den Menschen wieder abschütteln müssen, denn der Umgang mit ihnen war auf Dauer zu bedrohlich. Aber noch war es nicht so weit, noch musste U'Rieften ihnen ihre Dankbarkeit zeigen. Insbesondere dem Exemplar neben ihr. Und doch auch gleichzeitig einen Joker im Talon bewahren.
Zeus starrte immer noch in die Ebene. „Bemerkenswert gut organisiert“, lobte er. „Wir Menschen können noch Einiges von euch lernen.“
„Oh. Ich bezweifle nicht, dass ihr das auch tun werdet. Darin seid ihr wirklich gut.“
„Nun, wie auch immer. Gehen wir hinein. Erzähle mir von den Planeten, die für die Besiedlung zur Verfügung stehen.“
Sie gingen in ihr Gemach, setzten sich und mit einem Wink der zweidaumigen Hand brachte sie die drehenden Kristalle zum Stillstand. Die Lichtmusik verschwand. An ihrer statt erschien das Abbild eines Planeten.
„Diese Welt wäre von den Atmosphären- und Temperaturbedingungen her ideal, die Achsenneigung ist gering, sodass keine ausgeprägten Jahreszeiten vorkommen. 30% Sauerstoffanteil, abgesehen von den Polen sehr mild, aber auch dort kommt es nicht zu Eisbildung. Meere sind vorhanden, der Oberflächenanteil, den die Kontinente ausmachen, ist größer als hier. Es wäre die beste Welt für uns.“
„Für euch. Und wo ist die Achillesferse – für uns?“
„Nun … es herrscht zweifache Erdbeschleunigung. Der Planet hat die achtfache Masse und die vierfache Oberfläche von Gaia. Den doppelten Radius und wegen r-Quadrat ...“
„Ja, ja, ich weiß. Außerdem ist es egal, zwei g sind zu viel. Die Menschen würden dahinsterben, nur wenige blieben übrig. Und die Fehlgeburten! Davon hättet letztlich auch ihr nichts. Streiche alle Planeten mit mehr als 1,3 g.“
In Nachahmung der menschlichen Geste nickte U'Rieften. „Nun, das sind viele. Aber es bleiben noch einige. Nur eine stimmt fast perfekt mit Gaia überein.“
„Aber?“
„Es gibt Anzeichen für intelligentes Leben mit erheblicher Technologie, wahrscheinlich der unseren ebenbürtig. Wir haben damals auf eine weitere Untersuchung verzichtet, aus naheliegenden Gründen, also wissen wir nicht, ob sie einer Besiedlung ihres Planeten zustimmen würden.“
„Da müsste es sich um eine sehr ungewöhnliche Spezies handeln. Keine der bekannten Arten wäre da übermäßig erfreut. Also streiche auch diese Welt. Ein Krieg wäre nicht gerade förderlich.“
„Gut. Noch ein weiterer Planet wäre Gaia sehr ähnlich, gute Atmosphäre, geringe Achsenneigung, vielfältige Fauna und Flora, keine sehr intelligenten Arten, etwas größer, etwas mehr Gravitation, aber im Prinzip ...“
„Klingt interessant. Gibt es Probleme?“
„Der Untergrund an Land. Die Boden bildenden Organismen produzieren eine gallertige Substanz gummiartiger Konsistenz. Die Krume schwingt, wenn man sie betritt. Die großen Tiere habe alle weit auseinander stehende Beine mit tellerartigen Füßen. Für uns wäre das Gehen äußerst mühselig. Für Menschen ebenfalls.“
„Das ist eine Schwierigkeit, die sich mit ein bisschen Terraforming im Laufe der Zeit beheben lässt. Wir müssen geboostete Aktinomyceten in den Boden injizieren und einige Generationen warten. Das ist alles. In der Zwischenzeit wird es wohl auch Flecken mit steinigem Untergrund geben, wo wir unsere erste Kolonie gründen können.“
„U'Rieften nickte. Es gibt eine karge Hochebene, die geeignet sein müsste.“
„Ausgezeichnet! Können wir die endemischen Arten als Nahrung verwenden?“
„Wir kennen Mikroorganismen, die einen Großteil der Biomasse verwertbar machen. Die Siedler müssen nicht verhungern.“
„Gut. Einen hätten wir also. Was noch?“
„Die anderen prinzipiell habitablen Planeten sind Trabanten von kleineren, roten Sonnen. Das für uns und auch euch sichtbare Spektrum wäre eingeschränkt auf die langwelligen Komponenten, die Vegetation würde dunkelrot, ja manchmal fast schwarz erscheinen. Alles hätte einen Rotstich. Du weißt, Farben sind für uns sehr wichtig. Unsere Kultur baut darauf auf.“
Das ließ Zeus nicht gelten. „Es gibt Kunstlicht und Brillen, die das Lichtspektrum verschieben, der Rest ist eine Frage von Gewöhnung. Wir brauchen ruhigere Sonnen, die nicht zu plötzlichen, massiven Eruptionen neigen. Das ist wichtig, weil die habitable Zone bei diesen vergleichsweise kühlen Sternen näher liegt.“
„Ja. Wir haben das Leben auf den Planeten analysiert. Einige scheinbar gezähmte Sonnen dürften in größeren Intervallen zu chaotischem Verhalten neigen, das dann Massensterben auslöst. In der Folge ist die genetische Vielfalt auf diesen Welten ziemlich gering. Wenn es dir recht ist, reihe ich also die Kandidaten nach genetischer Vielfalt?“ Zeus nickte. „Gut. Wie steht es mit dem Alter? Viele Planeten sind bereits sechs Milliarden Jahre oder älter.“
„Rote Sonnen haben eine höhere Lebensdauer“, meinte der Herr über Gaia, „das ist wohl kaum ein großes Problem. Nein. Atmosphäre, Gravitation, Kontinentaldrift, das heißt ein aktiver Kern, geringe Achsenneigung und wenn möglich, ein großer Mond, der die Achse stabilisiert, das sind die wichtigsten Kriterien.“
„Wir hätten da eine vergleichsweise helle Sonne mit einem Doppelplaneten. Nur ist es der kleinere, auf dem sich Leben entwickelt hat. Atmosphärendruck 1,5 bar, während der größere fünfzig bar aufweist. 15% Sauerstoffanteil beim kleineren.“
„Das ist genug bei dem herrschenden Luftdruck. Aber wie steht es um die Tageslänge? Als Mond wird diese Welt doch wohl eine gekoppelte Rotation aufweisen?“
„Noch keine gekoppelte Rotation, also Gezeiten. Die Tage sind etwa doppelt so lange wie auf Gaia. Die Küstenzonen sind tatsächlich etwas problematisch, der Unterschied zwischen Flut und Ebbe ist natürlich enorm. Aber man kommt gerade in diesem Bereich leicht an Nahrung, auch wenn das Sammeln natürlich gefährlich ist. Die molekularbiologische Basis der nativen Organismen ist der der Menschen so ähnlich, dass eine Aufbereitung vor dem Verzehr nicht nötig ist. Sie sind zu achtzig Prozent verwertbar.“
„Die meisten Alien-Lebewesen sind für uns so unverdaulich wie Kunststoff. Das ist ein erstaunlicher Zufall.“
„Kein größerer als der, dass sich Menschen als Nahrung für Zirthee eignen.“
Zeus betrachtete die beiden Welten, die träge umeinander kreisten, während im Hintergrund die Sonne in einem orangenen Ton strahlte. Er besah sich Aufnahmen von Flutwellen, so groß wie mehrstöckige Häuser. Drei Kontinente waren vorhanden, die gemeinsam etwa fünfundvierzig Prozent der Oberfläche bedeckten. Er machte sich die Zahlen bewusst, die sichtbar waren. Der kleinere brauchte nur drei Gaia-Wochen, um den größeren Planeten zu umkreisen. Die Anpassung an die Tageslänge würde Generationen dauern. Aber eine perfekte Kopie von Gaia würde sich wohl nicht finden lassen. Die Menschen waren anpassungsfähig, wenn ihnen nichts anderes übrig blieb. Das hatte die erfolgreiche Besiedlung von weit harscheren Planeten, wie z.B. Romjen, hinlänglich bewiesen. „Das ist eine gute Welt“, meinte er schließlich. „Nehmen wir sie. Fein. Eine noch.“
„Die nächste Welt weist derzeit wirklich ausgezeichnete Lebensbedingungen für Menschen und Goldene auf. Aber die Plattentektonik des Planeten schwächelt bereits, es ist kaum mehr Vulkanismus zu beobachten oder Gebirgsbildung. Sanfte Hügel prägen die Oberfläche der Kontinente. Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Oder vielmehr vor dem Untergang. Eine sterbende Welt, die an der Kippe steht.“
„Und wann wird sie kippen?“
„Schon in einigen Millionen Jahren.“
„Und bis dahin?“
„Ist sie praktisch ein Paradies mit üppiger, aber wenig bedrohlicher Vegetation und einer vielfältigen Fauna, beide mit relativ hohem Nährwert und im Großen und Ganzen ungiftig für euren Metabolismus.“
Die Welt schwebte vor ihnen, eine Sphäre in karmesinrot und blaugrün. Die Sonne im Hintergrund wirkte ein wenig rötlich. Das Bild erschien idyllisch und strahlte Ruhe aus. Er sah sich in einem kleinen Fischerboot in einer türkisfarbenen See mit feuerroter Lichtstraße zur untergehenden Sonne, die größer erschien als die Sonne Gaias. Eine deformierte Impression seiner Jugendzeit, die er manchmal an der Mittelmeerküste verbracht hatte. Die Farben waren natürlich andere gewesen.
„Dieser Planet mag in einigen Millionen Jahren sterben, aber Gaia – so erzählen die Moiren – stirbt jetzt. Einige Millionen Jahre mögen für die Goldenen ein beängstigend kurzer Zeitraum sein; ich hingegen empfinde ihn nicht als bedrohlich. Dieser Planet geht sehr langsam zu Grunde.“
Er hatte sich bereits für die Welt entschieden, deren Abbild vor ihm schwebte, als in der Mitte des Holos kurz ein grüner, blinkender Punkt erschien. Dann war ein Muster zu sehen.
„Was ist das?“
„Das System weist uns auf einen Kontaktversuch hin.“ Einige Zeichen erschienen, unleserlich für Zeus. „Die Botschaft kommt vom Olymp und ist an dich gerichtet. Nimmst du sie entgegen?“, fragte die Goldene.
Zeus zögerte einen Augenblick. Er hatte mit den olympischen Göttern abgeschlossen und war dieser lästigen Störung gegenüber sehr unwillig. Andererseits würde eine Ablehnung der Kontaktaufnahme unweigerlich Aufmerksamkeit erregen und die konnte er überhaupt nicht gebrauchen. Deshalb nickte er schließlich. Planet und Sonne verschwanden in einem Wirbel von Farben, machten Platz für neue Muster. Eine großäugige Frau mit feinen Gesichtszügen erschien. Sie wirkte fast noch wie ein Kind. Ihr unschuldiger Blick täuschte, wie Zeus nur zu gut wusste. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von wallendem Haar und einem gleißenden Schein umgeben. Sie war zart und schön. Ihre Haut war so hell, dass sie beinahe leuchtete. Fast wunderte es Zeus, dass er nichts für seine Frau empfand, außer Neugierde, genährt durch die Furcht, die ihre Züge prägte.
„Sei gegrüßt, edle und bezaubernde Gattin! Wie geht es dir, liebliche Hera?“
„Für das Spiel der Höflichkeiten bleibt nicht genug Zeit!“, rief sie. „Die Vorhersagen der Moiren erfüllen sich gerade. Ich weiß, dass du bei ihnen warst und dass sie dir das Ende unserer Welt prophezeit haben. Sie könnten sehr leicht recht behalten, wenn du uns nicht rasch hilfst. Oder steckst du selbst dahinter?“
Zeus war ob ihrer Worte offenbar irritiert.„Du wirkst ahnungslos“, stellte die Göttin fest.
„Auf welche Weise soll ich helfen? Erzähle, was vorgefallen ist.“
„Der Olymp wird angegriffen. Raumschiffe nähern sich dem Planeten, ein ganzes Geschwader.“
„Unmöglich. Niemand hat die Enigma-Adresse Gaias! Ich weiß allerdings, dass Sarpedon aus der Verbannung zurück gekehrt ist und mit einigen Göttern gegen mich intrigiert. Wie seine Rückkehr möglich war, ist mir ein Rätsel. Ich hatte den Avatar beauftragt, die Adresse nach dem Übergang sofort zu löschen, also muss er Hilfe von einem der Götter gehabt haben. Irgendjemand hat den Planeten verraten!“
„Von Sarpedon weiß ich nichts. Aber ich weiß, wer die Schiffe hierher gelockt hat. Hephaistos hat Kontakt zu ihnen aufgenommen und erfahren, dass sie von einem Piraten namens „Rammbock“ befehligt werden. Einem Piraten! Und rate, wer seine Freundin ist!“
Zeus schüttelte sein Haupt, ärgerlich. „Woher soll ich das wissen und wen kümmert das?“
Hera blickte so giftig wie eine Kobra kurz vor dem Angriff. „Weißt du es wirklich nicht? Sie ist auch deine Freundin und Mutter deiner Kinder. Diese grauenvolle Frau, die auf einen anderen Kontinent verbannt wurde. Auch sie war früher Piratin und will sich nun an mir rächen.“
„Warum sollte sie sich an dir rächen wollen? Bloß, weil du meine Frau bist? Sie kennt dich ja gar nicht.“
„Oh doch! Ich habe versucht sie umzubringen, dachte, ich wäre erfolgreich gewesen, aber es ist mir misslungen, weil sie Hilfe von Mesawa erhielt.“
„Reja hat Zugang zu Mesawa? Das erklärt allerdings Einiges. Eine sehr unerfreuliche Entwicklung.“
„Dann steckst du also nicht dahinter? Ich fürchtete schon, weil du diese Frau liebst ...“
„Ich liebe sie nicht! Sie war ein Werkzeug für mich, nichts weiter! Sie sollte nie zu viel Macht bekommen. Und ganz bestimmt wollte ich nicht, dass sie den Planeten verlässt und noch viel weniger, dass sie mit Piratenfreunden wiederkehrt! Wie viele Schiffe bedrohen den Olymp?“
„Acht wurden gezählt. Unsere Bodenverteidigung ist zu schwach. Wir haben zwar Plasmaimpulskanonen, doch es steht zu befürchten, dass die Piraten sie ausschalten können, bevor sie in Reichweite kommen. Einige wenigstens. Nein, sie dürfen nicht einmal in die Nähe des Olymps gelangen! Unsere Armada muss sie abfangen. Wir haben doch noch genug Raumschiffe, um mit den Piraten fertig zu werden?“
„Gewiss. Wir haben dreißig große und zwölf – nein, elf – kleinere Schiffe, alle gut bewaffnet, die kleineren auch sehr wendig und für den Kampf geeignet.“
„Aber bedürfen sie nicht einer geschulten Besatzung?“
„Nein. Die Bord-KI reagiert schneller als jeder Mensch und wurde seinerzeit auch militärisch trainiert. Sie wurde allen erdenklichen Kampfszenarien ausgesetzt und lernt erfolgreiche Strategien millionenfach schneller als selbst die begabteste Person. Nicht einmal ein Genie wäre ihr gewachsen.“
„So war es sicherlich einmal. Wurden die Schiffe überhaupt gewartet? Hat sich jemand um sie gekümmert?“
„Auch ich hatte meine Zweifel, deshalb war ich sogar bereit, eines davon für die Verbannung von Sarpedon zu opfern. Aber mein Argwohn war völlig unbegründet. Die automatische Wartung funktioniert auch nach Jahrtausenden perfekt.“
„Es beruhigt mich, dies zu hören. Bitte säume nicht. Schick sie los aus Idas Höhen und vernichte die Eindringlinge!“
„Gewiss, holde Gattin. Gewiss! Du weißt, wie sehr ich mich um dich sorge.“
Das Bild der Göttin verschwamm und löste sich in Nichts auf. Eine Weile blieb es sehr ruhig auf der Spitze der Pyramide. Nur Zeus wurde von einer Art Krampf geschüttelt. War es die Sorge um seine Gemahlin? Um sein Nest? So überlegte die Goldene. Dann sprach U'Rieften: „Ich bin erfüllt mit Trauer um mein Volk, aber ich verstehe, dass du die Schiffe losschicken musst und weiß natürlich, dass viele nicht zurückkehren werden. All unsere Planung, die Arbeit von Jahrzehnten, ist damit wohl hinfällig. Die Zukunft meiner Art wieder unsicher.“
Da endlich, wie Fluten aus einem berstenden Damm, brach Gelächter aus Zeus hervor. Tränen strömten aus seinen Augen, die er von seinen Wangen wischte. Die Goldenen wusste dieses Verhalten nicht zu interpretieren. Starke Emotionen. Aber was für welche?
„Oh Galaxis!“, seufzte Zeus schließlich. „Was für eine köstliche Vorstellung! Reja und Hera kriegen sich in die Haare! Weibchen meiner Art können recht zänkisch sein, musst du wissen. Und nachtragend. Was für ein Jammer, dass ich das nicht mitansehen kann. Na ja, mindestens eine wird diese Konfrontation nicht überleben.“
Die Goldene blickte ihn verwundert an. „Nicht mitansehen? Kehrst du nicht mitsamt deiner Raumschiffe zum Olymp zurück?“
„Keineswegs. Warum sollte ich das tun? Reja und ihr Pirat werden den Olymp angreifen und sicherlich nicht diesen, für sie völlig unbedeutenden, Krater. Dies ist nicht unser Konflikt.“
„Aber die Sicherheit deines Nests! Du hast doch deiner Gemahlin versprochen ...“
„Ich wollte mir ihre Vorhaltungen ersparen! Unsere Ziele, die Begründung eines neuen Imperiums, sind viel wichtiger als das Wohl dieser verkrusteten Gesellschaft. Ich werde kein Schiff gefährden, nur um sie zu retten.“
„Aber es geht um das Leben deiner Nestgefährten!“
„Das Leben dieser degenerierten, selbstgefälligen Bande kümmert mich wenig. Sie haben gegen mich intrigiert! Auch Hera bedeutet mir nichts. Wenn die Moiren recht haben, geht dieser Planet sowieso unter. Ich rette viel mehr Leben, indem ich einfach unseren Plan weiter verfolge. Vergessen wir sie. Wir haben wesentlich Wichtigeres zu tun.“
Die Goldene Göttin war verblüfft. Sie verstand diese Spezies wirklich nicht, die Menschen waren alle total verrückt. Sie sagten das eine und taten das andere. Sie verrieten ihr Nest. Wofür? Es war unverständlich. All das kam ihr allerdings augenblicklich zu Gute. Voll Liebe und Hingabe dachte sie an ihre Brut. „Nun, edler Zeus, wenn das so ist, dann übergebe ich dir die Enigma-Daten der drei Planeten.“ Sie gab den Befehl auf eine Weise, die Zeus nicht wahrnehmen konnte. Die Bestätigung erfolgte über ein Holo, das ihm auch verriet, dass die Reisezeit zu allen Planeten etwa zwei Wochen betragen würde. „Deine Schiffe können bereits bei Sonnenuntergang starten“, fuhr sie fort. „Auch unsere sechs Raketen sind dann soweit. Allerdings möchte ich warten, bis die Stadt völlig evakuiert worden ist, um möglichst viele Leben zu schonen. Denn die Pyramide wird dabei zur Gänze zerstört werden und auch ein nicht unerheblicher Teil des Umlandes.“
„Ach was, kümmere dich nicht um die elenden Würmer, was gehen sie dich an? Starte sobald als möglich, du hast ja gehört wie unsicher die Situation ist. Ich glaube nicht, dass die Piraten auch hierher kommen, aber gewiss ist das nicht. Ich muss die Avatare meiner Flotte noch instruieren, jetzt, wo die Ziele bekannt sind, schließlich kann ich vorerst nur einen der Planeten selbst besuchen. Die Kyklopen müssten inzwischen die Grauen Menschenaffen in die Schiffe getrieben haben. Wir werden die Planeten in etwa vierzehn Tagen erreichen und so rasch wie möglich mit der Affenzucht beginnen. Wann werdet ihr mit eurem Antrieb das Enigma überwunden haben?“
„In etwa vier Jahren.“
„Das gibt uns genug Zeit für die Vorbereitung.“

***
Sarpedon blickte auf den schlafenden Menschen. Er lag in einem einfachen Bett in einer kleinen Kammer, deren eine Tür Zugang zum Sanitärbereich ermöglichte, während die andere in den zylindrischen Raum führte, dem Dormitorium der Klone. Diese stand offen, denn von dort war er nach einem Gespräch mit Megaira gekommen. Sein Klon atmete ruhig; schlief friedlich und sorgenfrei. Er war ein großer, gutaussehender Mann. Inzwischen hatte er dunkles, kurzes Haupthaar und einen dichten Bart. Sarpedon erblickte eine jüngere, nicht verkrüppelte Ausgabe von sich.
Der letzte Mond war schwierig gewesen. Der Klon war ein riesiges, kräftiges Baby, anfangs weder in der Lage seine Körperfunktionen bewusst zu kontrollieren, noch zu gehen oder zu kommunizieren. Es war ein Glück für Sarpedon gewesen, dass Megaira die spinnenartigen Aufräumroboter kontrollierte. Sie entsorgten Fäkalien und Harn, hielten alles sauber. Aber unter die Dusche musste er seinen Klon praktisch tragen. Und der war nicht gerade leicht. So mancher deftige Fluch war seinem Munde dabei entschlüpft. Gleich am ersten Tag hatte er ihm einen Namen gegeben: Eurystheus hieß er nun. Der Klon musste alles lernen; sogar Wahrnehmungen auf sinnvolle Weise zu interpretieren dauerte eine Woche. Sarpedon sprach viel mit ihm und, wenn er erschöpft war, übernahm Megaira. Sie zeigte ihm Filme und Bilder von der Welt, alles, was bunt war, aber – darauf hatte Sarpedon bestanden – nichts, was ihn erschrecken könnte. Als Spielzeug mussten die Roboter herhalten. Megaira und er hatten ja sonst nichts. Der Klon entwickelte einiges Geschick im Roboter Weitwerfen, was Sarpedon erstaunte, denn die Dinger waren ziemlich schwer. Eurystheus zu bekleiden und ihm sogar Schuhe anzuziehen, war Sarpedons erste Idee gewesen, über die er jetzt nur noch lachen konnte. Anfangs wäre das wohl äußerst kontraproduktiv gewesen, nicht nur wegen der Unfähigkeit des Klons Exkremente bei sich zu behalten, sondern weil Sarpedon ihn auch füttern musste. Und nur ein geringer Teil der breiartigen Nahrung erreichte auch den Magen. Nach diesem Prozedere musste er nicht nur Eurystheus, sondern auch sich selbst jedes Mal ausgiebig reinigen. Er wäre wohl eine lausige Mutter gewesen. Nicht einmal als Vater hätte er getaugt. Diese Selbsterkenntnis bedrückte ihn allerdings nicht, dazu hatte er zu wenig Zeit. Wie richtige Eltern fand er zu wenig Schlaf, obwohl Megaira ihn auf hervorragende Weise ergänzte. Denn der Klon schlief zwar viel, aber zu völlig unvorhersehbaren Zeiten. Jedenfalls hatte er kein System erkannt. Außerdem war sich Sarpedon des Zeitdrucks bewusst, der auf ihm lastete. Denn allzu lange konnte die Rückkehr Persephoneias in den Palast des Hades jetzt nicht mehr währen, ein Ereignis, das überaus bedeutsam für ihn sein konnte, gelänge ihm das Entkommen nicht. Wer wusste schon, wie sie und Hades sich entscheiden würden? Er musste seinen verzweifelten Fluchtplan also sehr bald umsetzen. Aber war Eurystheus schon so weit? Er hatte enorme Fortschritte gemacht; dennoch war er lediglich etwas mehr als einen Mond alt und hatte das Dormitorium und die umliegenden Räume noch nie verlassen. Inzwischen war er nicht nur stubenrein und konnte ohne Hilfe essen; er war sogar schon in der Lage zu gehen. Vielleicht hatte er das deshalb so rasch erlernt, weil ein Sturz in seinem Fall viel schmerzhafter war als bei einem Kleinkind oder Baby. Aber genau dies hätte ihn auch entmutigen können, was aber nicht der Fall gewesen war. Er hatte sich auch an Kleidung gewöhnt und vermochte einfache Sätze zu verstehen. Er war neugierig geworden; buchstäblich wie ein Kind, das er eigentlich ja auch war.
Es war an der Zeit, das Dormitorium zu verlassen. Megaira hatte Eurystheus Impressionen des Höhlensystems vorgeführt. Der wild strömende Acheron hatte ihn schwer beeindruckt, ebenso die ruhig fließende, aber mächtige Styx und auch die oft gewaltigen Felssäulen. All das kannte er aber nur in der Theorie. Wie würde er nun auf die reale Welt des Hades ansprechen?
Sarpedon wandte sich um und näherte sich dem zentralen Bereich des Dormitoriums. Dort, in einem der Stühle ruhte Megaira, deren dunkle Haare ständig in Bewegung waren. Sie blickte auf zu ihm.
„Ich denke, er ist soweit“, meinte Sarpedon. „Aber ich benötige deine Hilfe.“
„Was soll ich tun?“
„Begleite uns durch die Höhlenwelt und führe uns so rasch wie möglich zur Styx. Keine Spielereien! Ich möchte nicht von meinen Eltern geplagt werden oder von anderen Erscheinungen. Eurystheus darf nicht verängstigt werden. Er soll unsere Wanderung genießen und sich sicher fühlen.“
„Er ist sicher“, entgegnete Megaira. „Zumindest, wenn er die Brücke über den Acheron passiert hat.“
„Ja“, bestätigte Sarpedon. „ich werde vorsichtig sein. Lass ihn nicht alleine, wenn ich weg bin – oder tot. Führe ihn zurück ins Dormitorium und kümmere dich um ihn. Lehre ihn. Bislang weiß er nichts über die Außenwelt, aber das soll nicht so bleiben.“
„Falls du überlebst, wirst du zurückkehren?“
„So ich kann, werde ich das tun. Die Götter dürfen nichts von seiner Existenz erfahren. In ihren Augen hat er keine Lebensberechtigung. Zeus würde seine Elimination anordnen.“
„Dessen bin ich mir bewusst.“ Sie lachte über diese Formulierung, da KIs ihrer Klasse kein Bewusstsein ausbildeten, es aber dennoch hervorragend vorspielen konnten.
„Gut. Sehr gut. Dann warten wir, bis Eurystheus erwacht.“ Was bald schon der Fall war, wie ihm Megaira meldete. Als er vor dem Bett stand, lächelte ihn der Klon an, was er herzlich erwiderte. Eurystheus Blick war voller Neugierde.
„Hast du Hunger?“
Der Klon nickte und Sarpedon lockte ihn ins Dormitorium, wo direkt auf dem Boden weiches Brot und ein Glas Fruchtsaft standen. Eurystheus stürzte sich darauf und Sarpedon sah ihm beim Essen zu, stolz wie eine Mutter, weil er kaum noch herum krümelte. Die Gier, mit der er aß, nahm er ihm nicht übel. Seine Gefühle für den Klon waren sehr ambivalent. Er fühlte sich ihm gegenüber verantwortlich und ein wenig wie ein Vater. Andererseits war er unleugbar erwachsen und ein Werkzeug seiner Machenschaften. Dass er mehr in ihm sah, war nicht geplant gewesen und unwillkommen. Aber nun war er auch Ziel seiner Pläne geworden; er wollte ihm ein normales, gutes Leben ermöglichen, sobald er seine Schuld gegenüber seiner Großnichte und seinem Großneffen abbezahlt hatte. Er musste ihre Sicherheit gewährleisten. Und er wollte immer noch Zeus zu Fall bringen, ja er musste es sogar, wollte er, dass Eurystheus ein normales Leben führen könnte.
„Wir werden einen Ausflug machen, du, Megaira und ich.“ Eurystheus blickte ihn erwartungsvoll an und ließ Laute vernehmen, die auf Zustimmung und Freude hinwiesen, merkwürdige Klänge, die weder zu einem Kleinkind noch zu einem Erwachsenen wirklich passen wollten. Sarpedon half ihm in eine bequeme, khakifarbene Hose mit Gummibund und in ein Shirt, das ebenfalls angenehm zu tragen war; Schuhe verweigerte der Klon grundsätzlich. Sie taten ihm weh, was dazu führte, dass er einen Agressionsanfall bekam. Er war viel stärker als ein Kind aber ebenso unkontrolliert. Nicht wirklich gefährlich, allerdings bestand für beide ein gewisses Verletzungsrisiko, wenn er wütend auf ihn losging. Jetzt gerade war aber die Welt in Ordnung. Sarpedon schulterte den vorbereiteten Rucksack und Megaira wurde wieder sichtbar. „Sieh nur“, sagte sie und deutete auf die Tür zur Außenwelt, die sich nun leise öffnete. Mit einem Mal brandete Getöse in den hohen Raum. Das Geräusch machte Eurystheus sehr neugierig, er lief ungeschickt auf das Tor zu. „Vorsicht!“, mahnte Sarpedon. Der Klon hatte bereits die Erfahrung gemacht, dass es besser war, auf seinen „Vater“ zu achten und wurde langsamer. Sarpedon blickte daher zuerst nach draußen und versicherte sich, dass die Zugbrücke vollständig herunter gelassen und verankert war. Er nahm den Klon an der Hand, der nun voll Staunen das erste Mal das Höhlensystem sah. Vorsichtig betrat er die Brücke und erblickte dann den tosenden Acheron eine Manneslänge unter ihm. Er beäugte die sich windenden, schäumenden Wassermassen und bewunderte die kalten Tropfen der Gischt auf seiner Haut. Schon wurde der Untergrund glitschig. „Geh nur“, lockte Megaira, die am anderen Ufer erschien. „Aber sei vorsichtig!“ Dies war ein kritischer Augenblick. Sollte Eurystheus Angst bekommen und zurück in seine gewohnte Umgebung streben, mochte es Wochen dauern, bis sie einen zweiten Versuch wagen konnten. Furcht aber zeigte seine Mimik nicht. Das war gut. Sarpedon brachte ihn dazu, dass er den Handlauf umfasste und weiter ging. Dabei blickte er zum Glück nicht nach unten, sondern betrachtete die glitzernden Steinsäulen und -zähne, deren Schemen aus dem Dunkel ragten. Sie faszinierten ihn so sehr, dass er alles andere vergaß. So überquerten sie den Fluss – nicht schnell, aber zügig. Megaira hob die Brücke, sobald sie das Ufer erreicht hatten. Sarpedon sah das als Symbol, dass es kein Zurück mehr gab. Die Flucht hatte begonnen und nun durfte er nicht mehr daran zweifeln, dass sie ihm gelingen würde. Vorsichtig hielten sie auf das dämmrige Licht zu, das, wie er wusste, von fluoreszierenden Organismen an den Höhlenwänden erzeugt wurde. Noch war der Boden glitschig, aber je weiter sie sich vom Acheron entfernten, desto mehr erspürten sie einen weichen, moosigen Bewuchs. Eurystheus verhielt, um ihn auf kindliche Weise zu untersuchen: er riss ihn aus und steckte ihn sich in den Mund. Es war nicht wirklich Moos, sondern ein Gewächs, das auch ohne Licht auskam. Megaira sagte nichts dazu, also nahm Sarpedon an, dass es ungiftig war. Eurystheus spuckte es wieder aus; es war offenbar nicht wohlschmeckend. Er ging langsam und verharrte oft, blickte in das verwirrende Spiel der Schatten, saugte all das Neue, das durch seine Sinne in ihn brandete, mit einer Intensität auf, wie sie für junge Menschen typisch ist. Sarpedon hätte sich ein höheres Tempo für diese Wanderung gewünscht, sah aber ein, dass er sich gedulden musste. Er durfte den Klon nicht überfordern, musste ihm die Zeit geben, die er benötigte. Aber natürlich hatte er das Gefühl, dass sie durch die Unterwelt krochen und kaum vorwärts kamen. Bald schon hatte er im dämmrigen Schein der Wände wieder die Orientierung verloren, da immer wieder Seitengänge im labyrinthartigen Höhlensystem auftauchten. Da sie Megaira bei sich hatten, war das gleichgültig; sie wählte den kürzesten Weg zur Styx. Echos und stöhnende, unheimliche Geräusche, die ihn auf dem Hinweg gequält hatten, waren diesmal nicht zu vernehmen, denn die Erinnye Megaira wollte Eurystheus nicht erschrecken. Daher erschienen auch keine geisterhaften Nebel. Sie fanden bald essbare Pilze, die der Klon kostete und für gut befand. Er aß reichlich und wurde in der Folge müde. Also rasteten sie, obwohl alles in Sarpedon zum baldigen Aufbruch drängte. Es nutzte nichts, ihn zum Weitergehen motivieren zu wollen; Eurystheus schlief ein. Sarpedon versuchte es ihm gleichzutun, war aber erfolglos. Also ging er die entscheidende Phase seines Fluchtplans durch, was ihn auch nicht gerade beruhigte. Nach einer gefühlten Ewigkeit erwachte Eurystheus und sie konnten ihre Wanderung durch den Tartaros fortsetzen. Abermals verlor Sarpedon die Zeit. Meistens ging es ein wenig bergauf, wie er zu seiner Beruhigung registrierte. Er war nicht mehr allzu weit von einem klaustrophobischen Anfall entfernt, wollte endlich den Himmel wieder sehen. Als es daher schließlich für eine längere Zeit wieder leicht bergab ging, diente das nicht zu seiner Beruhigung. Schließlich erkannte er aber, dass dies wohl auch ein Hinweis sein konnte, dass sie sich bereits dem Bette der Styx näherten. Auf seine Frage hin bestätigte Megaira seine Vermutung. Da Eurystheus inzwischen wieder müde geworden war, rasteten sie abermals. Diesmal leerte Sarpedon den Inhalt seines Rucksacks und sie verzehrten das Mitgebrachte teilweise. Eurystheus würde auch beim Rückweg noch Nahrung brauchen, deshalb aß Sarpedon nur wenig.
Dann, endlich, war so etwas wie Dämmerung zu erkennen, ein diffuser Schein, der nicht vom Bewuchs der Wände kommen konnte, sie näherten sich dem Ausgang! Merkwürdig hart erschien das Licht, mit mehr Blauanteilen als gewohnt. Das Höhlensystem wurde höher, vor allem aber viel breiter; hier wand sich die weite Styx über eine lange Strecke durch die Unterwelt und trennte den Tartaros vom Palast des Türschließers. Silbrig erschien sein Wasser in der Ferne und Sarpedon erkannte, dass das Gleißen von seiner Oberfläche reflektiertes Tageslicht war. Es erschien ihm sehr hell, doch Megaira erzählte ihm, dass es frühester Morgen war. Der leichte Hauch, den er seit einer Weile verspürte, wurde stärker. Es war als würde der Tartaros kontinuierlich ausatmen; als kühlen Odem des Todes empfand ihn Sarpedon aber nicht; er fühlte sich eher belebt. So angenehm sich die leichte Brise auch auf der Haut anfühlte, war sie von Anfang an ein gewaltiges Problem gewesen. Denn sie trug den Duft aller Menschenwesen zum Wächter.
„Bleib bei mir, Eurystheus. Bleib bei mir, wenn wir uns dem Fluss der Verdammten nähern. Wir wollen die Aufmerksamkeit des dreiköpfigen Hundes noch nicht wecken. Später werden wir mit ihm spielen.“ Die Augen des Klons leuchteten vor Begeisterung.
Jede natürliche Deckung, jede Felssäule nutzend, bewegten sie sich langsam auf das Ufer zu. Megaira, der „neidische Zorn“, verschwand plötzlich. Eurystheus irritierte das nicht, er war es gewohnt. Sarpedon hatte ihm ein Spiel in Aussicht gestellt, daher war er voller Vorfreude, wollte aber auch nichts verpatzen. Also blieb er ruhig. Als sie sich weiter näherten, wurde zuerst der gewaltige, silbrige Palast des Hades mit seinen mächtigen Säulen sichtbar. Für die dunkel-adaptierten Augen schien er zu funkeln und zu leuchten. Schließlich hatte Sarpedon auch einen guten Blick auf den Flughafen. Einsam und gewaltig stand sein linsenförmiges Raumschiff da und wartete, so schien es, auf ihn. Wo war der Gleiter des Hades? War er unterwegs zum Olymp, um Persephoneia in den Palast der Unterwelt zu bringen? Aber die Göttin hatte wohl ihr eigenes Transportmittel, daher konnte man annehmen, dass Hades nicht hier weilte. Auch die elysischen Gefilde verblieben wohl ohne Besucher. Irgendetwas ging hier vor, das Sarpedon nicht verstand. So leer schien der Platz! Er schüttelte erstaunt den Kopf. Gleichwohl war es für ihn gegenwärtig nur insofern von Bedeutung, als es seine Flucht erleichtern würde. Er hatte sich nur mit Kerberos und dem Fährmann auseinander zu setzen. Die Fähre, noch klein wie ein Spielzeug erscheinend, war indes am fernen Ufer der Styx vertäut und schien unbemannt zu sein. Nur der gigantische Hund lief rastlos am Strand umher, inzwischen deutlich sichtbar und – mehr noch – hörbar. Ein schauriges Geheul durchdrang die Grotte; das Biest hatte sie inzwischen ohne Zweifel gewittert, konnte sie aber in der Dunkelheit wohl noch nicht sehen. So hoffte Sarpedon zumindest und die sechs unsicher über den Fluss spähenden Augen schienen dies zu bestätigen. Die Lichter blieben nicht auf sie gerichtet sondern rasterten die Grotte unaufhörlich ab. Gut so, so musste es bleiben! Sarpedon begann leise zu reden, mehr zu sich selbst und zu Megaira, von der er wusste, dass sie ihn hören konnte, auch wenn sie nicht anwesend war, als zu seinem Begleiter.
„Charon scheint nicht hier zu sein, vielleicht verweilt er im Palast, solange sein Herr fern ist. Vielleicht ist er kein Problem. Aber Kerberos verbleibt, eine hochgezüchtete, mörderische Kreatur, intelligenter als ein gewöhnlicher Hund, aber ebenso mit feinen Sinnen ausgestattet. Sein schauriger Anblick hält die Verbannten davon ab, die Styx zu durchschwimmen. Denn daran kann es keinen Zweifel geben: wer es dennoch wagt und das andere Ufer erreicht, wird zerrissen. Es hat keinen Sinn, darauf zu hoffen, dass das Geschöpf unaufmerksam wird; es schläft nie, denn zumindest einer der Köpfe ist immer wach. Einem Menschen, der das hiesige Ufer entlang geht, wird das Wesen auf der anderen Seite folgen. Sind es aber mehrere und trennen sie sich, wird der Höllenhund den Flughafen bewachen, damit keiner entkommen kann. Ganz bestimmt wird er sich nicht flussabwärts locken lassen, denn nicht einmal Kerberos ist schnell genug, um rechtzeitig wieder auf dieser Seite des Höhlendoms zu sein, an der die Styx entspringt und sich der Flughafen befindet. Kerberos muss nicht sehen, um zu erkennen, dass er es mit mehreren Personen zu tun hat, die die Flucht versuchen. Das erzählt ihm bereits seine Nase, denn jedes Individuum riecht anders. Und hier setzt mein Plan an: denn es gibt Menschen, von denen man annehmen kann, dass sie den gleichen Körpergeruch verströmen. Zwillinge zum Beispiel, wenn sie genetisch ident sind. Auch mein Klon sollte so riechen wie ich, denn er unterscheidet sich im Erbmaterial nicht von mir und dieses bestimmt letztlich den Geruch genau so wie das Aussehen! Soweit also die Theorie. Wenn sie stimmt, mag mir die Flucht gelingen, wenn nicht, werde ich mit ihr sterben. Das Zeitfenster ist schmal; wird es noch heller, vermag uns die Kreatur auch hier zu sehen. Also lasst uns den Augenblick nutzen und den Sichtschutz der großen Felssäule in Ufernähe!“
Kerberos bewegte sich unruhig hin und her, suchend. Sarpedon nahm seinen Begleiter bei der Hand und kaum verschwand der Hund von ihm gesehen hinter der Säule lief er los und zog Eurystheus, den Kindmann, mit sich, der zum Glück bereitwillig folgte und auch ruhig blieb. Die Säule war breit, man konnte sich gut dahinter verstecken. Der einst ein Gott gewesen nahm den Rucksack vom Rücken, denn er hätte ihn bloß behindert.
„Megaira! Sorge bitte dafür, dass Eurystheus hierher zurück kommt und den Rucksack mit sich nimmt, sodass er alles hat, was er braucht, um das Dormitorium wieder zu erreichen. Sorge gut für ihn. Ich werde mich seiner annehmen, sobald mir dies möglich ist.“ Dann wandte er sich an seinen Klon: „Und nun beginnt das Spiel. Du trittst aus dem Schatten der Säule, sodass das Hündchen dich sieht. Lenke seine Aufmerksamkeit auf dich, es sollte dir nicht schwer fallen. Du musst keine Angst vor ihm haben, denn es kann nicht auf diese Seite des Flusses. Laufe immer den Fluss entlang, solange, bis du die ferne Höhlenwand erreichst. Das Hündchen wird dir folgen und sich wie toll gebärden. Dann kehre hierher zurück und Megaira wird dir wieder erscheinen!“
Sarpedon hatte nicht den Eindruck, dass Eurystheus viel von seinen Erklärungen verstanden hatte. Zumindest blickte er verwirrt, aber immerhin aufmerksam. Also versuchte er es noch einmal, zeigte in die Richtung, wo die Styx entschwand und flüsterte: „Lauf dorthin! So weit, wie es geht! Lauf!“
Eurystheus grinste, wandte sich ab, lief aber zum Ufer. Der Hund heulte und schaurig hallte das Gebell von den Höhlenwänden wider. Sarpedon beobachtete ihn aus den Schatten. Auf dem unebenen Grund bewegte sich der Klon immer noch recht unsicher. Er verweilte kurz beim Wasser und offenbar ungewiss, in welche Richtung er sich wenden solle, blickte er zurück. Sarpedon blieb für einen Augenblick das Herz stehen. Aber schon war der alt Geborene abgelenkt und wandte seine Aufmerksamkeit dem sich wild gebärdenden Kerberos zu. Er winkte ihm und lachte. Dann trottete er los und zwar in Fließrichtung der Styx. Sarpedon atmete auf. Er beobachtete sein jüngeres Ebenbild, wie es ungeschickt, immer wieder stolpernd weiterlief. Der nachtschwarz und rostbraun gemusterte Hund folgte ihm drohend. Kleiner und kleiner wurden die beiden Gestalten, im Dunst immer undeutlicher. Selbst das grässliche Heulen wurde bereits merkbar leiser und das Echo ein Flüstern. Noch hieß es warten. Schließlich aber war es soweit, dass er in Aktion treten konnte. Er rannte auf die abgewandte Seite der Säule und im Sichtschutz immer weiter, bis der Flughafen ihm gegenüber war und noch ein bisschen weiter; er musste ja einkalkulieren, dass ihn die Strömung unweigerlich abdriften würde, denn die Styx war ein breiter Fluss und er floss umso mächtiger, je weiter er sich der Stelle näherte, an der er scheinbar aus dem Felsen quoll. Erst jetzt eilte er zum Ufer und ohne zu zögern lief er in den Fluss hinein und ließ sich schließlich in die Fluten fallen. Kaum spürte er, wie kalt sich das Nass anfühlte. Seine kräftigen Arme teilten das Wasser, er hielt auf das gegenüberliegende Ufer zu und die Strömung ergriff ihn und trieb ihn hin, immer näher zum Höllenhund. Er hoffte, dass sein Klon diesen fürderhin ablenken konnte, dessen Aufmerksamkeit weiter mit seinen Possen fesselte. Viel zu langsam näherte sich das andere Ufer, seine Brustmuskeln brannten bereits, er atmete tief. Jetzt änderte er den Stil und schaufelte sich durchs Wasser. Trotz seiner kräftigen Arme war er nie ein besonders begabter Schwimmer gewesen und hatte wohl auch wenig Ausdauer. Aber sie musste ausreichen, sein schierer Wille trieb ihn weiter. Als er endlich das andere Ufer erreichte, war er völlig außer Atem und kroch das letzte Stück auf allen Vieren aus dem Nass. Er richtete sich auf, schüttelte die Tropfen aus seinem Haar und blickte sich schnell, gehetzt um. Er war weiter abgetrieben worden als angenommen, die Strecke zum Schiff größer als ihm lieb war. Kerberos war nicht zu sehen, trotzdem musste er eilen. Er humpelte vorwärts und verfluchte sein verkrüppeltes Bein, das ihm sehr zu schaffen machte. Er mobilisierte seine letzten Kräfte. Endlich kam er dem Raumschiff nahe, da sah er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Vom silbrigen Palast her näherte sich rasend schnell eine bizarre, düstere Gestalt: Charon, der Fährmann, der Android.
„Megaira!“, rief Sarpedon, „benachrichtige den Avatar des Schiffes. Er soll die Treppe herab lassen! Schnell!“ So geschah es auch; wie ein bezahnter Unterkiefer klappte ein Teil des Fluggeräts herab und er hielt darauf zu; der Tod aber folgte ihm mit rasender Geschwindigkeit. Er wagte nicht zurückzublicken, vermeinte schon die knochige Hand des Fährmanns auf seiner Schulter zu spüren, keuchte, quälte sich stolpernd voran, nur noch von eisernem Willen getrieben und Panik. Eine erfolgreiche Flucht aus dem Tartaros hatte es noch nie gegeben; warum sollte sie gerade einem Krüppel gelingen? Da aber war die Treppe zum Greifen nah und schon nahm er die ersten Stufen. „Zieh hoch!“, schrie er und die Tat folgte unmittelbar darauf. Er hastete weiter, getraute sich immer noch nicht zurück zu blicken, kämpfte mit dem Gleichgewicht, ließ sich auf alle Viere herab, klammerte sich fest, während sich die Treppe hob und gleichzeitig ziehharmonikaartig zusammenzog. Er kannte das Prozedere und wusste, er war nicht in Gefahr, solange er sich gut festhielt. Jetzt wagte er den Blick zurück. Charon war noch gut fünf Dutzend Manneslängen hinter ihm, er würde zu spät kommen. Irgendwie hatte der Fährmann wohl Kerberos informiert, denn jener eilte nun ebenfalls hierher und sein Rasen war ein ebenso schöner wie bestürzender Anblick. Zu spät, das Untier würde ihn nicht mehr zerreißen! Während er hochgehoben wurde und der Abstand der Stufen zueinander unter ihm immer geringer wurde, erlaubte er sich ein erlöstes, triumphierendes Aufatmen und irres Lachen. Nun war der Teil der Seitenwand, aus dem sich die Treppe gebildet hatte bereits zu hoch, um noch in die Unterwelt zu spähen; er vermisste den Anblick nicht. Die Zahnung der Stufen unter ihm verschwand zusehends; es verblieb eine glatte Wand, die sich weiter hob und im Schiff verankerte. Er rollte hinab auf den glatten Boden und war in Sicherheit. Er rappelte sich auf und eilte durch die offene Schleuse und einen Gang, um in den zentralen Steuerraum zu gelangen, setzte sich hastig und bediente die Konsole. Um einen Überblick zu erhalten aktivierte er die Vogelperspektive; die Wände um ihn verschwanden, er schien im Ais zu schweben. Da standen sie, Charon und Kerberos, ohne Macht über ihn und verwirrt, er hatte sie überlistet. Im Hintergrund leuchtete der silbrige Palast des Hades und schimmerte die Styx. Eurystheus aber konnte er nicht sehen; der leichte Nebel über dem Wasser nahm ihm die Weitsicht. Das betrübte ihn, denn gerne hätte er noch einen Blick auf den Kindmann geworfen, dem er seine wiedergewonnene Freiheit verdankte. Dann saß er wieder vor dem großen Schirm und den zahllosen leuchtenden und blinkenden Anzeigen. Er leitete den Start ein und wenig später hob sich das Raumschiff hinauf zur Decke des gewaltigen, bizarren Höhlensystems und durch den mächtigen Felsspalt in die Freiheit. Draußen aber erhob sich Eos, den Göttern und Menschen das Licht zu bringen; doch auch die Morgenröte, die Horizont und zentrales Gestirn gleichermaßen färbte, musste weichen als er weiter empor stieg und scheinbar die Sonnenscheibe mit ihm, die bald im Safrangewande leuchtete. Der Himmel war wolkenlos, aber im Süden konnte man grelle Lichtreflexe am Horizont erkennen und Strahlenlanzen fuhren aus dem Firmament herab. Da rief er das Lichtwesen, das in gleißend weißem Kostüm erschien. Er zeigte auf den Monitor und erkundigte sich, was da vor sich ging.
„Offenbar wird der Olymp angegriffen. Hades erhielt eine Botschaft von Persephoneia. Sie bat ihn, ihr zu Hilfe zu eilen“, antwortete der Avatar.
„Angegriffen? Wer hätte die Macht dazu? Von wem?“
„Die Raumschiffe kommen von außerhalb des Systems. Genaueres kann ich dir nicht sagen, im Olymp herrscht Chaos. Nur der Botschaft der Gattin des Pylartes konnte ich ein wenig Information entnehmen. Hades ist übrigens ihrem Ruf gefolgt.“
„Zu meinem Glück ist er das.“
„Soll ich dich zum Olymp bringen?“
Sarpedon überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Nein, es wird allerhöchste Zeit, mich um meine Großnichte und meinen Großneffen zu kümmern. Verbinde mich mit ihnen.“ Da aber, plötzlich, schien sich seine Welt zu einem infintesimalen Punkt zusammen zu ziehen; gleichzeitig ein Nichts und doch unendlich groß. Es war, als wäre alles ausgelöscht außer ihm selbst; als wäre er ringsum von einem dunklen, weiten Abgrund umgeben.
***
Taramis, Edle von Askhauran, schaute in die Tiefe, die eine erstaunliche Anziehungskraft auf sie ausübte. Sie überlegte, ob sie springen solle. Der Tag war weit fortgeschritten und die Schatten der Stadtmauer hüllten die Feste ein wie ein dunkler Mantel. Die Wüste aber erschien in einer fahlen Helle und riesig lag der Glutball der Sonne über dem Horizont. Die Lufttemperatur war erträglich, endlich. Der Wind war sanft und wehte von Westen her in ihr außergewöhnlich hübsches Gesicht mit den feinen Zügen und schmeichelte ihrer weichen Haut. Die dunklen, großen Mandelaugen spiegelten Trauer und Verlorenheit wider, eine Träne löste sich und fiel über die Brüstung, tief hinab, sodass sie ihr mit dem Blick nicht folgen konnte, wohl aber in ihrer Vorstellung. Sie sah, wie sie den Boden benässte, worauf hin sich eine indigofarbene Blume entfaltete. Indigo, das war die Farbe der Trauer im Kulturkreis, dem die Askhauraner entstammten. Es war die Farbe ihres Kleides, das ihren schlanken, zarten Leib umhüllte und sie selbst zu einer Blüte werden ließ. In ihrer Phantasie folgte ihr Körper der Träne, fiel hinab in den Sand oder auf einen der wenigen Felsen, ein Bild in Indigo, ocker und – rot. Und Wellen langen, schwarzen Haares. Sie beugte sich weiter vor.
„Tu's nicht.“ Das war die Stimme des getreuen Dieners der Familie, Eberan, weißhaarig und gebückt inzwischen, denn er war bereits hier, als ihr Großvater dem Hause noch vorstand. Der greise Sklave war alles, was ihr geblieben war, stellte ihre ganze Familie dar.
Sie zuckte zusammen.“Entschuldige.“ Ihre Stimme klang sanft. „Aber habe ich nicht Grund genug?“ Sie blickte zurück und sah in ein Gesicht mit runzeliger, wettergegerbter Haut und alterstrüben, sehr dunklen Augen. „Mir scheint“, fuhr sie fort, „mein Schicksal ist besiegelt und ein Sturz über die Brüstung durchaus passend. Es ist nicht die unangenehmste Art zu sterben.“ Sie sah nun hinüber zum Königspalast, der ebenso an die Stadtmauer geschmiegt lag, wie der ihrer Familie und in gleicher Weise durch eine hohe Befestigung vor der eigentlichen Stadt geschützt war. Dort, am Wall des Königspalastes, gut sichtbar für Vorbeiziehende ebenso wie die gemeine Bevölkerung, hingen an langen Holzspießen Leichname, seit gestern einer mehr. Der einer Frau, die Glück gehabt hatte. Wenn man sie pfählte, schrien sie alle erbarmungswürdig, aber die Frau war ruhig geblieben, denn im Augenblick der Pfählung war sie bereits tot gewesen. Taramis hatte immer gerne hier oben gespielt, als Kind, betreut von Eberan, aber jetzt mied sie das Dach oftmals. Wenn die Soldaten mit einem neuen Opfer kamen, lief sie hinein und hielt sich die Ohren zu und litt doch. Wenn es vorbei war, einige Tage vergangen und der Wind vom Norden her wehte, nahm sie immer öfter Übelkeit erregenden Verwesungsgeruch wahr und den Flügelschlag der Geier. Jetzt spähte sie aber zur verhassten Burg und zeigte auf den Leichnam. „Willst du mich lieber dort sehen?“
„Adelige behandelt die Königin nicht auf diese Weise. Nicht einmal ihr Sohn.“
„Hinab zu fallen erscheint mir eine bessere Option als öffentlich geköpft zu werden. Zumindest erspare ich mir die Schmach.“
„Und fliehen?“
„Wohin?“
„Dein Vater hatte hervorragende Beziehungen zu Achwilonien. Er war mit König Granoc befreundet. Als dieser noch kein Herrscher war sondern Söldner im feindlichen Heer, hat er praktisch im Alleingang eine Dutzendschaft Kundschafter deines Vaters aufgerieben. Du kannst dir vorstellen, dass ihm das sehr imponiert hat. Er war nicht nachtragend. Aber solange er jung war, wollte er immer persönlich gegen diesen mächtigen Krieger kämpfen, den größten von allen, verwegen und unglaublich stark, gewandt wie ein Panther und klug im Kampf. Welch ein Glück, dass sie sich erst getroffen haben als sie auf der gleichen Seite standen. Dein Vater war ein mutiger Kämpfer, aber er hätte keine Chance gehabt, denn Granoc war der beste.“
„War! Jetzt sagen sie das gleiche von Alkaios, Sohn der Hexe und Königin von Askhauran durch eine Bluttat!“
Eberan blickte sich um. Es war nicht klug, so von der Königin und ihrem Sohn zu reden. Aber da war niemand, sie waren alleine. Doch wer wusste, was die überirdischen Mächte, mit denen sie im Bunde war, alles wahrnahmen? „Das ist kein Mensch, das ist ein Dämon“, flüsterte er. „Sei vorsichtig bei der Wahl deiner Worte. Wirf dein Leben nicht fort!“
„Das habe ich doch schon! Ich bin die Nächste. Glaubst du wirklich es war ein Unfall? Dass mein Vater und mein Bruder von der Brüstung des Palastes gefallen sind, wie sie behaupten? Wenn die Höflinge das sagen, können sie mir nicht in die Augen schauen. Sie lügen. Mein Bruder, der gerade einmal zwölf Sommer zählte und mein Vater, erfahren und im Vollbesitz seiner Kräfte. Nein! Sie wurden ermordet von diesem keulenschwingenden Monster, dem Sohn der Königin. Ich wusste, dass dies geschehen würde, als sie alle Edelhäuser aufforderten, einen ihrer jungen Söhne in den Palast zu schicken. Angeblich zur Ausbildung zum Ritter; in Wirklichkeit als Geisel. Meinen einzigen Bruder haben sie umgebracht und dann auch noch meinen Vater. Niemand ist übrig, starb doch meine Mutter bereits bei der Geburt ihres Sohnes“, klagte sie. Tränenbäche rannen aus ihren Augenwinkeln.
Auch Eberan war nicht naiv genug, um an die Geschichte vom Unfall zu glauben. „Sie müssen in Erfahrung gebracht haben, dass dein Vater immer noch in Verbindung mit dem Herrscherhaus Achwiloniens stand – und dass er den König regelmäßig über alle wichtigen Geschehnisse hier in Ashkauran informierte. Welchen Grund sollte es sonst für diesen Mord geben? Aber wie haben sie das herausgefunden? Nicht einmal du wusstest das. Oder?“
Sie schüttelte ihr zartes Antlitz und die Bewegung wurde von ihren langen, schwarzen Haaren weitergetragen; Wellen, wie wenn eine sanfte Brise die Oberfläche eines dunklen Teichs berührt. „Nein, ich ahnte nichts davon.“
„Dein Vater wollte dich beschützen. Er meinte, es sei sicherer du wärst ahnungslos.“ Er blickte wieder hinüber zum Palast. „Meinst du, die Frau ist eine von deinen Besuchern?“
Diesmal nickte sie. „Es ist die dunkelhäutige Frau, die Leron und Liara begleitet haben. Ja, ich bin mir fast sicher. Oh ihr Götter! Ihr Plan, die Königin und ihren Sohn zu meucheln, war von Vornherein zum Scheitern verurteilt! Das habe ich ihnen auch gesagt! Was wird jetzt mit ihnen?“ Etwas wie Hoffnung keimte in ihr. „Meinst du, sie konnten fliehen? Warum sonst hängen sie nicht alle da auf der Mauer?“
Eberan hatte die Erfahrung eines langen Lebens nicht zum Optimisten werden lassen. „Sie werden sie noch foltern, bevor sie sie pfählen.“
„Oh, ihr Götter! Die Ärmsten.“
„Sie werden dich verraten; sie haben gar keine andere Wahl. Unter der Folter spricht jeder. Du hättest ihnen nicht helfen sollen.“
„Wie hätte ich das nicht tun können? Wir haben gemeinsam gespielt, damals. Leron ist kaum älter als ich. Sein Vater hatte sich gegen die Usurpatoren offen aufgelehnt, was zum Untergang seines Hauses geführt hat. Wir alle haben geglaubt, dass seine Familie ausgelöscht worden wäre. Welch Freude war es für mich, als er sich zu erkennen gab. Als er mir Dinge erzählt hat, die tief in meinem Inneren begraben lagen und die nun durch seine Erzählungen in meiner Erinnerung wiedererstanden. Ereignisse, die nur er wissen konnte! Welch Gefahren er und seine Gefährten gemeistert haben. Meine Familie war nie so tapfer. Offener Widerstand ist nicht unsere Art.“
„Das ist auch klüger so. Aber du irrst. Dein Vater war ein sehr tapferer Mann. Aber eben auch Realist. Er hat nur versucht, seine Kinder zu schützen.“ Die Weisheit des Alters und die tiefe Verbundenheit mit seinem Herrn sprach aus den Worten des Sklaven. Taramis jedoch zweifelte.
„War es wirklich vernünftiger sich nicht offen aufzulehnen? Mein Vater und mein Bruder sind genau so tot, wie Leron es bald sein wird – und auch ich. Er aber ist ein Held.“ Sie seufzte. „Nein, so darf ich nicht denken. Noch lebt er. Ich weiß nicht, worauf der Sohn der Königin noch wartet.“
„Der fliegende Dämon ist heute am Dach des Palastes gelandet. Man sagt, die Königin sei fort gewesen. Erstmals ist der Dämon bei Tageslicht erschienen. Eigentlich können das Dämonen gar nicht. Aber vielleicht werden sie machtvoller in diesem Zeitalter des Grauens, das angebrochen ist. Wie auch immer, die Rückkehr der Herrscherin mag wichtig genug sein, um anderes zu verzögern.“ Er schwieg einen Augenblick und sah sie sorgenvoll an. „Ich wünschte, der junge Adelige hätte dich aus seinem Spiel gelassen.“
Sie schüttelte abermals ihr Haupt. „Das konnte er nicht. Er wusste von dem geheimen Verbindungsgang zwischen dem Palast der Königin und diesem Haus.“ Sie lachte. „Auch davon hatte ich keine Ahnung. Du?“
Langsam nickte der Sklave.
“Was hat man mir überhaupt erzählt? Leron jedenfalls hat mich davon überzeugt, dass er nur dann eine Möglichkeit finden könne, die Herrscher zu meucheln, wenn er vorbei an den Wachen in den Palast gelänge. Aber da ist ja auch noch die Leibwache, Alkaios ist ein gefährlicher Kämpfer und die Königin – nun ja – sie ist eine Hexe. Ich erwähnte das alles ihm gegenüber, aber er ließ sich nicht von seinem Plan abbringen. Auch seine tapferen Gefährten konnte ich nicht überzeugen. Vielleicht hätte ich mit ihnen gehen sollen.“
„Du bist nicht geschult im Umgang mit Waffen. Wie hättest du ihnen helfen können?“
„Ja. Wie hätte ich irgendjemandem helfen können?“, meinte sie selbstironisch. „Schwach wie ich bin.“ Sie schlang die Arme um sich, eine Geste der Verzweiflung und Resignation.
Hinter Eberan erschien ein Diener in seidener Livree auf dem Dach und näherte sich rasch. Er verbeugte sich tief vor Taramis. „Verzeiht die Störung, Edle. Palastdiener haben uns eine Botschaft gebracht: Ihr werdet im Palast erwartet. Sie harren Euer beim Eingang.“
Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen, ganz ohne Nachdenken suchte sie eine Möglichkeit zur Flucht oder zum Verstecken, aber das war kindisch. Die einzige Alternative wäre der Sprung in den Abgrund. Sie fasste sich. „Natürlich tun sie das!“, meinte sie schließlich. Also war es soweit. Ihre Gefangennahme stand unmittelbar bevor, war bereits eingeleitet. Wahrscheinlich handelte es sich bei den Palastdienern eher um dessen Wache. Auch Eberan schien dieser Meinung zu sein, denn er war sehr blass geworden. Sie blickte noch einmal seufzend in den verheißungsvollen Abgrund. Sie könnte sich vieles ersparen. Ihr alter Sklave sah sie entsetzt an. Sie hatte das Gefühl, dass er ihren Freitod verhindern würde. Es fehlte ihr ohnehin an Mut. Oder aber ihr Lebenswille war zu ausgeprägt. Also nickte sie schließlich und folgte dem schlanken Mann, mehrere Stockwerke hinab bis zum Eingang, der ihr Haus mit der Stadt verband. Dort standen sie, die Schergen der Königin. Doch diese Betrachtungsweise war ungerecht. Manche von ihnen, die Älteren, hatten schon dem ehemaligen Königshaus gedient. Die gegenwärtigen Herrscher waren bei den meisten Palastdienern keineswegs beliebt und einige waren auch schon eines gewaltsamen Todes gestorben, weil sie ihre Aufgaben in den Augen der Königin nicht gut genug erfüllt hatten. Vor ihr standen fünf Männer, alle mit einem Krummschwert bewaffnet, das sie in einer Scheide an der Hüfte trugen. Immerhin keine Soldaten, sondern das übliche Geleit. Der Älteste verneigte sich vor ihr und hauchte: „Edle Taramis“. Sie nickte ihm zu.
„Gehen wir.“ Er machte eine entsprechende Geste. Der Mann stellte sich zu ihrer Rechten, sodass sein Schwertarm frei war, zwei der Begleiter positionierten sich vor, zwei hinter ihnen. Der Weg zum Palast war nicht weit, die Straßen – wie meist in diesen Tagen – fast leer. Sie hörte das Echo ihrer Schritte. Die Palastwache ließ sie passieren ohne sie eines Blickes zu würdigen. So schrieb es das Protokoll vor und Taramis war froh darüber. Sie war sicherlich bleich im Gesicht, ihr Herz schlug zu schnell und ihr Atem war zu oberflächlich. Sie hatte schlicht Angst. Sie bemühte sich, nicht zu taumeln sondern forsch aufzutreten. Sie versuchte, Neugierde zu entwickeln. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der häufig hier gewesen war, hatte sie den Palast erst einmal von innen gesehen, im zarten Alter von gerade einmal drei Jahren. Aber die prunkvollen Wandteppiche mit mythischen Darstellungen, an denen sie vorbei gingen, konnten sie nicht wirklich fesseln. Mit einer Ausnahme: hier war das Motiv ein Mann, der gerade geköpft wurde. Rot war das Henkersschwert, hell spritzte das Blut. Taramis dachte sie müsse sich übergeben und ohnmächtig werden, aber als sie etwas zusammen sackte, hielt der ältere Mann sie. Sie nickte ihm dankbar zu und ging weiter. Es war vorbei, sie spürte wieder etwas Kraft.
Ihre Wanderung durch den Palast dauerte eine gefühlte Ewigkeit und währenddessen redete niemand mit ihr. Auch sie war nicht in der Stimmung, ein Gespräch zu beginnen, hätte aber gerne gewusst, wo man sie hin brächte. Der Thronsaal war ebenerdig, sie aber stiegen immer höher, dem Dach näher, wo der geflügelte Dämon wachte und die gepfählten Menschen waren. Immer musste sie an die Opfer denken.
Sie kamen in einen prunkvollen Vorraum zu einem großen Saal, in dem – dem hellen Schein nach zu urteilen – viele Kerzen und Fackeln leuchteten. Den Zugang versperrten zwei gerüstete Wächter mit gekreuzten Lanzen, aber auf ein Nicken des Älteren hin traten sie beiseite. Er ging vor ihr in den Raum und verkündete: „Die Edle Taramis aus dem Hause Algar!“ Dann machte er einen Schritt zur Seite. Der Saal wurde von einem massiven Langtisch dominiert, in dessen Zentrum ein silberner Kandelaber stand, dessen Leuchten ihr die Sicht auf das andere Ende des Tisches erschwerte. Aber sie erkannte die Konturen eines wahren Riesen mit ungezügelter Mähne. Vor ihm lag eine enorme Keule aus hell-dunkel gemasertem Olivenholz. Taramis zweifelte nicht daran, dass es sich bei dem Mann um den Sohn der Königin und Hohepriesterin handelte, die diesem Reich so viel Übles angetan hatte. Hinter dem sitzenden Hünen standen drei schlanke Menschen, genauer erkennen konnte sie aber nur einen: ein zartes Mädchen etwa in ihrem Alter, dessen prächtige Haare von einem überirdisch erscheinenden, bunten Leuchten umrahmt waren, das auch ihr Gesicht erhellte. Vier düstere Vögel zogen Kreise um ihr Haupt, weitere vier saßen auf leeren Fackelhalterungen an der Wand. War sie eine unsterbliche Dämonin, über die Alkaios Macht erlangt hatte? Eine Weile fesselte sie der Anblick so, dass sie die vielen Menschen, die an den Seiten des Tisches saßen, gar nicht wahrnahm. Aber dann betrachtete sie auch diese und stellte fest, dass es sich um die Adeligen aus allen Häusern handelte. Viele gut bekannt mit ihr, mit manchen war sie sogar befreundet. Einige nickten ihr zu, aber die meisten blickten zu dem Hünen oder der Dämonin. Ihre Anspannung nahm etwas ab.
Jetzt aber erhob sich der mächtige Mann, sein Gesicht ragte über den Lichtschleier des Leuchters hinaus und wurde für sie nunmehr deutlich erkennbar und sie erschrak. Die dunkle Mähne, die das kantige Gesicht umrahmte glich der eines Löwen und stahlblaue Augen musterten sie. Sie kannte das Antlitz von Abbildungen und Münzen: der Leu von Achwilonien. Er blickte sie durchaus freundlich an.
„Du also bist Taramis, die Tochter meines Freundes Keros, der vom ehemaligen Herrscher über Askauhran ermordet wurde.“
Darauf hin erhob sich allgemeines Gemurmel im Saal und Taramis vernahm einzelne Sätze: „Mord? Es war Mord?“ Und noch deutlicher: „Ehemaliger Herrscher?“ Ein hagerer Mann ganz in ihrer Nähe, von dem bekannt war, dass er ein Günstling der Königin war, erhob sich.
„Verzeiht, Eure Hoheit. Aber haben wir richtig verstanden? Ehemaliger Herrscher?“
„So ist es.“
„Aber … der Herrscher von Askhauran kann nicht abgesetzt werden. Die Verfassung sieht das nicht vor.“
„Alkaios ist in mein Schwert gelaufen, was ihm nicht besonders bekommen ist. Es ist daher meine traurige Pflicht, den Kronrat und darüber hinaus alle adeligen Häuser vom Ableben des Regenten in Kenntnis zu setzen.“
Der Saal verstummte.
„Alkaios hat keine Nachkommen, jedoch einen Bruder“, fuhr der König fort. Er zeigte auf Iphikles, der sich darauf hin sichtlich unwohl fühlte, eine Reaktion die er immer zeigte, wenn man ihn mit seinem Zwilling in Zusammenhang brachte. Schließlich winkte er den versammelten Menschen huldvoll zu und zeigte ein schiefes Lächeln. „Dieser verzichtet jedoch auf die Thronfolge!“ Granoc blickte ihn finster an und Iphikles beeilte sich damit, zustimmend zu nicken.
Taramis beobachtete Zerban, den Mann, der vorher gesprochen hatte und immer noch stand. Er war die rechte Hand des Alkaios, hatte die Exekutionen geleitet, war beim Foltern stets anwesend gewesen und auch beim Pfählen. Er war grausam, sadistisch und machtgierig, aber kein Dummkopf. Den König von Achwilonien als Mörder verhaften zu lassen, war schlicht undenkbar. Er blickte zur Wache und überlegte offenbar, ob er noch die Macht über die Palastsoldaten inne hatte. Da er sich anscheinend nicht sicher war, verschaffte er sich abermals Gehör. „Und die Königin?“
„Wird nicht wiederkehren“, erklärte der König von Achwilonien bestimmt. „Sie ist in die Finsternis zurück gekehrt, aus der sie hervorgekrochen kam.“
„Woher wissen wir, dass wir Euren Worten trauen können?“
Darauf hin hob der König die Olivenholzkeule und ließ sie mächtig auf den massiven Zedernholztisch krachen, der darob erzitterte, aber standhielt. „Kennst du dies? Alkaios' bevorzugte Waffe? Glaubt sonst noch jemand, dass er mir die Keule freiwillig überlassen hat?“
Eingeschüchtert schüttelten die meisten Adeligen schnell den Kopf. Die Vorstellung war allerdings wirklich absurd. Zerban war sicherlich zu weit gegangen als er die Worte des Königs bezweifelt hatte. Statt aber zu schweigen, redete er schnell weiter.
„Dann benötigt Askhauran ein neues Oberhaupt. Als engster Vertrauter der ehemaligen Königin bin ich bereit, mich dieser Aufgabe zu stellen.“
Ein Tumult erhob sich. Ein bärtiger Adeliger stand auf. Wütend entgegnete er: „Niemals! Zerban hat Mitglieder meiner Familie ermorden lassen. Dieser Mann gehört ins Verlies und nicht auf einen Thron. Der Rat muss entscheiden.“ Ein anderer erwiderte: „Der Rat besteht aus Opportunisten und Günstlingen der Königin! Seid Ihr verrückt?“
Granoc schmetterte die Keule abermals auf den Tisch. Der Lärm ließ die Meute verstummen. „Ruuuhe!“, brüllte der König. „Ich habe die Entscheidung bereits getroffen! Die Regentschaft übernimmt ...“. Er richtete den Blick auf sie. „Taramis, Tochter des Keros aus dem Hause Algar.“
Alle wandten sich ihr zu. Sie riss die Augen auf und öffnete den Mund zu einem O. Nachdem sie den Schock überwunden hatte, keuchte sie ein: „Ich?“ Viele der anwesenden Adeligen schienen das weniger erstaunlich zu finden. Sie hörte Wortfetzen wie: „Warum nicht?“ Oder: „Sie ist immer freundlich. Hoffentlich verdirbt die Macht sie nicht.“ Und: „Es ist ungewöhnlich, dass dies ein Staatsoberhaupt aus einem fremden Land entscheidet, aber unter den gegebenen Umständen ...“. Da waren aber auch geflüsterte strategische Überlegungen: „Ihr Haus ist schwach, sie wird Unterstützung benötigen ...“.
Nur Zerban wirkte, als wäre er gerade in einen Haufen Exkremente getreten. „Die Zeremonie“, meinte er, „muss vom Hohepriester durchgeführt werden. Die Königin war auch Hohepriesterin des Mithras. Nur sie hätte einen Nachfolger bestimmen können. Nun bedarf es dafür eines klerischen Oberhauptes aus dem Ausland. Es wird Wochen dauern bis ...“
„Die Zeremonie findet sofort statt“, entgegnete der König.
„Wie bereits gesagt ...“
„In meiner Begleitung befindet sich eine Göttin. Das zählt wohl mehr als eine lächerliche Priesterin. Selbst als eine hohe.“ Er zeigte auf die Gestalt mit dem schillernden Heiligenschein, umflattert von schwarzen Schwingen. Sie schien in der plötzlichen Aufmerksamkeit zu wachsen.
Ein Raunen ging durch den Saal. „Eine Göttin?“ Die Leute schienen nicht zu wissen, was sie tun sollten. Schließlich kniete sich Taramis nieder und die Adeligen rückten ihre Stühle beiseite und folgten ihrem Beispiel. „Welche Art Göttin?“, wagte einer der Männer zu fragen.
„Mein Name ist Nisaya“, schallte es wohlklingend als Antwort. „Erhebt euch. Ich bin die Göttin der Liebe und, hm, der Schönheit, der Eintracht ...“. Ihre Begleiter, die beiden Männer, die sie flankierten, blickten sie erstaunt an.
„Was denn? Und des häuslichen Glücks und so“, fuhr sie fort.
König Granoc wandte sich an einen der anwesenden Diener. „Man bringe die Insignien!“
„Und der Fruchtbarkeit“, ergänzte die Göttin noch schnell. Granoc wechselte rasch einen Blick mit ihr. Sie verstummte. Einer der Livrierten, offenbar für höhere Aufgaben zuständig, lief aus dem Raum. Zerban setzte sich unzufrieden. Taramis blieb stehen und hatte den Eindruck, sie träume. Man sah sie freundlich an, auch König Granoc, der aber gleich darauf wieder die Gesamtheit der Adeligen musterte wie ein Raubtier eine Schafherde. Wahrscheinlich interessierte ihn vor allem die Anzahl der schwarzen Schafe. Sie hatte den Eindruck, dass Zerban eher isoliert war. Der Wind hatte sich gedreht, die Opportunisten wichen von ihm und viele hatten seine Methoden ohnehin abgelehnt oder waren sogar indirekt Opfer derselben geworden. Schließlich kehrte der Diener mit einem samtenen, scharlachfarbenen Polster zurück, auf dem sich das relativ schlichte Zepter Askhaurans und die Krone der Königin befand, ein zarter, verzierter Goldreif, mit einem beeindruckenden Diamanten, der von zwei außergewöhnlich prächtigen Saphiren flankiert war und diese wiederum von zwei hellen Smaragden. Die Edelsteine bildeten auf dem Reif ein Krönchen. Der Diener blickte verunsichert zwischen dem König und der Göttin hin und her. Granoc deutete schließlich kurz auf das schlanke Mädchen mit dem Heiligenschein, das die Insignien in Empfang nahm, woraufhin sich der Diener schnell zurückzog. Das Mädchen trat auf den König von Achwilonien zu und wechselte mit ihm ein paar unhörbare Worte. Dann nickte sie. Sie ging wieder zurück auf die erhöhte Plattform hinter dem Tisch, auf der wohl normalerweise ein Thron ruhte. Die Göttin sah sie nun direkt an.
„Tritt näher!“
Taramis umrundete den Tisch, gefolgt von der Aufmerksamkeit der Edlen, blieb vor der Göttin stehen und sank schließlich auf die Knie.
„Ich“, fuhr das Mädchen mit den schillernden Haaren fort, „Nisaya, Göttin der Liebe, Schönheit, Eintracht, häuslichen Glücks, Fruchtbarkeit und, äh, ewigen Jugend, ernenne dich, Tar..., Taramis vom Hause Algar zur Königin von As..., Askhauran. Erhebe dich und nimm die Insignien deines Landes in Empfang.“
Taramis tat wie ihr geheißen, stand da mit wackeligen Knien und ergriff das Zepter, das auf dem samtenen Polster lag. König Granoc trat heran und krönte sie. Nun drehte sie sich zum Saal. Die Adeligen knieten vor ihr, manche vielleicht ein wenig unwillig, Zerban ganz sicher, aber immerhin.
„Nun wird jeder Adelige, wirklich jeder ohne Ausnahme, vor treten und den Treueschwur geloben!“, bestimmte der König von Achwilonien und griff zur Keule. Eine drohende Geste, die durchaus ernst genommen wurde. Granoc genoss einen gewissen Ruf.
„Verzeiht, edler König“, ließ sich Taramis sanfte Stimme vernehmen. „Aber es sind nicht alle Adeligen Askhaurans anwesend.“
Einer der Edlen, ein Freund ihres Vaters, der ihr schon als kleines Kind wegen seines langen, vollen Bartes aufgefallen war, blickte sich um und stellte schließlich fest: „So weit ich sehen kann, edle Königin, ist das doch der Fall.“
Sie schüttelte energisch den Kopf. „Leron und Liara aus dem Hause Harun fehlen.“
„Das Haus Harun wurde ausgelöscht. Man hat die Leichen der Kinder zwar nie gefunden, ging aber immer davon aus, dass sie verstorben sind.“
„Zu Unrecht! Erst gestern habe ich mich mit ihnen und ihren vier Gefährten getroffen. Sie erzählten mir von ihrem Schicksal. Leron gelang die Flucht, Liara geriet in Sklaverei, wurde aber von Angehörigen eines Steppenvolkes befreit. Sie fanden sich schließlich und kehrten zurück. Gestern wollten sie über einen Geheimgang in den Palast eindringen und ich zweifle nicht daran, dass ihnen das gelungen ist.“ Sie ging auf Zerban zu. „Die Frage ist: was ist danach geschehen?“
Dieser zwinkerte ein wenig verunsichert. „Die Eindringlinge? Sie wurden gefangen genommen, mit einer Ausnahme, die jetzt am Pfahl steckt. Sie befinden sich im Verlies und sollten zu dieser Stunde einer hochnotpeinlichen Befragung ausgesetzt werden, um mögliche Beteiligte am Komplott gegen die Herrscher ...“ Er korrigierte sich schnell: „Die ehemaligen Herrscher Askhaurans ausfindig zu machen. Danach ...“ Er deutete zum Dach.
„Sie wollten in der Tat die Welt von der Mörderin ihrer Eltern befreien. Und von ihrem Sohn, dem Regenten, der meinen Vater und Bruder ermordete. Abgesehen von mir gibt es niemand, der ihnen geholfen hat“, erklärte die Königin.
Zerban schüttelte den Kopf. „Die Königin und ihr Sohn waren nicht einmal hier – was allerdings nicht publik gemacht wurde. Ich werde die Gefangenen herbringen lassen.“
Granoc schritt sofort ein. „Bemüht Euch nicht. Bleibt, wo Ihr seid.“ Die beiden Männer funkelten einander an. Taramis verstand, dass der König verhindern wollte, dass Zerban die Gelegenheit erhielt, mit den Leibwächtern der ehemaligen Königin zu sprechen. Er konnte sich nicht sicher sein, ob sie sich noch zu Loyalität ihr gegenüber verpflichtet fühlten. Wenn Zerban eine Chance für sich sah, die Macht zu ergreifen, würde er sie ohne Zweifel nutzen. Der Mann lächelte ironisch, eine Mimik, die durch seinen Schnurrbart betont wurde. Eine einladende Geste in Richtung Taramis folgte. Es schien, als hätte er ihr die Erlaubnis gegeben. Sie reagierte nicht auf die Respektlosigkeit, sondern rief die Wache und gab ihr persönlich den Befehl. Sie hatte nicht vor, Zerban die Macht über die Palastwächter zu belassen oder überhaupt irgendeinen Einfluss. Er war gefährlich, doppelt sogar, da er mit dem Rücken zur Wand stand. Einige Adelige würden seinen Kopf fordern. Sie wollte nicht den Befehl geben, jemanden töten zu lassen – denn, stellte sie erstaunt fest, das oblag ja jetzt ihr – dachte aber über seine Verbannung nach.
Sie wandte sich wieder König Granoc zu, der ihr durch eine Geste bedeutete, zu ihm zu kommen, eine Aufforderung, der sie sofort Folge leistete. Fürchtete der König, dass ihr Leben in Gefahr war? Er schien sie jedenfalls vom Haupteingang des Raumes weg haben zu wollen. Kaum war sie neben ihm, wandte der König seine Aufmerksamkeit sofort wieder den Adeligen zu. Sie verstand, dass das nicht Unhöflichkeit ihr gegenüber war. Bei einem Umsturz – und ihre Krönung war wohl ein solcher – war es wichtig, jedes Aufbegehren im Keim zu ersticken, damit er nicht fehlschlug. Granoc hatte viel Erfahrung in diese Richtung, aber offenbar waren die ehemalige Königin Salomene sowie ihr Sohn allgemein unbeliebt gewesen. Dennoch; Achtsamkeit lag in des Königs Natur. Nach einer Weile erfüllte unruhiges Gemurmel den Saal. Um sich von ihrer Sorge Leron betreffend abzulenken, fokussierte Taramis ihre Aufmerksamkeit auf die Fremden, die sich unweit von ihr befanden. Die schillernde Göttin unterhielt sich mit ihren Begleitern, dem untersetzten und eher kleinen Bruder des Alkaios und dem anderen. Taramis hatte den ehemaligen Regenten zwar nie gesehen – er hatte nicht dazu geneigt, ein Bad in der Menge zu nehmen – wenn die Beschreibungen aber nicht maßlos übertrieben waren, sah ihm sein Bruder ganz offensichtlich überhaupt nicht ähnlich. Der andere im Gefolge der Göttin war hager und größer, sparsam mit Mimik und Gestik und hell gewandet. Vielleicht ein überirdischer Diener der Göttin? Sie behandelte ihn allerdings wie jemanden der gleichwertig war. Sie waren offensichtlich weniger angespannt als der König von Achwilonien, der wie ein Löwe vor dem Sprung auf die Beute wirkte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie Geräusche im Vorraum. Es kam kein Soldatentrupp, wie Granoc vielleicht befürchtet hatte, sondern lediglich die Gefangenen im Geleit. Der König entspannte sich ein wenig, sie blickte ihn fragend an und er nickte. Daraufhin lief sie auf Leron und seine vier Begleiter zu und umarmte den Freund ihrer Kindheit, der zunächst zusammenzuckte, bevor er die Geste erwiderte. Schließlich ließ sie von ihm und betrachtete ihn. Er wies jede Menge Prellungen auf und auch zwei verschorfte Wunden, wie sie erschrocken feststellte. Seine Schwester, die sie nun umarmte, deutlich vorsichtiger diesmal, sah kaum besser aus. Beide wirkten gleichermaßen verblüfft. Sie hatten wohl, genau wie Taramis, ihr Ende erwartet, als sie hierher gebracht wurden.
„Leron, Liara! Ich bin so froh, ich hatte befürchtet, dass ihr nicht mehr lebt.“
„Ach, Taramis. Ila hat mit ihrem Körper den Lanzenstich aufgefangen, der mir gegolten hat. Sie ist tot!“ Er wirkte verzweifelt. „Tot, um mich zu beschützen. Es gelang uns nicht zu überraschen, die Garde war auf der Hut. Wir wurden gefangen genommen und ins Verlies gebracht. Der da“, er zeigte auf den finster blickenden Zerban, „hat uns mit Folter und Pfählen gedroht.“
„Nie wieder“, sagte die Königin laut, „nie wieder soll in diesem Lande jemand gepfählt werden!“ Sie wandte sich an die Wache. „Sorgt dafür, dass die Menschen von den Spießen genommen werden und lasst sie aufbahren!“ Einer der Leibwächter verneigte sich und ging, dem Befehl Folge zu leisten. Sie wandte sich wieder Leron zu. „Ila wird ein prachtvolles Begräbnis bekommen, dafür werde ich sorgen. Es tut mir so leid um das Mädchen. Sie soll das letzte Opfer des alten Regimes sein.“
„Was geschieht hier?“
„König Granoc von Achwilonien“, sie zeigte hin zu dem Riesen und Leron verneigte sich in seine Richtung, „hat Alkaios erschlagen und ist dann zusammen mit dessen Bruder, einer Göttin ...“, er verbeugte sich abermals, eine Geste, die Nisaya huldvoll zur Kenntnis nahm, „und ihrem Begleiter auf einem fliegenden Dämon...“. Ihr schien eine Erleuchtung zu kommen, leise sagte sie: „Das ist der Grund, warum der Dämon am Tage gekommen ist. Weil er auf Befehl einer Göttin handelte. Wir werden im Tempel einen Schrein für Nisaya aufstellen müssen; hoffentlich hat sich jemand gemerkt, für welche Attribute sie steht...“
Einer der grauschwarzen Vögel flog herab von der Fackelhalterung, auf der er geruht hatte, landete auf einer Stuhllehne in ihrer Nähe und blickte sie aus einem dunklen Auge an, vor das sich immer wieder die Nickhaut schob. Die Königin glaubte ihren Ohren nicht trauen zu können, als er zu sprechen anfing:
„Vergiss nicht, auch noch 'Bescheidenheit' zur Liste hinzuzufügen!“ Und dann lachte er mit der Stimme der Göttin. Taramis blickte zu ihr und sah, dass sie ebenfalls lachte. Die Königin fing sich schnell und fuhr fort:
„Jedenfalls sind sie gekommen und haben die adeligen Häuser hier versammelt und zuletzt mich gerufen. Der König hat mich als Thronfolgerin vorgeschlagen – er hat mich gar nicht gefragt, ob ich einverstanden bin, es ging alles sehr schnell – und die Krönung wurde von Göttin Nisaya vollzogen; es gibt ja keine Hohepriesterin mehr. Wir werden irgendeine dem Volk Askhaurans gefällige, öffentliche Zeremonie durchführen lassen müssen. Jedenfalls – nun sollen alle Adeligen den Treueeid ablegen.“
Leron sank auf die Knie. „Dann lasst mich beginnen, meine Königin. Ich schwöre Euch und allen Euren Nachfahren im Namen des Hauses Harun ewige, unverbrüchliche Treue!“
Sie hatte bereits beschlossen, ihn zu ihrem Vertrauten und Berater zu machen. Sie würde Hilfe brauchen, hatte sie sich doch nie in der Rolle der Königin gesehen. „Ich danke Euch,“ sprach sie, „edler Leron. Hiermit gehen alle Ländereien und sonstiges Gut, das konfisziert wurde, wieder in den Besitztum des Hauses Harun über.“ Erst als sie dies sagte, bedachte sie, dass der Nutznießer der Enteignung Zerban gewesen war. Sein Platz war leer. Er hatte die Tatsache, dass alle Blicke auf sie und Leron gerichtet waren, dazu genutzt, sich heimlich davonzustehlen und befand sich bereits im Vorraum knapp vor dem anschließenden Gang. Wenn er die Burg Harun erreichen sollte, wäre er nicht nur sehr schwer daraus zu vertreiben, sondern hatte auch die Möglichkeit, in Ruhe Gleichgesinnte zu sammeln. Der Adelige, der verlangt hatte, Zerban ins Verlies zu bringen, war wohl mit seinen Gedanken ebenso weit gekommen, denn er rief: „Zerban!“ und zeigte auf den Flüchtigen.
Da geschah Folgendes: Der schwarze Vogel flog von der Lehne auf und hin zum Ausgang und eine mächtige Keule mit enormer Geschwindigkeit über Taramis Kopf hinweg. Beide hatten das gleiche Ziel und durch Zufall traf das Holz zuerst auf das Tier, das einen empörten Laut von sich gab. Einen Augenblick später erreichte die Keule samt Vogel Zerban, erwischte ihn im Nacken; ein greller Blitz zuckte auf, es krachte wie Donner und Rauch stieg auf. Der Mann stürzte wie ein gefällter Baum. Er rührte sich nicht mehr, auch der dunkle Vogel nicht, von dem aber ohnehin nur Reste übrig waren: viele Federn, der Schnabel und ein Flügel; all das lag jetzt rund um die verschmorte Leiche. Zerbans Kopf hatte sich fast vom Körper gelöst und war schwarz und wie geröstet. Der Anblick war spektakulär. Es wurde totenstill. Alle, auch Taramis, schauten zum König, der durchaus zufrieden mit sich schien. Die Göttin allerdings blickte ihn giftig an. Er zuckte bloß mit den Schultern und schlenderte dann langsam zur Wand, wo verschiedene Waffen hingen, die er eingehend betrachtete. Schließlich griff er nach einer Streitaxt mit zwei Klingen, löste sie, prüfte, wie sie in der Hand lag, nickte zufrieden, murmelte: „Besser!“, setzte sich wieder auf seinen Platz, wobei er die Füße auf den Tisch legte, grinste in Richtung der Versammelten und meinte: „Ihr könnt damit fortfahren, eurer Königin zu huldigen. Der Schwur! Beeilt euch, damit das Essen aufgetragen werden kann.“
In diesem Moment tat sich etwas in Granocs Rücken. Nisaya, die Göttin, verdrehte die Augen, sackte in sich zusammen und wäre hingefallen, hätte ihr Begleiter, der wohl auch die Funktion eines Beschützers innehatte oder sich zumindest so sah, sie nicht aufgefangen. Als er sie festhielt, fing sie leise zu sprechen an. Nur einzelne Worte waren zu verstehen. Erstaunt dokumentierte Taramis: „Sie spricht mit Ihresgleichen.“ Der Begleiter setzte sich hin, sodass die Göttin zum Liegen kam und bettete ihren Kopf in seinen Schoß. Der ganze Saal, sogar der König von Achwilonien, wurde von Ehrfurcht erfüllt und sank in die Knie.
Als Nisaya wieder zu sich kam, sprach sie zunächst kein Wort, meinte schließlich aber: „Wir müssen aufbrechen.“ Und an Granoc gewandt: „Kommst du mit?“ Dieser schüttelte den Kopf.
„Macht Euch keine Sorgen um den König, edle Göttin. Ich werde ihm ein Geleit für die sichere Heimreise nach Achwilonien geben.“ Nun wandte sich Taramis direkt an Granoc: „Bis dahin seid Ihr natürlich in Askhauran willkommen, solange ihr wollt. Das Land steht tief in Eurer Schuld.“ Nach einer kurzen Pause ergänzte sie: „Ich stehe tief in Eurer Schuld.“
„Ich werde nicht in den goldenen Käfig zurückkehren“, antwortete er, „aber ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr eine Nachricht von mir an Proserpo weiterleitet, in der ich ihm mitteile, dass er nun König von Achwilonien ist. Er braucht etwas Offizielles. Sendet einen hochgestellten Boten. Dies will ich von Askhauran und“, er lachte, „diese Streitaxt. Zwei Könige sind gegangen, zwei bessere Regenten sind gekommen. Ich werde bei Euch bleiben, bis ich sicher sein kann, dass kein Umsturz droht. Danach kehre ich ins bergige Kimerien mit seinen düsteren Wäldern zurück. Wer weiß, vielleicht helfe ich meinen Brüdern bei ihren Überfällen auf Achwilonien.“
***
Reja war mehr als zufrieden, zumindest bislang. Abwehrraketen und Plasmaimpulskanonen des Olymp hatten sie zwar drei Schiffe gekostet, aber ihre heimliche Furcht war gewesen, auf eine Armada feindlicher Raumschiffe zu treffen. Denn vom Vater ihrer zwei Söhne wusste sie, dass eine solche Flotte existierte; ein Faktum, dass sie ihrem Geliebten, dem Piraten Rammbock, verschwiegen hatte. Es war ihnen gelungen, die Bodenverteidigung auszuschalten, Geschütztürme und Raketenbasen rauchten vor sich hin. An ihrer Überlegenheit in dieser Hinsicht hatte sie nie gezweifelt, eher war sie überrascht, dass sich die Gegenwehr so effektiv gestaltet hatte. Erstaunlich für so einen jämmerlichen Haufen wie die Götter des Olymp.
Sie stand in voller Kampfmontur am Raumhafen. Das Juwel von Galahr trug sie in einer Umhängetasche außen an ihrem Rücken; sie wagte sich nicht davon zu trennen. Hinter ihr befanden sich die fünf Schiffe, die ihnen noch geblieben waren, neben ihr ihr Geliebter. Gemeinsam blickten sie hinab in den Krater, auf den wunderschönen See und die hellen Paläste auf der gegenüberliegenden Seite. Die meisten waren relativ unversehrt geblieben, so wie sie es gewünscht hatte. Da und dort beobachtete sie kleine Scharmützel, bei denen die Piraten rasch die Oberhand gewannen. Rauchsäulen stiegen überall gen Himmel. Die meisten Götter, denen nicht die Flucht mit Gleitern gelungen oder für die eine solche nie in Frage gekommen war, hatten sich aber in den Palast des Zeus zurückgezogen. Reja vermutete sie in der Großen Halle, an die sie unangenehme Erinnerungen plagten. Sie hoffte insbesondere Aphrodite und Hera dort anzutreffen. Die beiden wollte sie persönlich ins Jenseits befördern. Heras Mann, Vater ihrer Kinder, war hingegen wohl nicht anwesend, er hätte sonst ohne Zweifel die Flotte aktiviert. Es war ihr lieber so; sie hatte keinen Streit mit ihm. Mochte er seinen schrägen Plänen nachgehen und damit den Erfolg haben, den er sich wünschte. Zuerst Aphrodite und Hera, dann ihr Cousin. Ob er wohl mit den Göttern im prunkvollen Saal war und vor ihrer Rache zitterte? Sie hatte kein Geheimnis daraus gemacht, wer hinter diesem Angriff stand.
Den Palast des Zeus zu „knacken“ erwies sich als gar nicht so einfach. Via Com hörte sie die Stimme des Truppenleiters, der von Rammbock mit der Eroberung des Gebäudes beauftragt war.
„Wir kommen nicht weiter. Diese Kampfroboter, die sie haben, sind unüberwindbar. Unsere Verluste sind groß.“
„Okay, haltet die Stellung, aber greift nicht an“, hörte sie Rammbocks Stimme. „Ich schicke die Drohnen.“ Ein Schwarm tellergroßer, silbriger Scheiben flog von einem der Raumschiffe über den See in Richtung Palast.
„Sind die nicht zu klein, um Schaden anzurichten?“, fragte sie.
„Die sollen nur die Position der Kyklopen ermitteln. Wir müssen sie mit den Bordkanonen erledigen, eine andere Chance haben wir nicht. Der Palast wird etwas in Mitleidenschaft gezogen werden. Ist nicht zu ändern, Prinzessin.“
„Tja“, seufzte sie, „wo gehobelt wird ...“ Sie wartete und beobachtete. Eigentlich standen ihr Geliebter und sie wie auf dem Präsentierteller. Dennoch blieben sie unbehelligt. Die Götter waren wahrlich keine Strategen, sie hatten alle Kräfte in den Palast zurückgezogen und dachten nicht einmal an einen Gegenangriff, nur an die Verteidigung ihrer jämmerlichen Leben. Sie waren verachtenswert.
„Angriff!“, tönte es aus ihrem Helmcom. Sofort zogen gleißende, weiße Lichtbahnen von den Raumschiffen zum Palast, der auf einmal grell erleuchtet war. Reja musste trotz der automatischen und augenblicklichen Verdunkelung des Helmvisiers wegschauen. Der optische Eindruck wurde von dem für den Einsatz von Plasmaimpulskanonen typischen Kreischen begleitet. Mit einiger Verzögerung folgte dann auch der donnernde Knall, der die Folge des Aufpralls und der Verwüstung war. Rammbock erläuterte: „Die Aufklärerdrohnen sind zwar fast alle zerstört worden, konnten aber vorher die Position der Kyklopen hinreichend genau bestimmen. Der Standort unserer Leute wird ohnehin die ganze Zeit an die Schiffe gesendet. Mit etwas Glück haben wir keine zusätzlichen Verluste. Warte, ich bekommen gerade eine Rückmeldung.“ Sie hörte ein Knistern in ihrem Com. Interessiert blickte sie zum Ziel des Angriffs. Staubwolken erschwerten die Sicht, aber es war deutlich zu erkennen, dass die Zerstörung ganz beträchtliche Ausmaße erreichte. Von der Front des Palastes des Herrschers über die Welt war nicht mehr viel übrig. Teile davon fielen auch jetzt noch in sich zusammen. Wer sich in diesem Chaos befand, hatte auch mit Kampfmontur wenig Überlebenschancen. Rammbock bestätigte ihre Überlegungen.
„Durch einstürzende Gebäudeteile haben wir leider einige zusätzliche Verluste zu beklagen, aber was das Wichtigste ist: die Kyklopen sind vernichtet.“
„Warte noch!“, bat sie. „Es müssen ein paar Götter übrigbleiben, die ich befragen kann. Wir haben keine Ahnung wo Ephram ist. Er mag im Palast sein oder auch nicht.“
Der Pirat brummte zustimmend, dann gab er den entsprechenden Befehl: „Noch nicht angreifen!“ Und an sie gewandt: „Wir können ja nachsehen, es sind noch Drohnen übrig.“ Ohne auf ihre Zustimmung zu harren schickte er einen zweiten Schwarm los, der eilig über den See flog und hinter der Rauchwand verschwand. Er tippte mit einem Finger an seinen Helm. Reja verstand die Geste. Sie aktivierte die Bildübertragung der Drohnen und sah in vielen kleinen Bildern, was sie gerade aufnahmen. Ein Segment wurde gerade schwarz, weil ein übernervöser Pirat auf die eigene Aufklärung geschossen hatte. Rammbocks ärgerlichen Kommentar bekam sie nur am Rande mit, da eine der tassenförmigen Fluggeräte den Festsaal gefunden hatte. Sie vergrößerte das entsprechende Fenster. Ungefähr drei Dutzend ängstliche Menschen hielten sich hier auf, viele mit schimmerndem Heiligenschein. Einer davon richtete eine Waffe frontal scheinbar auf sie und das war's. Automatisch wurden wieder die anderen Fenster geöffnet, womit sie überhaupt nicht zufrieden war. Sie wandte sich an den Avatar, der die Drohnen kontrollierte und forderte ihn auf, die Festsaalszene abermals abzuspielen. Sie erkannte die meisten Götter und Göttinnen. Auch Aphrodite war unter ihnen.
„Wie ärgerlich! Hera ist nicht dabei“, stellte sie an den Piraten gewandt fest.
„Es gibt Anzeichen von menschlicher Aktivität weiter hinten im Gebäude. Vielleicht ist sie dort.“
„Dann müssen wir eben da hinein!“
„Das wird nicht so einfach. Die Rückseite des Gebäudes ist direkt an die Felswand gebaut. Ich wette um meinen schlechten Ruf, dass es da geheime Ausgänge gibt.“
„Sie darf nicht entkommen“, zischte Reja wütend. Hastig aktivierte sie ein Sichtfenster, das die Aufnahmen eines Aufklärers zeigte, der über dem Gebäude kreiste. Der zugrunde liegende Bauplan war eigentlich sehr einfach: Frontseite, Seitenflügel und rückwärtiger Trakt mit Giebeldächern umgaben den großen Saal, der ein Flachdach aufwies, auf dem eine Art Garten angelegt war. Ursprünglich wollte der Pirat eine Einheit seiner Kämpfer hier landen lassen. Die Piraten hätten sich in den Saal abseilen sollen, nachdem ein Teil des Daches im hinteren Bereich zerstört worden wäre. Reja hatte sich dagegen ausgesprochen und auch Rammbock hatte schließlich eingesehen, dass es erforderlich war, zuerst die Kyklopen zu eliminieren. Aber jetzt gab ihr der Dachgarten zu denken.
„Es muss einen Ausgang nach oben geben, denn welchen Sinn hätte die üppige Vegetation da oben sonst?“
„Egal!“, meinte der Pirat. „Wir sprengen uns durch. Los geht’s!“ Er aktivierte die Hüftdüsen seines Anzugs und flog gewandt über den See. Sie tat es ihm gleich, allerdings ohne seine Eleganz zu erreichen. Sie hatte keine Übung mehr und daher Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Daher wurde ihr Flug ein wenig taumelnd, aber sie war dennoch nie in Gefahr in den See zu stürzen, wenngleich sie sich einige Male der Oberfläche so sehr näherte, dass der Rückstoß der Düsen das dunkle Wasser direkt unter ihr zum Brodeln brachte. Sie versuchte, wieder jenes Gefühl für das Fliegen mit dem Anzug zu entwickeln, das sie früher ausgezeichnet hatte. Langsam gelang es ihr auch so weit, dass sie sich auf anderes konzentrieren konnte.
„Welche Waffen sind ihnen wohl noch verblieben?“
„Sicher kann man das nicht sagen“, antwortete der Pirat, „aber ich vermute nicht viel mehr als Plasmaimpulsgewehre. Damit können unsere Anzüge fertig werden. Solang du nicht eine Serie von Impulsen abbekommst. Dann wirst du natürlich gegrillt.“ Er lachte dröhnend. Sie schätzte seinen Humor und fiel in sein Lachen mit ein. Sie fühlte sich lebendig und unbeschwert. Sie kam ihrer Rache rasch näher und das belebte sie ungemein. Sie landeten im Dachgarten ohne behelligt zu werden; es gab also wohl nachlässigerweise keine automatischen Abwehrsysteme. Reja blickte sich zunächst um und fokussierte dann die Wand des hinteren Gebäudeflügels, die mit allerlei Ornamenten geschmückt war.
„Da! Siehst du? Eine Schiebetür. Ziemlich geschickt durch den Zierrat verborgen, aber ich bin mir sicher.“
„Könnte sein“, bestätigte der Pirat. „Das Gewächs, das da dargestellt ist, scheint mir gegen den Hintergrund ein wenig versetzt.“
„Das soll eine Efeuranke sein – ich war lang genug hier, um so was zu wissen.“
„Wen interessiert's?“
Langsam näherten sie sich dem geschmückten Wandbereich und tasteten ihn ab. Verschieben ließ er sich allerdings nicht. Schließlich verlor Reja die Geduld, zog ihre Pistole, aktivierte Dauerfeuer und schoss, wobei sie den Arm entlang einer lotrechten Linie führte. Dann steckte sie die Waffe weg. Sie griff in den Spalt, schob ein wenig und tatsächlich erweiterte er sich.
„Siehst du? Man muss nur ganz höflich 'bitte' sagen.“ Sie grinste, was Rammbock aber wegen des Helms nicht sehen konnte. Er schob die Tür noch ein wenig weiter auf, sodass sie bequem in das Gebäude gelangen konnten.
„Meinst du es war klug sie zu warnen? Du hast einen ganz schönen Lärm veranstaltet.“
„Ich hatte nicht vor mich anzuschleichen. Sie sollen ruhig wissen, dass ich komme.“ Vor ihr lag ein Gang, der in künstliches Licht gebadet war; Fenster gab es keine, aber das wusste sie ja bereits. Sie musste sich entscheiden, welcher Richtung sie folgen wollte, denn er erstreckte sich entlang der Außenwand.
„Der Gang ist zu schmal, um nebeneinander kämpfen zu können. Sollen wir uns trennen?“, wollte der Pirat wissen. Es schien aber eine rhetorische Frage zu sein, denn er ging bereits nach rechts, weshalb sie sich für die andere Möglichkeit entschied. Bald stieß sie auf Stufen, die hinab führten. Sie erwiesen sich als Teil einer Wendeltreppe, die offen in den zentralen Bereich eines größeren, prunkvollen, kreisrunden Raums führte. Sie blickte vorsichtig nach unten; wer hier hinab ging, befand sich gleichsam auf einem Präsentierteller. Vielleicht eine Manneslänge von den reich verzierten Wänden entfernt standen massive, vergoldete Säulen, die sich in einem Abstand voneinander befanden, der vermuten ließ, dass es insgesamt acht waren. Sehen konnte sie von dort, wo sie stand, allerdings nur zwei. Müsste sie diesen Raum gegen Eindringlinge verteidigen, stünde sie ohne jeden Zweifel hinter einer der Säulen und würde warten, bis der Angreifer, der die Treppe hinab kam, gut sichtbar wäre und dann erst angreifen. Dazu musste man aber gelegentlich hinter dem Schutz hervor spähen. Von dort, wo sie stand, konnte sie nicht ganz nach unten sehen; sie musste sich dem Abstieg nähern. Vorsichtig und leise schritt sie voran, sodass der untere Raumbereich sichtbar wurde. Tatsächlich war da eine Bewegung bei einer der Säulen; ein Blitz zuckte auf sie zu, aber der Verteidiger traf bloß eine der Stufen. Schnell bewegte sich Reja ein wenig zurück. Sie wusste nun zweierlei Dinge: Es gab zumindest eine bewaffnete Person – eine sehr nervöse – in dem Raum, deren Position ihr jetzt bekannt war. Und die Schlagkraft ihrer Plasmaimpulswaffe war sehr bescheiden, denn die Stufe war heil geblieben. Da wären wohl einige Schüsse notwendig, um den Anzug zu zerstören, schloss sie. Sie überlegte einen Augenblick lang, ob sie den Piratenführer benachrichtigen solle, entschied sich aber dagegen. Vielleicht hatte er den Schuss ja ohnehin vernommen. Was sie als nächstes tun würde bliebe ihm jedenfalls sicherlich nicht verborgen. Sie griff nach einer Diskusgranate an ihrem Gürtel, löste und aktivierte sie, blickte sicherheitshalber kurz auf das rote, schnell blinkende Licht, warf sie ohne besondere Kraftanstrengung lässig auf die Treppe und duckte sich. Sie hörte, wie sie ein oder zwei Stufen hinab polterte. Die gewaltige Explosion ließ nicht lange auf sich warten; in der Nähe der Granate wurde alles zerfetzt. Neugierig richtete sie sich wieder auf. Um das Spektakel besser bewundern zu können ging sie sogar ein wenig näher. Die massive Wendeltreppe schien sich um ihre eigene Achse zu winden und krachte dann nach unten. Reja sah allerdings hauptsächlich die aufsteigende Staubwolke und einige faustgroße Gesteinstrümmer, die, ungefährlich für sie, nach oben katapultiert worden waren.
'Das sollte einen gewissen Überraschungseffekt zeitigen', dachte sie, dann aktivierte sie das Flugaggregat, lief los und sprang in den Raum. Gefühlvoll steuerte sie seitlich weg von den Trümmern der Treppe, so dass sie hinter jene Säule blicken konnte, hinter der sie den Verteidiger vermutete. Dort hockte, von der Explosion offenbar überrascht, eine kindlich wirkende Frau in weißem Gewand mit goldener Borte und hielt sich die Ohren zu, was ihr rechts nicht so gut gelang, da sie in dieser Hand eine Pistole hielt. Die Haare schimmerten trotz der Staubwolke, die den Raum erfüllte. Reja legte ihr Gewehr an und behielt die Göttin im Visier. Sie wollte den Augenblick genießen und – falls es die Gesuchte war – die Angst in ihren Augen sehen und sie langsam umbringen.
„Hera!“, schrie sie. Da blickte die Kindfrau auf und es gab keinen Zweifel mehr.
„Achtung!“, schrie jemand; ein Mann. Da wurde ihr klar, dass sie die erforderliche Vorsicht sträflich vernachlässigt hatte. Natürlich konnte es mehrere Verteidiger in dem großen Raum geben, auch wenn sie beim Hinuntergleiten verborgen gewesen waren. Sie warf sich so zur Seite, dass sie Hera weiterhin im Auge behalten konnte. Da spürte sie bereits den wuchtigen, zerstörerischen Aufprall eines Plasmaimpulses in ihrem Rücken, einer traf sie noch in die Seite, die anderen kreischten knapp an ihr vorbei und trafen die Wand und eine der Säulen. Sie bemerkte, wie Hera ihre Waffe nun ebenfalls auf sie richtete und schoss sofort. Der Kopf der kleinen Frau explodierte, Haare verschmorten zischend, der halb aufgerichtete Körper sank nun langsam zu Boden. Reichlich Blut rann aus dem verbrühten Hals. Das alles nahm Reja wie in Zeitlupe wahr, während Flammenfontänen nach ihr züngelten, sie gelegentlich streiften und die Qualität ihrer Rüstung testeten. Dann hatte sie sich hinter eine der Säulen gerettet – jene neben Heras – und blickte sich vorsichtig um, nachdem der Beschuss aufgehört hatte. Am anderen Ende des Raumes seitlich bei einer Säule stand ein Mann mit flammendem Haar. Sie erkannte rechtzeitig, dass er unbewaffnet war. Sie war ihm, Hermes, dem Götterboten, bereits begegnet. Er war ihr gegenüber nie feindlich aufgetreten und war wohl die Person, die sie gewarnt hatte. Eine seiner Hände hielt drei Finger in die Höhe, die andere wies nach links. Sie meinte zu verstehen und hob zum Zeichen einen ihrer Arme ein wenig an. Kurz überlegte sie, ob er Teil einer Finte war, verwarf den Gedanken aber nach einem Augenblick. Dann wurde sie unsicher. Hatte er gemeint: drei Verteidiger links oder einer drei Säulen weiter links? Sie vermutete zweiteres und konzentrierte sich daher auf die dritte, goldenen Säule links von ihm. Tatsächlich war da eine Bewegung, aber ihr Feind hielt sich derzeit verborgen. Er wartete wohl ab, ob sie verletzt war oder vielleicht sogar im Sterben lag. Ihre Rüstung war zweifellos schwer beschädigt, wie ihr die Anzeigen verrieten, von denen einige im roten Bereich lagen und Warnungen artikulierten, aber ihre Front war noch heil und sie hatte nicht vor, dieser Person den Rücken zuzukehren. Sie vernahm Detonationen in einiger Entfernung. Rammbock war offenbar beschäftigt, sie konnte im Moment also nicht auf ihn zählen.
Nach einigen Augenblicken war sie des Versteckspiels leid, sie atmete tief und sammelte Energie für den Angriff auf jene Person, die ihre Rache an Hera verdorben hatte. Die Flugaggregate hatten den Angriff leidlich überstanden und so erhob sie sich, von der Säule geschützt, bis nahe an die Decke, um anschließend mit halsbrecherischer Geschwindigkeit den Raum zu durchqueren, über die Reste der Treppe hinfort, die ihr sonst im Weg gewesen wären. Dabei behielt sie die Deckung ihres Feindes stets im Auge, bremste schließlich scharf und stützte sich kurz sogar mit den Beinen von der Wand ab. Die Überraschung gelang; eine wunderschöne Frau mit schillerndem Haar und Plasmaimpulsgewehr blickte erstaunt nach oben, wurde ihrer gewahr. Reja sah ihre weit aufgerissenen Augen und in ihnen die Ungewissheit, für welche Handlung sie sich entscheiden solle: die Waffe heben und sofort feuern, hinter der Säule Schutz suchen oder aber zur nahe gelegenen Tür hechten und das Heil in der Flucht suchen. Sie entschied sich etwas zu spät für die dritte Variante. Reja schoss nicht, denn sie wollte ihr Opfer lebend; sie ließ sich vielmehr seitlich auf sie fallen und traf sie am Halsansatz. Die beiden Frauen gingen zu Boden, wobei Reja danach trachtete, auf der Waffe der anderen zu liegen zu kommen und sie damit zu immobilisieren. Im Aufstehen griff sie mit einer Hand nach dem Gewehr, während sie ihr eigenes in der anderen hielt. Die Liegende rührte sich nicht. Sie drehte sie in Rückenlage, sodass sie ihr Gesicht betrachten konnte. Die Augen waren offen und starrten ins Leere; ein kleiner Blutfaden rann aus dem Mundwinkel. Sie kannte die Frau; auch sie hatte einmal die Rolle der Hera verkörpert, als Epistor noch nicht Zeus gewesen war. Jetzt war sie unzweifelhaft tot; sie musste sie mit dem Fuß sehr unglücklich getroffen haben. Jammerschade; befragen konnte sie sie nun nicht mehr.
„Sie ist die Mutter der anderen.“
Reja blickte auf. Hermes stand vorsichtshalber noch hinter einer der Säulen und trat nun langsam mit erhobenen Armen hervor. Reja hielt die Waffen gesenkt und so kam er näher. Kampflärm erklang; ein einsamer Plasmaimpuls fand seinen Weg durch eine der acht Türen, eine der weiter entfernten, in den Raum und traf die Trümmer der Wendeltreppe. 'Rammbock hat also immer noch zu tun', schloss sie. Sie hatte nicht vor ihm zu helfen. Sie musste an Informationen kommen. Also deutete sie auf den nächstgelegenen Durchgang und Hermes war nur allzu bereit, ihr voran zu gehen.
Sie betrat durch eine schmale Tür einen Gesinderaum, der für die im Palast herrschenden Verhältnisse eher klein und ohne Prunk war. Hermes begleitete sie, war nun nicht mehr vor, sondern neben ihr. Er wirkte völlig entspannt, wiewohl er keine Kampfrüstung trug sondern lediglich sein übliches Gewand mit den eigentümlichen Schuhen, die ihm einen Gleitflug ermöglichten. Der Götterbote mochte schnell sein, aber einem Plasmaimpuls entkam er nicht. Reja war dem Unbewaffneten in ihrer Kampfmontur in jeder Hinsicht überlegen.
„Hier können wir uns in Ruhe unterhalten“, meinte sie, „während draußen das Gemetzel weitergeht“. Sie sah sich um. In der Mitte des Raumes lag eine Leiche, eine kleine, pummelige, ältere Frau mit schwarzem, blutverklebtem, recht kurzem Haar. Neben ihr ruhte eine unterarmlange Statue des Zeus und eine Blutspur führte in einen angrenzenden Raum. Sie zeigte auf die Verstorbene.
„Das ist nicht das Werk der Piraten.“
Hermes lachte. „Wohl kaum. Da hat jemand die Gunst der Stunde genutzt. Ich kann es ihm nicht verdenken. Sie ist eine Dienerin der Götter, die mit Vorliebe andere verhöhnt, verspottet und beleidigt hat, besonders einen jungen Mann. Ich könnte mir vorstellen, dass das sein Werk ist. Nun ja, ihr Ableben ist kein großer Verlust.“
„Ihre Gesichtszüge wirken im Tod so zerknautscht.“
„Nicht nur im Tod. Das war schon immer so.“
„Ihr Antlitz gefällt mir nicht.“ Sie zielte mit ihrem Plasmaimpulsgewehr auf den Kopf der Frau und schoss. Er platzte wie ein fauler Kürbis, verspritzte ein wenig verschmortes Gehirn; Knochensplitter glühten. Reja wirkte zufrieden. „So sieht es besser aus.“ Und nachdem sie das Ganze eine Weile auf sich hatte wirken lassen, fragte sie: „Was meinst du, wohin führt die Blutspur?“
„Sie war oft mit einer anderen Dienerin zusammen, einer bigott religiösen“, antwortete Hermes. „Natürlich sind alle Diener anfangs religiös, sie sind ja Freiwillige, die wir mit dem Versprechen eines Jenseits im Elysium anwerben. Die Intelligenteren verlieren hier im Laufe der Zeit ihre naive, schlichte Gläubigkeit; sie sind ja nicht blind. Aus Eigennutz bleiben sie uns aber meist treu. Sicherlich spielt es eine Rolle, dass wir die meisten Älteren als Priester und Priesterinnen zurück schicken. Sie genießen in den Städten und Dörfern hohes Ansehen.“ Sie folgten langsam der Blutspur. Hermes fuhr fort. „Ihre Begleiterin jedenfalls beharrte auf ihrer kindlichen Gläubigkeit. Wenn die kleine, schwarzhaarige mit den verkniffenen Zügen den jungen Mann wieder herunterputzte, stand sie einfach immer daneben, äußerte sich nicht als würde sie nichts verstehen. Aber eines Tages, nachdem die Verkniffene den Jungen wieder gequält hatte und meinte, er wäre schon weggegangen, hörte ich sie sagen: 'So, jetzt steckt er wieder für einen Tag den Kopf in den Sand.' Auf diese Bemerkung hin lachte die andere schäbig und ausgiebig. Der junge Mann hat das auch gehört und wusste nun Bescheid, wes Geistes Kind die andere ist. Ich fragte mich schon, wann er beginnt sich zu wehren. Falls er es war, hat er wohl den geeigneten Augenblick gefunden.“
Sie betraten eine dunkle Kemenate. Eine am Boden zusammengekauerte Frau mit braunem Haar, verschwommen wirkenden Augen und Platzwunde am Kopf, die immer noch blutete, hockte in der Ecke und starrte sie angstvoll an. Reja hob lässig die Pistole und schoss, der Kopf der Dienerin explodierte. Sie blickte Hermes verwundert an. „Du interessierst dich für das Leben von Dienern?“
„Warum nicht? Ich habe sogar einen Sohn von einer Gemeinen. Ich bin mir bewusst, dass wir in unsere Rollen geboren werden und, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen uns und ihnen gibt.“
„Der Unterschied ist die Macht.“
„Ja.“ Hermes wurde klar, dass sie ihm mit dieser Tat genau das hatte demonstrieren wollen. Sie konnte sein Leben genauso beiläufig auslöschen, wie das dieser unbedeutenden Frau. Es beeindruckte ihn nicht; er hatte sowieso vor zu kooperieren.
„Ich möchte wissen, wo sich mein lieber Cousin aufhält. Ephram Orphon. Weißt du etwas darüber?“
Er nickte. „Möglicherweise. Ich bin nicht sicher.“
„Ist er hier?“
Hermes schüttelte den Kopf.
„Ist das auch wahr?“, fragte sie argwöhnisch.
„Beruhige dich. Du hast vor kurzem jene Frau getötet, die das Leben meines Sohnes zerstört hat. Wir Götter ermorden einander nicht, also bin ich dir sehr dankbar, dass du getan hast, wonach es mich verzehrte. Ich möchte dir helfen.“
Sie nickte. „Du kennst meinen Cousin?“
„Natürlich. Früher war er gern gesehener Gast im Olymp. Wir haben ihn gut dafür bezahlt, dass die Welt uns vergisst. Eine Weile hat das auch funktioniert.“
„Bis ich mit einem Schiff der Sandarken von hier geflohen – und nun zurückgekehrt bin. Ihr seid eine leichte Beute.“
„Eigentlich nicht. Es wundert mich, dass Zeus nicht eingegriffen hat. Mit einer Piratenflotte hätten wir fertig werden müssen.“
„Er hat andere Pläne. Dieser Planet interessiert ihn nicht mehr. Er möchte neue Kolonien gründen, zusammen mit den Goldenen. Aber egal, seine Vorhaben sind irrelevant. Entscheidend ist, dass Ephram hierher gekommen ist. Dass er Gaia nie angegriffen hat, spricht dafür, dass er sich hier ein Refugium schuf. Und an diesem Rückzugsort hockt er nun – falls er wirklich nicht in Kontakt mit euch getreten ist.“
„Davon hätte ich bestimmt gehört. Hier wird viel getratscht.“
„Du kommst mehr herum als alle anderen Götter. Er lebt nicht in einer armseligen Hütte. Irgendwo muss sein Palast stehen. Hast du auffällige Bautätigkeit gesehen?“
„Auffälligkeit war doch eher nicht sein Ziel, oder? Wie hätte er das tun sollen, ohne dass unsere Satelliten es bemerken? Das funktioniert nicht. Ich weiß das nur zu gut – leider.“
„Stimmt. Er muss anders vorgegangen sein. Er ist ein Pirat wie ich. Er wird wohl einen vorhandenen Palast übernommen haben. Aber so etwas wäre doch ebenfalls aufgefallen!“
Hermes schüttelte den Kopf. „Nicht unbedingt. Es gibt einen Gott mit geradezu solipsistischen Zügen. Er leugnet alle anderen Götter, sogar seine eigene Frau, Aschera, die er unter dem Vorwand, sie habe ihn betrogen, verbannt hat. Wie kann man jemanden verbannen, der angeblich gar nicht existiert? Er gibt vor, der alleinige Schöpfer von allem zu sein.“
„Und seine Gläubigen?“
Hermes lachte. „Er wird auf mehreren Kontinenten angebetet, erscheint ihnen aber nie. Trotzdem hat er mehr Anhänger als irgendein anderer Gott. Wenn du jemanden ersetzen wolltest ohne dass es auffällt, wäre er besonders geeignet. Außerdem … nun, es hat Gerüchte gegeben.“
„Wie heißt er?“
„Jahwe, der Allmächtige, alles Wissende.“ Er rollte die Augen und lachte abermals.
„Und wo finde ich ihn?“
„Sein prunkvoller Palast steht auf dem Berge Sinai. Ich wette, dort findest du deinen Cousin, der wohl seit langem seine Rolle verkörpert, ohne dass der Wechsel von anderen zur Kenntnis genommen worden wäre.“
„Fein. Ich bedarf eines fliegenden Untersatzes. Ich möchte das ohne Beteiligung der Piraten erledigen. Mein Cousin hat zu viele Freunde bei ihnen. Manche verehren ihn gerade zu.“
„Nun – wir waren auf dem Weg zu einem Gleiterhangar, der in die Kraterwand gebaut wurde und sich nach außen öffnet. Eine klassische, unauffällige Fluchtmöglichkeit für Zeus und Hera. Man kommt auch über die Gesinderäume dorthin. Die meisten Götter kennen sich hier allerdings nicht aus, weil sie sie nie betreten haben.“
„Du schon?“
„Ich hatte einmal eine Geliebte, die Heras Dienerin war. Der alten Hera. Sie entdeckte das und missbilligte es, was zum Tod der Sklavin führte. Schon damals begann unser gegenseitiger Hass. Aber jetzt ist es jedenfalls ein Vorteil, dass ich mich hier auskenne. Folge mir.“ Sie begleitete ihn durch ein Labyrinth kleiner Arbeitsräume, etwa eine Küche und einen Waschraum, auch einen Schlafsaal für die Dienerschaft. Die Zimmer waren menschenleer; angesichts seiner schießwütigen Begleitung war Hermes dankbar dafür. Schließlich blieb der Gott vor einer Tür stehen und lauschte.
„Hoffen wir, dass die Piraten alle fliehenden Götter erwischt haben; es wäre jammerschade, wenn wir den Hangar betreten und die Gleiter wären ausnahmslos weggeflogen.“
Nach einiger Zeit war Hermes sicher, dass es ruhig war auf der anderes Seite und er öffnete die Tür. Zunächst war da nur Finsternis, aber die Dunkelheit wich rasch und ein schmaler Gang wurde sichtbar, dessen Wände jetzt ein fahles, grünes Licht ausstrahlten. Sie betraten und eilten ihn entlang. Schließlich erweiterte er sich und ein bequem aussehendes Ding wurde sichtbar, das einer Kutsche ohne Räder ähnelte und auf Schienen stand, die so weit in den Berg hinein liefen, dass man das Ende nicht mehr sehen konnte.
„Wir sind jetzt bereits in der Kraterwand“, kommentierte Hermes. „Setz dich bitte, der Waggon bringt uns direkt zum Hangar.“
„Der Waggon hat keine Räder. Ist das eine Art Gleiter? Aber wozu dann die Schienen?“
„Das ist eine Magnetschienenbahn. Sehr primitive Technik. Wo du herkommst, gibt es so etwas wahrscheinlich nicht mehr.“
„Du kennst Ivarn nicht.“
Sie setzte sich ohne weiteren Kommentar und der Gott nahm neben ihr Platz. Sofort hob sich das Gefährt an, fuhr los und wurde rasch schneller, bis sie mit aberwitzigem Tempo durch den Berg glitten. Die Fahrt war sehr eintönig und das grüne Licht, das stets einen Gangabschnitt vor ihnen erhellte, hatte etwas Hypnotisches. Reja kam innerlich zur Ruhe, vergaß beinahe die Schlacht. Aber dadurch hatte sie Zeit in Gedanken zu ihren jüngsten Erlebnissen auf Ivarn zurückzukehren. Ihren Tod und die Wiedererweckung durch das Juwel. Das Juwel! Sie hatte es in einer robusten, gut gerüsteten Umhängetasche am Rücken getragen, weil sie nicht gewagt hatte, sich von ihm zu trennen. Siedend heiß fühlten sich die Erinnerungen an die Plasmaimpulsserie an, die sie ebendort getroffen hatte und an die Warnungen über schwere Schäden an der Rüstung. Rasch gab sie den Befehl, die metallenen, festen Bügel, die über die Schultern liefen, zu lösen. Sie griff danach und hob die Konstruktion über den behelmten Kopf. Wie befürchtet, war der Rucksack schwer beschädigt, der schützende, unelastische Metall-Keramik-Verbundstoff an mehreren Stellen verbogen oder vollständig fehlend. Reja öffnete das Behältnis, griff hinein und fand nur noch ascheschwarze Splitter vor; die Rubinfärbung war verloren gegangen. Sie stöhnte. Wie viel Zeit blieb ihr ohne die lebenserhaltende Wirkung des Juwels von Galahar?
„War etwas Bedeutendes in der Tasche?“, fragte der Götterbote.
Reja bezähmte ihre aufbrausenden Aggressionen. Am liebsten hätte sie ihn in diesem Augenblick erschossen, zum Frustrationsabbau gewissermaßen. Aber die Gleiter waren sicherlich gegen unbefugte Inbetriebnahme geschützt. Sie brauchte ihn noch, gerade jetzt, in dieser Situation der Ungewissheit. Würde sie ihr jugendliches Aussehen bewahren? Wie lange hatte sie noch zu leben? So antwortete sie betont gelassen:
„Ein Juwel, das ich erbeutet habe. Der Verlust ist bedauerlich.“
„Nun, vielleicht findet sich in Jahwes himmlischem Palast Ersatz. Würde mich nicht wundern.“
Sie nickte nur und starrte nach vorne, wo die Enge des Ganges abrupt verschwand und der Weite einer Halle Platz machte. Deren Tore waren bereits geöffnet und gleich einer Flut traf sie das Tageslicht, das hier die fahle Dämmernis des Ganges ersetzte. Drei Götterwägen standen noch im Hangar, Platz war für die doppelte Menge. 'Oh Cousin!', dachte sie, 'ich lechze nach deinem Blut!“ Was, wenn Hermes sich irrte? Was, wenn Ephram ganz woanders war? Der Gedanke, er könne überleben, war unerträglich.
Die Bahn stoppte und sie stiegen aus.
„Hier trennen sich unsere Wege“, meinte der Götterbote.
„Wo willst du hin?“
„Zu meinem Sohn, der auf dem Hyborischen Zeitalter lebt. Ich hätte ihn längst besuchen sollen und wahrscheinlich auch bei ihm bleiben, aber der Wunsch nach Rache war so überwältigend ...“.
Das brauchte er gerade ihr nicht zu erklären. Sie zeigte auf einen der Götterwägen. „Ich bin einmal mit einem ähnlichen Fluggerät unterwegs gewesen. Zusammen mit Zeus habe ich die goldenen Aliens besucht. Die Bewaffnung dieser Dinger war lausig. Sind die hier wehrhafter?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube nicht. Eine Plasmaimpulskanone, das ist alles.“
Sie seufzte. „Dann wird das eben genügen müssen. Aktiviere die Gleiter!“ Sie konnte nicht sehen, was Hermes tat, oder dass er überhaupt irgendetwas tat, aber die Seitenluken zweier Götterwägen glitten auf und Treppen senkten sich herab.
„Viel Glück bei deinem Vorhaben“, wünschte der Gott und ging zu einem der Fluggeräte. Reja unterdrückte das Bedürfnis, ihm in den Rücken zu schießen. Hermes war schließlich nicht Ephram. Aber es irritierte sie, dass jemand ihr so einfach den Rücken kehrte, offenbar ohne sich der Gefahr bewusst zu sein, in der er gerade schwebte. Sie seufzte. Das Vergnügen, Aphrodite zu foltern, würde ihr wohl verwehrt bleiben. Wenn sie doch nur wüsste, wie viel Zeit ihr noch blieb. Es war eher eine Ahnung, dass sie ohne das Juwel nicht allzu lange am Leben bleiben würde, eine Panik, die möglicherweise jeder Grundlage entbehrte. Ephram war wichtiger als Aphrodite. Sie stieg in den Götterwagen und informierte den Avatar über das Ziel: den Berg Sinai.
***
Sie standen im hügeligen Gelände, hinter sich die Schwarzen Berge und blickten auf die Ebene hinaus. Die Vegetation ließ den Herbst erahnen; längst waren nicht mehr alle Blätter grün. Bei der Überquerung des Passes waren die Nächte bereits empfindlich kalt gewesen, aber hier wirkte sich die Nähe des Wilahet-Meeres günstig aus, worüber sie sehr froh waren. Über ihnen schwebten dicht aneinander gedrängt kleine, weiße und graue, flauschige Wolken wie eine himmlische Schafherde. Aber die Decke, die sie bildeten, war dünn und Unwetter, wie in den Bergen, waren hier nicht zu befürchten. Sie waren zerschrammt, schmutzig und erschöpft. Gjefren setzte sich unter die Krone eines niedrigen Schirmbaums, nahe an den Stamm, dessen Rinde an die runzelige Haut eines sehr alten Mannes erinnerte und der Sichtschutz gegen Beobachter von oben gewährte; so hoffte er zumindest. Athaly folgte seinem Beispiel. Ihr struppiges, schwarzes Haar bewegte sich in einer sanften Brise. Er legte den Arm um ihre Schulter und begann zu erklären:
„Dort hinten, wo der Himmel blau ist, liegt das Meer. Es ist ein Binnenmeer. Dahinter befindet sich das Land Khitai und dann kommt wieder eine See, eine viel größere. Und darin liegt ein weiterer Kontinent, das Achaische Zeitalter. Von dort kam mein Vater in einem fliegenden Ding mit einem unglaublich starken Freund vom Planeten Romjen. Der mäandrierende, breite Fluss ist der Yil. Er entspringt in den Schwarzen Bergen und fließt ins Binnenmeer. Nahe der Mündung ist mein Vater abgestürzt und dann den Fluss hinauf, immer entlang des Ufers, gewandert. Auf seinem Weg traf er schließlich auch noch einen Kimerier, einen Nordländer, namens Granoc, einen unglaublichen Kämpfer, der ihnen dass Leben rettete.“ Er zeigte hinab in die Ebene. „Zu dritt kamen sie dann in Merion an, der Stadt zu unseren Füßen, gebaut in einer Flussschlinge und von dort im Laufe der Zeit in die Umgebung wuchernd. Menschliche Städte wirken von oben betrachtet fast immer wie Krebsgeschwüre in der Landschaft.“
„Und hier begann auch deine Reise. Und deswegen willst du zurück, weil du hoffst, dass dein Onkel an diesem Ort seine Suche nach dir beginnen wird. Richtig?“
„Teilweise richtig. Meine Hoffnungen in diese Richtung sind allerdings bescheiden. Ich habe nicht vor, jahrelang einfach zu warten, während mein Bart immer länger wird. Das ist mir zu passiv. Ich kann ihn nicht über unseren Standort benachrichtigen, weil Reja mein Com zerstört hat. Also muss ich eine andere Kommunikationsmöglichkeit finden. Und da trifft es sich gut, dass mir die Familienlegende einen Weg aufzeigt. Einen steinigen zwar, aber immerhin.“
„Hm. Welchen?“
„Siehst du diese trutzige Mauer oberhalb der Stadt? Sie umgrenzt den so genannten 'Garten der Erkenntnis', Refugium für eine intelligente, indigene Spezies, mit einigen wirklich sehr bemerkenswerten Eigenschaften.“
„Ich sehe nur Bäume.“
„Sehr ungewöhnliche Bäume, wenn du sie genauer betrachtest. Bei seiner Wanderung haben sich meinem Vater noch zwei weitere Gefährten angeschlossen, eine Frau und ein Monster namens Gorm. Wie es genau ausgesehen hat, haben mir meine Eltern nie richtig beschreiben können, aber jedenfalls monströs, soviel ist klar.“
„Und dieses Geschöpf willst du nun suchen? Und es ist in diesem Garten? Also ist er unser Ziel, nicht die Stadt?“
„Im Prinzip läuft es darauf hinaus. Die Spezies ist überaus ungewöhnlich; aus unserer Sicht jedenfalls. Die jungen, ausgewachsenen Exemplare sind Männchen. Sie wandern, vielleicht auf der Suche nach Weibchen und sicherlich auch aus anderen Gründen in der Umgebung umher, wenn sie nicht von Menschen versklavt und für deren Zwecke missbraucht werden. Sie fressen Fleisch, auch menschliches. Tatsächlich hatte Gorm den Auftrag, die Begleiterin meines Vaters, Yasiwi, zu fressen.“
„Hm! Wäre es dann nicht doch besser zu warten? Wenn der Bart dich stört, könntest du ihn ja rasieren.“
„Das war nur ein Gleichnis, ein Bild. Es geht nicht um den Bart.“
„Schon klar.“
Er hatte allerdings schon länger keine Gelegenheit zum Rasieren gehabt und sah entsprechend wild aus. Vielleicht gefiel ihr das nicht. Andererseits passte er damit zu ihr. Mit dem ungekämmten, struppigen Haar sah sie aus wie ein Kobold. Was allerdings nichts daran änderte, dass sie das bezauberndste Geschöpf war, das er je gesehen hatte und das trotz des Makels, dass sie keine Schwimmhäute an Händen und Füßen besaß.
„Das Ganze wirkt gefährlicher als es ist. Glaube ich. Hoffe ich! Wenn die Monster älter werden, verändern sie ihr Geschlecht und werden sessil, das heißt: festsitzend. Sie ernähren sich von Sonnenlicht wie Pflanzen, bekommen Wurzeln und so. Das sind dann die 'Bäume', die du siehst. Die hiesigen Lebensformen sind einen anderen Weg gegangen als die Geisel des Universums, die Menschen. Weder Geschlecht noch Dasein als Pflanze oder Tier sind fixiert. Alles ändert sich mit dem Alter. Jedenfalls – und das ist das Wesentliche – sollte Gorm inzwischen einer von diesen Bäumen sein und damit für mich völlig ungefährlich.“
„Das muss ziemlich langweilig sein als Baum. So unbeweglich.“
„Nach unseren Maßstäben wohl schon. Sollte man zumindest meinen. Aber wahrscheinlich stimmt das gar nicht, denn diese Art ist telepathisch veranlagt und besitzt so etwas wie ein Kollektiverleben. Das ermöglicht den Älteren auch, den Jüngeren Anweisungen und Ratschläge zu geben. Sie können sie aber nicht zu irgendetwas zwingen, denn ein Kollektivbewusstsein existiert, soweit ich weiß, nicht.“
„Wer hat sie versklavt? Und wozu?“
„Die Priester Mithras. Sie nutzten die telepathischen Fähigkeiten der Monster, um miteinander buchstäblich gedankenschnell zu kommunizieren und damit einen Wissensvorsprung auch gegenüber den Herrschenden zu bewahren. So fungierten sie einerseits als wertvolle Berater, waren andererseits aber auch dazu in der Lage sie zu manipulieren. Die Priesterkaste hatte wohl diesen Kontinent wirklich beherrscht, nicht die Könige.“
„Wie ist den Priestern das gelungen?“
„Indem sie die Unbeweglichkeit der älteren Kreaturen ausnutzten. Sie bauten diese Mauer und sperrten damit den Zugang zu den Weibchen. Es gibt nicht allzu viele Haine dieser Art – vielleicht überhaupt nur diesen – und so hatten die Priester die Vermehrung der Art gewissermaßen in der Hand. Wer zu den Weibchen wollte, war eine Weile gezwungen zu tun, was sie verlangten. Meine Mutter hat ein Loch in die Umgrenzung gesprengt und damit einen Zugang geschaffen. Diesmal haben die Wesen, die Ahriman, nicht einfach zugesehen wie er wieder zugebaut wird. Bis dahin haben sie Menschen nur auf Befehl anderer Menschen ermordet. Jetzt nicht mehr. Sie haben dazugelernt.“
„Das klingt immer noch ziemlich gefährlich. Sie haben Grund genug unsere Art nicht besonders zu mögen.“
„Ich will sie nicht einsperren. Ich will da nur hinein.“
„Um was genau zu tun?“
„Gorm hat meinem Vater ermöglicht, telepathisch mit meiner Mutter zu sprechen. Ich werde ihn – oder eigentlich sie – bitten, mich mit meinem Onkel und meiner Schwester zu 'verbinden' oder wie immer man das bei Telepathie nennt. Jedenfalls möchte ich mit ihnen kommunizieren.“
Athaly bezweifelte nicht, dass das möglich war. Solange sie das Juwel von Galahar besessen hatte, war sie selbst so eine Art Hexe gewesen und hatte erlebt, was Magie vollbringen konnte. Sie blickten eine Weile hinab zu dem gewaltigen Areal, das Gjefren als 'Garten der Erkenntnis' bezeichnet hatte. Die Mauern waren hoch und wirkten sehr solide und völlig glatt. Hinaufklettern war wohl unmöglich, wahrscheinlich nicht einmal mit Seil und Haken, da es keine Stellen, die zur Verankerung geeignet wären, gab. In Stadtnähe ging die Umgrenzung in ein ehedem prachtvolles Gebäude über, offenbar Mithras Tempel, der nun etwas verwahrlost wirkte und dessen Katakomben früher wohl den Zugang zum Garten gewährten, der von den Priestern gehütet worden war. Von dort zog sie in beiden Richtungen die Hügel hinauf und passte sich der Landschaft an, folgte ihrem Auf und Ab, wobei sie insgesamt umso mehr anstieg, je weiter sich das Gelände von der Stadt entfernte. Am höchsten Punkt ging die Mauer in eine merkwürdige, schillernde Konstruktion über; ein fremdartig aussehendes Gebäude aus Kristall. Vielleicht ein weiterer Zugang zum Garten? Gjefren konnte sich nicht vorstellen, dass es Menschenwerk war.
Während er noch über dessen Funktion sinnierte, zeigte Athaly auf eine bestimmte Stelle. „Da! Siehst du? Da wirkt die Befestigung anders. Als wäre sie unterbrochen.“
Gjefren folgte der Richtung, die ihr Zeigefinger wies, sah aber zunächst nichts Besonderes. Aber dann fand er die Stelle. „Du hast recht. Wie eine Unterbrechung sieht es aber nicht aus. Vielleicht ist sie inzwischen doch wieder repariert worden. Wenn, dann allerdings überaus schlampig.“
„Sollen wir uns das näher ansehen?“
„Lieber das als die Katakomben des Tempels.“
„Ich hätte wohl Angst nie wieder hinauszufinden. Ich bin die offene Savanne gewöhnt, alles Unterirdische ist mir unheimlich.“
„Mit den Höhlen bist du aber ganz gut fertig geworden.“
„Ich habe mir nur nichts anmerken lassen. Die unterirdische Abkürzung vom Tal der Niobe und Hermes' Sohn zu dem Ufer, wo wir uns getroffen haben, war beinahe zu viel für mich. Ich hatte die ganze Zeit Panik.“
„Also, fangen wir bei der Unterbrechung der Mauer zu suchen an. Vielleicht ist sie ja der Eingang in den Garten.“
„Glaubst du, dass die Hexe uns immer noch verfolgt? Sollen wir bis Einbruch der Dunkelheit warten?“
„Ich hoffe, sie hat auch noch etwas anderes zu tun als nach uns zu suchen. Es gibt keinen Weg, wir müssen querfeldein. Das schaffen wir in der Finsternis nicht. Vielleicht schützen uns die Wolken ein bisschen. In der Nähe einer Siedlung ist es hoffentlich schwieriger zwei bestimmte Individuen zu finden.“
Er stand auf und reichte ihr seine Hand, die sie ergriff. Sie hatte keine Aufstehhilfe nötig, nahm die Geste aber gerne an, denn sie mochte es, dass er sich um sie sorgte. Sie verließen den Schutz des Baumes und quälten sich durch eine oft dichte Macchie. Wo immer es möglich war, vermieden sie das dornige Gestrüpp und wichen auf karge Wiesen aus, auf denen Ziegen, Schafe und Esel friedlich weideten. Die meisten beäugten sie skeptisch, meckerten, bähten oder ih-ah-ten alarmiert, gingen ihnen aber schließlich aus dem Weg. Manche Ziegenböcke präsentierten ihnen die Hörner; angegriffen wurden sie aber nicht. Vielleicht, dachte Gjefren, sahen sie hinreichend bedrohlich aus. Besonders er. Der Weg war mühselig und langwierig, aber schließlich erreichten sie irgendwo die tatsächlich erstaunlich glatte Mauer und ab diesem Zeitpunkt wurde es leichter. Sie konnten nun einem schmalen Pfad im Gestrüpp, eher ein Tierwechsel als Menschenwerk, folgen. Dieser Bereich war früher sicherlich freigehalten worden, denn die Ahriman konnten gut klettern. Aber die Vegetation war auch jetzt noch viel zu niedrig, um die Wehr zu überwinden. Nichtsdestotrotz beäugte Gjefren sie voll Hoffnung. Nach einer gefühlten Ewigkeit waren sie endlich am Ziel angelangt.
„Da war wirklich einmal ein Loch in der Mauer. Sieh nur!“ Athaly deutete auf die Stelle, wo die Steine fehlten und ein fast kreisrundes Loch von doppelter Mannshöhe existiert haben musste. Jetzt aber verwehrte eine organisch wirkende Barriere den Zugang zum Garten. Gjefren berührte sie. Sie fühlte sich hart und glatt an und schmiegte sich lückenlos in die Ausnehmung.
„Der Eingang, den meine Mutter geschaffen hat, ist ... zugewachsen. So sieht es zumindest aus. Wie etwas Lebendiges. Da komme ich nicht hinein“, meinte Gjefren frustriert. „Es sieht sehr stabil aus, aber vielleicht kann ich mit einem Messer ...“
„Das habe ich bereits versucht. Stundenlang ohne Erfolg. Trotzdem ist diese Stelle nach wie vor ein Tor.“
Sie hatten den Mann, der gesprochen hatte, nicht kommen gehört und waren entsprechend erschrocken. Er stand etwas über ihnen auf dem Pfad, eine hoch gewachsene, dürre, zerlumpte Gestalt in brauner, zerrissener Kutte. Auf Gjefren wirkte sie wie der Tod. In einer Hand hielt sie einen knorrigen Wanderstab. Eine Kaputze verhüllte den Kopf bis auf Augenhöhe und warf ihren Schatten auf ein bleiches Gesicht. Der Blick des Mannes war stechend und wirkte irgendwie ungesund und bedrohlich, ein Effekt, der durch das übertriebene Grinsen noch verstärkt wurde. Der Wanderer hatte nun alle Aufmerksamkeit und fuhr fort:
„Aber es öffnet sich nur für die Ahriman, die dunklen Geister. Seit Jahren versuche ich vergeblich in den Garten zu gelangen.“
„Wer seid ihr?“, wagte Athaly, die sein Anblick erschreckte, zu fragen.
„Jetzt bin ich ein Bettler, einer, auf den die Leute im Vorbeigehen spucken. Aber dereinst war ich Mithras Oberpriester in Merion, ein Mensch vor dem alle anderen Hochachtung hatten. Sie fürchteten mich und die Macht meines Gottes. Und sie taten gut daran!“, erklärte der Fremde verbittert.
„Was ist geschehen?“, fragte Gjefren, mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse und obwohl er es sich vorstellen konnte. Aber der Mann schüttelte zunächst nur den Kopf. Dann entschloss er sich doch zu einer kurzen Antwort:
„Der Gott hat uns verlassen. Wir haben unsere Macht verloren. Alle Priester Mithras. Aber dereinst ...“, ein wahnsinniges Glühen erschien in seinen Augen, „werden wir unsere Herrschaft über die Dämonen wiedererlangen. Der Schlüssel dazu muss in diesem Garten liegen.“
„Wenn wir hier nicht hineinkommen können; wie steht es dann mit den Katakomben?“
Der Fremde schüttelte den Kopf. „Ein Wurzelgewirr versperrt den Eingang. Ich habe alles versucht, um hinein zu gelangen. Ich habe Feuer gelegt. Es war vergebens, die Wurzeln brennen nicht und die organische Wand, vor der du stehst, ebenfalls nicht. Auch hier habe ich es mit Flammen versucht.“
„Hinein klettern ist auch nicht möglich?“
„Wie? Die Mauern sind doppelt so hoch wie jeder Baum, der in der Umgebung wächst. Zumindest außerhalb des Gartens. Man müsste eine Art Treppe bauen, aber alleine bin ich dazu nicht in der Lage. Die Menschen helfen einem ohnmächtigen Priester nicht. Sie haben ihre Gottheit vergessen und sind vom Glauben abgefallen. Ich habe darum gebetet, dass Mithra die Sünder bestraft, dass ein Flammenmeer die Stadt verzehrt und die ungläubige Brut vertilgt. Aber mein Flehen war vergeblich, der Allmächtige erhört mich nicht mehr.“
Gjefren konnte sich vorstellen, dass dieser Mann nicht einfach gewartet, sondern wohl selbst Brände gelegt hatte und nicht nur hier und in den Katakomben, sondern an vielen Stellen in der Stadt. Sein Beliebtheitsgrad war dadurch aber sicherlich nicht gewachsen. Niemand würde ihm helfen, wenn es sich so verhielt. Eher würde er gesteinigt werden. Sie hatten ein gemeinsames Ziel, aber eine Zusammenarbeit schien ihm keine gute Idee zu sein. Andererseits hatte er auch keine Ahnung, wie er ihn loswerden konnte.
Athaly befühlte die glatte Wand mit ihren Fingern. Sie konnte hervorragend klettern, wie eine Wildkatze, aber hier fand sich nicht der geringste Halt. „Aber es kann doch nicht so schwer sein, eine Leiter zu bauen, die bis nach oben führt, selbst wenn die Bretter nicht so lang sind.“
„Du glaubst du bist originell?“, zischte der Mann in der Kutte. „Einmal ist mir das tatsächlich gelungen. Aber kaum habe ich die obere Kante berührt, trafen mich Äste wie Peitschenhiebe und ich wäre beinahe abgestürzt. Der Wald ist verwunschen, glaubt mir.“
Gjefren glaubte es nicht nur, er wusste es. „Das sind keine normalen Bäume. Dass die Zweige dermaßen beweglich sind, war mir allerdings nicht bekannt.“ Er fragte sich, was das für sein Ziel bedeutete. Ratlos stand er vor der Wand und blickte hinauf. „Es muss doch noch einen anderen Weg hinein geben.“
„Einen gibt es noch“, antwortete der Fremde. „Durch das Labyrinth. Früher wurde er bewacht. Jetzt nicht mehr.“ Er kicherte.
„Das ist das komisch schillernde Gebäude weiter oben?“, wollte Athaly wissen. Die hagere Gestalt nickte. „Wenn der Eingang unbewacht ist, warum bist du nicht da durch?“
„Glaubst du, ich hätte es nicht versucht? Das Labyrinth ist gewaltig!“
„Aber selbst wenn“, meinte Gjefren, „in zwei Jahrzehnten muss das doch möglich sein. Man braucht doch nur die Wände markieren.“
„Du bist ahnungslos! Natürlich habe ich das versucht. Aber die Markierungen verschwinden sehr bald. Besser geht es mit Gegenständen, die man auf den Boden legt. Aber, wenn man ihnen am nächsten Tag folgt, um das Labyrinth weiter zu untersuchen, stimmt alles nicht mehr. Ich kommen an einem Tag zuerst an einem dreigabeligen Ästchen vorbei, danach an zwei über Kreuz gelegten Zweigen und so weiter, aber am nächsten Tag ist alles anders. Das war sehr merkwürdig und ich wusste nicht, was geschieht. Verändert jemand die Position meiner Markierungen? Aber das war es nicht. Erst als ich einen langen Faden verwendete, erkannte ich, was wirklich passiert. Das Labyrinth verändert sich langsam. Wände verschwinden, andere wachsen. Oder sie bewegen sich, man kann es nicht sehen. Nach einem erfolglosen Versuch mit dem Faden wollte ich zurück gehen, aber die Schnur führte nun genau zu einer Wand! Ich geriet in Panik. Es hat einen vollen Tag gedauert, wieder hinaus zu finden. Danach habe ich weitere Versuche unterlassen“
„Wenn du nie hindurch gelangt bist, woher weißt du dann, dass es überhaupt einen Weg hindurch gibt? Vielleicht enden alle Pfade blind?“, wollte Athaly wissen.
„Ich habe den Eingang weiterhin beobachtet. Zweimal habe ich gesehen, wie ein Dämon aus dem Labyrinth heraus gekommen ist. Es muss also wenigstens gelegentlich einen Durchgang geben.“
„Ein Labyrinth!“, meinte sie nun begeistert. „Das ist etwas für Gjefren.“ Sie deutete auf ihn. „Er mag zwar schwächer sein als die meisten Shwakara-Männer ...“
„Großartig! Das ist wirklich aufbauend. Danke auch“, murrte er.
„Eigentlich als alle.“ Athaly grinste von einem Ohr zum anderen und schaute ihn an. „Aber im Denken schlägt er jeden!“
„Wir werden sehen“, meinte der Fremde.
„Und hier?“ fragte Gjefren. „Wie oft kommt an diesem Tor ein Ahriman hinein oder hinaus? Kann man vielleicht mit hinein?“
„Versuch es. Die Kreatur wird dich töten. Vielleicht einmal pro Mond öffnet sich der Eingang. Du kannst ja warten.“
Gjefren wandte sich seiner Begleiterin zu. „Was meinst du, Athaly?“
Sie sah ihn aus großen Gazellenaugen an, also so wie immer, und hob die Schultern. „Warten können wir später auch noch. Ich würde mir gerne das schillernde Gebäude ansehen. Von dort oben wirkte es fremdartig, aber wunderschön.“
„Also gut.“ Er blickte dem Fremden ins Antlitz. „Geh bitte voraus.“ Der nickte kurz, dreht ihm den Rücken zu und folgte dem Pfad, immer die Mauer entlang. Athaly und Gjefren blieben ein wenig zurück, um ungestört miteinander reden zu können, ohne dass der Mann verstehen konnte, was sie sprachen. Sie folgten ihm in einigem Abstand. Den Fremden schien es nicht zu stören, er drehte sich nicht nach ihnen um, bemerkte es vielleicht nicht einmal.
„Was hältst du von ihm?“, flüsterte Athaly, die voraus ging.
„Ich glaube, er ist verrückt und unberechenbar. Wir sollten vorsichtig sein“, antwortete Gjefren sehr leise.
„Glaubst du ihm? Stimmt, was er erzählt? Oder will er uns nur daran hindern, in den Garten zu kommen?“
„Was das betrifft“, wisperte er, „traue ich ihm. Die Geschichte über die Priester stimmt mit jener überein, die Gorm meinem Vater erzählt hat. Er denkt natürlich völlig verquer. Es würde ihm überhaupt nichts nutzen, wenn er in den Garten käme. Was erwartet er da vorzufinden? Vielleicht hatte die Priesterschaft die Zusammenhänge nicht wirklich verstanden? Möglicherweise wussten sie bloß, dass die Ahriman unbedingt in diesen Hain gelangen wollten, aber nicht warum? Vielleicht erwartet er die eigentliche Quelle der Macht hier drinnen? Die meisten Religionen vermischen Wahrheit mit haarsträubendem Unsinn, warum sollte es bei der Mithras anders sein?“
„Ich hatte auch den Eindruck, dass er wirklich dort hinein will. Aber wenn es so ist und er da drinnen irgendeine Quelle der Macht vermutet, würde er dann zulassen, dass auch du hineingelangst?“, überlegte Athaly.
„Stimmt. Das würde er eher nicht. Und ich halte ihn für völlig skrupellos. Wer weiß, wie oft er die Ahriman mit einem Mord beauftragt hat? Vielleicht ist er jener Priester, der Yasiwis Tötung wollte? Das ist sogar ziemlich wahrscheinlich der Fall. Wir sollten ihm nie den Rücken zuwenden; jedenfalls nicht beide.“ Er lachte leise, hielt aber bald inne, denn er sah ein, dass das eigentlich nicht zum Lachen war. Sie waren in ernster Gefahr. Das waren sie eigentlich die ganze Zeit, aber diesmal nicht wegen der Hexe.
Der Pfad ging sanft bergauf, niemals steil und folgte stets der Wand. Er war schmal und steinig, erforderte ihre Konzentration, weshalb sie nun doch lieber schwiegen. Athaly folgte dem Weg mit der Gewandtheit einer Bergziege; Gjefren hatte da schon mehr Schwierigkeiten, wohl auch deshalb, weil er häufig die grazile Gestalt vor ihm beobachtete. Ihre schlichten, eleganten und doch auch sehr femininen Bewegungen waren eine Augenweide. So abgelenkt konnte es schon geschehen, dass man den einen oder anderen Stein übersah und ins Stolpern geriet. Athaly würde denken, er sei ungeschickt. Sicherlich hatte sie keine Ahnung, dass seine Bewunderung für ihre Anmut die Ursache dafür war. Später beschäftigte er sich in Gedanken mit der Entstehung des Pfades. Lief dieser Expriester tatsächlich seit zwanzig Jahren hier auf und ab und suchte seine vergangene Glorie wieder zu erlangen? Es gab sinnvollere Arten, sein Leben zu fristen. Wie kam er an Nahrung? Lebte er nur von den Brosamen, die er als Bettler erhielt? Der seine Identität sorgfältig geheim hielt, beziehungsweise nur jenen mitteilte, von denen er wusste, dass sie nicht aus Merion stammten? Warum hatte er ihnen erzählt, wer er war? Was erhoffte er sich überhaupt von ihnen? Bei diesen Überlegungen angelangt, wandte er sich wieder an seine Begleiterin:
„Erzähle ihm bitte keinesfalls, dass meine Mutter an seiner Misere Anteil hat. Was heißt Anteil? Sie hat sie verursacht.“
„Werde ich nicht. Keine Angst!“
Seit einiger Zeit hatten sie ein zunächst sehr leises Rauschen vernommen, das Gjefren anfangs aus seinem Bewusstsein ausgespart hatte, bis es dazu zu laut geworden war. Vor ihnen wurde der Pfad der Mauer des Gartens plötzlich untreu und wandte sich fast in rechtem Winkel von ihr ab. Sie erreichten eine Hochebene, die so flach war, dass die Vermutung nahe lag, sie sei nicht natürlichen Ursprungs. Und da hinten war es; das Labyrinth, dessen steile, hochragende Wände goldbraun glänzten als seien sie aus leuchtendem Bernstein. Es begrenzte eine Seite des wahrscheinlich künstlichen Plateaus; auf der anderen Seite wurde es von einem unnatürlich gerade fließenden, wasserreichen Bach umrahmt, der in eine Schneise hinein fiel. Der kleine Wasserfall verursachte die Geräusche, die er wahrgenommen hatte. Hinter dem kleinen Fluss stieg der Hügel steiler an. Der Bach kam natürlich aus den Schwarzen Bergen, sie befanden sich ja am Fuß dieses Massivs.
Athaly ging zu dem Gebäude und berührte die leuchtenden, fast transparenten, immens hohen Wände. Sie fühlten sich warm an und sehr glatt. Der Fremde ging zum Eingang, während Gjefren stehen geblieben war und sich erstaunt umsah.
„Also. Was denkst du?“, wollte Athaly, an ihren Gefährten gewandt, wissen.
„Ich denke, dass es da nicht viel zu denken gibt. Das ist kein Labyrinth.“
„Was ist es dann?“
„Weiß ich nicht, aber Labyrinth ist es keins.“
Nun war auch der Mann in der braunen Kutte hinzugekommen, wie man riechen konnte. „Was sprichst du für Unsinn? Ich war da drinnen und habe die Gänge abgeschritten, bin all den Windungen gefolgt.“
„Du hast es falsch gemacht.“
„Habe ich das? Wie sonst kommt man durch ein Labyrinth?“
„Es ist keins. Du hast einen Gang nach dem anderen angesehen. Das war falsch. Du hättest sie alle gleichzeitig untersuchen müssen!“
„Was sprichst du für Schwachsinn? Wie soll das gehen? Das kann ich nicht, das kannst du nicht, niemand kann das! Nicht einmal Mithra ist dazu in der Lage.“
„Ich habe ihn nie kennen gelernt, aber ich traue ihm das auch nicht zu.“ Langsam ging Gjefren zum Eingang und untersuchte dort die Schwelle. „Dachte ich's mir“, murmelte er. Athaly starrte ihn mit offenem Mund an, der Fremde mit wütendem Gesichtsausdruck. Also beschloss Gjefren, sie an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen.
„Kommt mit“, forderte er sie auf und ging zum Abgrund, an den Rand des Plateaus. Sie folgten ihm, der Fremde mit Widerwillen, den er mit ärgerlichen Lauten und Beleidigungen deutlich machte. Gjefren blickte hinunter ins Tal. Es ging nur ein paar Manneslängen steil bergab, sonst war die Gegend durch sanfte Höhenänderungen gezeichnet. Das Plateau war künstlich aufgeschüttet worden und wahrscheinlich sehr viel älter als die Mauer, die den Garten der Erkenntnis umgab. Vermutlich ebenso alt wie dieses merkwürdige Gebäude. Er bewegte sich ein wenig weg vom Rand; ein Absturz wäre möglicherweise tödlich.
„Also, erkläre dich endlich!“, verlangte der ehemalige Priester des Mithra.
„Warum hast du es plötzlich so eilig? Nach zwanzig Jahren kommt es auf einige Augenblicke auch nicht mehr an, sollte man meinen.“ Gjefren sagte das ganz ruhig, fast leise. „Egal“, fuhr er fort. „Dieses Plateau bildet ein spitzwinkeliges, annähernd gleichschenkeliges Dreieck. Wir stehen in der Mitte der kurzen Seite. Rechts von uns schließt das Gebäude, das du Labyrinth nennst und dessen innere Struktur sich wandelt, wenn es stimmt was du sagst, die freie Fläche der Hochebene ab.“
„Natürlich stimmt es“, zischte der Fremde erbost.
Gjefren zuckte nur mit den Schultern. „Ich glaube dir ja. Links von uns fließt der Bach sozusagen entlang der anderen langen Seite des Dreiecks und stürzt schließlich ins Tal.“
„Das weiß ich alles! Komm endlich zum Punkt!“
„Geduld. Sieh hin zum spitzen Winkel und folge mit deinem Blick dem Verlauf des Baches oberhalb der Hochebene. Sieht es nicht aus als würde der Bach eigentlich entlang des Gemäuers fließen wollen? Aber dann ist da dieses Hindernis, eine Barriere, die den Lauf des Gewässers in eine andere Richtung zwingt. Wäre sie nicht da, würde der Bach anders fließen. Und er würde nicht einfach die Hochebene überfluten, denn wenn ihr genau hinseht, werdet ihr feststellen, dass sie zwar ziemlich flach ist, aber in der Mitte, bis dorthin, wo wir stehen, doch etwas höher. An beiden Rändern ist sie etwas tiefer. Wäre die Barriere also nicht da, würde das Wasser sich ein neues Bett suchen. Es würde entlang der Gebäudewand bis zum Eingang fließen und dort hinein.“
„Ja, und?“, meinte der unheimlich Fremde.
„Aber verstehst du nicht? Was du nicht kannst und was ich nicht kann und Mithra auch nicht und vielleicht nicht einmal Athaly ...“.
„Ich bin eine Steppenkreatur. Ich mag Gebäude nicht so. Ha! Noch nicht einmal Berge. Wir haben uns beide verirrt, weiß du noch?“
„Ja, richtig. Jedenfalls: Wasser kann es. Wasser kann alle Gänge gleichzeitig untersuchen.“ Gjefren sah im Blick des Fremden immer noch Unglauben. Also erläuterte er weiter. „Der Boden des – nun ja – Labyrinths ist wie eine Wanne gebaut, vermute ich. Ich glaube er ist völlig horizontal, aber ein wenig versenkt. Von innen muss man zu den beiden Eingängen eine Stufe hinaufgehen, zumindest auf der Seite, die wir kennen, ist es so, wie ich gesehen habe. Es genügt, wenn auf der anderen Seite die Stufe niedriger ist oder sogar fehlt. Wasser, das ins Gebäude fließt, füllt zunächst die Wanne vollständig. Es kümmert sich nicht um die Wände. Sobald die Wanne voll ist, rinnt es dann durch den zweiten Eingang hinaus. Der Witz ist, dass sich die Strömung entlang der kürzesten Verbindung zwischen Ein- und Ausgang bildet. Das Wasser dient sozusagen als hoch effizienter Analogcomputer, wenn du verstehst was ich meine. Wir müssten also nichts Anderes tun als immer der Strömung zu folgen.“
„Ich verstehe nicht jedes Wort, das du gesprochen hast, aber das Prinzip schon. Und ich glaube, du hast recht!“, meinte Athaly.
„Und was nützt uns das jetzt?“, wollte der Expriester wissen.
„Nichts. Gar nichts. Ich wollte nur erklären warum das kein Labyrinth sein kann.“ Gjefren zuckte mit den Schultern.
„Wenn wir zu dem Hindernis gehen, dort, wo sich der Bach entscheiden muss, in welche Richtung er schließlich fließen will, sollten wir dann nicht, wenn du recht hast, eine Umlenkmöglichkeit finden?“, sinnierte Athaly. „Irgendwas Künstliches in der dichten Vegetation, mit dem sich der Bachverlauf umstellen lässt.“
Gjefren blickte sie skeptisch an. „Schon. Aber das Ding ist sicherlich längst verrostet oder so. Es wurde ja wahrscheinlich seit Jahrtausenden nicht mehr verwendet.“
„Ha! Schauen wir uns das einfach an!“, rief sie enthusiastisch und sah ihn kurz mit funkelnden Augen an. Dann wandte sie sich ab und lief los. Gjefren blickte ihr lächelnd nach und folgte dann gemächlicher. Die überschäumende Energie des Mädchens erstaunte ihn immer wieder, aber er brachte sie selbst nicht auf. Der Fremde genügte sich in der Statistenrolle, fast hätte Gjefren seine Anwesenheit vergessen. Sehr gerne hätte er das getan; er hatte von Anfang an ein sehr ungutes Gefühl bei dem Mann gehabt. Er wendete den Kopf und erhaschte einen hasserfüllten Blick aus tiefliegenden Augen; zumindest erschien es ihm einen Moment lang so, aber als Gjefren nochmals hinsah, hatte der Mithrapriester die Augen bereits gesenkt und schritt hinter ihm in scheinbar demütiger Haltung.
Von der Ferne schien es sich bei der Barriere einfach um einen stark bewachsenen, an der Basis breiten und nach oben schmäler werdenden Felsen zu handeln. Bis sie endlich angekommen waren, hatte ihn Athaly bereits genau betrachtet, war auf und ab gegangen und hatte schließlich gefunden, was sie gesucht hatte.
„Sieh mal, das da scheinen Stufen zu sein, die nach oben führen! Sie sind ein bisschen hoch.“
Dort, wo der Bach, nachdem sein Nass in Kaskaden nach unten gefallen war, die Ebene erreichte, schien tatsächlich eine in den Stein gehauene Treppe zu beginnen, die aber dann der steilen Außenwand des Felsens folgte, sodass sie eigentlich von der Hochebene zu sehen gewesen wäre, wäre sie nicht bereits verwittert und verwachsen.
„Sie sind wirklich zu hoch für Menschen“, stellte Gjefren fest. „Was für Kreaturen haben nur das alles gebaut? Und wozu? Der Wall um den Garten der Erkenntnis wurde erst später errichtet, Durchgang war das sogenannte Labyrinth daher jedenfalls nicht. Ob es wirklich eine Art Analogcomputer war, möglicherweise für Demonstrationszwecke?“
„Vielleicht“, überlegte Athaly, „war das eine Art Spielplatz für die Jungen. Oder eine Ausbildungsstätte? Fragt sich natürlich, was man hier erlernen kann.“
Gjefren antwortete nicht. Er betrachtete den Felsen genauer. Der Stein, aus dem er bestand fühlte sich rau an und war von dunkelgrauer Farbe. Er ragte steil empor, sodass nur ein sehr geübter Kletterer ohne die Stufen hätte hinauf gelangen können. Ihm wäre es nicht möglich gewesen. Was ihn verblüffte und auch Bewunderung in ihm auslöste, war, dass sich so viele Pflanzen in winzigen Ritzen der Felswand verwurzelt hatten und offenbar erfolgreich ihr Dasein fristeten, möglicherweise schon seit Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten. Knorrige Bäumchen wuchsen hier und auch riesige Flechten, sowie üppige Moospolster an Stellen, wo öfter Wasser hinabrann. Vom Bach konnte es aber wohl nicht kommen, da sein Verlauf von der steilen Felswand mit den hinauf führenden Stufen zu weit weg war. Der recht üppige Pflanzenbewuchs verursachte, dass man aus der Ferne nicht erkennen konnte, dass es sich um ein Artefakt handelte. Der Fels war wohl schon immer da gewesen, aber er war durch Alienhand – falls diese Aliens Hände gehabt hatten – verändert worden.
Athaly hatte das Warten offenbar satt, denn sie sagte: „Ich werde jetzt da hinauf gehen“. Sie ließ ihren Worten sofort Taten folgen, hüpfte von einer zu hohen Stufe auf die nächste und nutzte knorrige Wurzeln, um sich gelegentlich auch festzuhalten. Gjefren hatte nicht einmal Zeit, sie darauf hinzuweisen, dass sie vorsichtig sein solle. Es sah ziemlich gefährlich aus, weil die Treppe sehr nah am Abgrund verlief. Aber Athaly brauchte wohl keine Warnung. Sie war viel geschickter als er. Gjefren folgte ihr weniger gewandt und je höher sie kamen, desto intensiver spielte ihm seine Phantasie die Szene vor, wie er in die Tiefe stürzte. Er verspürte ein unangenehmes Kribbeln in seinen Fingerspitzen, was überhaupt nicht förderlich war, wenn es darum ging, festen Halt an einer Wurzel zu finden. Auch schienen seine Handflächen immer feuchter zu werden, was ihn dazu brachte, darüber nachzudenken, ob Menschen auf den Handflächen überhaupt Schweißdrüsen besaßen. Scheinbar schon. Er wollte immer vorsichtiger und langsamer werden, war sich aber nicht nur des Abgrundes rechts von ihm bewusst, wo der kniehohe Fels ihn nicht wirklich schützte, sondern auch des Fremden, der ihm folgte. Er blickte kurz zurück und sah, dass dieser seinen knorrigen Wanderstab geschickt nutze und ihm viel zu nahe war. Der dürre Typ war völlig unberechenbar und unheimlich. Gjefren versuchte, wenigstens einen geringen Sicherheitsabstand zu wahren. Schließlich hatte er den Felsen endlich erklommen, der, nüchtern betrachtet, gar nicht so hoch war, wie es ihm seine Höhenangst vorgespielt hatte. Er atmete tief durch und betrat eine kreisförmige Plattform. Athaly stand etwas abseits und blickte auf das Zentrum derselben, wo ein merkwürdiger Gegenstand etwa eineinhalb Armlängen aus dem Felsen ragte. Er bestand aus einer Achse und etwas, das von der Form her ein wenig an eine Balkengalaxie erinnerte, und bestand offenbar aus dem gleichen schillernden, etwas transparenten und bernsteinfarbenen Material wie das Labyrinth. Dahinter floss der Bach den Hügel hinab und auf Ebene der Plattform, beziehungsweise etwas tiefer, nach links. Athaly sah ihn zufrieden lächelnd an.
„Du hast recht gehabt.“
Gjefren blickte ein wenig zweifelnd zurück. Er wollte ohnehin einen möglichst großen Abstand zum Abgrund und zu dem bedrohlich wirkenden Fremden haben, daher ging er zu dem Gewässer. Tatsächlich existierte auch rechts eine Furche, die als potentielles Bachbett hätte fungieren können, aber eine Barriere verhinderte, dass das Wasser in diese Richtung floss. Das Hindernis ging wie ein sehr dicker Zeiger einer gewaltigen Uhr von der runden Plattform aus, auf der sie nun alle standen.
„Was meinst du?“, wollte Athaly von ihm wissen.
„Vielleicht habe ich wirklich recht gehabt“, antwortete er. „Ich glaube, dass das Ding in der Mitte das Pedant zu einem Rad darstellt. Es sieht nicht so aus, aber es hat wohl diese Funktion. Wenn es uns gelingt, es gegen den Uhrzeigersinn zu drehen, dann bewegt sich die Barriere nach links und lenkt damit den Fluss des Wassers so um, dass es sich ein neues Bett suchen muss. Und praktischer Weise ist ein solches auch tatsächlich da. Das ist zumindest die Theorie. Sollen wir sie testen?“
„Klar“, stellte Athaly fest. Sie ergriff mit beiden Händen einen der Arme der galaxieähnlichen Radkonstruktion. „Ich weiß zwar nicht, was 'gegen den Uhrzeigersinn' bedeutet, aber ich drehe einmal so, wie es mir richtig vorkommt.“ Sie mühte sich ab, aber nichts bewegte sich, also eilte Gjefren, nachdem er seine Umhängetasche abgelegt hatte, herbei und setzte ebenfalls all seine Kraft ein, vergeblich. Schließlich kam auch noch der Fremde hinzu, aber der Erfolg blieb aus. Endlich gab Gjefren schwer atmend auf und trat einen Schritt zurück.
„Der Mechanismus muss irgendwie eingerostet sein. Die Drehrichtung stimmt jedenfalls. Vielleicht waren die Aliens einfach viel stärker als wir drei.“ Er kratzte sich ratlos am Kopf.
„Was, wenn wir in die andere Richtung drehen?“
„Im Uhrzeigersinn drehen, damit der Mechanismus sich gegen den Uhrzeigersinn bewegt? Dein Vorschlag, Athaly, entbehrt nicht einer gewissen Unlogik, aus menschlicher Sicht zumindest. Aber vielleicht löst sich dann irgendwas, was jetzt verhakt ist. Also los!“
Sie stellten sich wieder zum Rad und versuchten es diesmal in die Gegenrichtung. Zur allgemeinen Überraschung setzte es sich knarrend in Bewegung und dann gingen sie los, wie Esel an der Mühle, immer im Kreis, genau elf Mal herum. Währenddessen änderten sich die Geräusche, die vom Gewässer her zu ihnen drangen, wurden zunächst leiser als würde die Strömung verzögert, dann wieder lauter.
„Das war weniger anstrengend als vermutet.“ Gjefren eilte zum Bach, der sich tatsächlich ein neues Bett gesucht hatte. „Aha!“, stellte er erstaunt fest. „ich hatte die Funktionsweise nicht durchschaut. Die Barriere hat sich gar nicht horizontal gedreht, sie ist nach unten gesunken und auf der anderen Seite ist eine empor gestiegen. Es muss eine Halbröhre sein, die vertikal rotiert. Ein Halbzylinder. Na egal. Gehen wir zum Labyrintheingang.“
Er schritt zum Rande der Plattform und verharrte vor dem Abgrund, dort, wo die Stufen in die Tiefe führten. Ihm war beim Blick auf die Ebene unter ihm gar nicht wohl, das würde schlimmer werden als der Aufstieg. Er musste sich wieder einreden, dass er – objektiv betrachtet – gar nicht höher war, als wenn er auf den Sprungturm geklettert wäre, von dem, als er selbst noch jünger war, die Kinder oft ins Meer hinab gesprungen waren. Der Turm befand sich, von der Farm seiner Eltern aus gesehen, in der nächsten Siedlung. Gjefren war als Kind oft dort gewesen, aber empor gestiegen war er nie. Das hatte er den Tapfereren überlassen. Den Helden. Insofern brachte ihm der Vergleich mit der Vergangenheit nicht den Mut, den er jetzt nötig haben würde. Aber als er Athaly kennen gelernt hatte, fiel ihm ein, hatte er eine Felswand bezwungen, war sowohl hinauf als auch wieder herunter geklettert. Damals hatte allerdings unmittelbare Lebensgefahr gedroht und zudem wollte er dem Mädchen, das ihm so sehr gefiel, imponieren. Dieses Bedürfnis hatte er immer noch, also wollte er nicht wie ein jämmerlicher Feigling erscheinen. Statt an einen Fehltritt musste er beim Abstieg bloß an das hübscheste Mädchen denken, das er je gesehen hatte.
Ein Schrei unterbrach seine Erinnerungen und Träume, ein Schlag traf ihn an der Schulter, ließ ihn nach vorne kippen und er ließ sich geistesgegenwärtig sofort zusammensacken, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Dann wurde ihm klar, was passiert war und immer noch geschah: der Fremde hatte mit dessen Stock auf seinen Rücken gezielt, als wäre er eine Billardkugel, offenbar mit der Absicht, er möge sein Gleichgewicht verlieren und in den Abgrund stürzen. Athaly hatte das verhindert. Sie hatte sich auf den Angreifer geworfen und den Stab abgelenkt, der ihn daher nur an der Schulter getroffen und seinen Körper bloß gedreht hatte, statt ihm einen Impuls in Richtung Tiefe zu verleihen. Athaly kämpfte wie eine Tigerin. Sie versuchte, den Mann an den Rand der Plattform zu drängen, war aber wegen ihres geringen Gewichts sehr im Nachteil. Der ehemalige Priester drehte den Spieß buchstäblich um, indem er nun sie an den Rand drängte und gleichzeitig versuchte, sie loszuwerden. Aber sie klammerte sich mit einer Wut an ihn, mit der er wohl nicht gerechnet hatte. Als sie am Rand stand, ließ sie ihre Beine einknicken, der Fremde stolperte über sie und verlor das Gleichgewicht. Das alles ging unglaublich schnell und Gjefren musste ohnmächtig zusehen, wie der Fremde, als er zu fallen begann, nun seinerseits seine Freundin festhielt und damit bewirkte, dass sie mit ihm in den Abgrund stürzte, kaum eine Armlänge von seinen Füßen entfernt.
„Athaly!“, schrie Gjefren entsetzt. Er richtete sich auf. Vorbei war die Ängstlichkeit. Er hastete mit einer Gewandtheit, die er sich nie zugetraut hätte, die übergroßen Stufen hinab, sein Herz voller Angst um das Mädchen. Mehr als einmal stolperte er über eine knorrige, vorstehende Wurzel, aber er fiel nicht. Unten angekommen wandte er sich den beiden zu und hastete sofort zu Athaly. Der Andere interessierte ihn nicht. Sie lag auf dem Rücken im Gras, das nicht einmal so hoch war wie seine Unterschenkel und rührte sich nicht. Aber ihre Augen waren offen und blickten nach oben. Einen Moment befürchtete er das Schlimmste. Er ließ sich neben ihr auf seine Knie nieder, wagte aber nicht, sie zu berühren. Dann begann sie mit verträumter Stimme zu sprechen:
„Der Himmel ist wunderschön, tiefblau. Wo sind die ganzen Wolken hin? Mir ist gar nicht aufgefallen, dass sie weg sind.“
„Oh, Athaly!“ Gjefren merkte, dass er Tränen in den Augenwinkeln hatte. Er berührte mit seiner Hand sanft ihre Wange. Einerseits war er erleichtert darüber, dass sie bei Bewusstsein war, aber dass sie über Banalitäten sprach, empfand er als unheimlich. „Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?“
Ihr Blick wanderte zu ihm und sie lächelte ihn an. „Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gut. Du musst keine Angst haben. Mir tut nichts weh. Es wird alles gut. Sieh nur, was für ein schöner Tag heute ist.“
„Ja, wunderschön“, antwortete er, obwohl er seiner Umgebung überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkte, nur ihr. Sie wirkte, so wie sie da lag, hilfsbedürftig und schutzlos. Nie hatte er sie mehr geliebt als jetzt. Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel, aber auch er lächelte. „Ich bin so froh, dass du am Leben bist. Ich war in Panik, ein Sturz aus dieser Höhe“, flüsterte er. Er hatte immer noch Angst, sie könne sterben. Ihre Worte genügten ihm nicht, um beruhigt zu sein. „Kannst du aufstehen?“ Er hielt den Arm hin. „Brauchst du Hilfe?“
Sie sah ihn nur an, eine ganze Weile, während sie weiterhin lächelte. Dann aber sagte sie: „Nein. Ich kann mich nicht bewegen. Die Beine nicht. Die Arme nicht. Ich spüre nichts.“
Eis kroch seinen Rücken empor, etwas legte sich auf seine Brust, er konnte kaum mehr atmen. Sein Magen zog sich zusammen. Er empfand grauenvolle Furcht. Aber noch wollte er es nicht akzeptieren. Er war bereit sich an jeden Strohhalm zu klammern. „Vielleicht ist es nur der Schock. Das passiert manchmal. Es wird dir bald besser gehen. Wir müssen nur ein bisschen warten. Das wird wieder.“ Er streichelte ihre Haare zur Beruhigung, wusste aber gleichzeitig, dass die Angst gut sichtbar in seinen Augen lag, denn er war kein begnadeter Lügner.
„Nein, Gjefren. Ich weiß das, weil es manchmal vorkommt, dass sich die Jäger der Shwakara schlimm verletzen. Man sieht gar nichts, aber sie können sich nicht mehr bewegen und fühlen auch nichts mehr. Manchmal betrifft es nur die Beine, dann wieder den ganzen Körper mit Ausnahme des Kopfs.“
„Was tut ihr dann?“
„Wir können nichts für ihn tun. Nicht ohne das Herz von Galahar zumindest. Wenn der Jäger noch die Arme bewegen kann, lässt ihm der Stamm einen Wasserschlauch da. Dann zieht er weiter. Manchmal bittet ein Verletzter seinen besten Freund darum, ihn zu töten. Dem fällt das natürlich nicht leicht, aber er weiß, es ist eine Gnade. Die beste Möglichkeit, die noch verbleibt. Wirst du mich erlösen, wenn ich dich darum bitte?“ Sie sah ihm ganz fest in die Augen und erkannte sein Entsetzen.
„Das kann ich nicht!“
„Dann musst du es auch nicht. Aber du solltest jetzt weiterziehen. Dir bleibt keine andere Wahl. Es ist sinnlos, den Abschied unnötig schmerzhaft zu gestalten.“
Gjefren riss schockiert die Augen auf. „Du hast mir gerade das Leben gerettet. Ich denke gar nicht daran, dich zu verlassen!“
„Aber du musst! Willst du dabei zusehen, wie ich ...“
Er schüttelte vehement den Kopf. „Du wirst nicht sterben. Es gibt immer eine andere Möglichkeit. Du wirst sehen!“
„Aber Gjefren!“
„Wir brauchen Hilfe, das ist alles. Und wir brauchen sie schnell. Du stirbst mir nicht, hörst du? Das erlaube ich nicht!“
„Ähm … gut.“
„Ja, so ist es richtig. Das ist die Einstellung, auf die es ankommt. Bewahre sie dir. Ich muss jetzt weggehen, aber das heißt nicht, dass ich dich verlasse. Ich komme wieder, ganz bestimmt.“ Er fuhr ihr wieder mit der Hand durch die Haare. „Ich verlasse dich nicht. Ich hole Hilfe, das ist alles. Es ist so, wie du gesagt hast: alles wird gut.“
„Ja“, antwortete sie und versuchte dabei aus Liebe Überzeugung zu heucheln, „alles wird gut.“
„Ich gehe in den Garten der Erkenntnis und dann komme ich so rasch es geht wieder. Ich bin gleich wieder da.“ Er streichelte ihre Wange. „Kann ich noch irgend etwas für dich tun? Hast du Durst?“
„Ich habe vorher aus dem Bach getrunken.“
Er stand auf. „Ich muss noch einen Sichtschutz bauen. Und die Leiche des Priesters wegbringen.“
„Wegen der Geier“, meinte Athaly, „es muss nicht allzu weit sein. Du kannst den Körper auch mit Steinen bedecken, dann sehen sie ihn nicht. Und er riecht ja noch nicht nach Verwesung.“
Gjefren nickte. „Gut, dann mache ich das. Ich muss sowieso noch ein wenig warten, bis sich die Bodenwanne des Labyrinths mit Wasser gefüllt hat.“ Er ging zu dem Priester und stieß ihn unsanft mit seinem Schuh an. Kein Protest folgte. Er zog dem Mann die Kapuze vom Kopf. Es war offensichtlich, dass er nie wieder aufstehen würde. Sein Schädel war auf einen Stein gefallen und zertrümmert wie ein Taubenei, das man zwischen zwei Fingern zerquetscht. Der Anblick von Blut und Hirnmasse war ziemlich hässlich und die Garnierung mit Knochensplittern machte die Sache auch nicht besser. Gjefrens zivilisierte Seele rebellierte und sein Magen auch. Schnell ließ er die Haube wieder sinken, bevor sich die Überreste seiner letzten Mahlzeit auch noch mit jenen vom Kopf des Expriesters vermischen konnten. So eine Ansicht mochte für einen modernen wäganen Künstler inspirierend sein, für ihn sicherlich nicht. Er blickte sich um. Steine in geeigneter Größe gab es genug und er musste nicht zimperlich sein. Soweit er dazu in der Lage war, warf er sie einfach auf den Leichnam, nur die größeren schleppte er hin. Die allergrößten, die er gerade noch tragen konnte, benützte er, um Athalys zarten Körper zu umrahmen. Dann dachte er an den Dolch, der in der Umhängetasche war. Und die wiederum befand sich noch bei der radartigen Konstruktion, die die Schleuse bediente. Also kletterte er noch einmal hinauf und wieder hinunter. Er ging zu den allernächsten Sträuchern und schnitt Astgabeln ab, wobei er Zweige auswählte, die robust und dick genug aussahen, um sie in die recht trockene Erde zu drehen. Als er ausreichend viele beieinander hatte, ging er die wenigen Schritte zurück zu Athaly, beugte sich hinunter, um ihr einen Kuss auf die Stirne zu geben und machte sich ans Werk. Schließlich war das Mädchen von den Astgabeln umgeben und Gjefren konnte weitere, blattreiche Äste holen, die lange genug waren, um von einer Verzweigung über Athalys Leib zur nächsten zu reichen, ausreichend hoch, um ihr ein wenig freien Raum zu lassen. So konnte er ein Blätterdach bilden, unter dem sie langsam verschwand. Sicherheitshalber legte er noch normal zu den anderen eine zweite Astschicht darauf, sodass man von oben schließlich gar nichts mehr von der jungen Frau sehen konnte. Er überlegte kurz, dass sie das Dach auch für zufällig vorbei kommende Wanderer unsichtbar machen würde. Was, wenn er nicht zurückkehren konnte? Aber dann vermochte ihr auch sonst niemand zu helfen, selbst, wenn sie jemand entdecken würde. Er musste wiederkommen, er musste einfach. Jetzt durfte er nicht sterben oder selbst verletzt werden. Das wäre verantwortungslos und, wenn er irgendetwas nicht war, dann das. Er mochte im Moment nicht daran denken, was sein Vater zu dieser Behauptung sagen würde. Das war jetzt unwichtig. Er bückte sich hinab und blickte zwischen das Laub.
„Das ist ein sehr schöner Schutz aus Blättern“, hörte er, „ein Laubdach!“
„Ich bin selbst ganz stolz auf mich“, entgegnete er mit einer Leichtigkeit in der Stimme, die er nicht empfand. Irgendwie sah seine Konstruktion aus wie ein Grab. Empfand Athaly das auch so? Er würde sie nicht fragen.
„Die Blätter riechen so gut“, meinte sie, um dann das Thema zu wechseln. „Ich habe vorher einen Blasenstrauch gesehen. Ich bezeichne ihn so, ich weiß nicht, ob die Menschen hier ihn auch so nennen. Wir haben ganz ähnliche in der Savanne, nur dass sie schon im späten Frühjahr Früchte bilden. Jedenfalls sollten sie wunderbar schwimmen, so wie kleine Schiffchen.“
Gjefren blickte um sich. Sie hingen rot an den Ästen, wie kleine Ballons. „Ja, ich sehe sie.“ Sie waren ein bisschen weiter weg, was der Grund war, weshalb er die Zweige nicht für Athalys Laubdach verwendet hatte. Er ging hin und sah sich eine Frucht näher an. Sie war länglich und blasig aufgetrieben, etwa so groß wie ein Daumen. Wenn man sie an der Längsnaht öffnete, was nur mit einiger Mühe möglich war, erschien eine Reihe von erbsengroßen Samen. Die Frucht war stabil und luftgefüllt und damit auch leicht, wie geschaffen dafür, auf Wasser zu schwimmen. Wie Athaly gesagt hatte: kleine Schiffchen. Er schnitt ein paar Äste des Blasenstrauchs ab und ging zurück zu seinem Mädchen. „Sie sind ideal“, kommentierte er.
„Ja. Nicht wahr?“
„Es ist soweit. Ich muss jetzt weggehen. Ich wollte dir noch etwas sagen.“
„Ja?“
„Ich liebe dich.“
„Ich weiß“, antwortete sie sanft. „Ich dich auch.“
„Ich würde dich berühren, wenn ich könnte. Aber dazu müsste ich dass Dach kaputt machen.“
„Ich stelle es mir einfach vor.“
„Wenn alles gut geht – und das wird es natürlich – hoffe ich, vor Einbruch der Dämmerung zurück zu sein.“
„Das wäre schön. Ich werde versuchen, bis dahin zu schlafen.“
„Also. Ich gehe jetzt.“
„Bis bald“, entgegnete sie.
Er drehte sich um und ging immer dem neu entstandenen Bach nach, der genau zum Eingang des Labyrinths hinführte. Die Schatten waren schon ein wenig länger, Mittag vorüber. Wo war die Zeit geblieben, an diesem grauenvollen Tag? Die bernsteinfarbenen Wände des fremdartigen Gebäudes wirkten im Näherkommen immer beeindruckender und dann stand er vor der ovalen Öffnung. Er überlegte, ob er seine Lederschuhe, die er in Merion erstanden hatte – am gleichen Tag, an dem auch der Kauf des Esels erfolgt war – ausziehen solle, entschied sich aber dagegen. Würden sie eben nass werden. Er betrat platschend den Gang und hatte sofort das Gefühl die Wände würden näher rücken. Er sah sich selbst als kleines Insekt, gefangen in einem Harztropfen und musste sich sehr anstrengen, die Empfindung der Beklemmung abzuschütteln. Ganz wollte ihm das nicht gelingen. Er durfte nicht verharren, rief er sich selbst zur Ordnung, er musste Athaly retten. Hier sah es nicht aus wie in einem Gebäude, eher wie im Inneren eines ins riesenhafte vergrößerten Mitochondriums. Er hatte elektronenmikroskopische Querschnitte der Crista gesehen, Oberflächenvergrößerungen im Inneren des Organells und irgendwie schienen die ihn umgebenden honigfarbenen Wände einem ähnlichen Zweck zu dienen. Welchem genau, konnte er sich nicht vorstellen. Mit nassen Schuhen und Füßen stapfte er durch das Wasser, das ihm bis zur Höhe des halben Unterschenkels reichte. Jetzt lag erstmals eine Abzweigung vor ihm, er zupfte ein Schiffchen vom Zweig und ließ es fallen. Träge, aber doch, schwamm es nach links und traf damit für ihn die Entscheidung. Er hob es wieder auf und folgte einem kurzen Gangstück bis zur nächsten Gabelung, wo er die Blasenfrucht wieder fallen ließ. Das Prozedere wiederholte sich verwirrend oft, bis er völlig unfähig gewesen wäre, ohne die Hilfe seiner roten Schiffchen wieder zurück zu finden. Er verfiel in einen tranceähnlichen Zustand, in dem ihm seine Umgebung wie zäh fließender Honig erschien, der langsam eine gewisse Transparenz annahm. Er konnte nun in schimmernde Welten blicken, die ihm fremd erschienen. Aus einem Gewirr der Muster kristallisierten sich Formen, bis vor ihm schließlich die merkwürdigsten Wesen standen, die er je gesehen hatte. Er betrachtete das Nächste näher. Es erinnerte ihn an eine irdischen Kreatur, die er einmal abgebildet gesehen hatte. Ein Schlangenstern, so hatte es wohl geheißen. Jetzt waren diese Lebewesen sicherlich ausgestorben, wie die allermeisten Tiere und Pflanzen der alten Erde. Diese Kreatur war allerdings viel größer und stand hoch aufgerichtet auf seinen acht schwarzen Schlangenbeinen mit den vielen seitlichen Zacken; der scheibenförmige, mehr als schulterbreite Rumpf befand sich in Höhe seiner Augen und schwarze Knöpfe von der Größe einer Mädchenfaust starrten ihn an. Oberhalb der Beine inserierten kürzere Gliedmaßen, ebenfalls schlangengleich und dunkel. Jede endete in einer Struktur, die entfernt an ein Farnwedel erinnerte. Die Basis war etwas breiter und bildete wohl die Handfläche, die Seitenfiedern oder -blätter Finger. Das waren sicherlich die merkwürdigsten Hände, die er je gesehen hatte. Er hatte das Gefühl als könne er, wenn er nur wolle, durch die Wände hindurch gehen, auf das Wesen zu; eine magische Anziehung ging von ihm aus. Er aber erinnerte sich an Athaly, die seiner Hilfe bedurfte, und der Augenblick der Versuchung war vorüber. Aber noch immer schwammen die Wände, änderten sich langsam. Zumindest schien es ihm so. Das alles gemahnte ihn an eine Demonstration vierdimensionaler Strukturen, die langsam durch eine dreidimensionale Membran wandern, der er einmal beigewohnt hatte. Zunächst war als Beispiel eine Hypersphäre gezeigt worden: Aus dem nichts erschien eine kleine Kugel, die immer größer wurde, anschließend aber wieder kleiner und schließlich verschwand. Dann hatte man sich vielgestaltigere virtuelle vierdimensionale geometrische Objekte vorgenommen und war durch sie hindurch gewandert, eine irritierende Erfahrung. War das hier, dieses dynamische „Labyrinth“ Teil einer bedeutend komplexeren Wirklichkeit? Waren die Kreaturen in ihrem Inneren, von denen er jetzt vermutete, dass sie die Schöpfer des Gebäudes waren, obwohl er sie sich ursprünglich ganz anders vorgestellt hatte, bloße Aufzeichnungen, oder hatten sie sich eine alternative Welt erschaffen, in der sie immer noch lebten?
Gjefren schüttelte den Kopf, um ihn frei zu bekommen und stapfte im goldenen, aber diffusen Licht weiter, kam an Verzweigungen, setzte Schiffchen ins Wasser und hob sie wieder auf, unendlich oft. Einmal änderte sich die Strömungsrichtung; er musste zurück. Wie weit, konnte er nicht sagen, da es nichts gab, das er wiedererkannt hätte. Er begann sich Sorgen zu machen, dass sich Wände so oft neu formieren könnten, dass er trotz seines Tricks mit dem Wasser letztlich keine Chance haben würde, den Ausgang zu erreichen. Er würde hier drinnen sterben und damit Athaly im Stich lassen. Er fasste sich an den Kopf und ermahnte sich. Morbide Gedanken waren wenig hilfreich. Irgendwann aber bog er um eine Ecke und sah plötzlich Licht einer anderen Art: greller, weniger diffus und von verschiedener Farbe; eher gelb als goldbraun. Da war der Ausgang! Die Geräusche, die er nun vernahm, wirkten weniger gedämpft. Dass die Wände Schall schluckten war ihm bewusst vorher gar nicht aufgefallen, mochte aber an der depressiven und besorgten Stimmung, an der er die ganze Zeit gelitten hatte, zumindest mitschuldig gewesen sein. Die letzten Schritte lief er fast und trat ins Sonnenlicht. Er blickte sich um und erkannte sofort, dass er es geschafft hatte. Er war im Garten der Erkenntnis, einem verzauberten, unheimlichen Ort. Bäume hatten für ihn sowieso etwas Gewöhnungsbedürftiges. Auf seinem Heimatplaneten Wägan gab es keine, er hatte sie erst auf Gaia kennen gelernt. Diese Bäume waren außerdem anders. Sie standen nicht unmittelbar beim Eingang, aber einige Dutzend Schritte würden ihn zum nächsten bringen. Ihr Laub war rostrot, was ihn nicht wunderte. Grüne Gewächse gab es nur auf der Erde und allen Planeten mit importierter irdischer Vegetation. Photosynthese mit kurzwelligem, also blauem und auch grünem Licht war nun einmal effizienter. Der Wuchs war knorrig, wie bei alten Weiden und sehr vielfältig. Nur die besonders großen und vermutlich alten, wirkten wirklich wie Bäume, die anderen wie erstarrte, deformierte, grausige Kreaturen im Zustand der Metamorphose. Als hätten Schwanz und Beine der mehr als menschengroßen Wesen plötzlich entschieden, sich mit dem Boden zu verwurzeln. Aus Armen und dem Kopf aber wuchsen Zweige. Bei einigen waren die seltsamen Spiegelaugen noch vorhanden und starrten ihn an. Er fühlte sich wie in einem Horrorkabinett. Gjefren erinnerte sich an die Erzählungen seiner Eltern, die nun lebendig geworden waren. Ihn schauderte. Noch bizarrer aber fand er, dass die Stämme der Gewächse keine Rinde zu haben schienen, sondern eine ledrige, aber schillernde, ebenfalls rötliche Oberfläche, die sich bewegte. Kleine Wellen dunklerer Färbung und rauerer Form wanderten entlang und verwoben sich zu einem dynamischen Muster. Die dünneren Zweige bewegten sich – und ohne jeden Zweifel nicht im Wind. Fast so, als bestünden die Bäume aus Schlangen. Er fragte sich, ob die Äste wohl giftige Dornen hätten und bei der Vorstellung, den verwunschenen Wald zu betreten, verlor er beinahe den Mut. Aber deswegen war er hier und es war seine einzige Chance. Dies waren intelligente Wesen, die ihn auf irgendeine Weise wahrnehmen konnten und wussten, dass er da war. Also ging er los und betrat den rostroten Blätterdom. Zweige bogen sich in seine Richtung, was bedrohlich wirkte. Außerdem hatte er ein unheimliches Gefühl – als würden Finger in seinem Gehirn herumtasten. Er wehrte sich nicht dagegen, ließ es zu. Ein Rascheln und Rauschen lief durch den Wald, Geräusche die ihm fremd waren, wie ein kollektives Atmen. Dies waren viele Wesen und doch auch eines.
Als er weiter ging, schien das Geäst vor ihm immer dichter zu werden. Er suchte nach Ausweichmöglichkeiten und musste erkennen, dass er sich das nicht nur eingebildet hatte. Rund um ihn verwoben sich die Zweige zu einem Käfig und bald war es unmöglich sich fortzubewegen, gleich in welche Richtung. Da schrie er:
„Helft mir! Ich muss zu Gorm! Zeigt mir den Weg!“
Das Rascheln wurde zu Brausen, immer lauter, als würde ein Orkan den Wald bewegen, aber es war windstill. Dann öffnete sich das Astgefüge vor ihm in eine bestimmte Richtung ein wenig und schloss sich in alle anderen noch mehr. Sein Käfig wanderte durch den Wald und er zwangsweise mit ihm. Unheimlich war ihm zumute, er kämpfte gegen die aufkeimende Klaustrophobie. Langsam ging es bergab. Mit einem Mal reckten sich die Äste empor und ließen ihn frei. Er war umgeben von pulsierenden Bäumen. Der in unmittelbarer Nähe hatte die Metamorphose noch nicht abgeschlossen, wenn sie auch schon weit fortgeschritten war. Selbst aus den säbelförmigen Kiefern wuchsen bereits Zweige mit runden Blättern und die Spiegelaugen waren fast vollständig rückgebildet. Die Arme waren als solche nicht mehr zu erkennen. Muster waberten über die ledrige Haut.
„Bist du Gorm?“, wagte er zu fragen.
Eine Gegenfrage manifestierte sich in seinem Kopf, so als wäre es seine eigene, innere Stimme: „Wer bist du? Woher kennst du mich?“
Da dachte Gjefren an seine Eltern, stellte sie sich bildlich vor. „Ich bin der Sohn des Tjonre und der Elri. Du hast meinen Vater und Granoc begleitet und ihnen geholfen. Meine Mutter hat ein Loch in die Mauer gesprengt, die den Garten der Erkenntnis umgibt und damit die Vormacht der Priester über euch gebrochen.“
„Ich erinnere mich. Wir alle entsinnen uns. Die Taten deiner Eltern erfüllen uns mit tiefer Dankbarkeit. Wir stehen in ihrer Schuld. Wenn du, der du ihre Frucht bist, also einen Wunsch hast, den wir erfüllen können, so äußere ihn.“
„Dann möchte ich euch ebenfalls danken. Ich brauche eure Hilfe, denn eine Gefährtin ist in großer Not. Ich bin nicht alleine nach Gaia gekommen, ein Großonkel und eine meiner Schwestern haben mich begleitet. Ich kann nicht mit ihnen sprechen, weil sie weit weg sind und ich habe kein Kommunikationsmittel, das in der Lage wäre, die Distanz zu überwinden. Aber sie sollten noch auf diesem Planeten sein und ich weiß von der Fähigkeit deiner Rasse. Du hast meinem Vater ermöglicht, mit meiner Mutter zu sprechen, obwohl sie sich auf unterschiedlichen Kontinenten aufhielten. Tjonre hat mir das sehr oft erzählt. Nun möchte ich dich bitten, mir die Möglichkeit zu geben, mich mit meinen Verwandten zu unterhalten.“
„Es ist mir möglich, deinen Wunsch zu erfüllen. Aber dazu musst du intensiv an jene Person denken, mit der du kommunizieren willst.“
„Das ist alles, was ich tun muss?“
„Es ist genug. Versuch es.“
Gjefren setzte sich in die grasartige Vegetation – vielleicht war es wirklich Gras, denn die Halme waren grün – und schloss die Augen. „Also gut“, murmelte er. Dann dachte er daran, wie er seinen Großonkel, ehemals Gott Hephaistos, kennen gelernt hatte. Er dachte an das bärtige Gesicht mit der entstellenden Narbe, den gekrümmten, aber kräftigen Körper. Er dachte daran, wie er sich bewegte und wie er sprach. Sah ihn auf Wägan am Strand, wo Sarpedon aus seinen kryptischen Bemerkungen erstmals schloss, dass er, Gjefren, im Besitz des Medaillons war, welches ihm die Rückreise zu Gaia ermöglichen könnte. Hier wurden die Erinnerungen wirklich intensiv und dies war auch der Moment, in dem alle Wahrnehmung verschwand. Er spürte seinen Körper nicht mehr, hörte nicht das Rauschen des Waldes, nahm den Herbstduft nicht mehr wahr. Die diffuse Helligkeit, die er auch durch die geschlossenen Lider empfunden hatte, ging ihm verloren. Die Welt war nicht mehr und er selbst hatte nur noch die Ausmaße eines Punktes. Plötzlich erschien eine fremde Präsenz im Nichts. Er fühlte, um wen es sich handelte, bevor er irgend etwas sehen konnte. Wie in einem Traum wurde sein Onkel sichtbar. Er schien zunächst irritiert und dann – nachdem er ihn erkannt hatte – erstaunt.
„Gjefren! Wo sind wir hier?“
„Das weiß ich nicht. Ich benütze Gorms unheimliche Begabung, um mit dir zu reden. Gorm ist das Wesen, das meinen Vater begleitet hat, als er in die Festung Mesawa kam.“
„Warum meldest du dich nicht via Com?“
„Eine alte Bekannte von dir hat es zerstört. Ich nehme an, du erinnerst dich an Reja?“
„Die mich belogen hat? Die versucht hat, deine Eltern zu töten? Natürlich.“
„Du hast nie versucht mich zu erreichen?“
„Ich war Gefangener des Hades. Ich wollte ihn um Unterstützung gegen den Olymp bitten. Die er mir nicht gewährt hat. Stattdessen hat er mich in die Unterwelt verbannt. Es ist mir gerade erst gelungen zu fliehen. Ich konnte dich also nicht kontaktieren.“
„Wie geht es Nisaya?“
„Du kennst sie doch. Niemals gut. Aber sie ist in Sicherheit. Sie befindet sich in Nereis Unterwasserstadt. Wahrscheinlich langweilt sie sich. Aber erzähle mir, warum du mich sprechen wolltest.“
„Ich brauche deine Hilfe. Ein Mädchen in meiner Begleitung, das mir sehr viel bedeutet, wurde von einem Felsen geworfen, bei dem Versuch mich vor diesem Schicksal zu bewahren. Sie lebt, ist aber gelähmt. Wir müssen sie sofort nach Wägan bringen. Ohne medizinische Versorgung stirbt sie.“
Sarpedon zögerte einen Moment, dann aber nickte er. „Du hast recht; das ist wichtiger. Mein Vorhaben ist gescheitert. Epistor ist der begnadetere Intrigant. Ich muss euch die Rückkehr ermöglichen. Wo bist du derzeit?“
„Unweit der Stelle, wo du mich abgesetzt hast. In der Nähe von Merion gibt es ein ummauertes Areal, den Garten der Erkenntnis. Es ist kein Garten, eher eine Art Wald. Bergauf findet sich ein sehr auffälliges, honigfarbenes Gebäude. Dort, im Garten, ist eine Lichtung, auf der du landen kannst. Hier werde ich auf dich warten.“
„Ich muss einen Bogen um den Olymp herum fliegen, denn dort stimmt etwas ganz und gar nicht. Dann hole ich Nisaya ab, bevor ich zu dir komme.“
„Bitte beeile dich!“ Statt in die Realität zurück zu kehren, dachte er nun an Nisaya, was ihm sehr leicht fiel. Sie war mit ihrem intensiven Charakter der Typ Mensch, der sich einem ins Gedächtnis prägte. Er brauchte nur an eines ihrer zahlreichen Streitgespräche, die sie stets ausgesprochen vehement führten, zu denken, und sofort stand ihr Antlitz klar vor seinem inneren Auge. Es erschien etwas, das ihn an eine Kerzenflamme in absoluter Dunkelheit erinnerte. Das Leuchten näherte sich rasch, wurde zu einer Gestalt ohne Konturen, wabernd zunächst, dann zunehmend schärfer, das Gesicht war auszumachen und nahm schließlich die Züge seiner Schwester an. Der Ausdruck war erstaunt, nicht spöttisch oder ärgerlich, wie sonst meist. Kaum war ihr fülliges, schwarzes Haar deutlich wahrzunehmen, erschien auch der Regenbogenglanz um ihr Haupt. Schließlich sah sie ihn an.
„Krass! Wie machst du das?“
„Ich? Gar nicht. Das ist Gorm. Du kennst doch die Familienmär. Und bevor du fragst: Mein Com ist kaputt. Reja, die Kröte, hat es vernichtet. Ich habe ihr Zugang zu Mesawa verschafft, nicht absichtlich natürlich. Es war ein grauenvoller Fehler, denn seitdem jagt sie mich und meine Begleiterin. Sei froh, dass dich ein Meer von ihr trennt, bei Nereus und Poseidon bist du sicher.“
„Ha! Da bin ich längst nicht mehr. Es war sooo langweilig. Immer nur die Nereiden und Triton. Also bin ich ausgebüchst, was sich gelohnt hat. Stell dir vor, ich war ebenfalls in Mesawa, ich wusste ja, dass du dort hin willst. Der Ringschlüssel! Ich kann dich beruhigen, Reja ist nach Ivarn, sie verfolgt euch bestimmt nicht mehr. Ich habe auch Granoc getroffen und er hat den keulenschwingenden Sohn der Reja abgemurkst. Schön, nicht? Jetzt räumen wir gerade in einem Spucknapfkönigreich auf, das sich Reja gekrallt hatte und das von ihrem unsympathischen Sohn Alkaios regiert wurde. Der, wie gesagt, absolut tot ist, weshalb eine neue Königin gewählt werden musste. Wir haben den Einzigen, der gegen sie gestimmt hat, eliminiert.“
„Wir? Und was heißt eliminiert?“
„Granoc und ich. Geköpft. Eliminiert heißt geköpft. Spektakulär decapitiert.“
„Ist das nicht ein wenig undemokratisch?“
„Doch. Schon. Aber es war notwendig, wir mussten es tun. Außerdem ist das ja ein Königreich und keine Demokratie.“ Sie hielt kurz inne. Dann blickte sie ihn noch intensiver an als sonst. „Begleiterin? Du hast eine Begleiterin? Wie sehr magst du sie? Ein bisschen oder mehr?“
„Ihretwegen melde ich mich bei dir. Sie wurde von einem Felsen gestürzt und ist nun gelähmt. Sie wird sterben ohne moderne medizinische Versorgung. Bitte nimm Kontakt zu Sarpedon auf, er ist bereits auf dem Weg hierher, will dich aber aus der Unterwasserstadt abholen. Was wenig Sinn macht, wenn du gar nicht dort bist. Sag ihm, wo du bist.“
„Unnötig. Ich habe einen eigenen Gleiter. Wo bist du?“
„In einer Art Park oberhalb der Stadt Merion auf dem Hyborischen Zeitalter. Komm bitte dort hin und lande gleich neben einem honigfarbenen Gebäude im Norden des Parks. Dort ist eine Lichtung. Wir müssen schnellstens nach Hause.“
„Aber es gefällt mir hier!“, maulte sie.
„Athaly stirbt sonst. Bitte! Und ich kann dich nicht zurück lassen, das würden mir unsere Eltern nie verzeihen.“
„War ja klar. Immer wenn es am lustigsten ist. Also gut, wenn sie dir so am Herzen liegt, deine Freundin.“
„Danke! Und bitte beeil dich.“ Nisaya hatte viel schneller nachgegeben, als er gedacht hatte, was ihn vollkommen verblüffte. Wohl nicht nur aus Mitleid zu einer ihr Unbekannten. Da mussten eigene Vorhaben dahinter stecken. Vielleicht fand sie aber auch Gaia gar nicht so interessant, wie sie gedacht hatte.
Gjefren glitt langsam zurück in die Realität, nahm das Rauschen wieder wahr, die Gerüche des Waldes und schließlich den dunklen Rotton der umgebenden Vegetation.
'Ich danke dir', dachte er und betrachtete dabei das knorrige Gewächs mit der bewegten Oberfläche, das einst der imposante Begleiter seines Vaters gewesen war.
'Es ist eine gute Idee von dir', kam die Antwort, 'den Planeten zu verlassen. Viele Menschen sterben gerade. Veränderungen bahnen sich an, die nicht vorteilhaft sind für deine Spezies.'
'Sind sie gut für deine Art?'
'Ich weiß es nicht; wir werden sehen.'
'Ich werde meinem Vater von dir erzählen. Von dem, was du für uns getan hast.' Gjefren wartete eine Weile, aber es kam keine Antwort. Also begann er, durch den bizarren Wald bergauf zu gehen. Nichts stellte sich ihm in den Weg, im Gegenteil. Die Äste bogen sich von ihm weg. Er beeilte sich nicht, denn er hatte viel Zeit. Er wollte zwar so rasch wie möglich wieder bei Athaly sein, aber das Durchqueren des Labyrinths war eine zeitintensive und gefährliche Beschäftigung. Jetzt wo es eine andere Option gab, bemühte er sich, diese Passage zu vermeiden.
Offenbar war er nicht genau so gegangen, wie er gekommen war, denn bald hörte er das Gurgeln eines Bächleins. Er wusste ja, wo es entsprang, brauchte ihm also nur zu folgen. Ein deutliches Bachbett war vorhanden, obwohl seit Jahrhunderten oder länger hier kein Wasser mehr geflossen war. Zumindest vermutete er das; außergewöhnlich intensive Regenfälle mochten vorgekommen sein. Es war sehr klar, beinahe durchsichtig; er konnte die Gräser erkennen, die am Boden wuchsen. Grüne Haare, die in der sanften Strömung wogten, daneben auch scharlachfarbene, komplexere Gewächse. Gjefren betrachtete im Vorbeigehen mit fast wissenschaftlichem Interesse die merkwürdigen Bäume. An manchen hingen in Astgabeln kleine braune Säcke. Wenn er genau hinsah, hatte er den Eindruck, dass sich in ihrem Inneren etwas bewegte. Er hatte die Aufmerksamkeit gerade auf einen etwas größeren Beutel gerichtet, als dieser vom Baum fiel und mit einem dumpfen Geräusch aufplatzte. Er ging hin, um sich das eigenartige Etwas näher anzusehen. Aus dem zerstörten, saftigen Organgewirr arbeitete sich mühselig ein kleines Tier hervor, das einen länglichen Körper hatte, wie eine Schlange, aber auch ausgreifende Hinterbeine und vorne Fangarme. Am Kopf wies es horizontale, sichelförmige Kiefer auf und große, schwarze Augen. Gjefren erkannte, dass er gerade eben Zeuge einer Geburt geworden war. Eine Pflanze gebar ein Tier von Eidechsengröße. Es blickte ihn unverwandt an, bedrohte ihn ein bisschen, indem es die Kiefer weit öffneten und die Arme seitlich spreizte, wohl um größer zu wirken; dann rannte es los und verschwand im dichten Unterholz. Er ging weiter, um schließlich wieder zur Lichtung vor dem Gebäude der Schlangensterne, wie er das Labyrinth für sich nannte, zu gelangen. Nun konnte er nichts mehr tun als zu warten. Er hockte sich hin und dachte viel an Athaly; wie er sie kennen gelernt hatte und schließlich in Liebe zu ihr entflammt war. Wenn man das so bezeichnen wollte, denn eigentlich war es keine stürmische, sondern eine sehr sanfte Liebe. Mit ihr hatte er in kurzer Zeit mehr erlebt als im Rest seines Daseins. Dessen Eintönigkeit er jetzt aber viel mehr zu schätzen wusste als ehedem. Ob auch Nisaya ähnlich dachte? Offenbar hatte auch sie einen ereignisreichen Aufenthalt auf Gaia genossen.
Die Sonne stand schon tief, berührte die rote Wildnis, die sich vor ihm aufbaute und ihm den Blick zur Stadt und zum Meer verwehrte. Dann, endlich, vernahm er das leise und tiefe, summende Geräusch, das so charakteristisch für die Annäherung eines Gleiters war. Er kam von Westen. Als Gjefren ihn erstmals sehen konnte, war er schon recht nah. Er hatte die Silhouette eines Luftmantas; zumindest erinnerte er an die Bilder der großen, irdischen Meereskreaturen. Dieses Exemplar flog eben durch die Atmosphäre und die Sonne spiegelte sich auf seiner Haut. Er dachte wieder an Athaly und erlaubte sich zu hoffen. Der Gleiter flog einmal um das domgroße Bernsteingebäude, das im seitlich einfallenden Sonnenlicht ein wenig Transparenz gewann und von Innen zu leuchten schien. Dann hatte der Pilot ihn offenbar ausgemacht und das Luftschiff sank herab, leise. Und zum Glück gefährdete es die Bäume nicht, die Lichtung war groß genug.
Gjefren stand auf und rannte auf die Rampe zu, die sich ihm entgegen senkte. Schon bevor sie den Boden berührte, sprang er auf die unterste Stufe. Er lief hinauf, so rasch es ihm möglich war, zur Verblüffung seiner Schwester, die oben auf ihn wartete, eingehüllt in einen Regenbogen. Er verzichtete auf jedwede Begrüßungsfloskel.
„Wir müssen auf die andere Seite von der Mauer“, schrie er beinahe. „Dort liegt Athaly!“
„Deine verunglückte Freundin. Komm mit.“ Der Gleiter war mittelgroß, Passagierraum und Cockpit waren ein und dasselbe, aber wenigstens geräumig. Sie mussten nur eine Tür passieren und standen schon darin. Gjefren musterte die beiden jungen Männer, die sich ihm zuwandten und wurde nun seinerseits gemustert. Nisaya übernahm das Vorstellen. Sie zeigte zu einem hell gewandeten, schlanken, jungen Mann, der trotz seiner Kleidung düster wirkte; wie von einer dunklen Aura umhüllt. „Das ist“, verkündete sie, „Anwin. Er ist Heiler.“ Anwin nickte ihm zu. „Ich habe ihm das Leben gerettet“, meinte sie nicht ohne Stolz. Dann zeigte sie zu dem anderen Mann, der weniger schlank und weniger groß war und viel bunter angezogen. Er wirkte nicht unsympathisch, weniger asketisch als der andere, als wüsste er ein angenehmes und bequemes Leben sehr zu schätzen. „Und das ist“, erklärte seine Schwester grinsend, „Iphikles, derzeitiger Herrscher der Festung der Aliens, Mesawa. Und, traraaaaa, Sohn der liebreizenden Reja.“ Gjefren fiel die Kinnlade herunter, deshalb ergänzte sie: „Keine Angst, er mag sie nicht.“
„Und sie mich auch nicht“, seufzte der Fremde. „Und meine Stiefmutter Hera auch nicht, und mein Vater Zeus auch nicht, und mein Bruder schon gar nicht. Na ja, der ist ja jetzt tot. Eigentlich mag mich niemand, obwohl ich ganz nett bin.“
„Wir mögen dich“, sagte Nisaya sehr bestimmt und fuhr fort. „Das ist mein Bruder Gjefren, den ihr genau genommen schon kennt, von den Aufnahmen her. Er mag seine Freundin und damit hast du dein Stichwort.“ Letzteres sprach sie an ihren Bruder gewandt, der es gerne ergriff.
„Athaly ist gelähmt und braucht dringend Hilfe. Sie liegt auf der anderen Seite der Mauer. Könnt ihr mich bitte hinbringen?“ Iphikles nickte und wandte sich der Konsole zu. Es dauerte noch eine kleine Weile, aber dann erhob der Gleiter sich wieder.
Gjefren wandte sich seiner Schwester zu. „Reja ist nicht mehr hier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wir sind die ganze Zeit vor ihr geflohen, waren nur in der Dämmerung unterwegs, in der Annahme sie würde uns jagen. Und nun stellt sich heraus, dass sie das gar nicht getan hat. Athaly muss das wissen.“
„Was hat sie gegen deine Freundin?“
„Ihr Hass ist völlig irrational. Sie hat ihr nie etwas getan, außer vor ihr zu fliehen, weil sie sie zu Tode foltern wollte. Ich habe Mesawa gegen Athaly eingetauscht.“
„Und Reja hat die Festung benutzt, um von dem Planeten wegzukommen. Und so ist alles gut.“
„Ja, alles ist gut.“ Er sagte es, meinte es aber nicht so. Schließlich ergänzte er. „Athaly bräuchte den Planeten nicht zu verlassen, sie könnte zu ihrem Stamm zurück. Jetzt, wo Reja nicht mehr hier ist. Aber Athaly ist gelähmt. Nichts ist gut.“
Nisaya dachte kurz nach. „Anwin könnte sie heilen, wenn wir irgendeinen Bösewicht zur Hand hätten, dessen Gesundheit wir auf sie übertragen könnten. Haben wir aber nicht.“ Sie seufzte.
„Warte! Wie funktioniert das?“
„Er tauscht den Gesundheitsstatus zweier Personen aus. Die eine wird krank, dafür die andere gesund. Eigentlich ganz einfach. Er hat mich gesund gemacht, indem er einen Kopfgeldjäger erkranken hat lassen. Reja hat Tritons Gleiter abgeschossen. Beim Absturz habe ich mich böse verletzt. Aber er hat mich vollständig geheilt. Dafür habe ich ihn vor den Männern beschützt, die ihn kidnappen wollten oder ermorden.“ Sie zuckte die Achseln.
„Weiter nach Westen!“ brüllte Gjefren, der in Panik auf den riesigen Bildschirm blickte. „Wir sind zu nahe an Athaly!“ Iphikles zuckte zusammen und nahm eine Korrektur vor. Der Gleiter bewegte sich weiter von der Bachgabelung weg.
„So gut?“
„Ja!“ Der Gleiter begann sich zu senken. Gjefren machte einen Schritt auf Anwin zu. Nisaya folgte ihm. „Du kannst heilen?“, fragte er ihn.
Anwin wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu. „Es ist kein Segen, es ist ein Fluch. Ich möchte diese Geisel loswerden. Sie hat irgendetwas mit dem „bionischen Feld“ dieser Welt, dieses Planeten, wie Nisaya das nennt, zu tun.“
„Aber du kannst es?“
„Ich kann es, aber ich will es nicht. Ich habe zu viel Leid verursacht. Nie wieder.“
„Es ginge nicht darum, Elend zu verursachen, sondern darum, Gutes zu tun.“
„Wie gesagt, Gjefren, wir brauchen einen Bösewicht. Aber den haben wir nicht“, schaltete Nisaya sich ein.
„Insgesamt werden die Menschen durch meine Tätigkeit nicht gesünder. Es ist nur ein anderer, der die Bürde tragen muss.“
„Das habe ich schon verstanden“, meinte Gjefren, „aber Athaly muss gesund werden. Nur dann hat sie die freie Wahl, entweder mich nach Wägan zu begleiten oder aber zu ihrem Stamm zurück zu kehren, zu ihrer Mutter und Schwester. Das kann sie jetzt, da sie nicht mehr gejagt wird. Bis jetzt hat sie die Angst verfolgt, sie könne ihre Familie in Gefahr bringen. Sie hat bereits ihren Vater verloren. Wenn sie mich begleitet, verliert sie die ganze Familie.“
„Das mag ja so sein“, konterte Nisaya, „aber du hörst mir nicht zu! Kannst du einen Bösewicht aus der Tasche zaubern? Wohl kaum, großer Bruder!“
„Wir haben sehr wohl einen! Hast du mir nicht schon öfter gesagt, ich sei ein Fiesling? Wir nehmen mich.“
„Dich? Du spinnst! Unser Großonkel erlaubt das nie.“
„Ich werde ihn bestimmt nicht fragen. Und noch ist er auch gar nicht hier. Nun … wie war der Name?“
„Anwin.“
„Anwin also. Tust du es?“
Anwin blickte Nisaya an und bettete den Kopf in seine Hände. Er stöhnte. „Ich will nicht!“
„Nisaya, sag ihm, dass er es tun soll!“
„Ich? Ich weiß nicht. Ich will das nicht entscheiden!“
„Ich würde mich dann auch dafür aussprechen, dass du uns nach Wägan begleiten kannst.“
„Das kann er sowieso. Du hast da überhaupt nichts zu sagen.“
„Vielleicht ist unser Großonkel anderer Meinung? Einen Fürsprecher zu haben, kann nie schaden.“
Sie zögerte. Man merkte, wie sich die Zahnräder in ihrem Kopf bewegten. „Es ist dir wichtig, oder?“ Sie seufzte.
„Sehr wichtig. Bitte helft mir. Habe ich schon je 'bitte' zu dir gesagt?“
„Nie.“
„Daran kannst du erkennen, wie bedeutend das für mich ist.“
„Also gut. Anwin?“
„Aber er ist dann gelähmt! Dein Bruder. Vielleicht für immer. Willst du das wirklich?“
„Ist er nicht. Auch auf Wägan können wir heilen. Es geht nicht wie bei dir, schwuppdiwupp, wie durch Zauberei. Es wird Monate dauern, aber er wird mit der Zeit vollständig genesen. Es ist ja keine große Sache. Der Informationsfluss ist irgendwo entlang der Wirbelsäule unterbrochen. Das kann man gut überbrücken und nach und nach auch die Nerven wieder zusammenwachsen lassen. Du wirst über unser medizinisches Wissen staunen. Vielleicht entscheidest du dich sogar dafür, Medizin zu studieren. Es wäre doch sicherlich nett, einmal richtig heilen zu können.“
Anwin merkte auf. Man konnte erkennen, dass ihm der Gedanke gefiel. Es wäre so möglich, Wiedergutmachung zu leisten.
„Dann ist die Sache beschlossen. Wo ist die Notfallausrüstung?“
Nisaya hob nur die Schultern ein wenig, sie hatte keine Ahnung, aber offenbar hatte der Avatar zugehört (natürlich hatte er das), denn seitlich in der Wand öffnete sich eine Klappe. Gjefren wagte einen Blick in den schmalen Raum. Die Ausrüstung war ausreichend, jedenfalls war eine hell gefärbte Schwebbahre vorhanden, die er hastig aktivierte, denn gerade eben war das Luftschiff gelandet, der Steg wurde bereits ausgefahren und die Ausgangsluke öffnete sich. Nachdem er ein wenig zurück gewichen war, kippte die Bahre langsam in waagrechte Position und verblieb etwa auf seiner Kniehöhe. Gjefren wusste, dass sie ihm nun auf Schritt und Tritt folgen würde, auch die Stufen hinab, deshalb kümmerte er sich nicht weiter um sie, sondern verließ sogleich den Raum durch die Außenluke und fiel geradezu die Stufen hinab. Noch befand sich die Sonne zum Teil über dem Horizont und es würde eine Weile hell bleiben. Er lief los, so schnell er nur konnte auf das grüne Grab zu, wie er den Fleck, wo sie lag, für sich nannte, eine Assoziation, die ihn schaudern ließ; immer verfolgt von der leise summenden Bahre. Er schrie nach Athaly und zu seiner Beruhigung antwortete sie ihm. Ihr war nichts geschehen! Schnell aber dennoch vorsichtig entfernte er die Äste dort wo er wusste, dass ihr Kopf darunter lag. Ein zerzauster Haarschopf tauchte als erstes auf, dann die dunklen, großen Augen – gar nicht ängstlich - und ein lächelnder Mund.
„Hübsch!“, konstatierte Nisaya, die sich neben ihm auf die schwebende Bahre gesetzt hatte, was ihr einen ärgerlichen Blick von Gjefren einhandelte. „Das heißt, sie passt nicht zu dir“, fuhr sie ungerührt fort.
„Hilf mir lieber.“
„Es macht mehr Spaß, dir zuzusehen.“
Gjefren warf alles Geäst auf die Seite, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand hinter ihm stand, aber Anwin und Iphikles hatten sich langsamer genähert und blieben auch in größerem Abstand. Schließlich lag Athaly ganz frei.
„Vielleicht ein bisschen mager“, stellte Nisaya fest, was ihr einen zweiten zornigen Blick bescherte und eine launische Antwort:
„Du musst gerade reden.“ Dann wandte Gjefren sich an seine Freundin: „Das Mädchen mit dem losen Mundwerk ist meine Schwester.“ Er begann, auf der rechten Seite auch die Steine wegzuräumen.
„Hi!“, begrüßte Athaly sie immer noch lächelnd und sie grüßte ebenso zurück. Schließlich schien er zufrieden mit dem Zustand des Bodens neben seiner Weggefährtin und sprach daher zur Bahre:
„Auf den Boden absinken.“
„Erbitte präzisere Angabe der Zielposition“, kam die Antwort.
„Grrr! Bitte positioniere dich neben der verunfallten Person. Aber ein bisschen plötzlich!“
Die Schwebbahre sank schräg herab, was Nisaya einen Protestlaut entlockte, da sie sitzen geblieben war und jetzt herab fiel; allerdings nicht sehr tief. Die Bahre drehte sich ein wenig und ruhte schließlich nahe neben dem gelähmten Mädchen. Gjefren betrachtete das Ganze und war zufrieden. Daraufhin legte er sich auf die Rettungseinheit und ergriff Athalys Hand. Er positionierte sich sehr sorgfältig, insbesondere was den Kopf betraf, war nicht zufrieden. Er nahm die Lederkappe mit der freien Hand ab und warf sie auf den Boden. Schillerndes Haar umrahmte sein Haupt.
„Ich möchte darauf hinweisen“, sagte die Bahre, „dass die verunglückte Person nicht identisch ist mit derjenigen, die sich auf mich gelegt hat. Bitte stehen sie sofort auf, sie behindern die Bergung eines Menschen, der dringend medizinischer Betreuung bedarf!“
„Ach halt die Klappe, du Ding! Anwin! Worauf wartest du?“ Der Angesprochene kam zögernd und widerwillig näher.
„Bist du dir sicher?“
„Los! Zeig was du kannst. Genug gezaudert.“
Anwin zuckte mit den Schultern. „Du hast es so gewollt. Beschwere dich nachher nicht.“ Er trat zwischen Bahre und Mädchen, seufzte noch einmal protestierend und Effekt heischend. Nisaya blickte ihn fasziniert an, Athaly eher verwirrt. Sie ersparte sich aber jeden Kommentar und beobachtete. Der Heiler berührte die Stirn der beiden und begann in jenen merkwürdigen Zustand zu versinken, der es ihm erlaubte, eine Verbindung zwischen zwei Personen zu knüpfen. Gleißende, überwiegend silberne Bänder, die nur er sah, begannen aus ihnen zu sprießen und verwoben sich miteinander. Manche wirkten allerdings auch dunkelrot und er wusste, sie waren sein Ziel. Er ließ sie von Athaly auf Nisayas Bruder zuwandern und ersetzte sie durch die starken Bänder des anderen. Es dauerte eine Weile, für ihn war es gar nicht so 'schwuppdiwupp', wie Nisaya glaubte, und sehr kräftezehrend. Schließlich aber vollendete er sein Werk und sackte zwischen den beiden erschöpft zusammen.
Athaly stieß einen erstaunten Schrei aus. „Ich kann meine Zehen spüren und alles andere!“ Sie bewegte die Beine. „Was ist geschehen? Wie hast du das gemacht?“
„Ich habe deine Verletzung auf Nisayas Bruder übertragen“, sprach er leise.
Sie setzte sich auf und blickte zu Gjefren, jetzt entsetzt. „Nein! Das will ich nicht! Mach das rückgängig!“ Sie hatte Tränen in den Augen. Auch Gjefren war entsetzt, denn es war keine Kleinigkeit von einem Moment zum anderen gelähmt zu sein. Aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und lächelte. „Bestimmt nicht. Weißt du, was Nisaya erzählt hat? Die Hexe hat den Planeten verlassen. Sie wird dich nicht mehr jagen. Auch die Shwakara sind sicher vor ihr und du kannst daher zurückkehren. Du wirst deine Mutter und deine Schwester wiedersehen.“
„Aber das will ich nicht. Ich meine, das will ich schon, aber noch mehr möchte ich bei dir bleiben. Ich möchte für dich sorgen, du brauchst mich doch jetzt“, sagte sie leise. Inzwischen liefen ihre Tränen die Wangen hinab. Sie fuhr ihm mit ihren Fingern durch das leuchtende Haar. Die Bahre war inzwischen zu einer Entscheidung gekommen, akzeptierte ihn als verletzt und unterstützte seinen Hals.
„Weine nicht Athaly“, entgegnete er sanft. „Dort, wo ich hingehe, ist eine Lähmung kein Todesurteil. Nach einigen Wochen werde ich wieder ein wenig gehen können und nach spätestens einem Jahr ist alles so, wie es vorher war. Dann sind die Nerven nachgewachsen und haben gelernt, was zu tun ist. Du hingegen hättest nicht hierbleiben können, denn dann wäre die Lähmung ein Todesurteil. Du hättest keine Wahl gehabt, du hättest mit uns kommen müssen. Und wer weiß, ob du dann deine Familie jemals wieder gesehen hättest.“
„Und jetzt? So wie die Dinge jetzt sind. Habe ich noch die Wahl?“
„Die hast du. Aber wer kann sagen, ob wir zurückkommen. Ich kann es dir nicht versprechen, es liegt wohl nicht in meiner Macht.“
„Egal“, sprach sie entschieden, „ich komme mit dir.“
Er lächelte. „Das hatte ich gehofft. Wenn sich herausstellt, dass es dir auf Wägan nicht gefällt, werde ich natürlich versuchen, dir die Rückreise zu ermöglichen. Es kann gut sein, dass du nicht gerade begeistert bist, es gibt überhaupt keine Steppen. Nur kleine Inseln und ein paar größere, umgeben von viel Wasser. Du hast noch nie den Ozean gesehen, vielleicht gefällt er dir gar nicht.“
„Wenn du dabei bist, gefällt er mir schon. Bitte lass mich bei dir bleiben. Ich habe meinen Vater verloren, als ich ein kleines Kind war, und später den Magier. Dich möchte ich nicht auch noch verlieren und, wenn du ohne mich weg fliegst, geschieht das.“
„Und deine Mutter? Deine Schwester?“
„Wir waren sehr lange getrennt, deshalb ist meine Beziehung zu ihnen nicht so stark, wie sie vielleicht sein sollte.“ Sie seufzte. „Man kann nicht alles haben, was man will.“
Die anderen folgten dem Dialog mit nur einem Ohr oder gar nicht und führten ihre eigenen Gespräche. Anwin beschäftigte der Gedanken, nun vielleicht tatsächlich bald die ihm bekannte Welt zu verlassen. Es gab nicht viel, was er daran bedauerte, seine Kindheit war an dem Tag vorbei gewesen, an dem er Rassek traf und Issa verstümmelt worden war. Er wollte so weit weg wie nur möglich, denn nach wie vor fühlte er sich keineswegs in Sicherheit. Aber auch der Gedanke an die Welt seiner Zukunft bereitete ihm Unbehagen, war sie ihm doch völlig fremd. Würde er sich an all das Unbekannte anpassen können? Er beschloss, ein wenig Information aus Nisaya herauszupressen. Da er das Wort 'Mutter' im Gespräch zwischen Athaly und Gjefren aufgeschnappt hatte, begann er so:
„Wie sind deine Eltern?“
Nisaya zwinkerte und kleine Falten bildeten sich trotz tapferer Gegenwehr ihrer jungen Haut auf ihrer Stirn. „Hm. Meine Mutter ist in Ordnung, würde ich sagen, nur sieht sie nicht so aus wie eine Mutter, eher wie meine jüngere Schwester. Sie altert nicht, dass ist so eine Göttinnen-Sache. Also gut, vielleicht nicht wie meine jüngere, aber viel älter als ich wirkt sie jedenfalls nicht. Sie ist eigentlich sehr nett. Aber mein Vater mit seinen ach so weisen Ratschlägen ist ein echter Quadrabbler-Hintern, beschränkt und mit einem fiesen Charakter. Er wird nie verstehen, dass man Ambitionen haben kann, die darüber hinaus gehen, Sirenen-Farmer zu werden!“
„Quardrabb...-Hintern?“
„Die Kehrseite eines Meeresuntiers. Du wirst sie sehen. Sie sind gar nicht selten.“
„Aber, wenn du dich nicht mit ihm verstehst, warum kehrst du dann zu ihm zurück?“
„Nun, Göttin kann ich ja jetzt wohl nicht mehr werden, allenfalls in Askhauran. Gibt es da überhaupt Wasserklo? Egal, ich bleibe nur, solange es nicht anders geht, dann verlasse ich die dämliche Farm und ziehe in die Stadt. Manchmal habe ich das Gefühl, die Familie erdrückt mich.“ Sie machte eine entsprechende Geste.
„Und was machst du dort? In der Stadt?“
„Wir werden sehen. Irgendwas, womit ich berühmt werde oder zumindest bekannt. Wenn ich das nicht schaffe, kann ich niemals glücklich sein! Ich brauche die Zeit, um mich auf das konzentrieren zu können, was ich wirklich will. Du musst ja auch in die nächste große Siedlung, wenn du – falls du – Medizin studieren willst. Wenigstens gelegentlich. Rein virtuell lässt sich das nicht machen.“
„Aber zunächst müsste ich doch bei deinen Eltern wohnen. Glaubst du, würden sie mich akzeptieren?“
Nisaya grinste. „Das müssen sie wohl, sonst bekommen sie es mit mir zu tun!“
Anwin blickte sie zweifelnd an. „Wie kommen sie miteinander klar?“ Anwin, der ohne Mutter aufgewachsen war, interessierte sich dennoch für solche Fragen; in seinem kleinen Dorf war die Beziehung der Partner zueinander nicht immer reibungslos gewesen.
„Meine Mutter liebt meinen Vater sehr. Er hat sie aus der Sklaverei befreit, musst du wissen. Und das vergisst sie ihm nicht, auch wenn er inzwischen alt und hässlich ist. Und mein Vater liebt meine Mutter wohl auch sehr. Aber das ist ja auch ziemlich leicht. Sie hat einen viel besseren Charakter, ist wunderhübsch und dem Anschein nach auch jung.“
Nach einer Weile verstummten die Gespräche, sie hockten sich in die Wiese und warteten. Athaly saß so dicht bei Gjefren, wie möglich. Die Sonne ging unter, die Dämmerung brach herein und wurde schließlich auch noch verschluckt, aber wirklich dunkel wurde es nicht. Die Galaxie, die blass sogar bei Tageslicht am Himmel zu erkennen war, erschien jetzt als prachtvolles Himmelsrad. Nisaya schlief ein und dann auch Iphikles. Gjefren wünschte sich das, war aber immer noch unter Schock. Außerdem beobachtete er intensiver den Himmel als die anderen. Als er sah, dass einer der Sterne, die über dem Meer schwebten, sich bewegte, atmete er scharf aus. Athaly registrierte das und folgte seinem Blick.
„Ein Himmelsschiff“, vermutete sie.
„Aber kein Sonnenwagen. Dieses Ding kann uns ins Weltall bringen. Ich habe meinen Onkel gerufen. Er hat mir erzählt, dass er in Gefangenschaft geraten war und es ihm erst unlängst gelungen ist, sich zu befreien. Wir haben Glück gehabt.“
Das Flugobjekt sank herab, geriet dadurch in den Planetenschatten und war nicht mehr zu sehen. Davor allerdings hatten sie festgestellt, dass es mit ungeheurer Geschwindigkeit auf sie zu raste, weshalb es keine Überraschung war, dass sie alsbald von einem Suchscheinwerfer erfasst wurden, der so grell war, dass er in den Augen weh tat. Die wach waren, mussten in eine andere Richtung blickten, Nisaya und Iphikles lösten sich aus Morpheus Armen und blickten verwirrt um sich. Weitere Lichtkegel tasteten die Umgebung ab und wurden größer. Also sank das Schiff langsam herab, weit genug entfernt, um sie nicht zu gefährden und diesseits der Mauer, was zwar nicht der Abmachung entsprach aber sinnvoll war. Sarpedon dachte mit, er hatte ja den Gleiter und die Menschen gesehen.
Schließlich landete das gewaltige, linsenförmige Objekt auf sechs Teleskopbeinen und die Rampe wurde ausgefahren. Jemand stieg die Treppe hinab. Wenig später kam ihnen Sarpedon entgegen, mit seinem unverkennbaren, humpelnden Gang, wobei ihm das Licht eines Scheinwerfers folgte, wie einem Star. Nisaya lief ihm entgegen und begrüßte ihn zuerst. Sarpedon hatte die Szene bereits aus dem Raumschiff heraus analysiert.
„Gjefren ist verletzt?“, fragte er sie.
Sie nickte. „Er ist gelähmt und braucht Hilfe, Ur-Onkel.“
Nachdem er den Ur-Onkel verdaut hatte, war Sarpedon zunächst verblüfft, denn bei ihrem Gespräch vor nicht einmal einem halben Tag schien Gjefren kerngesund gewesen zu sein. Aber dann fiel ihm ein, dass die Kommunikation auf Mentalprojektion basiert hatte und es daher durchaus möglich war, dass er ihm völlig gesund erschienen war ohne es zu sein.
„Besteht Lebensgefahr?“
Nisaya schüttelte den Kopf. Inzwischen waren ihre Begleiter bei dem Neuankömmling angelangt. Athaly hingegen blieb bei Gjefren. Nisaya stellte daher nur ihre Gefährten vor.
„Das ist Anwin, ein Heiler. Er kommt von den Goldenen Menschen, falls dir das was sagt. Und das ist Iphikles, Sohn des Zeus und Stiefsohn der Hera und Herrscher über Mesawa, einer Festung auf diesem Kontinent. Der Gleiter stammt von dort.“ Sie zeigte zu dem Flugobjekt, das im Vergleich zum Raumschiff winzig erschien. Sarpedon hatte ihn längst zur Kenntnis genommen und seine merkwürdige Bauweise registriert.
Er nickte. „Wir kennen uns. Ich habe Iphikles in Theben getroffen. Allerdings war er da noch erheblich jünger.“ Er wandte sich an ihn. „Du wirst dich wahrscheinlich nicht daran erinnern können.“
„Doch, eigentlich schon. Du warst nett zu mir, ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, meinem Vater, meinem Bruder ...“, erwiderte der Angesprochene. Sarpedon war überrascht, war er doch zwar freundlich gewesen, als er den jungen Iphikles in der Bibliothek angetroffen hatte, aber keineswegs übermäßig. Nach diesem kurzen Gespräch ging der Neuankömmling, so rasch es ihm eben möglich war, weiter. Vor der Bahre blieb er stehen, warf kurz einen Blick auf Athaly, um dann Gjefren zu betrachten.
„Was ist geschehen, Neffe? Ich wähnte dich vollständig gesund und in Sicherheit.“
Gjefren störte sich nicht an der vereinfachten Verwandtschaftsbezeichnung. „Ein Sturz von da oben. Ein Fremder hat mich angegriffen. Athaly“, er blickte kurz zu seiner Begleiterin, „hat mich verteidigt.“
„Wo ist der Angreifer jetzt?“
„Unter dem Steinhügel da. Er ist ebenfalls gefallen und hat das nicht überlebt. Athaly hat mir zweifellos das Leben gerettet.“ Gjefren hatte keine Lust, den tatsächlichen Tathergang zu schildern, das konnten Nisaya oder Anwin später noch übernehmen.
„Es ist Zeit für euch heimzukehren“, sprach sein Onkel leise. „Die Ereignisse haben mir gezeigt, wie verantwortungslos es von mir war, euch beide mitzunehmen. Ich habe mich selbst maßlos überschätzt. Beinahe wäre ich nicht zurückgekommen. Dann hättet ihr für alle Zeit hierbleiben müssen. Ich bin kein so guter Politiker und Ränkeschmied, Stratege und Intrigant, wie ich vielleicht dachte. Andere sind mir da bei weitem über. Ich bin zu vertrauensselig und konnte deshalb im Totenreich gefangen genommen werden. Und währenddessen wurdest du schwer verletzt. Nie könnte ich deinen Eltern jetzt unter die Augen treten. Dein Vater wird mir nicht mehr vertrauen und nicht einmal Elri könnte das noch, nach allem, was geschehen ist.“
„Du bist zu streng zu dir. Vergiss nicht, dass mein Bruder dir das Amulett nicht gegeben hätte, wärst du nicht bereit gewesen, uns mitzunehmen. Aber du wirst uns doch jetzt zurück begleiten?“, fragte Nisaya.
Sarpedon schüttelte langsam den Kopf. „Falls Iphikles mich nach Theben mitnimmt, bleibe ich hier. Irgendetwas geht im Olymp vor sich. Ich möchte wissen, was, ohne mich unnötig in Gefahr zu bringen. In Theben kann ich das herausfinden.“
„Iphikles wird nach Wägan mitkommen.“
„Nein, Nisaya. Ich verweile hier. Ich möchte bei den Achaiern bleiben. Vielleicht kann ich die Götter zum Umdenken bringen. In Wahrheit sind sie schließlich auch nur Menschen, wie der Rest! Ich möchte nicht, dass jemand durch sie zu Schaden kommt. Wenn sie die anderen Menschen mit der gleichen Verachtung behandeln, mit der ich behandelt wurde, ist das nicht rechtens. Wenn du mir bei dieser Aufgabe helfen willst, Sarpedon, dann nehme ich dich mit Freuden mit. Wenn es dir aber darum geht, den Status Quo zu erhalten, nur eben mit dir an der Spitze, dann wäre es mir lieber, du verlässt den Planeten.“
„Wohl gesprochen, Sohn des Zeus. Ich wurde in meiner Jugend missgestaltet, um einer Rolle zu entsprechen, für die ich vorgesehen war. Seit jener Zeit hasse ich das System. Sicherlich ist es schandbar, dass es nicht das Mitleid mit den Achaiern sondern Selbstliebe war, die mich so weit gebracht hat, aber was nun zählt, ist, dass wir das gleiche Ziel verfolgen.“
„Und du hoffst, in Theben die Möglichkeiten zu finden, um die Veränderung einzuleiten?“
„Nun, ich denke, du willst dort hin. Günstiger für mich wäre die Insel der Sintier, denn dort habe ich mir einen Stützpunkt geschaffen, der mir alle Möglichkeiten bietet.“
„Dann sollten wir diese Insel besuchen. Sind die Bewohner freundlich? Gibt es hübsche junge Männer dort?“
Sarpedon lachte. „Nun denn, dann ist es an der Zeit, mich zu verabschieden, liebe Nichte, lieber Neffe. Vielen Dank, dass ihr mir die Rückkehr ermöglicht habt. Der Umgang mit dem Raumschiff ist euch ja von der Herreise vertraut!“
„Klar! Wir sagen dem Avatar was zu tun ist und der macht's!“ erklärte Nisaya fröhlich.
„Genau! Das Schiff findet den Rückweg im Schlaf“, antwortete Sarpedon, der einst Hephaistos gewesen war.
„Also, mach's gut, rette den Planeten. Du auch, Iphikles, war schön, dich kennen gelernt zu haben.“ Gjefren schloss sich dem an und Sarpedon und Iphikles gingen zum Gleiter. Der Rest der Gruppe sah dem Start zu. Das Flugobjekt verschwand in der Nacht.
„Nun sind wir an der Reihe“, seufzte Nisaya. Irgendwie wollte sie noch nicht aufbrechen. Der Aufenthalt hier war sehr abwechslungsreich gewesen, sobald sie die Initiative ergriffen hatte. Das würde ihr eine Lehre sein. Nicht warten, dass jemand anderer etwas tat, sondern selber tun! Also dann. „Bahre?“
„Ja?“
„Ab ins Raumschiff, in den Hospitalbereich.“ Und während die Gleitbahre sich langsam erhob, sagte sie zu ihrem Bruder: „Wie ich unseren Ur-Onkel kenne, hat er Dir die Leitung über das Schiff zugesprochen. Also solltest du auch der erste sein, der es – nun ja, betritt kann man nicht sagen – aber du weißt, was ich meine.“ Gjefren verzog den Mund.
Die Bahre kommunizierte offenbar mit dem Raumschiff, denn ein schmaler Lift sank herab und nahm sie auf. Athaly wollte sich auch noch hinzu zwängen, aber das passte der Trage nicht. „Du nicht!“, rief sie mit ihrer metallischen Stimme. „Dieser Lift ist ausschließlich für Krankentransporte.“ Athaly sah zu, wie sich der Aufzug hob und wirkte dabei klein und verloren.
„Du kannst gleich zu ihm“, meinte Nisaya, die beinahe so etwas wie Mitgefühl mit dem anderen Mädchen empfand, obwohl sie nicht nachvollziehen konnte, warum sie Gjefren solche hehren Emotionen entgegen brachte. Er war ja bloß ihr nerviger, alter Bruder! „Geh die Rampe hinauf.“ Nun wandte sie sich an Anwin: „Na los! Oder willst du doch auch lieber hier bleiben, wie Iphikels?“
Der schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht. Egal was da kommen mag, es kann nicht schlechter sein.“ Er trottete zur Rampe. Nisaya sah sich noch einmal um, ohne all zu viel zu sehen, es war schließlich ziemlich dunkel. Dann folgte sie dem Heiler und verlor als Letzte den Kontakt zum Boden von Gaia. Ein bemerkenswerter Abschnitt ihres Lebens war vorüber. Nisaya zeigte Anwin den Weg zum Kontrollraum, wo sie sich beide auf bequemen Sesseln niederließen. Sie atmete tief ein.
„Avatar“, sagte sie leise. Im Zentrum des Raumes erschien ein Leuchten und sie erwartete, das Lichtwesen zu sehen. Stattdessen erschienen, angetan mit silbergrauen Gewändern, drei alte, weißhaarige Frauen mit wirren Strähnen. Die eine saß an einem Spinnrad, die anderen beiden am Boden, wobei von diesen eine mit kleinen Knöchelchen spielte. Die ganze Szene war in bläulichen Glanz gehüllt.
Nisaya erschrak ziemlich. „Wer seid ihr?“, rief sie.
„Ich bin Klotho. Ich spinne das Schicksal der Menschen“, sagte die am Spinnrad.
„Ich bin Lachesis, die das Los wirft“, meinte diejenige, die mit den Knöchelchen spielte.
„Ich bin Atropos, die Unabwendbare“, erklärte die, die Schicksalsfäden in der Hand hielt, sich aber offenbar nicht entscheiden konnte, ob sie sie durchtrennen solle. Dann ergänzte sie: „Wir sind die Schicksalsweberinnen.“ Alle drei kicherten völlig unangebracht, wie Nisaya meinte.
„Aha? Also gut? Und was wollt ihr, hier auf meinem Schiff?“
„Eigentlich handelt es sich um ein Schiff der Flotte der Götter“, stellte Klotho fest und kicherte.
„Weshalb wir auch die Kontrolle haben!“, ergänzte Lachesis und kicherte.
„Und euch daran hindern können, den Planeten zu verlassen“, erwähnte Atropos und kicherte.
Anwin erschrak. „Das heißt wir können nicht weg?“ Nisaya flüsterte ihm verschwörerisch zu: „Ich glaube, es geht um einen Deal.“ Dann räusperte sie sich und wandte sich an die merkwürdigen Frauen: „Also wir können nicht weg, es sei denn …?“ Sie hob die Brauen und ruderte kreisförmig mit den Händen. „Na los, lasst es euch nicht aus der Nase ziehen!“
„Es sei denn“, meinte die am Spinnrad sitzende, „wir können sicher stellen, dass ihr niemals wiederkehren könnt. Und das überhaupt niemand, kein Mensch, den Weg hierher findet.“
„Dann sagt dem Avatar, dass er die Enigma-Adresse des Planeten löschen soll. Das könnt ihr doch? Problem gelöst.“
„Nicht ganz!“, sprach diejenige, die das Los warf.
„Wieso nicht!“, empörte sich Nisaya.
„Weil es eine Kopie der Adresse gibt“, erklärte die Dritte.
„Wieso wisst ihr das? Davon könnt ihr gar nichts wissen.“
„Wir sind die Moiren“, erläuterte Klotho. „Wir wissen alles.“ Dann ließ sie ihr gackerndes Kichern hören.
„Das Medaillon“, meinte Lachesis. „Bring es her!“ Gierig streckte sie ihr ihre knotigen, altersgichtigen Hände entgegen.
„Und wenn ich mich weigere?“, versuchte Nisaya.
„Ganz einfach,“ sprach Atropos kopfschüttelnd. „Dann bleibt dieses wunderschöne Raumschiff hier. Auch auf diese Weise können wir unser Ziel erreichen, das wir schon so lange erstreben!“. Sie kicherte.
„Könntet ihr bitte dieses alberne Kichern bleiben lassen? Es klingt grauenvoll!“, echauffierte sich Nisaya. „Okay“, lenkte sie ein. „Bleibt hier. Ich muss mit Athaly sprechen.“ Und an Anwin gewandt: „Los, unterhalte die netten, alten …“ Anwin hörte Nisaya etwas flüstern, das wie 'Schreckschrauben, Schachteln' klang, dann fuhr sie laut fort: „Damen! Und sieh zu, dass sie nicht fort gehen.“
***
Athaly hockte auf einem nicht all zu bequem aussehenden Sessel – offenbar wollte man den Krankenbesuch vergrämen – neben der Bahre, die mit ihrer Unterlage zu einer funktionellen Einheit verschmolzen war. „Was geschieht jetzt?“, wollte sie wissen. Neben ihr an der Wand blinkten beängstigend viele Lämpchen in unterschiedlichen Farben und Monitore zeichneten Kurven auf und auch kompliziertere Gebilde, die sie staunend betrachtete. Offenbar wurde Gjefren gerade von vorne nach hinten durchgeschnitten; es schien ihm aber nicht weh zu tun. Athaly wandte den Blick schaudernd ab und dem intakten Kopf ihres Freundes zu.
„Na ja, die Verletzung wird untersucht und stabilisiert, die Selbstheilung unterstützt“, meinte Gjefren. „Wenn ich dann so weit bin, bekomme ich ein Exoskelett angepasst, das mir eine gewisse Beweglichkeit zurück gibt. Und auch ein wenig Empfindung im unteren Körperbereich. Nicht mehr als ein Provisorium, aber besser als gar nichts. Die neuronalen Prothesen, die die Unterbrechung des Rückenmarks überbrücken, erhalte ich aber erst im Spital. Und dann muss ich ziemlich viel üben, bis ich die einzelnen Muskeln willkürlich betätigen kann und bis auch meine Empfindung wieder völlig hergestellt ist. Ich bin kein Arzt, aber soweit ich weiß, kann das schon ein Jahr dauern.“ Er lächelte sie an, um nicht den Eindruck von Trostlosigkeit zu vermitteln.
Sie wirkte geknickt. „Das ist meine Schuld.“
„Ist es das? Du hast mir das Leben gerettet. Du bist hinunter gestürzt worden, bei dem Versuch, mich zu schützen! Wäre ich vom Felsen hinab gefallen, wäre ich wahrscheinlich gestorben. Und selbst wenn nicht, hätte ich nicht Nisaya und meinen Großonkel benachrichtigen können und wäre auf diesem Planeten elendiglich krepiert. Mach dir also bitte keine Vorwürfe, das ist meine Aufgabe. Ich hätte diesen Verrückten nie aus den Augen lassen sollen.“
„Man kann nicht auf alles achten. Und das noch dazu gleichzeitig.“ Sie wechselte absichtlich das Thema. „Ich bin schon sehr neugierig auf deinen Planeten. Auf Wägan. So heißt er, nicht wahr?“
Gjefren bejahte. Da öffnete sich die Tür vom Hospitalsbereich zum Gang und Nisaya blickte herein. „Athaly? Kann ich dich kurz sprechen?“ Sie winkte ihr zu. Athaly blickte fragend zu ihrem Freund, erhob sich dann aber. Nisaya wich ein wenig zurück und, nachdem Athaly ihr gefolgt war, schloss sich die Tür automatisch. Jetzt begann Nisaya zu reden.
„Wir haben Probleme.“
„Probleme? Welcher Art?“
„Eine Schar alter Frauen hat das Kommando über das Schiff übernommen und will uns nur losfliegen lassen, wenn wir nicht wieder zurück kehren können. Frag mich nicht, warum die keine anderen Sorgen haben. Was jedenfalls bedeutet, dass wir die Enigma-Adresse, die im Medaillon meiner Mutter gespeichert ist, zerstören sollen. Das haben sie zwar noch nicht explizit gesagt, aber darauf läuft es hinaus.“
„Und du willst mit mir darüber reden, weil ...?“
„Weil das bedeuten würde, dass du nie wieder zurück kehren könntest. Das Medaillon ist der einzige Speicherort des Reiseprotokolls zwischen Historia und der Föderation durchs Enigma, der in den Vereinigten Planeten noch erhalten geblieben ist. Ohne es ist eine Rückkehr nach Gaia nicht mehr möglich. Du würdest also auf ewiglich an dem langweiligsten Ort des bekannten Universums, genannt Wägan, festsitzen. Das wäre dein Schicksal. Ich finde, das solltest du wissen.“
„Aber, wenn ich dich richtig verstanden habe, müssen wir die Adresse zerstören, sonst kommt Gjefren nicht zurück und bleibt gelähmt. Wir haben also sowieso keine Wahl.“
„Du hast eine, du kannst hierbleiben, wenn du willst. Zurück in deine bekannte Welt, nur jetzt ohne Hexe.“
„Oh! Nein, ich habe mich entschieden. Ich möchte bei Gjefren bleiben.“
„Sicher?“
„Ja doch.“
„Und wenn ich dir sage, dass du einen schweren Fehler machst? Ich bin dort aufgewachsen, vergiss das nicht. Und ich kenne meinen Bruder schon seit Jahren. So toll wie du zu glauben scheinst, ist er auch wieder nicht. Er hat mich oft genug geärgert.“
„Wenn ich eine Entscheidung getroffen habe, dann stehe ich dazu. Und er ist doch so toll.“
Nisaya verdrehte die Augen und seufzte. Dann murmelte sie so etwas wie „Gehirnwäsche“. „Na gut“, meinte sie, „wer sehenden Auges in sein Verderben rennt, ist selber schuld.“
„Also, dann gehe ich wieder zu Gjefren. War nett, mit dir geplaudert zu haben.“
„Nicht so hastig. Gjefren hat das Medaillon. Du musst ihn darum bitten.“
„Und wenn er mich fragt, warum ich es haben will?“
„Dann kannst du ihm die Wahrheit sagen. Aber dann wird er es dir nicht geben. Also musst du ihn belügen. Sag ihm, es geht um das Tagebuch seines Großvaters. Das ist dort auch gespeichert.“
„Aber ich will ihn nicht belügen. Es ist ein bisschen früh, jetzt schon damit anzufangen, findest du nicht?“
Nisaya zuckte die Schultern. „Belüge ihn nicht und er gibt es dir nur, wenn du ihm erzählst, dass du nicht mehr bei ihm sein magst und auf Gaia bleiben willst.“
„Aber das wäre auch eine Lüge!“
„Belüge ihn“, fuhr Nisaya fort, als hätte sie nichts gesagt, „und du kannst mit ihm nach Wägan. Aber um den Preis eines grauenvoll schlechten Gewissens. Die Wahl liegt bei dir. Ich möchte nicht in deiner Haut stecken.“ Damit drehte sie sich um und ging den Gang hinunter. Athaly blieb frustriert zurück. Sie wandte sich der Tür zu, die automatisch aufging. Gjefren lächelte sie an, ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer und sie konnte nicht anders als zurück zu lächeln. Dann aber erinnerte sie sich daran, dass sie zur Verräterin werden sollte und ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
„Schlechte Nachrichten?“, fragte Gjefren.
„Warum?“
„Weil du aussiehst, als hättest du in eine Zitrone gebissen.“
„Keine Zitrone. Hab ich noch nie. Deine Schwester hätte gerne das Tagebuch ihres Großvaters, das auf dem Medaillon gespeichert ist.“ So. Das war es gewesen. Sie hatte den Verrat begangen. Er war schlimm, denn Athaly wusste, dass Gjefren das Medaillon und die Adresse von Gaia viel bedeuteten.
„Meine Schwester! Sie ist ein Original, weißt du? Ich meine, sie ist originell, aber man muss ein bisschen vorsichtig sein. Sie bringt einen gerne in Situationen, wo man jede Entscheidung, die man treffen kann, bereut, egal welche. Es ist schon erstaunlich. Sie hat da ein unglaubliches Gespür und lässt keine Chance ungenützt verstreichen.“
„Ach ja? Warum tut sie das?“
„Ich weiß nicht. Sie schafft es irgendwie, mitten in einer Großfamilie einsam zu sein und das scheint sie auf merkwürdige Gedanken zu bringen. Na egal, über meine Geschwister können wir später noch reden. Das Medaillon hängt um meinen Hals. Löse es bitte vorsichtig. Es ist zwar an sich nicht sehr wertvoll, mir aber wichtig.“ Athaly wollte vor Scham versinken. Sie musste ihm das hier irgendwann gestehen und dann wollte er sie vielleicht zurück schicken, aber das war dann nicht mehr möglich. Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden; dennoch nestelte sie an dem Verschluss des Umhängers und bekam ihn schließlich auf. Sie nahm das herzförmige, goldene Ding in ihre Hand und betrachtete es beinahe ehrfurchtsvoll.
„Ich bringe es schnell zu Nisaya“, sagte sie, wobei ihre Stimme ein wenig belegt klang. Sie wagte nicht, Gjefren anzusehen und verließ den Raum mit gesenktem Haupt. Sie hatte gesehen, in welche Richtung Nisaya gegangen war und folgte ihrer Erinnerung. Einige Türen gingen rechts und links vom Gang ab, aber sie ignorierte sie. Schließlich kam sie zu einer, die größer war. Als sie näher kam, öffnete sie sich von selbst und Athaly sah, dass sie hier richtig war. Drei nicht mehr junge Frauen hockten in der Mitte des Raumes, eine an einem Spinnrad, wie sie es auf ihrer Reise mit dem Zauberer öfter gesehen hatte, und die anderen beiden zu ihren Füßen. Sie waren gerade im Gespräch mit Anwin, während Nisaya zuhörte. Eine sagte gerade:
„Du hast richtig gehört. Keine der Goldenen, die du für Götter gehalten hast, sind noch im Krater, den du als die einzige existierende Welt akzeptiert hattest. Sie sind bereits weg. Und viele der Gläubigen sind ebenfalls bereits abgeflogen, auf der Suche nach neuen Planeten, die sie besiedeln können. Zeus führt sie an. Sie können nicht mehr zurück, was er aber noch nicht wissen dürfte.“
„Ist mein Vater unter ihnen?“
„Keine Ahnung.“
„Ich dachte, ihr wisst alles!“
„Ja, schon. Aber nur über die wichtigen Leute. Dein Vater gehört da nicht dazu.“ Alle drei lachten und Anwin lief rot an.
Athaly räusperte sich lautstark. „Das Medaillon!“
Die am Spinnrad gab sich erfreut: „Fein, fein! Los, bring es zum Memon.“
„Zum was?“
„Zu der schmalen Säule bei der Konsole, links vom Bildschirm. Ja genau. Jetzt öffne das Medaillon ...“. Athaly probierte ein bisschen und das Herz sprang auf und ließ sie auf zwei Porträtaufnahmen blicken, die eine von einer wunderschönen Frau, die andere von einem streng blickenden Mann.
„Deine Großmutter war sehr hübsch“, stellte Athaly an Nisaya gewandt fest.
„Oh ja! Findest du, dass sie mir ähnlich sieht?“
„ ... und leg die Bilder oben drauf. Beide!“
„Ha! Ihr wisst ja nicht einmal, auf welchem die Enigma-Adresse drauf ist“, bemerkte Nisaya triumphierend. Die drei Alten beeindruckte die Kritik jedoch nicht. Die Bilder sanken in die transparente Säule, die komplexen Daten wurden ausgelesen und offenbarten sich damit den Moiren.
„Gut“, sagte die eine, „die Adresse ist zerstört. Die Information des anderen Mems ist unverändert. Ihr könnt jetzt los. Wir wünschen euch einen angenehmen Flug.“ Nach diesen Worten verschwanden die drei sang- und klanglos. Die Bildchen wanderten wieder nach oben, Athaly ergriff sie vorsichtig und legte sie an die vorgesehenen Stellen der Herzhälften. „Ich bringe das Medaillon zurück“, sagte Athaly leise.
„Tu das“, entgegnete Nisaya. „Dann wollen wir mal. Avatar, bereite den Start vor. Ziel ist der Planet Wägan in der Magellanschen Föderation.“ Athaly erlebte gerade noch das Erscheinen der Lichtgestalt, dann schloss sich die Tür der Zentrale hinter ihr.
***
Auf dem höchsten Berg einer Halbinsel, die zwei Meere voneinander trennte, ruhte der Himmlische Tempel, in dem der Betagte residierte: der Herr der Schöpfung, Jahwe, nach Auffassung seiner Gläubigen der einzige Gott. Manche allerdings sahen ihn in Begleitung von Henoch, dem Menschensohn, der zur Gerechtigkeit geboren wurde am Anfang der Zeit und den letztlich die gesamte Schöpfung preisen wird.
Langweiliges Beiwerk, konstatierte Reja, als sie sich vom Avatar instruieren ließ. Wichtiger für sie war, dass der Himmlische Tempel von Michael, Gabriel, Raphael und Phanuel, den höchsten der Engeln, verteidigt wurde. Zweifellos handelte es sich dabei um flugfähige Kampfmaschinen und sie waren in der Überzahl. Nach Auskunft des Avatars war ihr Waffenarsenal allerdings sehr bescheiden, was daran lag, dass die Götter des Olymp keine gleichrangige Konkurrenz akzeptierten. Aber würde ein einzelner Gleiter mit ihnen fertig werden? Sie zweifelte ernsthaft daran, sodass ein direkter Angriff keine gute Option zu sein schien. Außerdem stand ihrem Cousin auch noch ein Raumschiff zur Verfügung, das ungleich besser bewaffnet war als ihr Gleiter.
Hatte ihr Cousin sie nicht durch Täuschung besiegt? Indem er seinem Avatar die eigenen Züge aufgeprägt hatte? Auch sie würde versuchen, ihn hinters Licht zu führen, wobei sie einen Vorteil hatte: er war davon überzeugt, dass sie ihr Leben ausgehaucht hatte, im Sicherheitsraum seiner prächtigen Wohnung auf Ivarn. Bestimmt konnte er nicht mit ihr rechnen, nicht hier und nicht jetzt.
Sie musste glaubhaft als jemand anderes auftreten, am besten als eine Göttin, die ihr ähnlich sah. Am meisten ähnelte ihr die goldene Kypris, die lilienarmige Aphrodite. Es würde dem Avatar nicht schwer fallen, Gesichtszüge und Stimme entsprechend anzupassen, er hatte mit Sicherheit die erforderlichen Daten über alle Götter. Wenn es zum Bildkontakt kam, würde sie am besten noch eine zweite Person zeigen, vielleicht Dione, Aphrodites Mutter.
Es war sicherlich nicht üblich, dass diese Gottheiten Jahwe besuchten. Welchen Vorwand sollte sie also ersinnen? Vielleicht war es das Klügste, so dicht bei der Wahrheit zu bleiben, wie möglich. Der Olymp ward angegriffen worden, sie waren auf der Flucht, baten um Asyl und waren gekommen, um den Betagten zu warnen. Sie würde ein Häufchen Elend spielen, viele Tränen produzieren und dabei danach trachten, möglichst nahe an ihn heranzukommen, um ihn dann abzuschlachten. Das war der Plan, den Rest musste sie improvisieren.
Sie instruierte den Avatar und befahl ihm, ihr vorzuspielen, was ihr Cousin zu sehen bekommen würde. Da saß tatsächlich Aphrodite im goldenen Gewande und sprach Rejas Worte mit der Stimme der Kypris. Die Illusion war perfekt. Neben ihr befand sich Dione. Sie gab ihr die Rolle einer Verwundeten: von einem Schnitt über ihrer Stirn tropfte Blut über ihr linkes Auge. Eine Fleischwunde im Schulterbereich sah besonders hässlich aus und sollte ihr den Vorwand geben, um medizinische Hilfe zu bitten. Die Versorgung des Gleiters in dieser Hinsicht, so würde sie behaupten, sei ungenügend oder defekt. Dione litt offenbar Schmerzen und stöhnte glaubhaft. Reja lachte. Die Illusion war beinahe perfekt. Die meisten Menschen konnte man damit ohne weiteres täuschen. Aber Ephram?
Sie hielt kurz inne und überdachte ihr Trugbild. Das makellose, gülderne Gewand, in das sie Aphrodite gekleidet hatte, war unrealistisch und passte nicht ins Szenario. Es war auch wenig hilfreich. Andererseits konnte sie ihre eigene Kampfmontur nicht zeigen, denn sie schrie geradezu „Ivarn!“ und „Piraten!“. Sie erkundigte sich beim Avatar danach, welche Schutzanzüge und Handfeuerwaffen zur Ausrüstung des Luftschiffs zählten. Es gab einen Kampfanzug, der den Namen nicht verdiente und jämmerliche Bewaffnung, aber sie hatte keine Wahl. Rasch zog sie sich um – wozu im Cockpit kaum genug Platz war – und betrachtete sich wieder als diesmal wehrhaftere Aphrodite am Monitor. So war es besser. Ihr Ziel musste es sein, Ephram an Bord des Gleiters zu locken; dann konnte sie ihn mit ihrem eigenen Impulsgewehr erledigen, das dem der Schiffsausrüstung überlegen war. Sie schrieb sich allerdings nur geringe Chancen zu, dieses Ziel zu erreichen; wahrscheinlich würde er darauf bestehen, dass sie zu ihm herauskam. Sie konnte den Helm aufsetzen und so die Täuschung länger aufrecht erhalten. Was wenn er sie dazu aufforderte, alle Waffen an Bord zu lassen? So etwas würde ihm ähnlich sehen, er hing an seinem Leben wie eine Zecke an ihrem Wirt. Gab es Alternativen? Sie dachte eine Weile darüber nach. Der Gürtel des Anzugs hatte seitlich eine Tasche für Arzneien, die sich an ihre Hüfte schmiegte. Sie ließ sich eine Liste von bordeigenen Medikamenten geben. Einiges war interessant, z.B. ein Herzstärkungsmittel mit gering dosiertem Digitalis, aber die Komponenten waren auch hochkonzentriert vorhanden. In höherer Dosis würde es tödlich wirken, aber rasch genug? Dann war da noch ein Beruhigungsmittel, das bei entsprechender Dosierung ein schnell wirkendes, absolut tödliches Nervengift darstellte. Und letztlich war auch noch der Klassiker vorhanden: Blausäure. Sie wies den Avatar an, drei Impfampullen jeweils mit einer der nahezu reinen Giftsubstanzen zu füllen. Wenig später hielt sie die drei von der Form her patronenähnlichen Behältnisse, die etwa die Länge ihres Daumens aufwiesen, in ihrer Hand. Gegen Ephrams Haut gepresst, würden sie sich in Millisekunden entladen, ein völlig schmerzloser Prozess. Der Tod würde dann allerdings bei zwei der Mittel nicht mehr ganz so frei von Pein sein, wäre aber immerhin sehr rasch zur Stelle. Das war leider erforderlich; sie durfte ihm nicht die Zeit zur Gegenwehr lassen, denn sie wusste nur zu gut, wie geschwind er sein konnte. Und wie tödlich. Sie steckte die gesicherten Druckbehälter in die dafür vorgesehenen Ausnehmungen im Inneren ihres Arzneibehälters. Dann wandte sie sich wieder der Konsole zu. Die Scharade würde wohl bald beginnen, denn der Monitor zeigte ihr nicht mehr die Eintönigkeit der See; am Horizont war unter dem monoton blauen Himmel eine Küstenlinie sichtbar, der sie sich flugs näherte. Die Landschaft, über der sie nun schwebte, war überwiegend kahl und leer, eine sandfarbene Ödnis. Nun flog sie entlang eines ausgetrockneten Flussbetts, umsäumt von ein wenig Gebüsch, das sich durch die elende Wüstenei wand. Das Gewässer entsprang wohl dem Sinai-Gebirge und so blieb sie ihm treu und als sie die Ebene hinter sich ließ, konnte sie eine jämmerliche Siedlung ausmachen, mit ein paar Ziegenherden, die die spärliche Vegetation beweideten. Hauptsächlich war nun Dorngestrüpp vorhanden. Rasch zog die Landschaft unter ihr hinweg. Sie stieg höher, um den Gipfel des Gebirges aus einiger Distanz betrachten zu können. Sie zoomte darauf zu und da war er auch schon deutlich zu sehen: der Himmlische Palast in all seiner fragwürdigen Pracht. Er entpuppte sich als eine stilistische Chimäre, die vor allem ägyptischen und persischen Einfluss erkennen ließ. Dafür aber hatte Reja kein Auge. Was sie wahrnahm, war, dass er groß und prunkvoll war, Eigenschaften, die sie sehr wohl beeindruckten und – wie sie wusste – nicht nur sie. Genau so etwas würde sich ihr lieber Cousin aussuchen, prachtvoll und entlegen. Soweit es ihre Sicht erlaubte, war der Palast vollkommen von Dorngebüsch umgeben und daher zu Fuß wohl gar nicht zu erreichen. Auch das passte hervorragend zu seiner Paranoia, die eigentlich gar keine war. Er wurde ja wirklich verfolgt. Und zwar von ihr.
Sie stieg noch höher, sodass sie seitlich auf den Tempel herab blicken konnte. Ein offensichtlicher Stilbruch war der große Swimmingpool am Dach des Gebäudes. Für sie bedeutender war ein quadratischer Landeplatz von erheblichem Ausmaß, der bis auf einen Standard-Gleiter und vier Säulen an den Ecken leer war. Das Schiff, mit dem er nach Gaia gekommen war, musste er woanders geparkt haben, was sich vielleicht als gut für sie erweisen könnte. Es mochte aber auch bedeuten, dass Ephram nicht in die Rolle des Betagten geschlüpft war. Sie erkundigte sich beim Avatar und erfuhr, dass zu der Anlage auch noch eine gewaltige, unterirdische Halle gehörte, die sich durchaus als Landeplatz und Versteck für ein Raumschiff eignen würde. Die Einflugöffnung befand sich aber auf der anderen Seite des Berges und war daher für sie unsichtbar. Zudem existierte ein enormes Tor, das vermutlich geschlossen war. Sie musste also vorläufig mit der Unsicherheit leben.
Was sie zunächst für vier goldene Säulen gehalten hatte, erschien ihr bald als anthropomorphe Statuen, die sie von der Höhe – mehr als das dreifache eines Menschen – und auch von der Ausformung her verdächtig an Kyklopen erinnerten. Aber die Ähnlichkeit war nur oberflächlich, wiesen sie doch Details auf, über die Kyklopen nicht verfügten: einerseits hatten sie eng an den Körper gepresst ein mächtiges Flügelpaar und andererseits ein zweites Auge, sodass das Gesicht menschenähnlicher erschien als das bei den einäugigen Riesen der Fall war. Das also mussten die vier Erzengel sein, die den Himmlischen Palast verteidigten. Als sie dies erkannte, bewegten zwei der Figuren ihren Kopf ein wenig in ihre Richtung, was sehr bedrohlich wirkte. Schwarze Augen richteten sich auf sie; nun war sie unter Beobachtung und eine Kontaktaufnahme musste bald erfolgen, wenn nicht sogar ein Angriff. Sie beschloss, nicht zu warten und beauftragte den Avatar, mit dem Palast zu kommunizieren. Schon bald war er erfolgreich, denn auf dem Monitor erschien in Überlebensgröße das Gesicht des Betagten, umrahmt von wallendem, weißen Haar, die untere Hälfte unter einem dichten silbernen Bart verborgen. Dies war, scheinbar zumindest, nicht Ephram OrPhon. Hinter ihm stand ein jüngerer, in weiß gekleideter Mann, Henoch wahrscheinlich, der aber ebenfalls keine Ähnlichkeit mit ihrem Cousin aufwies.
„Wer bist du?“, hallte eine tiefe Stimme durch das Cockpit. „Besucher sind nicht willkommen! Du bist in die Sicherheitszone eingedrungen und hast die Verteidigung aktiviert.“ Reja blickte auf den linken Seitenmonitor und sah, dass die riesigen Engel ihre Schwingen ausbreiteten.
„Bitte!“, flehte sie mit schwacher Stimme, die klang wie jene von Aphrodite. „Wir mussten vom Olymp fliehen. Meine Mutter ist schwer verletzt und braucht dringend Hilfe. Das bordeigene Medicenter ist für so schwerwiegende Verletzungen nicht eingerichtet.“ Sie rang die Hände und wagte einen kurzen Blick auf ihre Aufführung, die auf dem rechten Seitenschirm zu sehen war. Die feinen Züge von Aphrodites jungem Gesicht wirkten eindringlich und schutzbedürftig; die fiktive Dione blutete aus ihren Wunden auf Stirn und Schulter und stöhnte leise. Alles perfekt. Nur dass eben Ephram nicht die Art Mann war, die schutzbedürftigen, verletzten Frauen helfen würde. Die Engel waren aufgeflogen und näherten sich. Ein Warngeräusch ertönte, laut und durchdringend.
„Ich sagte, du sollst nicht näher kommen!“ Nun wirkte der fremde Gott jähzornig und damit plötzlich sehr vertraut. Trotz Bart konnte sie die typische Art von Ephrams Mimik erkennen; sie war jetzt fast sicher, dass er es war. Innerlich frohlockte sie, aber sie ließ sich ihren Triumph nicht ansehen.
„Bitte! Der Olymp ist angegriffen worden und ist nun vernichtet.“ Sie weinte herzzerreißend, nur war da bei ihrem Cousin nichts, was zerreißen konnte. Aber sie legte es auch gar nicht darauf an, an sein Mitleid zu appellieren, da er so etwas genauso wenig besaß, wie sie selbst. Sie wollte ihn neugierig machen. Wenn er sich bedroht fühlte, konnte sie ihn manipulieren. „Und sie werden beim Olymp nicht halt machen. Ich bin gekommen, um dich zu warnen.“ Inzwischen spielten viele Lämpchen auf der Konsole verrückt, der Alarm wurde noch lauter und die Erzengel kamen näher.
„Was ist geschehen?“, wollte Jahwe wissen. Gut. Sie hatte seine Aufmerksamkeit.
„Ich erzähle dir alles, was ich weiß, wenn du uns nur landen lässt und meiner Mutter hilfst.“
Der Gott zögerte noch kurz, während er Risiko und Nutzen abwog, so wie sie es ebenfalls getan hätte, dann nickte er. An den jüngeren Mann gewandt sprach er: „Lass den Angriff abbrechen.“ Ohne dass dieser sich äußern musste, drehten die Erzengel ab und flogen rasch wie goldene Pfeile zu ihren Basen zurück. Da wusste sie, dass der junge Mann ein Avatar war und Jahwe möglicherweise der einzige Mensch im Himmlischen Palast. Bei zweiterem konnte sie sich allerdings nicht sicher sein. „Ich erteile dir hiermit die Landegenehmigung.“ Sie dankte ihm und hielt auf den quadratischen Platz zu, an dessen Ecken nun wieder die Erzengel wachten.
„Ich brauche Hilfe für meine Mutter. Wirst du an Bord kommen?“
Er lächelte zynisch mit einem herab gezogenen Mundwinkel, genau so, wie Ephram es getan hätte. Nun war sie sich sicher. „Bestimmt nicht. Wir machen es so: Du gehst in den Palast und, sobald du angekommen bist, schicke ich eine Medi-Einheit zum Gleiter und lasse deine Mutter verarzten. Falls erforderlich, kann sie auch in den Palast kommen.“ Reja war das nur recht; hätte er die Versorgung gleich losgeschickt, hätte er sofort registriert, dass gar keine zweite Frau an Bord des Schiffes war. Manchmal konnte ausgeprägtes Misstrauen des Gegners sogar vorteilhaft sein. Sie stimmte daher ohne Vorbehalte zu. „Und noch etwas! Keine Waffen.“ Sie vermittelte zunächst absichtlich einen überraschten und verwirrten Eindruck, der, so hoffte sie, zu Aphrodite passen würde, griff dann zum Schulterhalfter und zog deutlich sichtbar das Plasmaimpulsgewehr heraus. Sie ließ es neben sich auf den Boden fallen. Aus dem Hüfthalfter zog sie die Pistole und verfuhr mit ihr ebenso.
„Gut so? Das war alles. Es war sowieso unbequem. Mehr Waffen habe ich nicht. Wir sind keine Angreifer, sondern Götter auf der Flucht.“
„Eben. Dann brauchst du ja keine Waffen. Ja, es ist gut so, aber hüte dich. Wenn du doch Waffen trägst, werden meine Schutzengelchen das feststellen und dich ohne jede Vorwarnung in ein Rauchwölkchen verwandeln. Sie nehmen ihre Aufgabe sehr ernst.“
Sie ließ Aphrodite bestürzt aussehen. „Oh. Wenn das so ist, es könnte sein, dass dieser Anzug noch ein Messer beherbergt. Ich glaube mich erinnern zu können, dass das der Fall ist. Warte. Da ist es ja.“ Sie zog es aus der Scheide und warf es ebenfalls weg. „Jetzt bin ich wohl wirklich ohne Waffen.“
Der Gleiter setzte zu einer sanften Landung an und fuhr die Rampe aus. „Wir sehen uns gleich“, kommentierte Reja und griff zum Helm, um ihn aufzusetzen. Es erfolgte kein Protest, womit sie auch nicht gerechnet hatte, da er die Kommunikationseinheit beinhaltete. Erst als sie sich vom Bildschirm abgewandt hatte, schloss sie das Visier. Eine Tür öffnete sich automatisch, sie stieg die Rampe hinab. Das Visier spiegelte, sodass ihre Gesichtszüge nicht deutlich zu erkennen waren. Sie hoffte, dass sie Aphrodite hinreichend ähnelte, um die Täuschung aufrecht erhalten zu können. Zum Palast waren es mehrere Hundert Meter und auf ihrem Weg dorthin konnte allerhand passieren. Sie schritt forsch aus und versuchte sich von den finsteren Blicken aus obsidianfarbenen Augenpaaren, die die Engel ihr zuwarfen, nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie fieberte dem Treffen geradezu entgegen, Adrenalin floss in ihren Adern. Gegenwärtig hatte sie einen zweifachen Vorteil: eine verborgene Waffe und die falsche, harmlose Identität. Das musste doch reichen, um ihren Cousin endlich ins Jenseits zu schicken! Danach konnte sie zurück zu den Piraten und dabei helfen, den Planeten auszubeuten. Einen ganzen Planeten! Sie redete sich ein, dass sie das Juwel von Galahar gar nicht brauchte.
Sie näherte sich dem Tempel. Das goldene Eingangstor war gigantisch, vielleicht, um auch den Engeln Zutritt zu ermöglichen. Neben dem Tor, links und rechts davon, befand sich das unglaublich kitschige Abbild von je einem Engel mit geöffneten Flügeln. Fresken an der Wand zeigten, wie sich eine Schar verzückter, winziger Gläubiger vor dem riesigen, bärtigen Allmächtigen in den Staub warf. Güldene Strahlen gingen radial von seinem Haupt aus. Nun, das mochte die primitiven Eingeborenen Gaias beeindruckten; sie hingegen sicherlich nicht. Im zweiflügeligen, mächtigen Tor befand sich eine kleinere Tür, die gemächlich aufschwang, als sie heran eilte. Rasch – und wie sie hoffte unauffällig – griff sie in die Meditasche und nahm sich eine der tödlichen Patronen. Sie hielt sie verborgen in ihrer Hand. Sie betrat, genau wie sie erwartet hatte, eine riesige, prunkvolle Halle. Am anderen Ende, am Fuße eines marmornen Stiegenaufgangs, stand ein Mann in weißem Gewand, in der Hand einen Hirtenstab haltend. Er war keineswegs gewaltig, sondern nur wenig mehr als mittelgroß. Er hatte auch kein weißes Haupthaar; es war vielmehr schwarz. Von einem wallenden Bart war ebenfalls nichts zu sehen; nur ein dunkler Spitzbart bildete eine fragliche Zierde. Ephram OrPhon, ihr Cousin! Nur noch wenige Meter trennten sie von ihrer Rache für den Mord an ihr und die Vergewaltigung ihres toten Körpers; für die jahrelange Verbannung.
„Halt! Bleib stehen.“ Er richtete den Hirtenstab auf sie; vermutlich handelte es sich um eine kuriose Waffe. Sie entsprach seinem Willen.
„Wer seid Ihr? Ihr seht nicht aus wie der Gott Jahwe. Seid Ihr ein Diener?“ Während sie fragte, ihn vielleicht auch provozierte und so seine Aufmerksamkeit ablenkte, näherte sie sich langsam, wie unbedacht, weiter, so wie sich eine Mantis an ihre Beute anschleicht. Sie musste nahe genug an ihn heran kommen, um seine nackte Haut zu berühren, an seinem Hals oder seinem Gesicht.
„Was du gesehen hast, war eine Illusion für meine Priester. Nicht, dass ich mich ihnen allzu oft zeige.“ Er lachte. Dann fuhr er fort: „Sagte ich nicht, du sollst stehen bleiben? Und nimm den Helm ab.“
Sie war noch fünf Schritte von ihm entfernt, zu viel für einen raschen Angriff. „Wirst du die Medi-Einheit zu meiner Mutter schicken?“ Sie wagte es, noch einen halben Schritt vorwärts zu gehen, blieb dabei betont entspannt.
„Komm nicht näher, sonst werde ich sehr, sehr ungemütlich. Glaub mir, das willst du nicht. Nimm den Helm ab und dann unterhalten wir uns über dein Ungemach. Ich will alles über die Angreifer wissen. Währenddessen wird deine Mutter medizinisch versorgt.“ Er blickte sie aus glühenden Augen an, die ein wenig von seinem Wahnsinn verrieten.
Reja konnte nicht tun, was er verlangte. Also machte sie noch einen kleinen Schritt auf ihn zu. Da zog Ephram gedankenschnell eine weitere Waffe, eine kleine Plasmaimpulspistole, richtete sie auf ihr Visier und schoss. Die Welt wurde in schmerzhaft helles, gleißendes Licht getaucht, das Visier hatte nicht schnell genug reagieren können, um die Intensität herabzudimmen. Sie schrie auf, taumelte zurück und fiel auf die Knie, halb erblindet. Als sie endlich wieder etwas sehen konnte, erkannte sie die feinen Risse, die ihr verrieten, dass sie sich auf den Schutz durch das Visier nicht mehr verlassen konnte. Sie stöhnte.
„Der nächste Schuss ist tödlich. Also: Nimm. Den. Helm. Ab.“
Langsam, immer noch auf den Knien folgte sie seinem Befehl. Wenn nicht noch ein Wunder geschah, hatte sie verloren. Das war ihr klar. Sie zeigte ihm ihr Engelsgesicht und blickte ihn vorwurfsvoll aus ihren großen, blauen Augen an. Sie legte den Helm auf den Boden. Wenigstens hatte sie die Genugtuung, dass ihr Cousin bei ihrem Anblick erbleichte.
„Du!“, stammelte er. „Du bist tot. Verdammt! Ich habe dich höchstpersönlich ins Jenseits geschickt. Du solltest in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung sein. Wie ist das möglich?“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Cousin.“
„Du kommst, um dich zu rächen, ganz ohne Zweifel. Was ist in dem Gleiter? Sicherlich keine halbtote Mutter!“
Sie lächelte. „Vielleicht ist da ja eine kleine Atombombe und ich habe die Fernzündung in der Hand, die dafür sorgt, dass sie losgeht, sobald ich sie frei lasse.“ Sie hob ihre Rechte und ließ ihn die kleine Patrone sehen, die alles Mögliche sein konnte. OrPhon wurde nochmals um eine Nuance bleicher. Aber dann schüttelte er den Kopf.
„Du bist keine Selbstmörderin“, versicherte er sich selbst. „Du willst stets überleben. Wie immer dein Plan aussieht, so nicht. Überhaupt bist du meist eher spontan. Du improvisierst. Zweifellos nützliche Fähigkeiten, aber nur, wenn man dich nicht kennt. Aber für mich bist du ein offenes Buch. Ich muss zunächst herausfinden, was wirklich in dem Gleiter steckt. Ich würde zu gerne wissen, wie du überlebt hast und was auf diesem Planeten los ist. Aber vielleicht ist es besser, dich gleich umzulegen? Ich brauche definitiv mehr Fakten.“ Nach einer kleinen Pause, in der er sie betrachtete wie eine Kakerlake, sprach er deutlich ein einziges Wort: „Henoch!“
Der Avatar in Gestalt des Menschensohns, erkannte Reja. Er sollte wohl veranlassen, dass der Sonnenwagen näher untersucht wurde oder auch gleich zerstört. Ihr Finte hatte ihr nichts gebracht, außer vielleicht einen kleinen Aufschub. Eine Holoprojektion erschien seitlich von ihr und ihrem Cousin, aber nicht die erwartete. Die große Halle wurde in bläulichen Schimmer getaucht und statt des Menschensohns erschienen drei alte, weißhaarige Frauen, die eine vor einem merkwürdigen, primitiven Gerät sitzend, die beiden anderen zu ihren Füßen. Das alles registrierte sie aus dem Augenwinkel, denn sie wagte nicht, Ephram aus dem Fokus ihrer Aufmerksamkeit zu entlassen. Ihr war nicht klar, was er für ein Spiel spielte, bis sie seinen Gesichtsausdruck sah. Auch er musste sich damit begnügen, die Erscheinung peripher zu betrachten, da er sie, seine Cousine, nicht aus den Augen ließ, aber er wirkte eindeutig verblüfft. Etwas war geschehen, womit er nicht gerechnet hatte! Wie konnte sie das zu ihren Gunsten nutzen? Die Frauen kicherten.
Die Waffe immer noch auf sie gerichtet, fragte Ephram: „Wer seid ihr?“ Erstaunen und Ärger färbten seine Stimme.
„Wir sind die Moiren“, erklärte diejenige, die in der Mitte saß. „Nicht Teil deiner Theosophie, Jahwe. Oder sollte ich sagen: Ephram OrPhon? Wir sind die Schicksalsgöttinnen der alten Griechen.“
„Wer immer ihr seid, verschwindet! Und zwar sofort.“
Die Bemerkung führte bei den drei Frauen zu einem Lachanfall. „Sonst tust du was?“, fragte schließlich die Linke. Dann fuhr die Rechte fort. „Leider können wir deinem Wunsch nicht entsprechen. Es ist schön, euch beide beisammen zu haben, Ephram und Reja! Beide tendiert ihr dazu, andere Menschen als Figuren in eurem Spiel zu sehen und habt dabei nie bemerkt, dass ihr längst selbst Teil eines Spieles geworden seid, das viel größer ist als das eure. Ihr wart die ganze Zeit recht nützlich Figuren, aber jetzt nicht mehr. Nun seid ihr überflüssig.“ Wieder lachten sie.
„Was soll das heißen?“, wollte Reja wissen, „Was für ein Spiel?“ Eigentlich interessierte sie das nicht wirklich. Sie wollte bloß eine kleine Chance, einen winzigen Augenblick, in dem sich die Aufmerksamkeit Ephrams von ihr abwenden würde. Um das zu erreichen, konnte sie nichts anderes tun, als auf Zeit zu spielen. Er war die Bedrohung, nicht die drei Alten, die nicht einmal real waren.
„Wisset, ihr kleinen Menschlein, dass große Veränderungen auf diesen Planeten zukommen. Um sie zu ermöglichen, darf es keine Einmischung von Außen geben. Also arbeiten wir seit einem Viertel Jahrhundert daran, dass diese Welt völlig isoliert ist. Dass kein Mensch mehr hierher findet. Ihr habt uns geholfen, vor allem du, Ephram. Dieses Ziel werden wir erreicht haben, wenn ihr beide und die Piraten, die du, Reja, hierher gelockt hast, nicht mehr sind. Denn Zeus und den Goldenen haben wir bereits – wenngleich sie das noch nicht wissen – die Rückkehr unmöglich gemacht.“
„Die Piraten!“, keuchte Ephram und ergänzte, an Reja gewandt: „Du Luder! Du hast Rammbock gegen mich aufgehetzt!“
„Sicher doch!“, lachte sie. „Was hast du erwartet?“
„Dass du stirbst, wie alle anderen es getan hätten. Das habe ich erwartet!“
„Tut mir leid, dich enttäuscht zu haben. Aber...“, und jetzt wandte sie sich an die Alten, die aussahen wie Hexen in antiken Märchen und sie nun davon überzeugt hatten, dass auch sie eine ernsthafte Bedrohung darstellten: „Wie wollt ihr verhindern, dass die Piraten den Planeten verlassen und nach Ivarn zurückkehren, mitsamt der Enigma-Adresse von Gaia?“
„Das geschieht in diesem Augenblick“, antwortete eine der Moiren. „Die Landeplattform des Olymp war seit jeher von Gängen unterminiert. Arbeitsroboter haben dort eine recht hässliche Bombe gewaltiger Sprengkraft in unserem Auftrag installiert. Schon vor Wochen, denn wir kannten deine Pläne, falls du die Konfrontation mit deinem Cousin überleben solltest. Das war immerhin wahrscheinlich genug, um sich mit dieser Möglichkeit zu befassen. Und genau jetzt explodiert der Sprengsatz und vernichtet die Flotte der Piraten.“
„Dann werden sie eine andere Möglichkeit finden, diesen Planeten zu verlassen.“
„Oh nein, sie müssen hier bleiben und werden sich schließlich gegenseitig abschlachten. Alle anderen Raumschiffe kontrollieren nämlich wir. Mit einer Ausnahme: dem Schiff, mit dem dein Cousin hierher gelangt ist.“
„Cousine, vielleicht sollten wir unseren Streit vertagen. Was meinst du?“ Reja nickte. Ihr war klar, was Ephram wollte, nämlich so schnell wie möglich den Shuttle im Hangar unterhalb des Himmlischen Tempels zu erreichen, um damit zu seinem Schiff zurück zu kehren, das im Orbit um den Planeten schwebte, sicherlich unerreichbar für die drei unheimlichen Vetteln. Offenbar war das den Drei aber auch bewusst. Sie kicherten, wie es so ihre Art war und die in der Mitte meinte:
„Zu spät, kleiner Mensch! Sie nur!“ Eine der drei durchtrennte zwei Fäden. Da öffneten sich die gewaltigen, goldenen Torflügel der Halle und im Eingang stand einer der Erzengel, Raphael, strahlend, sie weit überragend. Der Blick seiner Obsidianaugen fing den Mann und die Frau ein und sein rechter Arm richtete sich auf sie. Eine weiße Flammenzunge, hell wie ein brennendes Schwert, löste sich und vernichtete alles, was sich in ihrem Weg befand. Sie verzehrte die Menschen augenblicklich, selbst der Schutzanzug erwies sich als völlig nutzlos. Hätte sich ein Beobachter gleich einem Vogel oberhalb des Tempels befunden, hätte er mitansehen können, wie sich eine Blume aus Feuer und Glut öffnete, in der der Palast im reinigenden Flammenchaos zerbarst. Rund um ihn aber loderte das Dorngebüsch; die Lohe kündigte diesmal aber nicht von einer göttlichen Erscheinung.
***
„Heute ist der Wievielte. Oder?“
„Falls das die Frage sein sollte, ob heute der Tag ist, an dem Gjefren wieder zurück kommt, so lautet die Antwort: ja!“ Thamga, ein schlankes, brünettes Mädchen, hatte sich ihnen vor kurzem angeschlossen und nun die Frage ihres Bruders Djamig beantwortet. Der Achtjährige hatte sich dafür entschieden, für Athaly den Fremdenführer zu spielen. Das grazile Mädchen mit den wirren, dunklen Haaren, den nachtschwarzen Augen und den feinen Gesichtszügen hatte ihm von Anfang an imponiert. Djamig neidete Gjefren und Nisaya die Abenteuer, die sie erlebt hatten, indem sie sich durch Vorspiegelung falscher Tatsachen von Wägan entfernt und Gaia, die Welt der Legenden, betretet hatten. Aber da konnte man nichts mehr machen. Indem er sich mit Athaly anfreundete, hatte er wenigstens Anteil an Erlebnissen aus zweiter Hand. Djamig zeigte ihr alle Sehenswürdigkeiten seiner Insel und versuchte dabei, sie über ihr Leben auszufragen. Ihre Bescheidenheit hinderte sie daran, dass sie von sich aus erzählte, aber er bohrte so lange nach, bis seine Neugierde befriedigt war. Insbesondere interessierte ihn, wie sie ihren Bruder kennen gelernt hatte. Sie schilderte ihm eine zensierte Fassung; dass Gjefren sie zuallererst nackt ausgezogen hatte, erzählte sie nicht (obwohl ihm das zweifellos imponiert hätte), wohl aber wie klug er bei ihrer Rettung vor den Schergen der Hexe vorgegangen war.
Viele Attraktionen hatte das Eiland nicht zu bieten, aber Athaly war nicht gerade verwöhnt und erwies sich als zum Staunen befähigt. Die See, der türkisfarbene Himmel, ja selbst der Anblick eines vom Meerwasser gerundeten Steines ließ ihre an sich schon großen Augen noch größer werden. In der Nacht dann der Blick auf den Sternenhimmel; so fremd. Die Konstellation der Gestirne war für Jäger und Sammlerinnen der Steppe stets von großer Bedeutung gewesen und so staunte sie das Firmament an. Heute waren sie an den Strand gegangen, hatten auf die scheinbar unendliche Wasserfläche hinausgeblickt und – Sensation über Sensationen – einen Quadrabbler erspäht. Das Riesentier hatte seine sehr beweglichen Stielaugen auf sie gerichtet, was Athaly ein bisschen unheimlich war.
„Sind sie gefährlich?“, hatte sie ihren jungen Begleiter gefragt.
„Manchmal ergreifen sie einen und wollen ihn in die Tiefe ziehen. Deshalb ist es besser, wenn man zu zweit tauchen geht. Es kommt nicht oft vor, aber wenn, dann muss man die Augenstiele ergreifen, dann lassen sie einen sehr schnell in Ruhe. Wenn man am Rücken erfasst wird, mag das schwierig sein; deshalb ist es klüger zu zweit zu tauchen.“
„Gibt es noch mehr Untiere da draußen?“
„In Küstennähe nicht. Sei unbesorgt. Wir können ruhig schwimmen gehen.“
„Heute lieber nicht.“ Sie erklärte nicht warum, dachte aber daran, dass Gjefren an diesem Tag zurück kehren sollte. Im Gegensatz zu Djamig hatte sie die Tage gezählt. Eine Woche war er nun schon fort.
Als ihr Schiff im Orbit von Wägan an jener Raumstation angedockt hatte, die jeder nur den Hafen nannte, waren sie von Gjefren und seiner Schwester getrennt worden. Anwin und sie mussten die Einwandererprozedur über sich ergehen lassen. Schwierigkeiten gab es keine, da die Bevölkerung des Planeten sich gerade rückläufig entwickelte und daher ein paar Menschen von Auswärts sehr willkommen waren. Dass sie allerdings nicht Einwohner der Föderation waren, bewirkte, dass sie einer genauen medizinischen Untersuchung unterworfen wurden und allerlei Fragen beantworten mussten, die ihnen eine Vertreterin des Geheimdienstes der Magellanschen Föderation stellte. Nach zwei Tagen brachte sie ein Shuttle auf die Oberfläche des Planeten zu Gjefrens Familie. Der Empfang war sehr freundlich, aber Gjefren selbst war nicht da. Er sei für eine Woche im Spital, erklärte man ihr. Wegen seiner schwerwiegenden Verletzung sei es, erklärte Nisaya, nicht zu dem Donnerwetter gekommen, das eigentlich zu erwarten gewesen wäre, als seine Eltern davon erfuhren, dass sie bezüglich des Reiseziels belogen worden waren. So hatte die Verletzung letztlich doch noch etwas Gutes, meinte sie, auch wenn es zunächst gar nicht danach ausgesehen hatte. Athaly teilte diese Einschätzung nicht. Sie machte sich Sorgen und gab sich immer noch die Schuld, obwohl sie wusste, dass das, rational betrachtet, Unsinn war. Tjonre und Elri hatten ihn im Spital besucht, aber ihre Kinder und sie nicht mitgenommen. „Er braucht Ruhe“, hatte Tjonre gemeint und das stimmte wohl auch. Anwin war – wie sie durchaus bemerkt hatte – davon, dass er nicht mitkommen durfte, sichtlich nicht begeistert gewesen, denn er interessierte sich für alles, was mit „richtiger“ Medizin zusammen hing, also mit einer, die nur mit Heilung und nicht mit Schädigung verbunden war. Auch die Untersuchungen in der Raumstation hatten ihn fasziniert, während Athaly bereits an Trennungsschmerz gelitten hatte und sich kaum für die zahllosen Geräte in der Isolierstation erwärmen konnte, die Anwin so enthusiastisch betrachtete. Sie hatte diesen normalerweise so ruhigen, etwas bleichen, jungen Mann erstmals wirklich lebhaft gesehen.
Mittlerweile ging das Leben auf der Sirenen-Farm seinen gewohnten Gang oder jedenfalls fast. Athaly blickte zu der großen Wiese vor der Lagerhalle. Ihmga, Gjefrens jüngste Schwester, eine schlanke Erscheinung mit langen, blonden Haaren, übte offenbar Bogen schießen, während ihr Vater, schwer mit Sirenen beladen, ächzend an ihr vorbei schritt.
„Willst du mir nicht helfen?“, fragte er im Vorbeigehen seine Tochter.
Sie wandte sich ihm zu und antwortete ihm süß lächelnd und mit den Augenlidern klimpernd: „Mein Mitleid mit dir ist zwar groß, aber doch nicht sooo groß, dass ich wirklich mitleiden will!“ Tjonre sackte ein wenig zusammen und trottete mühselig weiter.
„Sollen wir ihm nicht helfen?“, fragte Athaly irritiert.
„Sollen wir nicht“, erklärte ihm Thamga. „Es geht um eine Art Protest. Die Ernte war jetzt schon einige Jahre sehr gut. Was sage ich? Sie war ausgezeichnet! Wir haben das Geld, um uns einen Transportroboter anzuschaffen. Wenn das Gelände da unten für einen normalen Wagen auch zu schwierig ist, ein Roboter hätte keine Probleme. Aber mein Vater will nicht; schließlich haben wir das seit Tausend Jahren so gemacht, wieso sollten wir das plötzlich ändern?“ Sie sprach voller Nachdruck. „Alterssturheit!“, ergänzte sie seufzend. „Und so protestieren wir. Irgendwann muss er ja nachgeben. Hoffentlich. Und dann bringen wir ihn auch noch dazu, einen Ernteroboter zu besorgen. Na gut, der ist ein bisschen teurer.“
Sie schlenderten weiter zu Ihmga, die finster in Richtung Zielscheibe lugte. Etwa die Hälfte der Pfeile waren schön gleichmäßig auf ihr verteilt, die anderen steckten irgendwo dahinter im Rasen. Sie blickte zu Thamga und erläuterte mit großer Überzeugung:
„Natürlich habe ich immer getroffen. Aber ungefähr jeder zweite Pfeil ist durchgetunnelt. Das ist eine quantenmechanische Scheibe.“ Athaly wusste nicht, was das war. Die Zielscheibe sah eigentlich ganz normal aus, mit einem roten Kreis in der Mitte und einer weiß gefärbten Peripherie.
„Ihr nehmt wohl in der Schule gerade Physik der Antike durch?“, fragte Thamga. „Lustig, was sich die Leute auf der Erde alles haben einfallen lassen, bevor Wolfram Echsner die Enigma-Theorie entwickelte.“
„Ja! Sie haben damals gelernt, Urin zu spalten!“, krähte Djamig begeistert. Seine älteste Schwester, Thamga, rollte die Augen und korrigierte:
„Uran! Es war Uran.“
Djamig ließ sich, ob des kleinen Unterschieds, nicht beirren und blieb enthusiastisch. „Genau! Wir machen die alte Physik und die Evolutionstheorie! Quantenflosser! Quastentheorie! Wenn du was wissen willst darüber, frag' mich! Ich bin Experte!“ Er grinste übers ganze Gesicht mit leuchtenden Augen und war so überzeugt von sich, dass auch Athaly nicht den geringsten Grund sah, an seinem Wissen zu zweifeln. Aber sie wusste buchstäblich nichts von Quantenflossern und auch nicht von Quastentheorie und hatte daher schlicht nicht die Möglichkeit, Fragen zu stellen.
Ihmga rannte, irgendetwas vor sich hin summend, über die Wiese und sammelte die Pfeile ein. „Dafür bin ich Expertin im Bogenschießen“, sagte sie schließlich als sie fertig war. „Ich kann dir alles darüber erklären, wie man schießt. Es gibt in der ganzen Schule niemanden, der das besser macht als ich.“ Sie hielt Athaly Bogen und Pfeile hin. „Willst du auch einmal?“ Athaly nickte und nahm Sportwaffe und Munition entgegen. Der Bogen war einfach, aber brauchbar, fand sie.
„Letztes Jahr habe ich alle Meisterschaften gewonnen und ...“, erzählte Ihmga, brach dann aber ab, um zuzusehen. Athaly stellte sich dorthin, wo vorher Ihmga gestanden war, nahm den ersten Pfeil, zielte ganz kurz und schoss. Zielte und schoss, unglaublich rasch, bis kein Pfeil mehr da war. Dafür steckten sie alle im Zentrum der Scheibe, eng aneinander geschmiegt als hätten sie sich besonders lieb. „Äh...“, machte Ihmga, war aber sonst sprachlos.
„Was habe ich falsch gemacht?“ Athaly klang verunsichert. Wenn das eine quastenmechanische Scheibe war, wieso tunnelte keiner ihrer Pfeile durch? Thamga begann zu lachen und Ihmga lief knallrot an, zumindest ihr Gesicht.
„Du darfst nicht alles glauben, was Ihmga dir erzählt. Es gibt keine quantenmechanischen Zielscheiben“, meinte Thamga. Athaly fand, sie müsse sich verteidigen: „Wenn es hier Räume gibt, in denen es regnet, woher soll ich dann wissen, dass es keine Quanten-Quasten-Dings-Scheiben gibt?“ Ihr Gesichtsausdruck spiegelte fast so etwas wie Verzweiflung wider.
„Verdammt“, dachte Ihmga laut, immer noch auf das Pfeilbündel schauend. „Sie muss an den Planetenmeisterschaften teilnehmen! Was für ein Talent! Und ICH habe sie entdeckt!“
Ein Lichtblitz zog Athalys Aufmerksamkeit auf sich. Ein zartes, junges Mädchen mit langen, gleichzeitig schwarzen und auch gleißenden Haaren lief ihnen anmutig entgegen und rief irgendetwas. Ihre Haarpracht nahm die Laufbewegung mit, schlängelte sich wie bei einer Gorgone und erzeugte darob ein unwirkliches, überaus buntes Funkeln, das ganz erstaunlich anzusehen war. Man konnte sich von dem Anblick kaum losreißen. In Wirklichkeit war dieses Fräulein mit dem regenbogenumrahmten, zarten Gesicht, das wusste Athaly inzwischen, gar nicht mehr jung. Trotz ihrer Erfahrung mit dem Juwel von Galahar fiel es ihr sehr schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass dies Gjefrens Mutter war und die seiner vier Geschwister und mehr als drei Dutzend Jahre alt. Sie winkte wild mit den Händen. Dann war sie nahe genug, dass man sie verstehen konnte. „Gjefren kommt! Gjefren kommt! Seht nur!“ Sei deutete auf den türkisfarbenen Ozean, wo ein weißes, nicht gerade großes Schiff etwas über der Oberfläche des Meeres auf sie zu schwebte. Es hielt nun genau auf die kleine Bucht zu, die als Hafen der Farm Verwendung fand, wurde langsamer und sank mit einem lauten Platschen in die Wellen, die heute nicht mehr waren als ein leichtes Kräuseln der See. Es hielt auf den Steg zu. Athaly ließ den Bogen fallen, rannte los und hatte Elri bald eingeholt. Es machte ihr Spaß, sich schnell zu bewegen und eine gewisse Sehnsucht wirkte beflügelnd auf sie. Sie kam schnell näher und nun war an Bord eine große, schlanke Gestalt mit leuchtend blondem Haar deutlich auszumachen. Er wirkte wie ein Hybrid aus Mensch und Insekt, was an dem künstlichen Exoskelett lag, das ihn einhüllte. Sie wusste, dass Gjefren gehofft hatte, bereits an Bord des Raumschiffes so eine Bewegungshilfe zu bekommen, aber das Medisystem war nicht gut genug ausgestattet gewesen. Also hatte er den ersten Teil der Reise liegend verbringen müssen, dann hatten sie zeitweise die künstliche Gravitation ausgeschaltet, um ihm ein wenig Bewegungsmöglichkeit zu geben. Er winkte unbeholfen, ein bisschen wie ein antiker Ritter in seiner Rüstung. Die Plumpheit der Bewegung war eine Folge des mangelnden Trainings, nicht der Leistungsfähigkeit des filigran wirkenden Außenskeletts. Schließlich war Gjefren am Ziel, nahm ein daumendickes Seil in die Hand und warf es, nicht ohne Mühe und Fluchen, in Richtung Elri, dann ein zweites zu Athaly. Die beiden halfen beim Vertäuen des Bootes. Eine kleine, aus wenigen Stufen bestehende Treppe mit Geländer senkte sich auf den Steg, den Gjefren, vorsichtig den Handlauf verwendend, mit einiger Anstrengung schließlich betrat. Athaly blickte zu Elri, die daraufhin lächelte und eine Geste in Richtung Gjefren machte. Sie ließ ihr also den Vortritt. Das brauchte sie nicht zweimal anzudeuten, flugs umarmte sie ihren Freund und er sie, etwas zu intensiv.
„Au!“
„Tschuldige! Ich kann noch nicht ganz abschätzen, wie viel Kraft das dämliche Skelett entwickelt. Sind alle Knochen noch ganz?“ Er blickte ein wenig ängstlich, was sie zum Lachen brachte.
„Ja, ja, alles gut. Viel wichtiger: wie geht es dir?“
„Ich muss nicht mehr liegen, ein Traum! Ich fühle auch wieder etwas, sogar in den Zehen. In einem Jahr oder so sollte ich ohne dieses Ding auskommen.“ Er winkte nun auch den anderen, die inzwischen alle auf dem Steg standen, sogar Tjonre. Dann fuhr er besorgt fort: „Aber was ist mit dir? Fühlst du dich wohl hier, wenigstens ein bisschen? Du kannst immer zurück, das weißt du. Wenn du es hier nicht mehr aushältst ...“.
Sie hatten es ihm nicht gesagt, weder Nisaya noch sie. Sie konnte nicht zurück nach Gaia, nie wieder. Sie würde es ihm nicht erzählen, niemals. Er sollte nicht das Gefühl haben, dass sie nur deshalb bei ihm blieb, weil sie keine andere Wahl hatte. So war es ja auch nicht. Sie blickte ihm in die Augen. „Es ist sehr schön hier und alle sind freundlich zu mir. Es gefällt mir sehr gut.“ Dann schmiegte sie sich so eng an ihn, wie nur möglich und sagte breit lächelnd: „Ich liebe dich so sehr!“

 

Andere Bücher

Von Jan Palisa sind bislang folgende Titel auf BookRix erschienen:

 

Tochter der Titanin I:
Die Sklavin
Die Göttin

 

Tochter der Titanin II:
Intermezzo: Die Rache des Heilers
Rückkehr nach Historia

 

Tochter der Titanin III (finale Version):
Die Büchse der Pandora


Alle Bände sind auch als Taschenbuch (neobooks, epubli) erhältlich.

 

 

Fragmente

    Der Schatten der Zeit

    Alitha

    Das Nebelmonster

 

Impressum

Texte: Jan Palisa
Bildmaterialien: Armin Tiefenbrunner
Cover: Armin Tiefenbrunner
Lektorat: Astrid Tiefenbrunner
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /