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Intermezzo: Die Rache des Heilers

Prolog

In der letzten Stunde des Tages, wenn die brütende Hitze langsam weicht und - besonders wenn eine kühle Brise vom Rand der Welt über die Stadt streicht - man wieder frei atmen kann, kehren die meisten Sklaven zurück zu ihren primitiven Hütten. Oft hört man sie auf ihrem Weg ausgelassen tratschen, ja sogar Gelächter vernimmt man vereinzelt – selbst das harte und grausame Leben eines Unfreien kann das Bedürfnis der Menschen nach Freude nicht ganz unterdrücken. Dann aber verstummen sie plötzlich, blicken betreten zu Boden, furchtsam, viele machen verstohlen das Zeichen gegen Unheil oder murmeln ein kurzes Gebet an U’Xetes, den schrecklichen Gott ihrer Herren. Sie sehen nicht auf, bevor sie nicht am Haus der Heiler vorbei sind, das viel größer ist als ihre Baracken und sogar aus gebrannten Ziegeln gefertigt. Sie haben Grund die Heiler ängstlich zu meiden; viele von ihnen, besonders diejenigen, die von ihren Herren als weniger nützlich eingestuft wurden, weisen Verstümmelungen auf, entstellende Narben im Gesicht, sogar fehlende Gliedmaßen sind keine Seltenheit.
Oft sitzt der junge Heiler um diese Tageszeit vor dem Haus und wartet. Er scheint den Strom der Geknechteten nicht wahrzunehmen, auch nicht die vielen Verkrüppelten unter ihnen. Warum sollte er auch, sie sehen ihn ja nicht an! Dann aber kommt das einst so hübsche Mädchen mit dem verdorrten Auge an ihm vorbei. Sie verdeckt mit der Hand oder ihren langen, dunklen Haaren das milchige, narbige Etwas und blickt mit dem großen, gesunden Auge sehnsüchtig zu ihm. Wie immer schaut er nicht zurück und sie wendet sich schließlich verletzt ab, fürchtet, er kann ihre Hässlichkeit nicht ertragen, aber das ist es nicht, für ihn ist sie so schön wie ehemals. Es ist die Scham, die ihn jeden Kontakt mit ihr meiden lässt, seit Jahren schon, denn er weiß, dass eigentlich er der Einäugige sein müsste, der Verstümmelte, der Abstoßende. Aber er ist makellos und die Unversehrtheit seines Körpers empfindet er ihr gegenüber wie eine unerträgliche, entsetzliche Entstellung.
So gerne würde das Mädchen zu ihm hingehen und ihn fragen: „Worauf wartest du?“ Aber sie wagt nicht, sich dem Abweisenden zu nähern. Und auch er sehnt sich insgeheim danach, dass sie zu ihm käme und ihm diese Frage stellen würde. Und dann könnte er antworten, dann würde er antworten: „Auf den Zeitpunkt der Rache!“
Und er fühlt, dass dieser Zeitpunkt bald gekommen ist.
***
Das Mädchen und die alte Frau
Schon von weitem konnte er Issa sehen, das kleine Mädchen mit den langen dunklen Haaren, den großen, rehbraunen Augen und der zierlichen Gestalt. Sie hockte auf dem einsamen Felsen, der aus der Landschaft ragte wie die Nase aus dem Gesicht. Jetzt, da sie seiner ansichtig wurde, begann sie wild zu winken und selbst auf diese Entfernung konnte er ihre sehr weißen Zähne aufblitzen sehen. Er winkte zurück, genauso begeistert. Er trieb den alten, lethargischen Esel zu etwas mehr Eile an, aber K‘nu reagierte nicht, wackelte nicht einmal mit den Ohren sondern schritt in seinem gemächlichen Einheitstempo voran. Genau genommen wusste Anwin nicht einmal mehr, warum er überhaupt noch versuchte, K´nu anzutreiben, er hatte noch nie Erfolg damit gehabt.
Issa war nicht alleine; am Fuße des Felsens, der die Weggabelung markierte, stand ihre Mutter mit einem Sack aus groben Leinen, demselben selbstgewebten Stoff, aus dem auch Issas und ihr Kleid gefertigt waren. Neben ihr hielt nun K’nu, ohne jede Anweisung seinerseits und begann mit seinen riesigen Zähnen das trockene Steppengras zu zermalmen. Issas Mutter Leira war eine schlanke Frau mit honigfarbenem Haar, hellbraunen Augen und einer Haut, die nicht so dunkel war, wie die Anwins. Als Priesterin der Quelljungfern, guten Geistern, die die Quellen vor dem Versiegen bewahrten und damit die Stadt vor dem Verdursten, lebte sie überwiegend unter dem Blätterdach mächtiger Bäume, die nur wenig Licht bis zum Waldboden dringen ließen. Ihr Gesicht war frei von tiefen Falten, sie war also noch relativ jung, wenngleich nicht aus Anwins Sicht, der nur halb so alt war wie sie. Sie lächelte ihm freundlich zu.
Issa kletterte behände wie eine Felskatze von der Steinsäule und lief rasch auf ihn zu, ihr folgte ihre Mutter etwas gemächlicher.
„Hallo Anwin, nimmst du Issa mit in die Stadt?“, wollte Leira wissen.
„Gerne! Was ist denn in dem Sack?“ Anwin war die Freude anzumerken, die beiden zu treffen, er grinste von einem Ohr zum anderen. Issa hatte sie jetzt erreicht, streichelte K’nu am Hals und kletterte dann auf die Bank des Wagens, der mit Guri-Rüben vollgeladen war.
„Pilze“, antwortete sie anstatt ihrer Mutter, „wir haben sie heute in der Früh gesammelt und wollen sie gegen Stoff und Kräuter eintauschen“.
„Braucht ihr vielleicht ein paar Rüben?“ Als Leira nickte, reichte er ihr ein paar Stück, die sie geschickt in einem Beutel verstaute. Danach übergab sie Issa den Sack mit Pilzen.
„Danke! Ich hoffe ihr habt viel Spaß in der Stadt“. Sie winkte noch einmal und ging dann leichtfüßig auf den Waldrand zu, während der Esel seinen langsamen Trab in Richtung Ebene, hin zum Zentrum der Welt und in Richtung aufgehende Sonne, fortsetzte. Sie fuhren den Bach entlang, wo das Gras noch grün war. Issa und Anwin hatten sich seit einem Dutzend Tagen und einem nicht mehr gesehen und so gab es eine Menge zu besprechen, all jene kleinen Erlebnisse, die ein wenig über den Alltag hinausragten, wollten erzählt werden und drängten nach Aufmerksamkeit, die scheuen Tiere des Waldes, die Issa gesehen hatte und die Streitigkeiten in der winzigen Siedlung, die Anwin als seine Heimat betrachtete. Issa lebte mit ihrer Mutter alleine und so drängte es sie mehr nach einem Gespräch. Anwin hatte auch nicht so viel zu erzählen, Rüben ernten ist keine sehr ereignisreiche Tätigkeit, er konnte ihr aber immerhin seine geschundenen, von der Ernte wunden und zerkratzen Hände zeigen. Nach einer Weile verstummte das Geplauder, Issa räkelte sich in den Strahlen der noch horizontnahen Sonne und Anwin blickte sinnend vor sich hin.
„Woran denkst du?“ Issa war immer neugierig, aber sie kannte den Gesichtsausdruck ihres Freundes und der bedeutete eben, dass er über ein Erlebnis nachdachte und daraus seine Schlüsse zog und die konnten manchmal ganz interessant sein oder zumindest originell. Oder abstrus. Letztere waren die schönsten, fand Issa.
„Als ich das letzte Mal aus Erefendor zurückgekehrt bin“, begann Anwin, „vorigen Turtag war das, brauten sich mächtige, schwarze Gewitterwolken über dem Rand der Welt zusammen!“
Issa nickte, sie konnte sich gut an die Weltuntergangsstimmung und das anschließende Gewitter erinnern, das sie und ihre Mutter unter dem Felsdach nahe der Quelle gut überstanden hatten. Aber Anwin war da gerade mitten in der Steppe gewesen, eine sehr gefährliche Situation.
„Schließlich zuckten mächtige Blitze herab“, fuhr er fort, „sodass mir ganz angst und bange wurde. Und sie schlugen in der Welt ein.“ Issa wollte gerade erwähnen, dass sie auch fürchterliche Furcht gehabt hätte in dieser Situation, als die Pointe kam. „Aber nicht alle.“
„Manche ziehen auch von Wolke zu Wolke, das habe ich schon gesehen“, bestätigte Issa oder meinte zu bestätigen, denn das war es nicht, worauf Anwin hinaus wollte und das machte er auch gleich klar: „Sicher. Aber ein Teil der Blitze schlug hinter der Welt ein, so hat es jedenfalls ausgesehen!“
„Hinter der Welt?“, fragte Issa, „aber es gibt doch kein ‚hinter der Welt‘! Am hohen Weltenrand beginnt der mächtige Himmelssee, der sich über uns wölbt und in dem die Sonne schwimmt und die Sterne, die Löcher zu der Welt sind, in der die Götter wohnen. Dort, wo der Schreckliche Gott U‘Xetes herrscht, den wir um Gnade anflehen müssen, dass er uns verschont.“
„So lernen wir das“, bestätigte Anwin kopfnickend. „Aber wenn das wahr ist, wie können dann Blitze hinter dem Weltenrand einschlagen?“
„Könntest du dich nicht getäuscht haben? Vielleicht haben die Blitze gaaanz genau am Weltenrand eingeschlagen! Könnte doch sein, oder?“
„Wenn Blitze einschlagen, wird es rund um die Einschlagstelle immer hell, das wäre auch am Weltenrand so. Wurde es aber nicht Issa, wurde es aber nicht. Was, wenn es etwas hinter dem Weltenrand gäbe, Länder meine ich!“
„Und wer stützt dann den Himmelsee?“, fragte sie.
„Wie kann man einen See stützen, das ist doch sowieso völliger Blödsinn!“
„Hmmm. Aber wenn es Länder jenseits des Weltenrandes gäbe, müssten dann nicht gelegentlich Menschen von dort kommen? Falls es dort Menschen gibt, meine ich.“
„Der Weltenrand ist eben ein sehr hohes Gebirge, das niemand überwinden kann, und er umgibt uns ja wie ein Kreis. Oder aber es gelingt gelegentlich doch jemandem, aber dann wird er vielleicht von den Priestern der sechs Randfestungen erschlagen, könnte ja sein.“
„Ich glaube nicht, dass die Priester so grausam sind, Mutter kennt immerhin ein paar, aber selbst wenn es so ist … wenn das mit dem Himmelsee nicht stimmt, wo wohnen dann die Götter?“
Das gab Anwin zu denken, er sinnierte eine Weile. Dann flüsterte er: „Vielleicht gibt es ja gar keine Götter!“ Issa zuckte zusammen und zog den Kopf zwischen die Schultern. Der erwartete, strafende Blitz blieb aber aus.
„Wie kannst du so etwas sagen! Als Mutter in Ur’Tragon war, in unserer Schutzstadt und in der sechseckigen Pyramide ihre Weihe erhalten hat, da ist den Adepten U’Xetes erschienen, in all seiner Pracht!“
„Wirklich? Das hast du nie erzählt! Wie hat er denn ausgesehen?“
„Sie hat es mir auch erst vor kurzem gesagt. Genauso, wie er immer dargestellt wird! Stell dir einen sehr großen Mann vor, dem noch mal Beine aus dem Kopf wachsen, ebenso lang wie seine anderen Beine …“
„So hat er ausgesehen?“ Issa war ob des häretischen Zwischenrufs entsetzt und blickte Anwin finster an. „Nein! So hoch war er, deutlich höher als jeder Mensch und sehr breitschultrig und seine Haut war golden und leuchtend und strahlend und seine Augen waren riesengroß und vielfärbig wie ein Regenbogen.“
Anwin kannte das von diversen Darstellungen. „Und die Flügel? U’Xetes wird doch immer geflügelt gezeigt!“
„Also das ist irgendwie anders. Was aus seinem Rücken hervortritt, sind eher Strahlen, bunte Lichtbündel, die nach beiden Seiten ausgesendet werden und ständig in Bewegung sind. So hat Mutter das geschildert. Aber natürlich hat sie nur ganz kurz hingeschaut. Wer U’Xetes in all seiner Pracht ansichtig wird, kann dem Wahnsinn anheimfallen. Mutter wollte das verständlicherweise nicht riskieren.“
Sie verstummten. Dann hatte Anwin wieder einen seiner abwegigen Einfälle. „Vielleicht leben die Götter ja gar nicht im Himmel, hinter dem Dunkel, sondern in Ländern hinter dem Weltenrand! Könnte doch sein, oder?“
Issa verzog das Gesicht als hätte sie etwas sehr Saures geschmeckt und blickte ihn zweifelnd an. „Du solltest jedenfalls nicht Priester werden wollen, wenn du den Oberpriestern solche Sachen erzählst, senkt das deine Lebenserwartung erheblich. Sie würden dich nach Ur’Agron schicken und dort den alabasterfarbenen Dienern der Götter als Nahrung vorwerfen. Du weißt doch, die essen nur Menschenfleisch, ausschließlich.“
Anwin schauderte. Ur’Agron war die bedeutendste der sieben Schutzstädte am Zentralen See, mit dem größten Heiligtum, einer gewaltigen hexagonalen Pyramide, gegen die diejenige von Ur’Tragon winzig wirkte. Wer im Einflussbereich von Ur’Agron lebte, musste damit rechnen, versklavt zu werden und letztlich bei einem grausamen Ritual zu sterben, um schließlich die Nahrung der Götterdiener zu werden. Zum Glück war Ur’Agron nicht ihre „Schutz“-Stadt.
„Alabasterfarben!“, schnaubte Anwin, „wie in der Wüstensonne gebleichte Knochen sollen sie aussehen! Du hast recht, den Priestern werde ich diese Geschichten besser nicht erzählen, nicht einmal deiner Mutter.“
Issa nickt heftig. „Gut so!“ Und nach einer Weile fügte sie hinzu: „Aber interessant sind deine Gedanken trotzdem!“
„Außerdem bin ich sowieso von zu niedriger Geburt, um Priester werden zu können“, ergänzte Anwin und blickte Issa dabei nicht ins Gesicht, die sich in diesem Augenblick des Standesunterschieds wegen schämte.
Mittlerweile waren sie Erefendor so nahe gekommen, dass sie bereits die hölzernen Palisaden sehen konnten, den Schutzwall, der die Stadt nach allen Seiten hin umgab. Der Bach, den sie entlang gefahren waren, hatte sich mit zwei weiteren vereinigt und jenen kleinen Fluss gebildet, dessen Bett mitten durch Erefendor führte und der Stadt in der kargen Steppe Leben spendete. Das Gras an seinen Ufern war satt und dunkelgrün, Grillen zirpten allerorts und aus den niedrigen Büschen klang der monotone Gesang der Zikaden. Vor der Stadt, jetzt schon deutlich zu erkennen, wuschen Frauen ihre Kleider, Mägde für ihre Herrinnen, die die Tätigkeit überwachten.
Leider war da aber noch jemand, den Anwin gut kannte, aber wenig schätzte, Egner, der Sohn des Statthalters von Ur’Tragon in Erefendor, ein seltener Tunichtgut in Begleitung mit zwei anderen Taugenichtsen, versperrte ihm den Weg. Egner war einen Kopf größer als die beiden anderen, ein stämmiger Junge mit rundem Gesicht, heller Haut und ebensolchen Haaren, der dazu neigte, seine physische Überlegenheit zu nutzen, um zusammen mit seinen Anhängern Kleinere zu schikanieren. Links neben ihm stand ein schmaler Junge mit Wieselgesicht und zu Berge stehenden Haaren, rechts ein recht dickes Individuum mit ungesund schlapper Haut. Ihr Gewand aus feinem, gefärbtem und daher teurem Stoff, verziert mit Silberknöpfen und Stickereien verriet ebenso wie die Sandalen aus edelstem Zivtotter-Leder, dass alle drei zur obersten Schicht Erefendors zählten.
„Sei gegrüßt Issa, Tochter der Quellpriesterin! Warum umgibst du dich immer mit diesem Geschmeiß aus der Randsiedlung? Aber vielleicht passt du ja zu diesem blöden Volk und bist nicht nur hässlich sondern genauso beschränkt wie die?“ Egner hatte wie so oft ein höhnisches Grinsen aufgesetzt, das in Anwin stets den Wunsch erweckte, es aus dem feisten Gesicht heraus zu prügeln, aber dazu war Egner zu stark und außerdem war er ja in Begleitung seiner konidiotischen Freunde.
Issa antwortete nicht, weil sie gelernt hatte, dass das sinnlos gewesen wäre, derartige Attacken gegen Anwin waren ja keine Seltenheit. Anwin hatte sich in der Vergangenheit ebenfalls zurückgehalten, es war ihm klüger erschienen, den Spott geduldig zu ertragen, hatte er doch bislang stets nur seine Person betroffen und nicht auch die Issas. Diesmal war das anders, Zorn schwappte wie eine rote Welle über ihn, ließ die Vernunft zu einem infinitesimalen Pünktchen zusammenschrumpfen und er konterte mit jenem diplomatischen Geschick, für das er in der Siedlung bekannt war: „Geh uns aus dem Weg, du vertrottelte Missgeburt! Deine Mutter hätte dich in der Windel erwürgen sollen als sie gesehen hat, dass du mit zwei Hintern geboren wurdest, einer dort, wo andere Leute ihren Kopf haben. Wenn du versuchst, zu sprechen, kommen nur Furze heraus! Verschwinde, wenn du nicht willst, dass K’nu dich zertrampelt!“ Anwin versuchte vergeblich K’nu zu rascherer Bewegung anzutreiben. Egners Gesicht wurde zwar rot vor Wut, aber er wich nicht und während Anwin sich vorstellte, der Esel sei ein feuriges Ross, das die drei Widerlinge niedergaloppierte, blieb K’nu, der Verräter, stehen und begrub sie nicht unter seinen Hufen.
Während die beiden anderen weiterhin den Pfad blockierten, rannte Egner erstaunlich rasch auf Anwin zu, packte ihn am groblinnernen Hemd und zerrte ihn zornerfüllt von seinem Sitz.
„Du kleiner Wicht, bislang habe ich dich verschont, aber jetzt ist der Tag gekommen, wo du deine verdiente Abreibung bekommst!“ Er drückte ihn mit dem Gesicht zu Boden. „Da, schluck Staub!“ Anwin war recht unsanft auf den Boden geprallt und ein scharfkantiger Stein kratzte seine Wange auf, Blut floss. Um nicht wirklich Staub einzuatmen, hielt er die Luft an, was Egner, das Ekel, bemerkte. Er drehte ihn herum, setzte sich schwer auf seinen Bauch und begann, ihn mit seinen klobigen Händen zu würgen. „Wenn du den Atem anhalten willst, bitte sehr, da kann ich dir behilflich sein!“ Anwin versuchte vergeblich mit seinen Beinen den Koloss von sich herunter zu werfen und rammte ihm schließlich die Faust in die Seite, allerdings ohne jeden merkbaren Effekt.
Issa sprang vom Wagensitz, hakte sich an Egners feistem Hals ein und schrie aus Leibeskräften: „Geh runter von ihm, du erdrückst ihn ja!“ Inzwischen tanzten bereits rote Punkte vor Anwins Augen, denn Issas Angriff hatte nur kurz dazu geführt, dass Egner seinen Griff lockerte; jetzt hielten die Hände seinen Hals wieder wie im Schraubstock fest. Nun mischten sich auch noch Egners abscheuliche Freunde ein und zerrten die wild strampelnde Issa von den beiden Kontrahenten weg. In Anwins Ohren begann es wie ein Wespenschwarm zu summen und Panik erfüllte ihn zunehmend – er ergriff die Handgelenke seines Gegners und versuchte dessen Hände von seinem Hals wegzudrücken, vergebens. Das Bedürfnis zu atmen wurde übermächtig und quälend, aber immer noch drückte Egner zu, Anwins Furcht erreichte seinen Höhepunkt. In diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges, die Welt wurde ruhig und unwirklich als würde sich der Augenblick in die Ewigkeit dehnen und als fließe eine unendliche, mentale Kraft in seinen Körper und von dort hinaus durch seine Hände. Kurz wurde alles dunkel. Dann ging dieser Zustand aber vorbei, Anwin fühlte sich plötzlich besser, hatte das Gefühl durch Egners Lunge zu atmen, während der Junge über ihm im Gesicht dunkelrot anlief und nun er es war, der voller Panik aus weit aufgerissen Augen auf Anwin herabblickte. Egner ließ Anwin los und griff an seinen eigenen Hals. Im gleichen Moment atmete er abrupt, tief und röchelnd ein, wie einer, der zu lange unter Wasser gedrückt wurde und nun wieder die Gelegenheit bekommt zu atmen. Erschreckt sah Egner auf seine Hände, unter den Fingernägeln tropfte Blut hervor und Anwin sah, dass auch aus seiner rechten Wange ein Blutrinnsal hervorquoll. Egner sprang auf, sah Anwin zutiefst erschrocken an, flüsterte: „Du abscheuliche Missgeburt, das ist Magie!“, und rannte dann so schnell er konnte auf die Stadt zu. Seine beiden Begleiter sahen sich verblüfft an und folgten ihm schließlich langsamer.
Verdutzt blickte Anwin ihm nach, sah nach Issa, ihre Haare waren zerzaust und das Gesicht staubig, abgesehen davon schien es ihr offenbar recht gut zu gehen. Sie erhob sich etwas mühselig und ging auf ihn zu. Sie hatte vorhin seine aufgerissene Wange gesehen aber da war jetzt nichts mehr, außer einem bisschen getrockneten Blut. Die Haut war glatt und makellos. Staunend trat sie näher und berührte ihn dort, wo eigentlich die Wunde sein sollte. „Anwin, was ist geschehen?“ Anwin ergriff sanft ihre Hand während er aufstand, betastete dann ebenfalls seine Wange, beide Berührungen fühlten sich merkwürdig an. Dann blickte er auf seine Hände, die nicht mehr geschunden wirkten, sondern so als hätte er noch nie gearbeitet. Verblüfft betrachteten die beiden seine Finger. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht Issa, ich weiß es wirklich nicht.“ Leise flüsterte Issa: „Das Gesetz von U’Xetes, dem Gerechten Gott: was dem einen gegeben wird, muss dem anderen genommen werden. Hast du Egners Finger und seine Wange gesehen? Er blutet dort, wo du jetzt geheilt bist! Hat U’Xetes selbst eingegriffen um dich vor Unheil zu bewahren?“
„Wohl kaum“, meinte Anwin, „schließlich wird er normalerweise nur von den Herren Ur’Agrons so genannt, alle anderen nennen ihn den ‚Schrecklichen Gott‘ und der wird einem Nichts wie mir sicherlich nicht helfen. Aber merkwürdig ist das schon, sehr sogar. Es war so ein eigenartiges Gefühl, als schwebte ich plötzlich auf einer Wolke und hätte Macht über die Lebensenergie von Egner dem Ekel.“
„Man hört, dass es in Ur’Agron tatsächlich Menschen gibt, die diese Macht haben. Sie rauben die Lebensenergie von Sklaven, um den Adeligen der Stadt ihre Leiden zu nehmen. Auch die Herren von unserer Schutzstadt Ur’Tragon pilgern in die Erste Stadt, damit ihre Gebrechen geheilt werden. Aber nur wenige Menschen haben diese Begabung. Glaubst du, du gehörst dazu?“
Anwin lachte laut, wenngleich ein wenig unsicher, auf. „Bestimmt nicht! Unzweifelhaft bin ich bar aller besonderen Fähigkeiten, das kannst du mir glauben! Wäre es anders, hätte ich es längst merken müssen! Das Ganze war Zufall oder sonst was.“
Issa blickte aus großen Augen zu ihm auf. „Aber stell‘ dir nur vor, welch Ansehen du als Heiler der Herren genießen würdest. Du könntest reich werden und müsstest nie wieder Guri-Rüben ernten oder aussähen oder Unkraut jäten oder …“
„Aber zu welchem Preis!“ unterbrach er sie. Kurz hatte er sich ein reiches und prächtiges Leben vorgestellt und nun ekelte ihm vor sich selbst, weil er einen Moment bereit gewesen war darüber nachzudenken, sich den Regeln des Schrecklichen Gottes zu unterwerfen. Er schauderte. „Wer sollte darüber entscheiden, wem genommen werden soll, was ich den Adeligen und den anderen Mächtigen und Reichen gebe? Aber egal, ich bin kein Heiler und werde nie einer sein! Es war Zufall!“ Er sprach das mit Vehemenz aus, als wollte er sich selbst überzeugen.
Anwin klopfte sich den Staub vom Gewand, schritt auf den Wagen zu, ergriff K’nus Leine und setzte sich, Issa nahm wieder neben ihm Platz und K’nu, der sich während der vorangegangenen Ereignisse durch Teilnahmslosigkeit ausgezeichnet hatte, verfiel wieder in seinen Trott. Sie näherten sich dem Schutzwall und blickten hinauf zu den wenigen Soldaten, die auf dem Gang in der Höhe der Palisaden patrouillierten. Auch beim Stadttor standen zwei müde Wächter in einer leichten Rüstung, mit Schild, Speer und einem Kurzschwert an der Hüfte. Anwin grüßte sie und einer von den beiden machte sich sogar die Mühe, den Gruß zu erwidern. Ihr Ziel war Erefendors Mitte, ein unbebauter Bereich, der als Marktplatz diente. Um ihn zu erreichen, mussten sie nur weiter dem Fluss folgen, denn der Markt war in einer Flussschleife angelegt. Sie waren spät, die Sonne stand jetzt bereits höher und die Diener der Reichen und Vornehmen würden bald erscheinen, die Frühesten mochten schon dort sein, denn viele Händler hatten um diese Zeit ihre Verkaufstische bereits aufgebaut.
Anwin hatte keine Freunde unter den anderen Händlern, aber auch keine Feinde. Sie tolerierten einander, selbst diejenigen, die das gleiche Produkt verkauften, denn es gab genug Abnehmer. Die meisten waren entweder jung wie er oder schon sehr alt, auch schwangere Frauen waren unter den Verkäufern, alle die am Feld nicht, nicht mehr oder noch nicht volle Arbeitskraft erbringen konnten. Natürlich waren auch Menschen darunter, die ein wenig Zeitvertreib wollten, wie das ja auch für Issa galt, die allerdings heute schon mehr Abwechslung gehabt hatte als erwünscht.
Schon bevor sie den Markt erreichten, konnten sie ihn mit der Nase wahrnehmen, die intensivsten Gerüche waren nicht die angenehmsten, frisch gegerbtes Leder, geräucherter Fisch oder verdorbene Waren, die zu spät im Fluss entsorgt worden waren. Aber es roch auch nach geselchtem Gazellenfleisch, nach den süßen Zindri-Melonen und nach frischer Zohjamilch von den kurzbeinigen Zohja-Ziegen, die auf den kargen Weidegründen rund um die Stadt ihr Auslangen fanden. K’nu hielt auf die beiden beeindruckenden Pappeln zu, die den Eingang zu Flussschleife flankierten. Als sie die Engstelle passierten, kam ihnen eine pummelige Rothaarige mit zornigem Blick und wogendem Busen entgegen und stellte sich ihnen in den Weg. ‚Nicht schon wieder‘, dachte Anwin bei sich. Aber dieser Tag war für Unannehmlichkeiten geschaffen worden, so schien es. Er kannte das dickliche Mädchen gut, aber Freundschaft herrschte zwischen ihnen nicht, normalerweise ignorierten sie sich. Ihr Name war Pati, aber viele nannten sie hinter vorgehaltener Hand „Egners Matratze“, seit sie zum Zeitvertreib eine Liebschaft mit dem Sohn des Statthalters begonnen hatte. Anwin kannte Matratzen nur vom Hörensagen als eines jener unsinnigen Dinge, die die Reichen besaßen, aber er wusste, dass sie eine weiche Unterlage bildeten und weich war Pati, zumindest sah sie so aus. Momentan hatte sie aber einen ziemlich unangenehmen Gesichtsausdruck und Anwin ahnte, dass Egner wohl schon hier gewesen war.
„Hast du etwas Schlechtes gegessen Pati, du siehst aus als wäre dir übel! Es wäre nett, wenn du uns aus dem Weg gehen könntest, ich kann K’nu kaum mehr zurück halten! Es wäre tragisch, wenn er dich niedertrampelte, er ist so ungestüm!“ Pati wich tatsächlich zur Seite, wurde dabei aber die Botschaft los, wegen der sie hergekommen war und das sehr lautstark, sodass es jeder auf dem Marktplatz vernehmen konnte.
„Verschwinde, du Hexer aus der Randsiedlung, wir wollen dich hier nicht, du hast meinen Egner schwer verletzt mit einer Magie, die ohne Zweifel aus den Finsternissen der Unterwelt stammt. Abgründiges Dämonenwerk!“ Sie spuckte aus und blickte Zustimmung heischend zurück und tatsächlich konnten Anwin und Issa erkennen, dass es Egner gelungen sein musste, viele der Händler gegen sie aufzubringen. Die meisten sahen ihn ablehnend an und einige stellten sich demonstrativ auf die freien Plätze neben ihrem Stand.
Anwin hatte nicht vor, sich vertreiben zu lassen. „Er ist wohl kaum ‚dein Egner‘, so häufig wie er sich in der Hurensiedlung bei der Garnison herumtreibt! Er hat uns ohne jeden Grund angegriffen, hat Issa beleidigt und ist überhaupt ein Widerling! Das wisst ihr so gut, wie ich!“
Ein kräftiger Mann, der Fleischer, schaltete sich ein: „Aber er hat viele Freunde unter den Edlen der Stadt und die sind unsere Kunden! Er ist der Sohn des ersten Mannes hier und du solltest dir überlegen, wen du dir zum Feind machst! Wir können uns keinen Streit mit den bedeutendsten Bürgern Erefendors leisten. Und da wäre noch die Sache mit der Magie! Du kannst von Glück sagen, wenn du nicht gesteinigt wirst, also geh, solange dir das noch möglich ist. Das gilt natürlich nicht für dich, Issa, die Tochter der Quellpriesterin ist uns allzeit willkommen.“
Issa war völlig perplex ob der Ablehnung auf breiter Front. „Alles was Anwin gesagt hat, stimmt. Magie war da nicht am Werk, das werde ich bezeugen, wenn notwendig, und mir wird man glauben! Wie könnt ihr nur so feige sein?“
Anwin musste erkennen, dass Issas Worte nichts bewirkten, die Phalanx gegen ihn bröckelte nicht. Keiner am Platz schien bereit, für ihn Partei zu ergreifen. Aber die Siedlung brauchte das Geld aus dem Guri-Rübenverkauf! Stunden um Stunden der Mühsal sollten vergebens gewesen sein? Ohnmächtige Wut wollte ihm Tränen in die Augen treiben, da hörte er die Stimme der alten Frau: „Komm zu mir Anwin, hier ist Platz genug, kümmere dich nicht um die Feiglinge. Egner ist wirklich ein Widerling, das wissen alle. Er hält sich für was Besseres. Was ist mit dir, Issa? Willst du einen Becher warme Zohjamilch? Und du Anwin? Willst du eine fermentierte Sauermilch? Ich glaube, nach dem, was du heute erlebt hast, kannst du sie ausnahmsweise auch einmal am frühen Tag trinken.“
Anwin nickte und lächelte glücklich. Er sprang vom Wagen ohne den Zügel loszulassen und führte K’nu zum freien Platz neben den Stand von Sera, der Milchverkäuferin. Sera war eine große, schlanke Frau, die schon graue Strähnen in ihren sonst schwarzen Haaren aufwies. Ihre beiden Söhne waren Hirten einer vielköpfigen Zohjaherde, die Anwin immer freundlich grüßten, wenn er sie vor der Stadt traf. Sonst aber hatte er weniger Kontakt zu Sera als zu vielen anderen Händlern und war daher über ihre ehrliche Freundlichkeit ebenso sehr überrascht wie über die Leichtigkeit, mit der andere ihn fallen gelassen hatten. Er würde sich das merken! Anwin dankte ihr, hob die Platte des kleinen Tischs vom Wagen und steckte die Holzbeine routiniert in die entsprechenden Ausnehmungen. Da er den Tisch nicht wirklich brauchte, hieß er Issa, ihre Pilze darauf auszubreiten. Dann dankte er der freundlichen alten Frau, die ihn gerettet hatte, nochmals und er und Issa tranken erleichtert ihre Milch, denn die anderen Händler hatten sich nun abgewandt, der eine oder andere war vielleicht sogar ein wenig beschämt.
An diesem Tag ging der Guri-Rübenverkauf nur sehr schleppend, offenbar hatte Egner ihn auch bei den Bürgern angeschwärzt. Erst als die beiden anderen, die ebenfalls Rüben verkauften, ihren Bestand losgeworden waren, kamen die Leute auch zu ihm.
***
Das Spiel
Der Raum schwelgte in Pracht und Überfluss, edle Wandmalereien bedeckten die hohen Wände, die zahlreichen Fenster zierten Bögen; die Säulen, die sie trennten, prangten mit Elfenbeinschnitzereien und Einlegearbeiten aus Lapislazuli. Von hier konnte man aus luftiger Höhe das Leben und Treiben in der Stadt betrachten ohne ihre Ausdünstungen wahrnehmen zu müssen. Wer von hier hinabblickte, konnte sich erhaben fühlen, wie ein Gott und der Herr über den Turm zweifelte nicht daran, dass ihn nur wenig von den Göttern trennte.
An den beiden Eingängen knieten schöne Sklavinnen in kurzen seidenen Kleidern, um den Edlen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen und hinter ihnen standen Männer der Wache in prunkvoller, verzierter Rüstung, mit Schwertern mit goldenem Knauf und edelsteinverzierten Schildern, um Eindringlinge abzuwehren und die beiden, die am niedrigen, reich gedeckten Tisch auf bequemen Liegen ruhten, vor Attentaten zu beschützen, denn keiner der Herrscher war sonderlich beliebt.
Zagran, der Herrscher der Ersten Stadt Ur’Agron und damit der Herrscher der Welt, hatte sich auf seiner versilberten Liege ausgestreckt, hielt in der schlanken Hand einen goldenen Becher mit dem schweren, dunklen, fast öligen Wein, der in den Gärten an den südexponierten Hängen der Welt so prächtig gedieh und musterte amüsiert sein Gegenüber, den Cousin zweiten Grades, der ihm nur wenig ähnelte. Fenhawa war weniger schlank, aber genauso luxuriös gewandet wie Zagran und fluchte leise vor sich hin. Hätte er doch diese Reise niemals unternommen! Er war nach Ur’Agron gekommen, um sich heilen zu lassen, nachdem ihn nun schon viele Tage ein großer Furunkel am Gesäß geplagt hatte und zwar so sehr, dass ihm die Mühsal der Reise von Ur’Tragon hierher als vergleichsweise erträglich erschienen war. Fenhawa war ein teigiger Mann mit Vollmondgesicht, der Unannehmlichkeiten aus dem Weg ging, der gerne in Saus und Braus lebte, aber auch anderen das Leben nicht allzu schwer machen wollte. Seine Untertanen liebten ihn nicht, aber sie fürchteten ihn auch nicht und niemand sagte ihm Grausamkeit nach, während der Herr von Ur’Agron für seine Unmenschlichkeit bekannt war. Fenhawa hätte Zagran freiwillig nicht besucht, doch das Protokoll verlangte, dass er der Einladung des mächtigeren Mannes Folge leistete. Dass die Einladung nicht aus Freundlichkeit erfolgt war, sondern aus Kalkül, war Fenhawa von Anfang an klar gewesen. Zagran führte etwas im Schilde, wollte ihm Übles, davon war er von Beginn an überzeugt gewesen und genau so war es auch. Wie Zagran von seiner Anwesenheit in der Ersten Stadt erfahren hatte, war ihm rätselhaft, denn er war inkognito gekommen, um einem Treffen aus dem Weg zu gehen.
Fenhawas große Schwäche war das Glücksspiel und so war es für Zagran ein Leichtes gewesen, ihn nach dem feudalen, gemeinsamen Mittagessen dazu zu überreden; nun rollten schon stundenlang die Würfel über den kleinen Tisch mit der glatten Oberfläche und dem erhöhten Rand, nachdem die Herrscher sie in einem silbernen Becher geschüttelt hatten. Aber es war wohl Magie im Spiel, denn Fenhawa verlor und verlor, ein Vermögen hatte bereits den Besitzer gewechselt.
„Schluss, aus, du hast mir bereits einen beträchtlichen Teil meines Reichtums genommen, es genügt!“
Zagran, ein Mann mit hagerem Gesicht und buschigen, schwarzen Augenbrauen, fixierte ihn mit einem Schlangenblick. „Eine Runde noch! Ich setze alles was ich gewonnen habe und eine Wagenladung goldenen Zierrat gegen eine Kleinigkeit.“
Fenhawa schwitze. Gegen das Angebot, alles zurückzugewinnen und die Aussicht auf eine Vermehrung seines Besitzes konnte er sich nur schwer zur Wehr setzen, Gier blitzte in seinen Augen auf.
„Eine Kleinigkeit? Was für eine Kleinigkeit?“
„Einen winzigen Außensektor deines Einflussgebietes, der an mein Reich grenzt. Die Stadt Erefendor und die Ländereien, die in ihrem Hoheitsgebiet liegen. Ein unproduktiver Teil deiner Besitzungen, den du kaum vermissen wirst. Falls du überhaupt verlierst. Vielleicht sind dir ja die Götter hold!“
Wie jeder Spieler war auch Fenhawa davon überzeugt, dass sich das Glück ihm zuwenden würde, wenn er nur lang genug spielte und das Angebot war mehr als nur verlockend, denn Erefendor war ihm in der Tat nicht besonders wichtig, die Steuereinnahmen waren gering und er hatte dort einen Verwandten als Statthalter eingesetzt, den er wenig leiden konnte. So brachte er es nur zu einem halbherzigen Einwurf: „Aber Erefendor gehört seit sieben Generationen zu Ur’Tragon!“
„Und wahrscheinlich wird sich nichts daran ändern. Also?“ Zagran hielt ihm den Becher mit den Würfeln hin und nach kurzem Zögern ergriff ihn Fenhawa.
***
Der Sklavenhändler
Das Unheil kommt auf hurtigen Flügeln; es kriecht daher, langsam und unvermeidlich, eilt mit dem heißen Wüstenwind aus dem Süden oder den kalten Winterwinden, mit dem Sturm oder folgt der sanften Brise. Wie auch immer. Sicher ist, das Unheil kommt.
Das Unheil kam diesmal von Südosten auf Erefendor zu, eine rote Staubwolke in der selbst in den Morgenstunden schon glühenden, flirrenden Luft, die man zunächst nur vom Gang hoch auf der Palisade oder den Wachtürmen aus sehen konnte. Beim Näherkommen entpuppte sie sich als ein Reitertrupp, der ungewöhnlich eilig unterwegs war. Die Männer waren bewaffnet und viele – wenigstens ein Dutzend mal ein Dutzend – und so gaben die Wächter Alarm, denn die Garnison in Erefendor, die diesen Namen kaum verdiente, umfasste lediglich zwei Dutzend ständige Soldaten und etwa ein Dutzend Reiter, die in Erefendors Umgebung die Rolle der Ordnungsmacht inne hatten.
Die Wächter benachrichtigten T‘Ertos, den einzigen Offizier, Abkömmling einer unbedeutenden Adelslinie von Ur’Tragon. Er ließ sofort die beiden wenig beeindruckenden Stadttore schließen und der Signalton einer langen Trompete erschallte über der Stadt: Gefahr! Dann begab er sich zum Turm beim Osttor und blickte hinab auf das dräuende Ereignis und betrachtete es aus strategischer Sicht. Das hier waren unzweifelhaft zu wenige Männer, um Erefendor erfolgreich einnehmen zu können – das Quereturholz, aus dem der Wall bestand war praktisch unbrennbar und so mussten sie Brandpfeile nicht fürchten - und viel zu wenige für die Belagerung einer Stadt, durch die sich ein Fluss erstreckte. Die Menschen würden weder dürsten noch gar verdursten, das war klar. Ein Trupp näherte sich, kein Heer. Zudem umgaben die Reiter in einer Hufeisenformation drei prunkvolle Wägen, die offenbar hohe Herren transportierten, Adelige oder jedenfalls Würdenträger. Auch dies ein Hinweis, dass keine Schlacht vorgesehen war. Als der Trupp noch näher gekommen war, gelang es T’Ertos endlich, das Wappen zu identifizieren, das die Fahne des Standartenträgers zierte. Die Reiter kamen von Ur’Agron, der Ersten Stadt, wie das gleichseitige Sechseck zeigte, die goldene Wabe auf rotem Hintergrund, die den Grundriss der Großen Pyramide symbolisierte. Das war kein Höflichkeitsbesuch, soviel erschloss sich dem Offizier, denn seit vielen Generation waren hier keine Krieger Ur’Agrons mehr aufgetaucht und noch nie waren sie zu einem anderen Zweck gekommen, denn zu brandschatzen und zu morden.
T’Ertos winkte seinem Adjutanten, einem jungen Mann in der Toga des Zivilisten, der nur mit Griffel und Wachstafel bewaffnet war. „Lauf zum Palast des Statthalters von Ur’Tragon und sag‘ ihm, er möge seinen fetten Arsch hierher bewegen! Du formulierst das natürlich höflicher, klar? Aber sei sehr bestimmt, der Mann sitzt gerne auf dem hohen Ross und nimmt nicht ohne weiteres Befehle entgegen.“ T’Ertos zog seinen Offiziersring vom Finger und übergab ihn seinem Gehilfen, damit er beweisen konnte, dass er tatsächlich in T’Ertos Auftrag handelte. Der Adjutant verbeugte sich daraufhin untertänig und rannte los. Wenn sein Herr Schimpfwörter benutzte, musste die Situation sehr ernst sein!
Wie erwartet, war Fertan von Ur’Tragon alles andere als begeistert. Die Störung ereilte ihn mitten in einem üppigen Mahl, das er gemeinsam mit seiner Frau, seinem Sohn Egner und zwei kahlköpfigen Würdenträgern des Tempels von U’Xetes, die die Randfeste besuchen wollten, bereits einnahm, obwohl der Tag noch jung war. Zornig und unwillig erhob er sich, watschelte mühselig aus der Halle und schrie mit hochrotem Kopf nach den Trägern seiner Sänfte, denn ohne ihre Hilfe war er weder bereit noch überhaupt in der Lage, sich zum Osttor zu bewegen, fett wie er war. T’Ertos Adjutant folgte ihm in gebührendem Abstand und bekam die Flüche ab, die die Tatsache, beim Essen gestört worden zu sein, auslösten. Fertan war ein höchst unzufriedener Mann, der seine Versetzung nach Erefendor stets als eine Form des Exils gesehen hatte – was sie auch war – und seinen wenig prunkvollen Palast in dieser Stadt schon oft als Zohja-Stall bezeichnet hatte. Ohne detaillierte Erklärung zum Osttor beordert zu werden als sei er ein Gemeiner, machte ihn beinahe rasend. „Möge dies wirklich wichtig sein, T’Ertos, das rate ich dir!“, schimpfte er, als er in die Sänfte stieg, die von vier sehr stark aussehenden Männern getragen wurde. Dabei beschwerte er sich über die Stechmücken, die ihn zu dieser Zeit des Jahres sogar am Tage überfielen, kaum dass sie in die Nähe des Flusslaufes kamen und erschlug sie haufenweise mit einer kleinen, perlmuttverzierten Klatsche. Dass seine Träger von den winzigen Biestern genauso überfallen wurden, ihnen aber wehrlos ausgesetzt waren, kümmerte ihn nicht. Er tendierte ohnehin nicht dazu, sich über das Wohl anderer den Kopf zu zerbrechen.
Endlich hatten sie das Osttor erreicht, die Sänfte wurde abgesetzt und damit zum bequemen Stuhl, den Fertan nicht vorhatte zu verlassen, da das Ersteigen der Treppe zum Aussichtsturm offensichtlich quälend sein würde. Er brüllte nach oben: „He, T’Ertos, komm runter und erstatte mir Bericht!“
„Es ist wohl klüger, du siehst dir das selber an! Komm herauf!“, erschallte die Antwort.
Der Vorschlag gefiel Fertan keineswegs. „Was für eine schwachsinnige Idee! Vergeude nicht unsere Zeit, sag‘ mir endlich, weshalb du mich bei meinem Frühstück gestört hast und die ganze Stadt in Alarmbereitschaft versetzt! Außer dem offensichtlichen Grund, dass du dann das Sagen hast!“
T’Ertos seufzte resigniert und schilderte ohne seinen Posten zu verlassen, was er jenseits der Mauer sah. Die Reiter waren inzwischen so nah, dass man das Schlagen der Hufe auch in der Stadt hören konnte. Schließlich hielten sie, wobei die Vorderfront zur Seite wich und die drei prunkvollen, von je vier edlen Pferden gezogenen Kutschen, die zum Schutz ihrer menschlichen Fracht überdacht waren, kamen wenige Körperlängen vor dem Tor zum Halt. Der mittleren entstieg ein schlanker, noch recht junger Mann mit dunklem Haar und würdigem Vollbart, dessen Toga das Rot Ur’Agrons zierte. Sein sicheres Auftreten verriet, dass er befehlsgewohnt war und seine stechenden, schwarzen Augen richteten sich auf T’Ertos, der fast fünf Mannslängen über ihm stand, wachsam und interessiert hinabblickte, bereit, sich sofort zu ducken, sollte ein Bogenschütze einen Pfeil einlegen.
„Öffne das Tor!“, verlangte der Gesandte Ur’Agrons lautstark.
T’Ertos war durchaus zu Zynismus imstande. „Sicher! Warum auch nicht, bei eurem bescheidenen, offensichtlich friedlichen Auftreten! Kann ich euch sonst noch mit etwas dienen?“ Es folgte eine Pause, in der niemand etwas sagte. „Also nicht! Dann seid so gut und teilt mir mit wer ihr seid und was euer Anliegen ist! Und vor allem, warum ihr die Soldaten mitgenommen habt!“
„Das alles soll der Mann erfahren, der jetzt noch Ur’Tragons Statthalter in Erefendor ist! Ich führe ein Schreiben seines Herrn, der Hoheit Fenhawa, mit, das an ihn gerichtet ist. Also holt mir den Statthalter, aber rasch!“ Der Mann wedelte mit einer Papyrusrolle, die er in der linken Hand hielt.
„Er ist bereits da, hinter dem Tor!“
„Dann öffnet das Tor und schickt ihn raus!“
T’Ertos lachte, wandte sich betont langsam ab und Fertan zu, der dem Dialog gefolgt war. Der schüttelte den Kopf, um zu signalisieren, dass er mit dem Vorschlag keineswegs einverstanden war. Nie würde er sich alleine einer bewaffneten Meute stellen, schon gar nicht, wenn sie von Ur’Agron kam! „Sag dem Mann, er möge uns mitteilen, worum es hier eigentlich geht! Er mag nicht in alles eingeweiht sein, aber irgendetwas wird er schon wissen! Was soll z. B. die Bemerkung über mich: ‚ … der jetzt noch Ur’Tragons Statthalter in Erefendor ist‘?“
Der Rotgewandete hatte das gehört und begann nun ebenfalls zu lachen. Ein zutiefst böses, ja grausames Lachen war das. „Um was es geht?“, fragte er, „Fertan ist dein Name, nicht? Nun, Fertan, dann höre, was dein Herr getan hat! Hoheit Fenhawa beliebte mit seiner Erlauchtheit, Zagran, dem Ersten Fürsten von Ur’Agron, um ein unbedeutendes Fleckchen seines Besitzes zu würfeln. Er hat verloren, Erefendor und Umland gehören nun zur Ersten Stadt! Also öffnet das Tor, Mann!“
T’Ertos tat und sagte zunächst einmal überhaupt nichts, er befand sich im Schockzustand, denn er ahnte, was das für die Bevölkerung der Stadt bedeuten würde. Als er sich einigermaßen erholt hatte, macht er einen Vorschlag: „Schick deine Krieger so weit weg, dass wir jedenfalls in der Lage sind das Tor wieder zu schließen, bevor sie es erreicht haben können und dann kommst du rein und Fertan bleibt in der Stadt! Mag sein, dass du die Wahrheit sagst, dann wird er das feststellen. Vielleicht lügst du aber auch, dann wird es dir schlecht ergehen!“
Der Fremde schien einverstanden zu sein, denn mit einer knappen Geste schickte er die Reiter fort, nur die Wägen blieben, wo sie waren. Er beobachtete das Manöver, schließlich hielten die Soldaten. Daraufhin gab T’Ertos den Befehl, das Tor gerade so weit zu öffnen, dass der schlanke Mann aus Ur’Agron es passieren konnte. Fertan stand auf und der fette Mann in der blauen Toga Ur’Tragons und der hagere in der roten Ur’Agrons standen einander gegenüber, die Schriftrolle wurde Fertan ausgehändigt, der das Siegel prüfte – es war wirklich Fenhawas - es hernach brach, sie rasch las, während zwei Wächter das Tor bereits wieder schlossen. T’Ertos wartete ungeduldig. „Was steht drin?“
„Lies‘ selbst, es betrifft auch dich!“ T’Ertos befahl einem der Soldaten, der beim Tor stand, die Rolle nach oben zu bringen. Sie erläuterte, dass fürderhin nicht mehr Fertan, sondern der Gesandte Zagrans und Überbringer der Botschaft, W‘Heton, die Befehlsgewalt über Erefendor inne hatte. T’Ertos, der beim Lesen immer blasser wurde, wurde befohlen, umgehendst mit seinen Soldaten nach Ur’Tragon zurückzukehren und dabei auch die Sicherheit Fertans, seiner Familie und seinen Haushaltes zu gewährleisten. Für den Schutz von Erefendor sei nunmehr Ur’Agron zuständig. „Und für seine Ausbeutung“, dachte T’Ertos, den eine ohnmächtige Wut gegen seinen Herrn erfüllte. Wie konnte man nur eine Stadt mit all ihren Menschen an einen erbarmungslosen Mann wie Zagran verspielen!
W’Heton blickte sarkastisch nach oben. „Bist du jetzt bereit, das Tor zu öffnen?“ T’Ertos nickte ernst und gab den entsprechenden Befehl. Fertan, der zu seiner Sänfte zurückgekehrt war, erteilte seinen Trägern ein Zeichen zur Seite zu weichen und W’Heton folgte seinem Beispiel. Kurz danach preschten die drei Kutschen an ihm vorbei und fuhren ebenfalls zur Seite, um dem kleinen Heer Platz zu machen, das mit Getöse in die Stadt einritt und dabei eine dicke Staubwolke verursachte. Fertan zog mit angeekeltem Gesichtsausdruck die Vorhänge seiner Sänfte zu. T’Ertos war vom Turm herabgestiegen und ging rasch zu seinem für ihn bereitgehalten Pferd. „Ihr werdet meine Hast verzeihen, aber ich muss meinen Männern Bescheid sagen, dass sie die Garnison räumen!“ Er zeigte dabei in die Richtung, in der die Garnison zu finden war.
„Lass dir nur nicht zu viel Zeit damit!“, antwortete ihm W’Heton hustend. Sobald sich der Staub einigermaßen gelegt hatte, öffneten sich die Türen jener beiden Kutschen, die noch Insassen beherbergten und drei sehr unterschiedliche Männer gesellten sich zum ehemaligen und neuen Statthalter in Erefendor. Der eine war ein eher kleiner, aber bulliger Mann mit Glatze und verschlagenem, selbstbewusstem Gesichtsausdruck, der offenbar gerne Schmuck trug, denn er hatte allerlei Tand am Körper, goldene Ketten um den Hals und protzige Ringe an den kurzen Fingern, aber auch einen schmalen Dolch in einer verzierten Scheide unter der Schärpe. Sein Gewand war in den Farben Gold und Schwarz gehalten und verriet dem Kundigen seinen Beruf: er war Sklavenhändler, eine Beschäftigung, die ihn zu einem begehrten, oft gefürchteten, aber bei den Adeligen wenig geachteten Menschen machten. Er war in Begleitung eines dunkelhäutigen Riesen gekommen, der über die Schulter ein mächtiges Krummschwert und an der rechten Hüfte einen langen Dolch trug. Eine schwarze, kurze Pluderhose und hochgeschnürte Sandalen vervollständigten seine Kleidung, abgesehen von ehernen Unterarmschienen. Sein – bis auf die Lederriemen der Schwertscheide - nackter Oberkörper war enorm muskulös und ebenso beeindruckend wie seine grimmige Miene, die er schon berufsbedingt ständig zur Schau stellte – er war der Leibwächter des anderen Mannes und sicherlich auch sein Asassine.
Der dritte Mann war größer und schlanker als der Sklavenhändler, aber nicht weniger selbstbewusst, mit dichter, dunkler Mähne, kantigen, fast starren Zügen und stechendem, angsterregendem Blick, der Grausamkeit verriet. Der Mann hatte offenbar mehr Dinge gesehen, als für die seelische Gesundheit eines Menschen gut war. Die Robe, außen schwarz, innen rot, verriet seinen Beruf: er gehörte der ebenso geachteten, wie gefürchteten Kaste der Heiler an. Nicht Menschen bestimmten, wer diesen Beruf ausüben konnte, sondern nur die Götter selbst. Die Fähigkeiten des Heilens waren nur erlernbar, wenn eine angeborene Gabe vorhanden war. U’Xetes Gesetz erfüllte sie – nimm um zu geben.
Fertan, der die Vorhänge seiner Sänfte wieder geöffnet hatte, winkte den Neuankömmlingen zu. „Steigt wieder in eure Kutschen und folgt mir zu meinem – pardon – zum Palast des edlen Statthalters von Ur’Tragon, wenn euch ein kleiner Willkommenstrunk lieb ist!“ Sprach es, gab seinen Dienern den Befehl zum Aufbruch und wedelte verärgert mit seiner Perlmuttpatsche in der Gegend herum ohne die Stechmücken sonderlich zu beeindrucken.
Mit Ausnahme des Leibwächters, der hinter dem Sklavenhändler stehen blieb, fand man sich am langen Tisch in der großen Halle des Palastes wieder, nachdem W’Heton seinem Unteroffizier die nötigen Instruktionen für seine Kriegerschar weitergegeben hatte; die Gäste wurden mit Most und vergorener Zohjamich bewirtet, mit frischem Brot, Obst und kaltem Fleisch, nachdem Fertan sie seiner Frau, seinem Sohn und den beiden reisenden Mönchen vorgestellt hatte. Fertan richtete das Wort an seinen Nachfolger, der auch in Personalunion T’Ertos ersetzte und ihm gegenüber saß: „Was ich nicht ganz nachvollziehen kann, ist die schiere Zahl deiner Soldaten. Für eine kleine, befestigte Stadt wie Erefendor würden zwei oder drei Dutzend Krieger, wie wir sie haben, genügen. Und selbst die langweilen sich die meiste Zeit!“
W’Heton nahm einen tiefen Schluck aus seinem Krug. „Die meisten Soldaten werden wieder abziehen, gemeinsam mit SiVender“ – er deutete nachlässig auf den Sklavenhändler – „nachdem sie die erforderliche Anzahl von Sklaven requiriert haben. Sicherlich weißt du, dass die Sonnwendfestspiele zu Ehren U’Xetes bald abgehalten werden. Von Jahr zu Jahr werden sie aufwändiger, mit immer mehr Opferungen und prächtigeren Gladiatorenkämpfen, die Götter wollen es so. Daher gehen uns langsam die Sklaven aus! Zagran weiß das natürlich, weshalb er mit dem Herren von Ur’Tragon um dieses Land gewürfelt hat, in dem es sowieso mehr Menschen gibt, als es ernähren kann.“
Fertan deutete durch eine Geste an, dass er mit dieser Einschätzung keineswegs einverstanden war. „Zumindest sind die Menschen hier ärmlich“, erläuterte W’Heton seinen Standpunkt, „ihr Lebensstandard unterscheidet sich kaum von dem unserer Sklaven! Was macht es schon, wenn sich ein Teil von ihnen in Ur’Agron wiederfindet! Wie man hört, vermehren sich die Menschen hier prächtig und schon bald wird es wieder mehr hier geben als gut ist für das Land.“
Fertan sorgte sich nicht sehr um seine ehemaligen Schutzbefohlenen, dennoch erwiderte er: „Nicht, wenn ihr jedes Jahr kommt und Sklaven für die Spiele zu Ehren U’Xetes holt!“
„Wir werden Erefendor und ihr Umland schon nicht ausbluten!“
Fertan lachte. „Oh, das werdet ihr, ganz bestimmt! Die Spiele werden abermals prächtiger werden, mehr Opfer und Gladiatoren verlangen und die Menschen am Rande der Welt werden verschwinden, wenn ihr so weiter macht!“ Fertan überlegte, dass diese Strategie schließlich zu einem Krieg zwischen dem menschengierigen Ur’Agron und seinen Nachbarn führen würde, es sei denn, diese und alle anderen Städte der Welt würden dazu übergehen, Ur’Agron Sklaven zu verkaufen. Dazu aber musste sich einiges ändern, denn trotz einer ausgeprägten sozialen Hierarchie gab es in Ur’Tragon bislang keine Sklaverei. Er würde mit Fenhawa reden müssen, sobald sie Ur’Tragon erreicht hätten. Er konnte seine Stadt schützen und gleichzeitig ein lukratives Tätigkeitsfeld für sich schaffen, Gesetzesänderungen vorschlagen, Sklavenquoten für die einzelnen schutzbefohlenen Regionen festlegen und die Besteuerung des Sklavenhandels sicherstellen. Auf diese Weise ließ sich auch der Steuerentgang durch den Verlust von Erefendor und seinem Umland wieder ausgleichen. Fertan sah seine Zukunft rosig. Während er mit derartigen Gedanken beschäftigt war, sagte er laut: „Aber das ist nicht mein Problem und auch nicht mehr das von Fenhawa! Erefendor gehört Euch, tut damit, was ihr wollt!“
W’Hetos nickte. Auch ihm war klar, welche Belastung die immer mehr ausufernden, grausamen Spiele mit sich brachten, aber als religiöser Mensch zog er es vor, nicht darüber nachzudenken. Die Götter zu ehren war notwendig und selbstverständlich, die Götter würden sich dafür erkenntlich zeigen und Ur’Agrons Macht und Ruhm mehren! Sie hatten auch gar keine Wahl, denn die Götter verlangten nach immer mehr Opfern und ihre Rache würde grauenvoll sein, käme man ihren Wünschen nicht nach!
W‘Hetos wandte sich nun den beiden heiligen Männern zu, die zur linken Fertans saßen, während seine Rechte von seiner Frau und seinem Sohn flankiert wurden. „Diener der Götter! Was führt euch in dieses entlegene Städtchen?“
Beide waren jung, kahlköpfig und in dem rein goldenen – wenngleich etwas staubigem - Gewand gekleidet, in dem sich die Würdenträger der Götter stets zeigten. Eine Schärpe um die Leibesmitte verriet dem Kundigen den Stand in der priesterlichen Hierarchie. Sie war schwarz und zeigte damit, dass die Mönche erst die niedrigen Weihen empfangen hatten. Der Kleinere antwortete: „Edler Herr, es gehört zu unserer Ausbildung, eine der Randfestungen zu besuchen und dort zwei Jahre lang Dienst zu tun. Unsere Gebete an U’Rieften sollen die Göttin gnädig stimmen und Unwetter von der Welt fernhalten.“ U’Rieften war eine freundliche, den Menschen wohlgesinnte Göttin; an U’Xetes um gutes Wetter zu beten wäre sinnlos gewesen.
„Unweit der Feste, gleich in der Nähe des Heiligtums der Quellen befindet sich eine Siedlung. Die Menschen dort scheinen mir als Sklaven besonders geeignet. Sie sind kräftig aber dumm; manche mögen sogar die Befähigung zum Gladiator aufweisen!“ Diese Bemerkung stammte von Egner und war an SiVender gerichtet. Er dachte dabei besonders an Anwin, seinen speziellen Freund, dem er auf diese Weise hoffte, seinen Gesichtsverlust auf erbarmungsloseste Weise heimzuzahlen. Tausendmal hatte er sich vorgestellt, wie er sich an dem erbärmlichen Wurm rächen könnte, aber nie hätte er damit gerechnet, dass sich ihm eine derart drastische Möglichkeit bieten würde. Wie gnädig das Schicksal doch zu ihm war!
„Begleitung und Schutz wären uns durchaus recht“, ließ sich der Sprecher der Priesteranwärter mit seiner hohen Stimme ängstlich vernehmen, „es kommt leider immer wieder vor, dass selbst Männer die den Göttern dienen, von Gemeinen überfallen und ausgeraubt werden! Manchmal wird ihnen sogar das Leben genommen!“
Fertan nickte ihnen zu. „Die beiden Soldaten, die euch von Ur’Tragon hierher begleitet haben, stehen euch selbstverständlich wieder zur Verfügung.“
Dem Sklavenhändler SiVender graute vor den Stechmücken, die ihn das kurze Stück bei der Fahrt vom Tor hierher entlang des Flusses gequält hatten und selbst hier in der Halle nicht von ihm ließen! Was würde das für eine grässlich unruhige Nacht werden, wenn er überhaupt zum Schlafen käme! Die Menschen der Randsiedlung interessierten ihn weniger, aber nahe der Randfeste würde es wohl kühler sein und vielleicht auch frei von Stechmückenschwärmen. „Das ist eine gute Idee mein Junge! Wenn du, edler Statthalter von Ur’Agron inzwischen geeignete Einwohner von Erefendor zusammentreibst, könnte ich sie morgen besichtigen. Und mit ein paar zusätzlichen Soldaten könnte ich mir diese dummen, kräftigen Menschen der Randsiedlung ansehen. Einige mögen zumindest als Opfer bei den Spielen Verwendung finden. Vielleicht könnte mich auch Rassek begleiten?“
Rassek, der Heiler, hatte ebenfalls wenig für Stechmücken und dumpfes Klima übrig und gab durch ein Nicken zu erkennen, dass er einverstanden war.
„Ich kann fünf Soldaten durchaus entbehren, wenn dir das reicht“, wandte W’Heton ein.
„Gut, dann nehmen wir, wenn es dir recht ist, edler W’Heton, eine Kutsche, die genügt für uns beide, denn mein Leibwächter mag hier bleiben. Der Schutz durch deine Soldaten reicht sicherlich aus. Die andere Kutsche stellen wir den heiligen Männern zur Verfügung.“ Die beiden blickten erfreut, denn selten konnten Adepten so komfortabel reisen, meist blieb ihnen ein langer Fußweg nicht erspart.
„Soll Euch mein Sohn begleiten?“, wollte Fertan wissen, „ihr seid doch sicher des Weges unkundig?“ Egner verzog das Gesicht – damit hatte er nicht gerechnet. In der Kutsche war nur Platz für zwei, was hieß, dass er vorne neben dem Kutscher sitzen musste oder aber reiten, was er nur äußerst ungern tat. Zum Glück winkte SiVender ab. „Ich kenne mich hier recht gut aus, besonders da oben am Rand der Welt!“ Zwar überraschte es Fertan, dass ein Sklavenhändler aus Ur’Agron hierher gereist war, wo es keine Sklaverei gab, aber er fragte nicht nach und auch SiVender erläuterte nicht, bei welcher Gelegenheit er wohl die Randfeste besucht hatte.
***
„Mutter wird heute wieder zurückkommen. Sie ist diesmal zuerst zur südlichen Quelle aufgebrochen. Sie nimmt jedes Mal eine andere Strecke, wegen der Abwechslung, aber bei drei Quellen gibt es eben nur zwei Möglichkeiten.“
Leira, die Priesterin der Quelljungfern, war wie stets am Tag nach Vollmond – denn U’Eraes, der Mondgott, hatte einen mächtigen Einfluss auf das Schicksal - in heiligem Auftrag zu den Quellen gegangen, um sie zu segnen. Issa war alleine zurückgeblieben, hatte aber rechtzeitig für Gesellschaft wenigstens am letzten Tag von Leiras Wanderung gesorgt, indem sie Anwin vorigen Turtag bei ihrem Treffen in Erefendor gebeten hatte, vorbeizukommen. Anwin hatte erfreut zugestimmt, in der Siedlung gab es seiner Meinung nach jetzt nicht so viel zu tun, dass sie nicht einen Tag auf ihn verzichten könnten. Leider war sein alter Vater anderer Meinung gewesen, sodass er erst am späteren Nachmittag hatte kommen können, als die Sonnenstrahlen bereits den Boden der Lichtung mit dem Heiligtum berührt hatten. Issa hatte ihn gebeten, ihr beim Beeren pflücken zu helfen und daher sammelten sie am Wegesrand bei der Einmündung eines kleinen Pfades die großen, blauen Ennesbeeren, die auf langen, dünnen, dornigen Zweigen wuchsen.
Heute sollte Leira wieder zu dem kleinen Waldteich zurückkehren, an dem die Hütte stand, die Issa und ihre Mutter ihr Heim nannten. Unweit der Hütte fand sich das steinerne Heiligtum der Quelljungfern, ein abgerundeter, beinahe herzförmiger Fels von der Höhe eines kleineren Baumes und der große, offene Platz, an dem feierliche Versammlungen zu deren Ehren abgehalten wurden. Die Feierlichkeiten waren wichtig, Erefendor verdankte den drei Quellen seine Existenz.
„Hat sie ihr prachtvolles Kleid mit den Silberfäden an und den edelsteinbesetzten Haarschmuck?“ Anwin deutete das diademartige Schmuckstück an, indem er mit der Rechten einen Kreis um den Kopf zog; dabei ließ er ungeschickt eine Ennesbeere fallen, die Issa schnell aufhob und in den Flechtkorb legte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Das Ritual ist recht langwierig und mit vielen Verbeugungen und Knien auf feuchter Erde vor den Guten Geistern verbunden, weshalb sie zu diesem Anlass stets ihr grobes Gewand anzieht; ihr Prunkgewand trägt sie nur zweimal im Jahr, wenn die Leute aus Erefendor und auch aus deiner Siedlung hierher pilgern und zudem die einfachen Mönche von der Randfeste herabkommen, um bei der Sonnwendfeier dabei zu sein.“
Einen Augenblick schwieg Issa und sah Anwin dabei zu, wie er geschickt eine weitere Ennesbeere aus dem dornigen Gestrüpp heraus angelte. Dann dachte sie daran, welch Glück sie hatte, sie war ihrer Mutter herzlich zugetan. Anwin hatte seine Mutter nie kennen gelernt. Na ja, aber dafür hatte er einen Vater und sie nicht. Nach einer Weile fuhr sie nicht ohne merkbaren Stolz in der Stimme fort: „Meine Mutter scheint alles richtig zu machen, denn die Quelljungfern sorgen für reichliches, kühles und sauberes Quellwasser; selbst die oberste und südlichste Quelle, die in der Geschichte Erefendors nicht immer reichlich sprudelte, hat, seit meine Mutter Priesterin ist, keinen Anlass zur Sorge mehr gegeben.“
Anwin konnte da nur zustimmen, denn auch seine Siedlung lag an einem der Bäche und selbst jetzt, in dieser ungewöhnlich heißen Zeit, lieferte sie genug kühles Nass für die Einwohner und ihre Tiere. „Warum begleitest du sie eigentlich nicht?“, wollte er wissen. Schnell fügte er hinzu: „Mir ist das natürlich lieber so, denn sonst hätten wir uns heute nicht getroffen.“
Issa beschenkte ihn mit einem Anflug von einem Lächeln und einem kurzen Heben der Augenbrauen. „Die Zeremonie ist einsam, das ist Vorschrift, sodass ich meine Mutter erst begleiten kann, wenn ich ihre gesegnete Gehilfin geworden bin. Aber dazu muss ich zuerst für drei Jahre zur Kleinen Pyramide von Ur’Tragon gehen und in der Priesterschule alles über die Götter und die Rituale und die Welt lernen. Auch geheime Sachen. So geheim, dass ich sie dann nicht einmal dir verraten darf!“
Anwins Miene verdüsterte sich kurz. Sein reger Geist dürstete nach geheimem und anderem Wissen, aber der Zugang zu den Bildungsstätten der Priesterschaft und natürlich auch zu denen der adeligen Herrschaft blieb ihm aufgrund seiner gemeinen Herkunft verwehrt. Deshalb erfüllten ihn Issas Zukunftsaussichten mit Wehmut, obwohl er ihr das Glück durchaus gönnte, wenn es denn eins war. Wenig Gefallen fand er allerdings daran, dass die Priesteranwärterinnen im Rahmen einer heiligen Zeremonie von einem der von den Göttern mit ihrer Gabe beschenkten Heilern erkannt wurden. Resultierte aus dieser gesegneten Verbindung ein Kind mit der Fähigkeit zu heilen, wurde es später selbst zum Heiler ausgebildet. Töchter ohne diese Gabe traten im Allgemeinen in die Fußstapfen ihrer Mutter, unbegnadete Söhne wurden Priester in der Randfeste oder einer der großen Städte um den Zentralen See. Eine Priesterin durfte keine Ehe eingehen und auch keine weiteren außerehelichen Kontakte haben, wenn sie nicht in Schande aus der Priesterschaft ausgeschlossen werden wollte und ihr noch Schlimmeres widerfahren konnte. Man munkelte, dass Issas Großmutter eine ungesegnete Verbindung eingegangen und dies ruchbar geworden war. Sie war seit damals verschwunden.
Hatte eine Priesterin in einer gesegneten Verbindung einen Heiler geboren, wurde die heilige Zeremonie alle drei Jahre wiederholt, denn die Geburt eines weiteren heilfähigen Kindes war dann wahrscheinlich und Heiler waren den Göttern wichtig. Anwin wusste den Grund dafür nicht, aus Liebe zu den Menschen geschah das jedenfalls nicht, da war er sicher.
Anwin empfand für Issa mehr als nur Freundschaft und die vorgezeichnete Zukunft seines Mädchens hatte ihm schon viele schlaflose Nächte gekostet, besonders in letzter Zeit. Die Vorstellung, wie sich ein alter, hakennasiger Heiler mit Glatze über die junge Issa hermachte, wollte sich nicht verscheuchen lassen, so sehr er sich auch bemühte, kurz blitzten die grausigen Bilder immer wieder auf.
„Wann ist es soweit? Nächstes Jahr?“ Anwin bemühte sich um einen teilnahmslosen Tonfall und eine neutrale Mimik. Issa nickte und sah dann kurz und wie sie hoffte unauffällig zu ihm, denn auch sie begann über die Konsequenzen dieses Schritts nachzudenken und was er für ihre Freundschaft zu Anwin bedeutete und darüber was aus dieser Gemeinschaft werden könnte. Wie stand er dazu? War sein Interesse an ihr das eines Bruders oder jedenfalls so ähnlich? Und falls nicht, falls es darüber hinaus ging, warum gestand er ihr nicht, was er fühlte? Schwieg er, weil er ihre Entscheidung nicht beeinflussen, nicht ein Klotz am Bein ihrer rosigen Zukunft sein wollte? Und sie selbst? Wie sehr gierte es sie nach dieser Ausbildung, nach der Erfahrung, in einer der größten Städte der Welt zu leben? Und nach dem Anblick des Zentralen Sees, der sich so weit erstreckte, dass er bis zum Horizont reichte, also soweit man sehen konnte, hatte ihr ihre Mutter erzählt. Nur an ganz klaren Tagen konnte man noch die Zacken des Weltenrandes über die Wasserlinie ragen sehen. Wie sehr ängstigte sie der Gedanke, ihre kleine Welt aufzugeben, ihre Hütte, den Teich, das Heiligtum der Quelljungfern und vor all diesen Dingen ihre Mutter und Anwin? Und wie sah die Alternative aus? Hatte sie als Tochter einer Priesterin überhaupt eine Alternative? Sie beschloss, dass es langsam Zeit wurde, über diese Themen mit Leira zu reden.
So in sich versunken, hörten sie die Schritte zu spät.
***
Sie hatten bei der Abzweigung ihre Wägen zurücklassen müssen, da die Straße immer enger und holpriger geworden war und sie keinen Achs- oder Radbruch riskieren wollten. Der Heiler hatte mit den Priesteranwärtern und drei Soldaten den Pfad zur Randfeste genommen, während SiVender keine Lust verspürt hatte, sich mit langweiligen Mönchen zu unterhalten und nach einem bequemen und mückenfreien Schlafplatz Ausschau halten wollte. Mit zwei bewaffneten Begleitern, die abwechselnd Wache halten konnten fühlte er sich sicher genug, um im Freien zu übernachten.
SiVender vernahm das leise, muntere Geplauder und gab seinen Leibwächtern das Zeichen, ruhig zu sein. Überflüssig, denn die beiden hatten noch kein einziges Wort gesprochen und bewegten sich trotz der leichten Rüstung so leise wie Bergkatzen.
Vorsicht spähte er um die Kurve und betrachtete seine Beute, einen Jungen und ein Mädchen, die Beeren pflückten, sein Abendessen, wie er spontan beschloss. Sein professioneller Blick verriet ihm, dass das Mädchen auf dem Sklavenmarkt in Ur’Agron einen hohen Preis erzielen würde, denn sie hatte ein sehr schönes Gesicht und eine anmutige Gestalt. Ein wenig geschminkt, geschmückt und herausgeputzt würden sich die reichen Adeligen um sie reißen. Auch der Junge war gut gewachsen, jedoch nichts Besonderes. Seine Gesichtszüge waren nicht fein und ebenmäßig genug, damit er als Lustknabe brauchbar gewesen wäre. Besonders kräftig schien er auch nicht zu sein, für eine Laufbahn als Gladiator ungeeignet, aber jedenfalls gesund und damit verkäuflich. Andernfalls hätte er immerhin noch als Opfer in der Arena Verwendung finden können.
SiVender erfasste jenes Jagdfieber, das er nur noch viel zu selten spürte. Als Sklavenhändler in Ur’Agron handelte er meist mit Sklaven von Geburt, die ihr Schicksal als unvermeidlich hingenommen hatten. Das abenteuerliche Leben eines Sklavenjägers lag längst hinter ihm. Weltenweit und äonenlang wie ihm schien. Das hier war wirklich eine nette Abwechslung. Er gab einem seiner Begleiter sehr leise den Befehl, Pfeil und Bogen in die Hand zu nehmen, denn er wollte seiner Beute keine Fluchtmöglichkeit lassen. Der andere zog lautlos sein Schwert. Er nickte beiden zu und machte mit der Hand eine Bewegung in Richtung seiner Opfer. Die Krieger liefen voraus auf die Weggabelung zu, an der die beiden Kinder standen. SiVender blieb zurück, hörte den überraschten Entsetzensschrei des Mädchens und sah die unglaublich rasche Reaktion des Jungen, der sich vor seine Begleiterin stellte, in der Hand einen armlangen Ennesast mit fingerlangen Dornen, den er zuvor schnell aufgehoben hatte. Er hielt ihn vor sich, in die Richtung der beiden herankommenden Soldaten, die daraufhin zögerten und die Bedrohung durchaus ernst nahmen. Mit einem ebenso amüsierten, wie bösen Lächeln auf dem runden Gesicht näherte sich nun auch SiVender der Szene. Vielleicht war der Kleine doch für die Arena geeignet oder auch als Ruderer auf einer der Galeeren am Zentralen See. Typen wie er mussten angekettet werden und ständig die Peitsche spüren, das wusste er aus Erfahrung. Als schicksalsergebener Sklave, den die pure Angst daran hinderte, gegen sein Dasein aufzubegehren, eignete der Junge sich nicht.
„Leg den Ast weg, wenn du keinen Pfeil in deiner Brust spüren willst!“, warnte SiVender ihn mit jener gefühllosen Stimme, die ihm zu Eigen war.
Doch das tat der Junge nicht, er achtete weiter darauf, mit seinem Körper den des Mädchens gegen die Bedrohung durch den Bogenträger abzudecken und schrie: „Lauf, Issa, lauf!“. Das Mädchen erwachte aus seiner Erstarrung, doch zögerte sie ihren Begleiter alleine zu lassen, der sich gerade durch einen kurzen Blick versichern wollte, dass das Mädchen seinem verzweifelten Rat folgte. Das war die Gelegenheit, auf die der Soldat gewartet hatte. Mit einem mächtigen, ansatzlosen Hieb seines Schwertes schlug er dem Jungen den gefährlichen Ast aus der Hand, der in zwei Stücke zerbrochen viele Ellen weit flog, ohne jemanden zu gefährden. Dann war er bei seinem Gegner und schmetterte ihm mit voller Wucht die Faust seines unbewaffneten Arms gegen die Schläfe. Der Junge sackte wie vom Blitz getroffen in sich zusammen, blutete aus einer Risswunde, die ein breiter Ring verursacht hatte und abermals schrie das Mädchen auf. Statt zu fliehen zu versuchen, kniete sie sich neben ihren Begleiter und flüsterte mit tränenerstickter Stimme immer wieder etwas, das wohl sein Name war.
***
Leira hörte den verzweifelten Schrei und konnte ihn sofort ihrer Tochter zuordnen. Panik stieg in ihr auf und instinktiv wollte sie irgendwie antworten und rasch zu ihr laufen, doch dann siegte die Vernunft. Sie näherte sich sehr leise und hielt dabei nach einer Waffe Ausschau. Auf dem schmalen Pfad weiter vorne lag ein in zwei Stücke zerborstener, armdicker Ennesast, jeder Teil etwa ellenlang. Einen davon nahm sie an sich und schlich weiter bis sie eine Szene sah, die ihr Herz zum Rasen brachte und sie mit Angst aber auch Entschlossenheit füllte.
Unweit der Einmündung des schmalen Weges lag Anwin und Issa kniete neben ihm mit tränennassen Augen leise vor sich hin weinend. Leira konnte nicht sehen, ob der Junge tot war, aber ihre Tochter lebte und sie würde sie mit allen Mitteln verteidigen. Bei den beiden standen aber zwei muskulöse, so stark armierte Krieger, dass man den Eindruck haben konnte, sie zögen in die Schlacht – gerüstet mit Helm, Arm- und Beinschienen, Kettenhemd, bewaffnet mit einem kurzen Schwert, Dolch und einem ebenfalls kurzen Reflexbogen. Viel näher bei ihr, den Rücken ihr zugewandt stand ein weiterer, untersetzter Mann in schwarz-goldener Kleidung, ein Sklavenhändler Ur’Agrons, der hier offenbar illegal nach Beute Ausschau hielt und glaubte, sie in den beiden Kindern gefunden zu haben. Unwillkürlich verspürte Leira den Wunsch, ihre Waffe auf den kahlen Schädel des Sklavenhändlers zu schmettern, aber ihr war auch klar, dass diese Tat ihre Tochter und Anwin nicht befreien würde. Stattdessen näherte sie sich dem Ahnungslosen weiter, so leise, dass er sie immer noch nicht wahrnahm als sie direkt hinter ihm stand und – den Überraschungsmoment nutzend – führte sie ihre Waffe blitzschnell über seinen Kopf, hakte sich mit der rechten Armbeuge in seiner Schulter ein und drückte das bedornte Aststück mitleidlos gegen seine Gurgel. Um nicht abgeschüttelt werden zu können griff sie mit dem anderen Arm ebenfalls nach vorne und umklammerte das zweite Astende ohne der Gefahr zu achten, selbst von einem Stachel verletzt zu werden.
Der Sklavenjäger erschrak heftig, wollte nach oben greifen und sich umdrehen, da hörte er die Stimme einer Frau, die es offenbar ernst meinte: „Lass die Arme unten und bleib stehen oder – und das schwöre ich dir – ich bohre dir die Dornen dieses Zweiges in deine Kehle!“ Nachdem er die Stachel des Ennesbeerenzweiges bereits gesehen und beeindruckend gefunden hatte und da er an der Entschlossenheit der Frau nicht zu zweifeln wagte – immerhin rann gerade sein Blut von einer Wunde an seinem Hals seine Brust hinab – blieb er vorerst stehen.
Kaum hatte sie die Stimme ihrer Mutter gehört, blickte Issa auf und erfasste trotz des Tränenschleiers augenblicklich die Situation. Auch die beiden Krieger hatten sich der neuen Bedrohung zugewandt.
„Lauf weg Issa, schnell!“, hörte sie ihre Mutter rufen, aber abermals war sie von Schrecken gebannt, sah was passierte und wusste doch, dass sie zu langsam war, um das Grauen zu verhindern, nur ein entsetztes Keuchen entrang sich ihrer Kehle. Sie sah wie der Mann in Schwarz und Gold den langen Dolch aus der Scheide zog, die vorne in seiner Schärpe steckte und konnte ihre Mutter doch nicht mehr rechtzeitig warnen als er in einer knappen, routinierten Bewegung, seitlich an seinem Körper vorbei, nach hinten stach – und traf. Issa sah, wie sich die Augen ihrer Mutter vor Überraschung und Schmerz weiteten und wie sie kurz den Druck gegen den Hals des Mannes verminderte. Diesen Augenblick wollte er nutzen, indem er den Kopf einzog und die linke Schulter hob, aber gerade da drückte Leira noch einmal kräftig den Ast gegen ihn und einer der Dornen bohrte sich tief in sein rechtes Auge.
Der Mann brüllte auf, ergriff die Handgelenke der erschlaffenden Frau und wich gleichzeitig nach hinten aus, sodass der Dorn aus seinem Auge fuhr. Während er die Sterbende von sich schleuderte, erbrach er sich bereits heftig, dann sackte er mit blutüberströmtem Gesicht zusammen.
Wieder dachte Issa nicht an Flucht sondern lief ungehindert von den beiden Soldaten zu ihrer Mutter, die auf dem Rücken lag und in deren Körper immer noch die Klinge stak. Sie streichelte das Gesicht mit den erstaunt blickenden, gebrochenen Augen, hörte ein Wimmern ohne gewahr zu sein, dass es von ihr kam und dann ein immer lauter werdendes Brausen und Rauschen in ihren Ohren und dann plötzlich - wurde alles dunkel und ruhig.
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Die Sonne war bereits unter den Rand der Welt gewandert, hinterließ aber noch einen goldenen Saum entlang der düsteren Silhouette der Gebirgszacken. In diese Dämmerung hinein erschien der Heiler mit seinen Leibwächtern, noch konnte er die Szene ohne Hilfe einer Fackel deuten. Ein schwer atmender SiVender, der zusammengekauert am Wegrand hockte und mit seinen blutigen Händen das Gesicht bedeckte. Eine reglose Frau mit einem Dolch in der Seite und ein Mädchen, das sie umarmt hielt. Daneben einer der Begleiter des Sklavenhändlers. Etwas weiter entfernt, mitten auf dem Weg, ein liegender, blutender Junge, der sich ebenfalls den Kopf hielt und der zweite Soldat, der ihn argwöhnisch betrachtete und keinen Moment aus den Augen ließ, die Hand am Knauf seines Schwertes. Am Wegrand ein vergessener, umgekippter Korb, in und um ihn lagen Ennesbeeren.
Leise, wie eine überdimensionierte Fledermaus, näherte sich der Heiler, sich in seinen rotschwarzen Umhang hüllend. „Was, in U’Xetes Namen, ist hier passiert?“ Rasseks harte, verächtliche Stimme erschreckte den in sein Leid versunkenen Sklavenhändler und ließ ihn aufblicken, sodass die grässliche Wunde in seinem Gesicht sichtbar wurde.
„Rassek, endlich!“, ließ sich SiVender mit schwacher, weinerlicher Stimme vernehmen, „bitte, du musst mir helfen!“ Ein Anblick wie der des verwundeten Sklavenhändlers konnte den Heiler schon lange nicht mehr beeindrucken oder gar erschrecken, eher erinnerte er ihn an seine unfassbare Macht und ließ sein Herz noch mehr erkalten. SiVender war allerdings ohnehin nicht der Mensch, der Mitleid verdiente.
„Kann man dich nicht einmal den vierten Teil eines Tages alleine lassen? Was hast du hier angestellt? Du hast zwei Soldaten an deiner Seite und schaffst es nicht, unverletzt zu bleiben, wenn du mit einer Frau und zwei Kindern …“, er machte mit seinem Arm eine die ganze Szene umfassende Geste, „was immer auch anstellst?“
Der Mann in Schwarz und Gold sackte noch mehr in sich zusammen. „Die Frau hat mich hinterrücks angegriffen! Bitte, Rassek, du hilfst mir doch, wir sind doch Freunde! Nimm den Jungen dafür! Der ist weniger wert als das Mädchen!“
Da lachte der Heiler schallend. „Selbst, wenn man dir ein Auge aussticht, vergisst du deine Habsucht nicht. Du bist wirklich … erstaunlich! Also gut“, lenkte er sarkastisch lächelnd ein, „unserer Freundschaft zuliebe“, er betonte das Wort ‚Freundschaft‘, „werde ich diese Anstrengung auf mich nehmen!“ Nun wandte er sich an den Krieger, der den Jüngling bewachte. „Bring den Jungen hierher! Leg ihn neben SiVender!“ Der riesige Mann packte den Jungen am Kragen, der leise aufstöhnte und sein Gesicht vor Schmerz verzerrte und schleifte ihn unsanft zum Sklavenhändler, wo er ihn fallen ließ. Seine Wunde an der Schläfe blutete noch immer. Der Heiler trat zwischen die beiden und legte nach einer dramatischen, weit ausholenden Geste die eine Hand auf das Auge des Jungen, der von seinem Bewacher an den Oberarmen festgehalten wurde. Die andere legte er über das zerstörte Auge SiVenders. Dann erstarrte er, schien in eine Art Trance zu fallen.
Anwin empfand kurz einen ziehenden Schmerz an seinem Auge und dass er noch schwächer wurde als er ohnehin schon war, aber dann fühlte er Widerstand in sich aufsteigen und es geschah etwas, etwas das er nicht zum ersten Mal erlebte, das ihn an seinen Kampf mit Egner erinnerte, den Sohn des Statthalters. Wie damals wurde die Welt unheimlich ruhig, unwirklich und der Augenblick dehnte sich in die Ewigkeit. Eine große, mentale Kraft floss in Anwin und von ihm hinaus in die Hand des unheimlichen Mannes. Seine Verletzung an der Schläfe begann zu glühen.
Erschrocken zog der Heiler seine Hand jählings zurück, die Augen weit aufgerissen griff er an seine rechte Schläfe, wischte darüber und betrachtete verwundert die Flüssigkeit an seiner Fingerspitze. Blut, das war Blut! Ein Tropfen seines eigenen Blutes! Der Heiler fühle sich geschwächt, als hätte man einen Teil seiner Lebenskraft aus ihm herausgesaugt. Er fixierte den Jungen mit stechendem Blick.
„Du kleiner Dämon! Was steckt in dir?“ Seine Stimme klang wie das leise Zischen einer Schlange. Nach einer Weile des Grübelns atmete er tief und wandte sich nun an den Sklavenhändler. „Der Junge eignet sich nicht für die Prozedur! Er ist auch nicht länger dein Sklave, er gehört mir!“ Seine Stimme hatte jetzt wieder die gewohnte Festigkeit.
Erschrocken und weinerlich flüsterte SiVender: „Dann nimm das Mädchen! Egal! Nur hilf mir endlich!“
„Nein, ihr lasst sie in Ruhe, klar?“ Anwin mochte die Beweglichkeit seiner Arme genommen worden sein, aber seine Beine waren frei und er trat damit herum, schaffte es, sowohl dem Heiler als auch SiVender einen Stoß zu versetzen, der aber zu ungezielt erfolgte um viel zu bewirken. Nach einem ärgerlichen Blick des Heilers schleifte ihn der Soldat außer Reichweite und verdrehte ihm dann den Arm so schmerzhaft auf dem Rücken, dass er laut aufschrie. Fassungslos musste er mit ansehen, wie jener Soldat, der sie die ganze Zeit bewacht hatte, Issa nun gewaltsam von ihrer Mutter trennte und neben SiVender legte. Rassek kniete sich zwischen die beiden und legte die eine Hand auf ihr Auge, so wie er es zuvor bei ihm getan hatte und die andere auf die Verletzung des Sklavenhändlers. Abermals erstarrte er und ließ seine Kraft in die beiden strömen, dann saugte er die Lebensenergie des Mädchens auf, bewahrte ein wenig für sich und ließ den Rest in den Sklavenhändler fließen. Vor Schmerz und Entsetzen schrie sie auf, Blut quoll unter der Hand des Heilers, die ihr Auge bedeckte, hervor. Es war inzwischen noch dunkler geworden und daher wurde Anwin des feinen, bläulichen Schimmers gewahr, der die Hände des Heiler umhüllte. Dann nahm dieser die Hände weg, Issa blieb wie tot liegen und Anwin konnte die grässliche Entstellung in Issas Gesicht sehen, die eigentlich ihn hätte verunstalten sollen. Zum ersten Mal seit Jahren begann Anwin zu weinen. Er schluchzte hemmungslos und schrie: „Warum habt ihr ihr das angetan? Warum habt ihr nicht mich genommen, wie ihr eigentlich wolltet? Ihr widerlichen Bestien!“ Anwin achtete nicht mehr auf den Schmerz und versuchte sich so rasend zu befreien, dass sein Bewacher ihn schließlich mit einem Schlag auf das Kinn in die Bewusstlosigkeit schickte.
Der Heiler seufzte laut. „Mit dem werde ich noch Schwierigkeiten haben! Ihn zu brechen wird nicht leicht!“ Dann wandte er seinen Blick der toten Frau zu und an SiVender gewandt äußerte er mit zynischem Unterton: „Mal sehen, was du hier angerichtet hast!“ Er ging zu ihr und blickte lange in ihr Gesicht. Seine sonst so maskenhaften Züge offenbarten mit einem Mal Emotionen, sein linkes Augenlid begann unkontrolliert zu zucken und er erblasste. Hierauf schrie er: „Du bist ein noch größerer Narr, als ich gedacht hatte! Weißt du, wer diese Frau ist? Sie ist Priesterin! Wenn die anderen Priester davon erfahren, bist du tot! Was bist du für ein Idiot, hätte ich das gewusst, würdest du jetzt noch mit zerstörtem Auge hier sitzen und nicht geheilt! Wieso ist sie überhaupt tot? Ich bezweifle, dass die Wunde tödlich ist.“
„Der Dolch war vergiftet! Mit einem sehr schnell wirkenden Gift.“ SiVender klang erschöpft, dieser Tag hatte ihn wahrlich mitgenommen. Er war gerade dabei, sich das geheilte Auge und die Region darum herum mit Wasser aus dem Lederschlauch zu waschen, den ihm einer der Leibwächter gegeben hatte. Inzwischen war es so dunkel, dass niemand mehr erkennen konnte, wie sehr er erbleicht war, als er die Worte des Heilers vernommen hatte. Er hatte Angst um sein Leben. „Wie hast du das erkannt? Die Frau ist genauso gekleidet wie eine Bäuerin oder Händlerin“. Als der Heiler nicht antwortete, erhob sich der Sklavenhändler, ging zu der Frau und ergriff ihre feine, zartgliedrige Hand. Sie war frei von Schwielen, weder rau noch zerstochen. „Wir müssen die Leiche verschwinden lassen! Und die beiden Zeugen!“
„Den Jungen und das Mädchen rührst du nicht an! Sie gehören beide mir! Ich werde dafür sorgen, dass sie nicht in Kontakt mit Adeligen kommen. Das Mädchen soll die Entstellung behalten. Es ist schade, aber mit einem hübschen Gesicht würde sie wohl früher oder später zur Konkubine eines mächtigen Mannes werden und selbst Einfluss gewinnen. Und wenn sie dann erzählt, was hier vorgefallen ist, wäre das dein Ende.“
„Warum dann das Risiko eingehen?“, wollte SiVender wissen, aber er erhielt keine Antwort, Rassek schien ihn einfach vergessen zu haben und blickte mit einem Ausdruck auf die Leiche, die der Sklavenhändler nicht deuten konnte. Woher kannte der Heiler die Frau und warum wollte er nicht darüber reden?
Schließlich hatte er sich wieder gefasst. „Nun gut, wie du willst! Dann übernachten wir hier und im Morgengrauen bringen wir die Leiche der Frau zu einer Höhle, deren Eingang sich bergauf von hier befindet.“
Nun war es an Rassek sich zu wundern, denn sein Freund hatte ihm nie erzählt, dass er diesen Teil der Welt überhaupt kannte und noch dazu so gut, dass er einen im Wald verborgenen Höhleneingang finden konnte.
***
„Na los! Nimm dir seine Lebenskraft!“ Anwin blickte voller Hass auf den Heiler, der den Auftrag gegeben hatte, ihn auspeitschen zu lassen. Zu mehr als diesem hassvollen Blick war er nicht in der Lage, er war zu schwach, blutige Striemen zogen sich seinen Rücken entlang, befanden sich auf seiner Brust, auf den Oberarmen und sogar auf dem Gesicht. Anwin zitterte vor Schmerz, jede auch noch so kleine Bewegung war eine unsägliche Qual. Der Vollstrecker, ein kleiner Mann mit sehnigem Körper hatte ganze Arbeit geleistet und die siebenschwänzige Peitsche mit den kurzen, zackigen Gari-Zähnen hatte zahllose Wunden gerissen. Und doch verabscheute Anwin nicht ihn, denn die vielen, grässlichen Narben auf seinem Körper verrieten ihm, dass auch er nicht fügsam seine Aufgabe verrichtet hatte, sondern erst sein Wille hatte gebrochen werden müssen, um ihn zum Foltermeister werden zu lassen.
Neben ihm kauerte ein vielleicht zwölf Jahre alter Knabe, der die Ereignisse mit Entsetzen verfolgt hatte. Den Versuch, sich von seinen Fesseln zu befreien, hatte er inzwischen aufgegeben, er wimmerte nur noch vor sich hin.
„Du bist ein Narr! Warum willst du die Schmerzen ertragen? Siehst du nicht, dass dir deine Gabe das Wichtigste und Schönste schenkt, was man erlangen kann? Macht! Um die Macht führen Männer Kriege, sind bereit Tausende zu opfern, auch Freunde, wenn es sein muss. Streck deine Hand aus, berühre das Kind und nimm dir seine Lebenskraft, wie es U’Xetes bestimmt hat. Das wird es nicht umbringen, falls es das ist, was dich stört!“
Anwin war sich da nicht so sicher. Jedenfalls hatte er keineswegs vor, klein beizugeben. Er sagte nichts, sondern blickte seinen Peiniger nur unverwandt an. Rassek verlor die Geduld mit seinem störrischen Schüler, wie schon so oft im vergangenen Monat und trat ihm heftig ins Gesicht. Diese Unbelehrbarkeit und Sturheit war der Grund, dass er die Auspeitschung immer exzessiver durchführen ließ. Anwin sollte sehen, dass seine Weigerung, sich selbst zu heilen, nur zu immer schlimmeren Verletzungen bei seinen Spendern führte. Er konnte nicht nur sein eigenes sondern auch deren Leid mindern, wenn er sich fügsam zeigte. Aber der Junge blieb widerspenstig! Wie konnte er ihn nur brechen?
„Bislang habe ich dich am Ende dieser Prozedur immer geheilt, habe deine Verwundungen auf den Lebenskraftspender übertragen, aber jetzt reicht es mir! Wir wollen doch sehen, ob du nicht morgen klein beigibst, wenn du die ganze Nacht leidest!“ Dann wandte sich Rassek an den Mann mit der Peitsche. „Schaff‘ das Kind fort!“ Der Folterer verbeugte sich knapp und tat, wie ihm geheißen. Rasseks Zorn verrauchte nicht. Kalt blickte er auf das blutige Bündel vor ihm. „Du magst gehen … wenn du noch gehen kannst!“ Mit diesen Worten wandte er sich von Anwin ab und verließ den Raum.
Gehen konnte Anwin nicht mehr, aber er kroch mühselig aus dem Raum, eine Blutspur hinter sich her ziehend. Oft musste er keuchend verharren, aber schließlich schaffte er es den Gang entlang und sogar durch die Tür, hinaus aus dem Ausbildungshaus der Heiler. Dort verharrte er im Sonnenschein, lehnte seinen Rücken trotz der Schmerzen, die ihm das bereitete, gegen eine niedrige Mauer und versuchte sich so weit zu entspannen, wie das möglich war. Er hatte Durst, aber bis zum Brunnen neben der gewaltigen Nerewi-Linde würde er es jetzt nicht schaffen. So ließ er seine Gedanken weggleiten, schickte sie auf Wanderschaft in eine schönere Vergangenheit, dachte an Issa und ihre Mutter, an seinen Vater und die Menschen der kleinen Siedlung, die SiVender, den Göttern sei Dank, nicht aufgesucht hatte. Er dachte auch an die alte Frau, die ihm die Zohja Milch gegeben hatte und an ihre beiden Söhne, die jetzt irgendwo in dieser verruchten Stadt waren, in Ur’Agron, dem Hort des Bösen. Er hatte sie in dem Sklaventreck gesehen, auf der langen Wanderung, bei der sie alle erstmals die Peitsche zu spüren bekommen hatten und die Erniedrigung fühlten, die schlimmer war als der Schmerz.
Anwin hörte ein sirrendes Geräusch, dann ein Rauschen über sich, das zu einem tiefen Dröhnen anwuchs. Als der Schatten des Götterwagens über ihn zog, blickte er nicht einmal mehr auf. Aber als sie das riesige Ding mit den gewaltigen, starren Flügeln das erste Mal über sich gesehen hatten, als sie den Lärm das erste Mal gehört hatten und vermeinten, die Stimme eines zornigen Gottes in ihm zu vernehmen, waren sie zusammengebrochen und hatten sich ängstlich auf den Boden gekauert. Das war nur kurz, nachdem sie das Stadttor passiert hatten, geschehen. Die Gehilfen SiVenders hatten sie mit wütenden Peitschenhieben zum Aufstehen gebracht und weiter getrieben. Am nächsten Tag waren die meisten von ihnen auf dem Marktplatz versteigert worden, nur er nicht und Issa wohl auch nicht. Er hatte sie seit damals nicht mehr gesehen.
Anwin blickte zur gewaltigen, rotgoldenen Stufenpyramide, auf deren Dach jetzt der Gleiter – so nannten die Stadtbewohner manchmal die Götterwägen – elegant landete. Meist, so hieß es, lebten die Götter im Himmel, aber mit ihren Wägen kamen sie auch oft zur Pyramide, dem heiligsten Ort der Welt.
Anwin wurde müde, der Kopf sackte ihm auf die Brust und trotz der Schmerzen, trotz der aufwühlenden Gefühle schlief er schließlich ein.
Er erwachte durch einen verzweifelten Schrei. Die Sonne stand jetzt groß und tiefrot am Horizont direkt neben der mächtigen Pyramide, deren Schatten bis zur östlichen Stadtmauer reichte. Einen Augenblick war er verwirrt, aber dann erkannte er, dass eine Gruppe Sklaven zu ihren einfachen Hütten getrieben wurden, während andere gerade wieder in die Innenstadt geleitet wurden. Issa lief auf ihn zu, gefolgt von einem fluchenden Aufseher.
„Anwin, was haben sie mit dir getan?“ Ihre Stimme bebte vor Entsetzen, denn sie hatte ihn da gekrümmt sitzen sehen, das einfache, dunkle Gewand voller Blut, das Gesicht fast zur Unkenntlichkeit geschwollen, mit einem gewaltigen blauen Fleck um das eine Auge, einer geplatzten Lippe und einigen blutigen Striemen.
Auf einmal war auch Anwin hellwach und von Grauen erfüllt. Mithilfe der Mauer neben ihm gelang es ihm, sich trotz aller Qualen aufzurichten und in seinem düsteren, blutbespritzen Gewand und dem verzerrten Gesicht, dessen Mimik wegen der Verletzungen nicht deutbar war, wirkte er so furchterregend, dass der Aufseher stehenblieb. Auch Issa wurde langsamer. Da deutete er mit der blutverschmierten Hand abweisend auf sie, riss die Augen weit auf und zog die Brauen zornig zusammen. Dann schrie er schmerzerfüllt und so laut er nur konnte: „Geh! Verschwinde!“
Issa hatte sich den ganzen letzten Mond lang danach gesehnt, Anwin wiederzusehen, hatte sich ausgemalt, wie sie bei ihrem Treffen Worte voll gegenseitiger Zuneigung wechseln würden und war daher durch Anwins Reaktion wie vor den Kopf geschlagen. War es ihre Hässlichkeit, das verdorrte Auge? Auch andere wandten sich deshalb von ihr ab. Aber auch Anwin? Sie blieb vor ihm stehen, wenige Schritte entfernt, die Hände fast flehentlich in seine Richtung gestreckt.
„Aber … Anwin…“
Der blickte sie so kalt an, wie es ihm nur möglich war, sodass es sie innerlich fröstelte und sagte unbarmherzig: „Geh weg und komm nicht mehr hierher!“
Eine Träne löste sich von Issas gesundem Auge und lief die schmutzige Wange hinab, zeichnete eine Spur. Zutiefst verletzt wandte sich das Mädchen nach einem Augenblick ab und ging zu ihrer Gruppe zurück, in der Anwin auch den jüngeren Sohn der ehemaligen Ziegenmilchverkäuferin ausmachte. Beiläufig kam so etwas wie eine positive Emotion in ihm auf, denn viele seiner Bekannten waren wohl als Opfer für die Spiele zu Ehren der Götter ausgewählt worden.
Hatte er schnell genug reagiert? War es ihm gelungen, sie zu schützen? Die Hoffnung zerstob, als er leise, gleitende Schritte hinter sich vernahm. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da hinter ihm stand. Er hörte ein leises, triumphierendes Lachen.
„Das also ist der Angelpunkt für den Hebel. Du hast die Wahl: du überträgst jetzt deine Verletzungen auf den Jungen, oder …“, Rassek blickte zu der Sklavengruppe, die sich auf die Baracken zubewegte, das Mädchen ging mit hängendem Kopf als letzte. „Oder aber ich übertrage sie morgen auf dieses Mädchen. Das ist deine Wahl!“
Anwin wusste, dass er verloren hatte. Alles, was er jetzt noch tun konnte, war, in Zukunft hier am Eingang des Hauses der Heiler so oft wie möglich nach Issa zu schauen, jetzt wo er wusste, dass und um welche Zeit sie zurück zu den Lehmhütten geleitet wurde. Ihr nahe sein und sie doch meiden.
Resigniert, langsam und mühevoll folgte er dem Heiler in das Innere des Hauses.
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„So voller Abscheu! Sein Blick war so voller Abscheu, ich verstehe das nicht!“ Sie schluchzte laut auf. „Was hab‘ ich getan? Gibt er mir die Schuld, weil ich ihn gebeten habe zu mir zu kommen, zum Ennesbeerenpflücken? Aber ich konnte doch nicht wissen, was passieren würde“, flüsterte sie nun beinahe. „Ich habe meine Mutter verloren und ihn nun auch. Warum nur?“ Sie weinte.
Eleran hatte sich neben das kleine Häufchen Elend ins Stroh gesetzt. Er betrachtete sie, wie sie die Arme um die Knie geschlungen hatte, auf denen ihr Kopf so ruhte, dass das Gesicht unter dem langen Haar verborgen war. Gleichzeitig blieb er aber aufmerksam, um rechtzeitig reagieren zu können, bevor der Aufseher um die Ecke bog. Um diese Zeit stärkte der sich aber üblicherweise mit einem Krug sauren Most, sodass sie verhältnismäßig sicher waren.
„Du weißt nicht, was sie ihm angetan haben!“, meinte er, „du hast ihn ja gesehen. Sie misshandeln ihn, um ihn zu einem von ihnen zu machen. Die Heiler sind grausam und gefühlskalt, das weiß jeder! Und jetzt weißt du auch, wie es dazu kommt!“ Er dachte eine Weile darüber nach und fügte dann hinzu: „Wir können froh sein, dass wir hier in den Pferdeställen gelandet sind.“ Eleran, der jüngere Sohn der Milchverkäuferin Sera, war am Auktionsplatz versteigert worden und in den Ställen bei der Stadtmauer gelandet. Zu seiner freudigen Überraschung hatte er da auch Issa vorgefunden, die hübsche Tochter der Quellpriesterin. Dass sie ein Auge verloren hatte, machte ihn immer noch sehr traurig.
„Anwin ist nicht so, sie werden ihn nie zu einem solchen Monster machen, wie sie es sind!“
„Nein, natürlich nicht.“ Eleran legte den Arm um ihre schmalen Schultern und rückte noch ein wenig näher. Issa blickte auf und verzog dann kurz schmerzerfüllt ihr Gesicht.
„Tut es sehr weh?“, wollte Eleran wissen und deutete mit der freien Hand auf ihr zerstörtes Auge.
„Nur ein wenig. Wenn sich das Wetter ändert. Oder wenn es gleich bleibt.“ Sie lächelte jetzt. „Es ist wirklich nicht so schlimm. Ich kann in der Nacht schlafen. Heute Nacht konnte ich das allerdings nicht.“
„Ja, das ist mir klar. Ich bin mir sicher, dass Anwin dich weder hasst noch verabscheut. Vielleicht ist es eher so, dass er sich für das schämt, was er ohne seine Schuld werden wird. Ein Heiler! Er kann schließlich nichts dafür, dass ihm die Götter diese Gabe verliehen haben.“
Seine Worte beruhigten sie ein wenig. „Nein, das kann er nicht“, meinte Issa und dachte darüber nach, was die Götter wohl mit ihm vorhatten. Er spürte, dass sich ihre Stimmung änderte und nach einer Weile sagte sie: „Ich belaste dich mit meinen Sorgen, dabei hast du selbst genug davon! Wie geht es deiner Mutter? Hast du schon irgendeine Nachricht vom Schicksal deines Bruders?“
„Mutter macht mir große Sorgen! Manchmal wird sie ganz bleich und verliert das Gleichgewicht. Sie muss sich dann schnell hinsetzen um nicht zu fallen. Sie versucht, das herunterzuspielen, aber es ist ernst, das spüre ich. Es ist wohl das Herz, sie sagt, es schlägt nicht immer gleichmäßig.“ Kurz schwieg er, weil sich Zukunftsängste in seinem Inneren einnisteten, düstere Bilder. Dann fuhr er fort: „Sie arbeitet in einer Küche und die Arbeit ist nicht allzu schwer, aber trotzdem, du weißt, was geschieht, wenn sie ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen kann!“
Issa nickte langsam und flüsterte: „Sie schicken sie zur öffentlichen Opferung zu Ehren der Götter auf den großen Platz vor der Pyramide, wo die Spiele abgehalten werden. Jede Woche inzwischen.“ Sie schauderte. Wie schnell hatte sich ihr Leben voller Freude in eines voller Furcht für sich und diejenigen, die sie liebte, gewandelt. „Und dein Bruder?“
„Derkan war gestern erstmals bei uns, das wollte ich dir gleich in der Früh erzählen, aber du hast so traurig gewirkt, dass ich nicht wagte, dich anzusprechen.“
„Oh, du hättest es tun sollen, dann hätte es etwas gegeben, worüber ich mich hätte freuen können! Wie geht es ihm? Was hat er erzählt?“
„Du weißt ja, wie kräftig Derkan ist! Da ist er Ruderer geworden, auf einem Handelsschiff. Er war bereits in drei Städten und ist seit gestern wieder in Ur’Agron. Die Arbeit ist meistens nicht so schwer, weil sie oft segeln können, natürlich nur, wenn der Wind aus der richtigen Richtung kommt. Aber die Sklaven werden über Nacht angekettet, damit sie nicht von Bord springen können, wenn das Schiff in Küstennähe ist. Mutter macht sich Sorgen, denn Derkan erträgt die Unfreiheit nicht und er hat in unserem Fluss gelernt zu schwimmen. Früher oder später macht er irgendeinen Unsinn, meint sie, er wird versuchen zu fliehen. Das glaube ich auch. Ich kann nur hoffen, dass sie ihn nicht mehr einfangen können, denn sonst werden sie sich einen sehr grausamen Tod für ihn einfallen lassen.“
„Aber wenn es einer von uns schafft, die Freiheit wieder zu erlangen, dann ist er es!“ Issa blickte ihn zuversichtlich an und Eleran spürte, dass er ihre Hoffnung teilte. Dann wurde ihr bewusst, wie lange sie schon untätig waren. „Wir sollten jetzt wieder an unsere Arbeit gehen, sonst bekommen wir Probleme mit dem Aufseher.“
Eleran stand auf, zog sie hoch und reichte ihr eine der beiden Mistgabeln. „Stimmt, der Mistwagen wird nicht von selbst voll“, seufzte er, „leider.“
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„Kümmere dich nicht um die da!“ Anwin blickte voller Entsetzen zu dem Leichenhaufen, den Geopferten. Zwei Frauen und sogar ein Kind waren darunter. Sie waren erdrosselt worden, wie die Male am Hals und auch die blaue Zunge, die aus dem Mund einer der Männer hervorquoll, dessen Gesicht in seine Richtung gewandt war, deutlich zeigten. „Warum werden sie erwürgt?“, fragte er den Heiler mit fast sachlicher Stimme, denn er wollte sich das Grauen, das er fühlte, nicht anmerken lassen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass jeder Funke von Gefühl von Rassek als Schwäche ausgelegt wurde, der diese unweigerlich dazu verwendete, Anwin zu seinem willenlosen Werkzeug zu machen.
„Damit nichts vergeudet wird, kein Tropfen Blut! Schlimm genug, dass bei den Gladiatorenkämpfen so viel Blut in den Sand fließt! Sobald die Opferung vorbei ist, werden die Leichen zu den Dienern der Götter gebracht, die sich von ihnen ernähren. Das sollte dir eigentlich bekannt sein.“
Anwin zögerte und erwiderte dann leise: „Ich hielt das für ein grausames Gerücht ohne jeden Wahrheitsgehalt“. Er sah hinaus in das Rund des Amphitheaters, auf die steinernen, gut besetzten Zuschauergalerien, die Loge des Herrschers Zagran, der noch nicht da war – die Opferungen, die Zurschaustellung, wie die Menschen ohne jede Möglichkeit der Gegenwehr langsam ihr Leben verloren, waren ihm wohl zu langweilig. Das gemeine Volk fühlte hingegen noch den wohligen, sadistischen Schauer, den viele empfinden, wenn einer anderen Kreatur Leid angetan wird, während man selbst sich in vermeintlicher Sicherheit befindet. Im Gegensatz zu Zagran bewunderte das restliche Publikum noch die Fähigkeit der Drossler, den von den Opfern letztlich ersehnten Tod so lange als möglich hinauszuzögern.
Über den Galerien war der Himmel azurblau, gefärbt für das Leben, nicht für den Tod, ein schöner, warmer Tag, aber ihn fröstelte, insbesondere beim Anblick der drohenden, alles überragenden Silhouette der Götterwohnung. Ein unterirdischer Gang führte von der Halle des Amphitheaters zur Pyramide mit dem sechseckigen Grundriss; von dort kamen jetzt zwei kräftige, nur mit Lendentuch bekleidete Sklaven mit einem niedrigen, robusten Wagen, den sie bei den Opfern wendeten. Sie luden die Leichname auf und zogen das Gefährt ins Dunkle, wo sie langsam, Dämonen gleich, verschwanden.
Fanfaren erschallten, die Menschen standen von ihren steinernen Sitzen auf und johlten vor geheuchelter oder echter Begeisterung, huldigten ihrem Herrscher, denn Zagran und sein Gefolge waren endlich erschienen und die Gladiatorenkämpfe konnten beginnen! Während Akrobaten ihr Können zur Schau stellten und sich Tänzerinnen in spärlichen Gewändern im Rhythmus des Trommelschlags wiegten, wurden die Pfosten weggeräumt, an denen die sechs Opfer der Woche ihr Leben gelassen hatten, wie das inzwischen an jedem ersten Tag der Woche, am Tag der Götter, geschah. Sechs Opfer alle sechs Tage, die magische Zahl sechs war überall und in allem. Anwin trat zur Seite, um den Abtransport der Marterwerkzeuge nicht zu behindern, je zwei Sklaven trugen den schweren Pfahl mit der Seilschlinge in die Halle und während sie sich draußen jede Mühe gegeben hatten, stark zu wirken, um nicht die nächsten zu sein, die geopfert wurden, sackten sie hier in der Halle zusammen und Anwin konnte ihnen deutlich ansehen, dass der Pfosten für zwei schlecht ernährte Männer eigentlich zu schwer war.
Nun wurde von Soldaten eskortiert das erste Kämpferpaar von der Gladiatorenschule kommend zum Hallenausgang geleitet, zwei mittelgroße Männer, einer sehr muskulös, recht massig, der andere eher sehnig. Sie wirkten konzentriert, aber man konnte ihnen die Angst dennoch anmerken. Beide waren lediglich mit Lendentuch, hochgebundenen Sandalen und ehernen Unterarm- und Schienbeinschützern angetan. Rundschild, Schwert und Lanze erhielten sie erst jetzt. Beide banden die Schwertscheide auf ihren Rücken, der Schmälere über die rechte; er war also Linkshänder. Der Breitere zischte ihm zu: „Dich mach ich fertig, du bist jetzt schon tot!“ Ein kläglicher Versuch, die Selbstsicherheit des anderen zu untergraben; denn der blieb ruhig, kontrollierte noch einmal den Schildgurt, den er um den rechten Unterarm gebunden hatte, nahe am Ellenbogen. Dann nahm er die Lanze in den anderen Arm und trat hinaus in die Arena. Wütend ob der Missachtung folgte ihm der andere um gleich darauf zu ihm aufzuschließen. Sie schritten in die Mitte und verbeugten sich vor Zagran, dem Herrscher der Welt. Vielleicht auch nur vor seiner Loge. Dann wichen sie voreinander zurück, den Blick immer noch auf Zagran gerichtet, der den Arm gehoben hatte und nun fallen ließ. Das war das Zeichen! Wütend rannte der Stämmigere los, hob die Lanze an und schleuderte sie auf seinen Gegner. Der aber ließ sich nicht überraschen und hatte mit seiner ungeschützten Haltung diesen Angriff bloß provozieren wollen. Jetzt hob er wieselflink seinen Schild und lenkte die Bahn der Lanze mit einer leichten Drehung seines Körpers seitlich ab, die daraufhin weiterflog und viele Ellen entfernt im Sand stecken blieb. Der Angegriffene hatte keine Zeit mehr, seinen eigenen Speer in Position zu bringen, da war der andere schon da und versuchte ihn wie ein wütender Stier frontal zu rammen, um sein höheres Körpergewicht zu seinem Vorteil zu nutzen. Daraus wurde aber nichts, denn sein Gegner duckte sich plötzlich, wobei er den Schild eng an den Körper gepresst empor hielt. Der bullige Gladiator fiel über ihn und blieb einen Augenblick lang in einigem Abstand seitlich liegen, bevor er sich besann und sich rasch auf den Rücken drehte und den Schild über sich brachte; keinen Moment zu spät, denn die Lanze fuhr bereits herab, prallte am Schildrand ab und verletzte ihn an der Schulter. Das erste Blut des Tages tropfte in den Sand! Der schlankere Mann zog behände das Schwert, das im Nahkampf besser verwendet werden konnte, war aber nicht rasch genug, um zu verhindern, dass der Bulle hastig aufstand, sich die ganze Zeit über mit dem Schild schützend. Auch er holte die zweischneidige Waffe aus der Scheide. Sie umkreisten sich eine Weile ohne auf die Buhrufe zu achten, die von den Rängen aufstiegen. Schließlich ließ die Aufmerksamkeit des Sehnigen wieder scheinbar nach, er senkte den Schild ein wenig und sofort griff der andere an, ließ sein Schwert mit enormer Kraft auf den Schutz sausen. Indessen war der Schlanke aber zurückgewichen, mit einer leichten Drehung einen Schritt bloß, aber genug, dass das Schwert den Schild nicht mit voller Gewalt erwischte, seitlich abgelenkt und erst durch den Arenaboden gestoppt wurde, Staub aufwirbelnd. Der Gegenangriff folgte sofort; der Linkshänder führte einen hastigen Schlag gegen die kurzfristig ungeschützte Schulter und hinterließ eine lange, oberflächliche Wunde, bevor es seinem Gegner gelang, den Schild wieder schützend zwischen sich und die Waffe zu bringen.
Was nun folgte, war ein tödliches Geduldsspiel. Der Schwerere war auch der Gefährlichere; jeder Angriff von ihm konnte seinen Gegner allein durch dessen Wucht besiegen und sein Ende besiegeln. Deshalb musste der andere ihn zermürben, musste versuchen, ihn durch kleinere Verletzungen zu schwächen und schließlich zu ermüden. Tatsächlich verließ beide schon die Kraft, die Bewegungen wurden langsamer, die Verteidigung fehlerhafter. Beide bluteten jetzt bereits aus zahlreichen Wunden, keine für sich genommen bedenklich doch insgesamt bedrohlich genug. Das war den Kontrahenten auch überaus klar. Ein Ende musste her. Der massigere Kämpfer verlor die Geduld zuerst. Mit voller Kraft warf er sich gegen den Schild seines Gegners, dem es aber gelang, sich seitlich am anderen vorbei zu drehen und das Schwert eine handbreit in den Rücken des Gladiators zu versenken. Der schrie auf und fiel langsam zu Boden. Als Zeichen seiner Niederlage warf er das Schwert von sich, während der triumphierende Kämpfer seine Waffe auf die Brust des Unterlegenen richtete.
Insgesamt war das Publikum mit der blutigen Darbietung zufrieden. Es applaudierte verhalten. Jetzt warteten alle auf das Urteil des Herrschers. Zagran deutete zuerst auf den Sieger und kehrte die Handfläche nach oben; danach auf den Verlierer, verhielt dann, um die Spannung zu erhöhen. Dann drehte er die Fläche der Hand nach unten.
„Das war das Todesurteil“, erklärte Rassek.
„Was für eine unsinnige Entscheidung!“, empörte sich Anwin. „Der Mann ist doch gut gepolstert! Die Schwarte hat doch sicherlich eine gröbere Verletzung verhindert! Mit einiger Pflege könnte er bald wieder kämpfen.“
„Das ist nicht unsere Entscheidung! Zagran hat das Zeichen gegeben, das seinen Tod bedeutet, allein das ist ausschlaggebend.“
„Ich verstehe“, meinte Anwin, aber tatsächlich tat er das nicht. Er verstand gar nichts. Er verstand die Menschen dieser Stadt nicht, verstand den Herrscher nicht und auch nicht den Mann in rot und schwarz, der neben ihm stand. Er verstand ihren Willen zu Grausamkeit nicht und ihr angemaßtes Recht, über das Leben anderer zu entscheiden, verstand nicht einmal ihr Streben nach Macht. „Wer wird dieses Urteil vollstrecken? Der siegreiche Gladiator?“
Rassek lächelte ihm zu, aber dieser Mimik fehlte jede Wärme. „Nein, Schüler! Diese Ehre wird dir zukommen. Was du im vergangenen Monat erlernt hast – nicht nur dich selbst zu heilen, sondern die Lebensenergie die du jemand nimmst auch auf andere zu übertragen; was du an kleinen Wunden erprobt hast, immer und immer wieder, kannst du jetzt im Großen anwenden. Diesmal nimmst du nicht einen kleinen Teil der Lebensenergie, sondern alles, überträgst es auf den Siegreichen und heilst alle Wunden. Die Menschen sollen das sehen! Sie sollen unsere Macht sehen! Sie sollen lernen uns zu fürchten! So will es der Herrscher, so wollen es die Götter!“
Anwin schnaubte verärgert auf, so dass der andere sein wahres Gefühl – namenloses Grauen – nicht erraten konnte. Mit Empörung in der Stimme schrie er seinen Mentor an: „Ich begehe doch keinen Mord, nur um diesen blutrünstigen Pöbel zu unterhalten! Wenn der Herrscher den Mann tot sehen will, soll er ihn doch selbst umbringen!“ Er wandte sich ab und wollte gehen, aber Rassek hielt ihn am Oberarm fest.
„Du gehst da mit mir hinaus oder die Tochter der Priesterin wird in sechs Tagen an einem der Pfosten stehen und langsam erwürgt werden! Und du wirst zusehen, das schwöre ich dir!“
Wie oft hatte der Heiler ihm schon damit gedroht, dass er Issa Leid zufügen würde! Genauso oft wie Anwin schließlich etwas getan hatte, was ihm zutiefst zuwider war. Täglich saß er abends vor dem Unterrichtshaus der Heiler und versicherte sich, dass Issa noch lebte, dass es ihr, wenn schon nicht gut, dann zumindest nicht zu schlecht ging. Dass ihr noch mehr angetan wurde, konnte er nicht ertragen. So war er zu einem Spielzeug in Rasseks Händen geworden. Er erlaubte sich, Zorn zu empfinden, enorme Wut, die das Grauen über sein Handeln hinwegschwemmen sollte.
Inzwischen waren vier der Soldaten, die während der Vorführungen am Arenarand gestanden hatten, zu dem Gladiator gegangen, der den Kampf verloren hatte. Zwei hielten ihn an den Armen fest, zwei richteten ihre Lanze auf den mächtigen Oberkörper des Mannes, der sich trotz des Blutverlustes immer noch wehrte.
„Es ist Zeit!“ Rassek trat durch das Tor in die Arena, nachdem er sich die schwarze Kapuze über den Kopf tief ins Gesicht gezogen hatte. Anwin folgte ihm an seiner linken Seite, immer einen Schritt zurückbleibend, so wie man es ihm geheißen hatte. Der Mann, der in seinem Blut lag, sah ihnen voller Entsetzen entgegen, sogar dem siegreichen Gladiator schien bei ihrem Anblick unwohl zu sein.
„Mach es langsam! Sie lieben den Schrecken im Gesicht des Opfers“, flüsterte ihm Rassek zu. Anwin antwortete nicht, blickte lediglich düster vor sich hin. Sie drehten sich zur Loge des Herren der Welt und verbeugten sich demutsvoll. Danach wandten sie sich dem Zentrum der Arena zu, wo das Opfer lag. Einer der Soldaten legte seinen Speer in den Sand, ging seitlich an dem vorbei, der seinen linken Arm fixierte und ergriff mit gepanzerten Händen den Kopf des Wehrlosen. Traditionell näherte sich der Heiler von hinten, sodass er sich nicht der Gefahr aussetzen musste, vom Opfer getreten zu werden. Aber der Überwältigte konnte immer noch beißen, wenn der Heiler seine Schulter ergriff. Deshalb wurde sein Kopf von dem Mann mit den gepanzerten Händen fixiert.
Während Rassek stehen blieb kniete sich Anwin hin und ergriff die Schulter des Opfers. Der Sieger im Kampf kauerte sich nach kurzem Zögern neben ihn, sodass er mit der anderen Hand auch dessen Schulter ergreifen konnte.
Dann versank die Welt um Anwin herum, wurde nichtexistent. Durch seine Hände erspürte er die Lebensenergien der beiden Männer. Wie er vermutet hatte waren sie zwar schwach, flackerten aber nicht. Keiner der beiden war dem Tode nahe und beide waren durch Kampf und Blutverlust ausgelaugt. Er zögerte ob der ruchlosen Tat, die er zu begehen hatte, einen kurzen Augenblick lang. Mit mentalen Händen ergriff er deren Energie, spürte ihre Wehrlosigkeit und schuf einen Kanal, erzeugte gleichzeitig ein Gefälle, so hoch wie noch nie. Mit einem gewaltigen Ruck saugte er die Lebenskraft des Opfers ab und ließ sie in den Gewinner des Streits fließen. Der riss die Augen auf, als schlagartig seine Erschöpfung wich und sich die zahllosen Wunden sofort schlossen, während der andere plötzlich doppelt so viele Wunden aufwies und noch im gleichen Moment verstarb.
Kraftlos öffnete Anwin die Augen und blickte in das Gesicht des Opfers, dessen Mimik nicht Grauen, sondern Erstaunen ausdrückte. Ein kleiner Triumph über Rassek, eine ohnmächtige Möglichkeit, sich gegen seinen Herren aufzulehnen. Rassek war tatsächlich verärgert und auch das Publikum raunte. Mühselig stand Anwin auf und verbeugte sich fast spöttisch. Er wusste, dass das was er getan hatte falsch und gefährlich war. Rassek hatte ihn oft darauf hingewiesen, dass Hast bei der Übertragung von Lebensenergie für den Heiler tödlich sein konnte und ihm zumindest Schwächegefühl und tagelange Schmerzen bereiten würde. Anwin nahm das hin, denn es war gut, wenn ihn etwas daran erinnerte, dass er soeben seinen ersten Mord begangen hatte.
***
„Vergiss es!“ Der dunkelhäutige, stämmige Mann versenkte seinen Kanten Brot in die dünne Suppe und schob ihn hernach so weit es eben ging in den großen Mund. Er kauerte auf den Brettern des Schiffshecks neben Derkan, der sich ebenfalls über sein kärgliches Essen hermachte. Er benützte allerdings den Holzlöffel. An das ständige auf und ab hatte er sich inzwischen hinlänglich gewöhnt, zumindest bei moderatem Wellengang. Anfangs war es ein Problem gewesen und er immer ein wenig grün im Gesicht.
„Dann kommst du nicht mit?“
„Ein Sklavenleben ist nicht lustig, aber ich will trotzdem noch nicht sterben. Du schaffst das nicht, niemandem ist es bisher gelungen. Du wirst elendiglich ersaufen!“
Derkan blickte düster vor sich hin. „Deine optimistische Haltung ist nicht gerade hilfreich. Natürlich erzählen sie einem, dass es noch nie jemand geschafft hat. Wenn das wahr ist, muss ich eben der erste sein. Mir bleibt sowieso keine Wahl! Meine Mutter wird immer schwächer, ich muss sie da raus bringen, sonst endet sie als Opfer in der Arena!“
„Verstehe ich das richtig? Du willst hier von Bord springen, an Land schwimmen, dann nach Ur’Agron zurückgehen, wo du gerade erst herkommst und schließlich gemeinsam mit deiner kranken Mutter und vielleicht auch mit deinem Bruder aus der Stadt irgendwohin an den Rand der Welt fliehen?“
Derkan hatte vor wenigen Tagen erst die Gelegenheit gehabt, seine Familie zum zweiten Mal zu besuchen und war entsetzt darüber gewesen, wie schwach seine Mutter inzwischen war. „Genau! So wie du das sagst, klingt es eigentlich ohnehin einfach.“ Und nach einer kurzen Denkpause: „Es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich weiß selbst, dass es Wahnsinn ist.“ Er flüsterte, denn er hatte kein Interesse daran, dass die Matrosen oder andere Rudersklaven mithörten.
Der Dunkle blickte skeptisch. „Wäre es nicht klüger gewesen, das zu versuchen, als du noch in der Stadt warst?“
„Sobald man aus dem Sklavenhort hinaus ist, bewachen sie einen akribisch. Drinnen ist man eingesperrt, aber wenn man von außen kommt, sollte man die Wachen überwältigen können. Sie rechnen nicht damit, dass jemand in den Sklavenhort einbricht. Egal. Zu spät, ich muss es jetzt versuchen.“
„Wir sind zu weit vom Ufer entfernt.“ Er blickte im Kreis umher, nirgends war Land in Sicht, abgesehen von schemenhaften Umrissen, die den Weltenrand erahnen ließen. Die Berge erhoben sich über den Dunstschleier, der sich oft an den Zentralen See schmiegte. „Das schaffst du nicht. Selbst, wenn dich kein Pfeil erwischt.“ Er deutete unauffällig und mit gesenktem Blick auf einen der beiden narbengesichtigen Söldner, der gelangweilt auf den riesigen See hinaus blickte. Er stützte sich gegen die Reling und hielt einen Langbogen nahe dessen Mitte in seiner Hand. Den Köcher hatte er geschultert. Alle Teile seiner Ausrüstung waren Überbleibsel verschiedener Schlachten, in denen er sich für zahllose Herren verdingt hatte. Nicht mehr in der Blüte seiner Jahre hatte er sich eine weniger mörderische Arbeit als einer der Leibwächter des Kapitäns gesucht.
„Wenn es mir gelingt, die beiden Bögen in den See zu schleudern, können sie mir die Pfeile nur mehr nachwerfen.“
„Wenn du das bei einem schaffst, hat der andere genug Zeit, auf dich anzulegen. Dann steckt ein Pfeil in deinem Rücken. Oder in deiner Brust, wenn du schnell bist.“
„Du bist ein Schwarzseher. Ich muss lediglich warten, bis sie nebeneinander stehen.“
„Sie stehen aber nie nebeneinander! Entweder sind sie sehr gewissenhaft oder sie können sich nicht leiden. Übrigens sehen sie nicht aus, als würden sie sich die Bögen einfach so wegnehmen lassen. Sie haben auch noch Schwerter.“
„Werden sie das Segel reffen, wenn ich von Bord springe?“
„Bei der feinen Brise, die jetzt weht? Weiß nicht. Beim letzten Sklaven, der von Bord gesprungen ist, haben sie nicht gehalten. Aber die Bogenschützen haben sehr rasch reagiert. Kaum dass er wieder aufgetaucht war, hat es ihn erwischt. Seitlich in den Hals, der ist nicht mehr weit geschwommen.“ Der Mann lachte. „Na ja.“
„Wann ist das passiert?“
„Einiges vor deiner Zeit als Sklave. Es springt nicht jeden Tag einer von Bord.“
„Und wenn ich sehr lange unter Wasser bleibe? Dann können mir die Pfeile doch nichts anhaben.“
Der Dunkle wiegte den Kopf. „Weiß nicht, wie lange du unter Wasser bleiben kannst. Die Schützen sind sehr gut, das weißt du ja.“ Das stimmte, das wusste Derkan. Frischen Sklaven wurde stets vorgeführt, auf welche Distanz die beiden ein kleines Holzbrett treffen konnten, selbst wenn es von den Wogen auf und ab geschaukelt wurde. „Pass auf, dass du überhaupt noch mal auftauchen kannst. Und vielleicht haben sie ja bloß deshalb die Fahrt nicht unterbrochen, weil sie den Sklaven gleich getroffen haben. Vielleicht würden sie sich ein bisschen Zeit nehmen für dich!“ Er hob die Augenbrauen zu einer herausfordernden Geste.
Derkan seufzte. „Man müsste springen können, wenn es bereits dunkel ist.“
„Ist denen auch schon aufgefallen! Deswegen werden wir ja in der Nacht angekettet.“
Derkan blickte zum Bug, wo ein dritter Söldner stand, der einzige Passagier bei dieser Fahrt. Hier war das Schiff etwas erhaben, denn die Kapitänskajüte befand sich darunter. Seine zusammengerollte Schlafmatte lag ebenfalls dort, quasi am Dach der Kajüte, denn er nächtigte im Freien, wann immer es das Wetter erlaubte. Daneben waren seine Waffen und seine schwere Rüstung, immer in Griffnähe, was für seine Vorsicht sprach, ebenso sehr wie, dass er die leichte Rüstung auch an Bord trug, was sicher ziemlich unbequem war. Derkan hatte es besonders sein kreisrunder Schild angetan, das aus einer langen Neri-Rute hergestellt worden war. Im frischen Zustand waren Neri-Ruten äußert elastisch und konnten so um einen zentralen Elfenbeinzylinder in Form einer sehr engen Spirale herum gewunden werden. Wegen der überaus zähen und widerstandsfähigen Fasern hielt ein derartiger Schild den Schlägen eherner Schwerter lange stand. Was ihn aber mehr interessierte war seine verhältnismäßige Leichtigkeit.
Der Söldner und der Kapitän der „U’Xetes Ehren“, eines mittelgroßen Schiffs mit fast vierzig Freien als Besatzung, hatten sich von Anfang an gut verstanden und waren gerade dabei, einen Schlauch mit hellem Wein zu leeren. Aarof wollte den Krieger wohl dazu bewegen, seine Ware zu bewachen, solange sie im nächsten Hafen lagen, in Ur’Seleb gab es viel räuberisches Gesindel, das war allgemein bekannt. Und seine Leibwächter wollte er in die Stadt mitnehmen, zumindest einen von ihnen. In dieser Stadt würden die Unfreien nicht von Bord gehen dürfen, da dort Sklaverei verboten war. Wer also die Stadt betrat, war frei. Derkan dachte ernsthaft daran, mit der Flucht noch zu warten, bis sie Ur’Seleb erreicht hatten, aber wie sollte er sich befreien, wenn er an die Ruderbank gekettet war? Ein gewisses Maß an Freiheit genossen sie nur jetzt, am Tag, auf hoher See, wenn sie nicht gebraucht wurden, weil der Wind in die richtige Richtung blies.
Derkan stellte den leeren Teller beiseite und überlegte, ob er ein wenig zwischen Heck und Schiffsmitte spazieren sollte. Der vordere Teil des Schiffes war ihnen verwehrt, wenn sie nicht gerade zu den Ruderbänken zurückgebracht wurden, die mögliche Wegstrecke also eher kurz. Er entschied sich aber dagegen und wartete, nunmehr schweigend und, wie er hoffte, unauffällig. Er lehnte sich gegen die Reling und schloss die Augen, versuchte ein wenig zu schlafen.
Als er wieder erwachte, stand die Sonne schon tief, berührte fast den Horizont der Welt, die gezähnte Bergsilhouette, die an manchen Tagen deutlicher zu sehen war als heute. Derkan wappnete sich für das, was da kommen mochte. Sein Freund, der gerade über die Reling pinkelte, warf ihm einen kritischen Blick zu. Derkan stand auf und erleichterte sich ebenfalls, um nicht aufzufallen. Bald würde der Aufseher kommen, sie in den Schiffsbauch geleiten und mithilfe anderer Matrosen für die Nacht an die Ruderbänke anketten. Da war es sinnvoll, vorher die Blase zu leeren, es stank da unten ohnehin schon unerträglich. Derkan hatte allerdings nicht vor, sich diesmal anketten zu lassen.
Als der Aufseher kam, ein großer, breit gebauter Mann mit stets grimmiger Miene, für die sich seine dunklen, buschigen Augenbrauen hervorragend eigneten, stellten sich die sechzehn Rudersklaven der Backbordseite in eine Reihe, so wie jeden Tag. Der Aufseher war letztlich nur eine Person, sie hätten ihn gemeinsam leicht überwältigen können, trotz der Peitsche und des Schlagstocks, aber das hätte ihnen nichts gebracht, denn die Matrosen waren alle mit einem Dolch bewaffnet und deutlich in der Überzahl, da die Ruderer der Back- und Steuerbordseite nie gleichzeitig aus dem Bauch des Schiffs geführt wurden. Derkan hatte schon sehr bald akzeptiert, dass Widerstand der Sklaven gegen ihre Herren sinnlos war. Zudem hätte niemand von der Besatzung gezögert, einen Aufwiegler zu meucheln. Die Strafen für Ungehorsam waren überdies drakonisch und der Kapitän wartete nur darauf, ein Exempel zu statuieren, um die Disziplin unter den Sklaven aufrecht zu erhalten.
Derkan stellte sich in der Reihe an die vorletzte Stelle, hinter ihm kam nur noch sein Vertrauter und dann natürlich der Sklavenaufseher. Dann ging es langsam in Richtung Bug, denn der Abgang zu den Ruderbänken befand sich vor der Schiffsmitte. Sie gingen an dem Söldner mit dem Bogen vorbei, der steuerbord gelangweilt an der Reling lehnte, immer in kleinen Schritten, da die Sklaven sich nicht besonders beeilten, die Treppe hinunter zu gelangen, wo bereits einige Matrosen auf sie warteten, um sie anzuketten. Am Wendepunkt der Schlange angelangt, raste Derkan plötzlich nach vorne, verfolgt von dem wütenden Schrei des Aufsehers und eines enttäuschten Aufheulens jener Sklaven, die sich bereits im Schiffsbauch befanden und daher nichts mitbekamen. Derkan überwand die hüfthohe Barriere, höher war sie nicht, weil die Kapitänskajüte in den Schiffsrumpf hinein gebaut war, und am Dach angekommen griff er sich den fast leeren Ziegenbalgschlauch und schnappte sich auch noch den Schild, während der Passagier bereits sein Schwert gezogen hatte. Derkan lief einfach weiter, ihm seitlich ausweichend, über den Rand hinaus und drehte sich in der Luft, wobei er den Schild vor seinen Körper hielt. Das Manöver kam keinen Augenblick zu früh, schon steckte ein Pfeil in der Schildperipherie, was ein phantastisches Glück war, hätte der Schütze etwas höher gezielt, wäre der Pfeil genau in Derkans Hals gelandet und hätte sein Schicksal besiegelt. Er fiel tief, durchbrach die Seeoberfläche mit dem Rücken, was er als ziemlich schmerzhaft empfand und ihn sich zusammenkrümmen ließ, tauchte ohne eigenes Zutun ins angenehm warme Wasser, prallte mit der Schulter gegen den Schiffsrumpf, versuchte sich weg zu stoßen und seinen Körper unter den Schild zu bringen. Als er auftauchte, fuhr ein weiterer Pfeil mit erstaunlicher Wucht halb durch den Schild, aber ohne ihn zu verletzen – er musste sich jetzt fast direkt unter dem Schützen befinden. Er drehte sich, wagte nicht, mit dem Kopf hinter dem Schild hervor zu sehen, noch ihn direkt an den Schild zu legen. Aber schon bevor ihm die Luft ausgegangen war, hob er den Kopf über Wasser und atmete tief ein, denn er war sich sicher, dass er nicht die Orientierung verloren hatte und ihn der Schild daher weiterhin schützte. Das tat er auch, er spürte abermals zwei Treffer, aber die Spitzen drangen nicht mehr durch, wie beim zweiten Schuss. Wasser tretend wiegte er mit den Wellen auf und ab und zählte noch vier weitere Pfeile, erst dann wagte er Ausschau zu halten. Das Segel bauschte sich nach wie vor im Wind, das Schiff hielt nicht! Die Ladung schnell nach Ur’Seleb zu bringen, war dem Kapitän wichtiger als einem Sklaven nachzurudern, der wahrscheinlich ohnehin ertrinken würde. Derkan ließ den gespickten Schild los, der daraufhin langsam von ihm wegtrieb, aber nicht unterging. Er legte das Mundstück des Ziegenlederschlauchs an seine Lippen nachdem er den Kork entfernt hatte, aber nicht um die Reste des gelben Weines zu trinken, sondern um ihn aufzublasen. Wer Wein halten konnte, würde wohl auch Luft eine Weile behalten können. Dann steckte er den Rindenstöpsel so fest es ging in das Mundstück und legte sich auf den Schlauch, so wie er das schon als Kind im Fluss von Erefendor getan hatte. Langsam und mit gleichmäßigen Beintempi schwamm er in die Richtung, in der er Land vermutete.
***
Anwin war seinem Meister wieder in die große Halle der Arena gefolgt. Sie waren in Begleitung eines zweiten Heilers und seines Schülers und, während sich die beiden Alten angeregt unterhielten, schwiegen die Adepten, nicht nur, weil sie in Anwesenheit ihrer Lehrer nicht unaufgefordert die Stimme erheben durften, sondern auch, weil Anwin mit seinesgleichen nichts zu tun haben wollte. Der andere hatte unterwürfig den Blick gesenkt und sich auch sonst wie ein braves Hündchen seines Herrn verhalten. Es war wohl nie nötig gewesen, seinen Willen zu brechen, er tat vermutlich alles was man ihm befahl und würde sicherlich einmal ein Vorzeigewerkzeug der Götter werden. Dass sie sehr unterschiedlich waren, zeigte sich schon daran, dass Relaf, dieser Idiot, dem Augenblick entgegenfieberte, an dem er einem unterlegenen und zum Tode verurteilten Gladiator das Leben nehmen konnte. Er war weit weniger begabt als Anwin und lernte viel langsamer als er, dafür aber war er viel bereitwilliger und von einer gewissen natürlichen Grausamkeit, die eine treffliche Voraussetzung für den Beruf des Heilers bildete. Vielleicht gerade ob seiner mickrigen Gestalt war er an Macht sehr interessiert. Und wegen all dieser Eigenschaften war er für Anwin nicht viel mehr als ein wirksames Brechmittel.
Anwin hingegen hatte zwar seinen offenen Widerstand aufgegeben, nicht aber eine gewisse passive Resistenz. Er zeigte auch kein ehrfurchtvolles Gehabe und, wenn Rassek und er alleine waren, redete er unaufgefordert, wenn ihm danach war. Im Allgemeinen hatte er aber nichts mit seinem Meister zu besprechen, dazu hasste er ihn zu sehr, da dieser es liebte, ihn zu erniedrigen und zu quälen. „Wesensbildung“ nannte er das. Und natürlich vor allem wegen dem, was er Issa angetan hatte.
Die Arena und das ganze Amphitheater widerten Anwin an, all seine Besucher, und so fragte er sich aufgebracht, was er hier sollte, denn dies war der große Tag des Relaf, er würde vor dem Publikum stehen und die Macht der Heiler demonstrieren. Am liebsten würde er Rassek die Frage entgegen schleudern, aber in Gegenwart des anderen Meisters hielt er sich besser zurück.
Von draußen waren Kampfgeräusche zu vernehmen, wuchtige Schwertschläge gegen gerüstete Schilder, Schreie des Zorns und des Siegesstrebens. Gegen seinen Willen fesselte der Streit Anwin und so blickte er durch das bronzene Gitter, das die Halle von der Arena trennte. Vis-à-vis und seitlich waren die steinernen Zuschauerbänke, wieder vollgefüllt, wie jeden sechsten Tag. In der Mitte kämpften zwei Hünen im Sand. Ein Schrei erschallte, lauter als die vorangehenden. Einer der Gladiatoren hatte dem anderen beinahe ein Bein abgetrennt, Blut floss reichlich. Der Augenblick Relafs war gekommen und Eile war geboten, bevor der schwer Verletzte von selbst starb, ohne die Hilfe eines Heilers. Die beiden, Relaf und sein Meister, rannten geradezu hinaus und Rassek kicherte hinter ihnen her. „Er wird’s vermasseln in seinem Übereifer! Ihr Götter, wie ich es liebe, wenn Dorwal, dieser Angeber, sich blamiert!“ Dorwal, schloss Anwin, war Relafs Meister. Nicht dass ihn das besonders interessierte, vorgestellt wurden sie sich nicht, dazu war Anwin als Adept zu unbedeutend. Relaf hatte sich zwischen die beiden gekniet und blickte angestrengt, aber das war es auch schon, mehr Unterhaltung konnte er der aufgeregten Menge nicht bieten, keiner der Schnitte des Siegreichen verheilte und der andere starb immer noch langsam und qualvoll.
„Wozu?“, wollte Anwin beim Betrachten des grausamen Schauspiels wissen.
„Was wozu?“ Rassek blickte ihn an, wie man einen Wurm ansieht, bevor man ihn zertritt. Offensichtlich war er ungehalten ob der Ablenkung.
„Wozu sind wir gut? Wir Heiler. Was tun wir Gutes? Was tun wir für die Menschen? Und wenn wir schon nichts für die Menschen bewirken, sollten wir doch wenigstens für die Götter einen Nutzen haben. Aber welchen? Meister, sag es mir! Ich komm’ nicht drauf!“
Rassek überlegte, ob er den Jungen wegen seines respektlosen Tones mit seinem kurzen Stock züchtigen sollte, fand aber letztlich, dies sei zu anstrengend. „Ich dachte mir schon, dass dich das interessiert! Und damit du eine Antwort auf diese Frage erhältst, sind wir heute hier.“
„Hier im Amphitheater werde ich die Antwort bestimmt nicht finden.“
Inzwischen hatte Dorwal seinen Schüler wütend weggestoßen und das Heilen selbst übernommen. Relaf kniete beschämt bei dem Soldaten, der den rechten Arm des Verwundeten festhielt. Sein Scheitern, das auch Dorwals Versagen war, hob deutlich Rasseks Laune. „Hier in der Arena nicht, da hast du recht. Die Antwort wirst du in den Katakomben unter der Pyramide finden. Obwohl – Katakomben ist eigentlich das falsche Wort – genau genommen befindet sich dort das genaue Gegenteil!“ Rassek kicherte. Worin der Scherz in seiner Bemerkung bestand, entzog sich Anwins Verständnis. Die Verblüffung stand ihm offenbar deutlich ins Gesicht geschrieben, denn Rassek fühlte sich bemüßigt einige kryptische Bemerkungen nachzuschieben: „Du wirst es selbst sehen! Heute begeben wir uns durch den Gang, durch den die Leichen der Opfer abtransportiert werden in die Tiefen unterhalb der Götterwohnung. Freue dich, das wird sehr interessant für einen aufgeweckten Jüngling wie dich.“
Dann richtete er sein Augenmerk auf die Halle, wo außer ihnen noch ein paar Gladiatoren warteten. Ihr Schicksal hatte sich seit einigen Monden deutlich verschlechtert, denn früher hatte Zagran durchaus auch beide Gladiatoren am Leben gelassen, wenn sie tapfer und unterhaltend gekämpft hatten. Jetzt war das kaum jemals noch so und man munkelte, dass Zagran direkt im Auftrag der Götter handelte.
Wo die Halle in die Prunkstraße mündete, die zur Pyramide führte, öffnete sich jetzt ein kleines Tor. „Sträflinge!“, erläuterte Rassek als zwei kräftige Männer mit Fußfesseln und Zwingstock um den Hals von fünf Gardisten hereingeführt wurden. Zwei der Männer, die an der Uniform als Pyramidenwächter zu erkennen waren, hielten den Zwingstock, dessen Drahtschlinge um den Hals je eines der Gefangenen gelegt war und lenkte ihn damit, zwei stellten sich seitlich hinter sie, mit blankgezogenem Schwert. Der fünfte war durch seine golden verzierte Rüstung, den federbuschigen Helm und den langen Umhang als Offizier zu erkennen. Er blickte sich um, sah den Heiler und ging auf ihn zu. „Gutes Material diesmal. Sieh nur, wie kräftig sie sind, vor allem der Linke! Der wird lange durchhalten.“
Rassek schüttelte den Kopf. „Der Rechte ist zäher. Wir nehmen ihn.“
Der Offizier der Garde nickte gutmütig. „Wie du willst, du bist der Heiler. Du nimmst deinen Schüler mit? Ist er denn schon so weit?“
„Das ist ungewöhnlich früh, ich weiß, geschieht aber auf Befehl der Götter! Nun, wir werden sehen. Jedenfalls ist er sehr neugierig. Er will wissen, was wir Heiler für die Götter tun!“ Nach dieser Bemerkung lachten die beiden Männer schallend und abermals entging Anwin der Witz an der Sache.
„Was haben die beiden Gefangenen verbrochen?“, wagte Anwin zu fragen. Rassek blickte ihn wütend an, aber der Offizier antwortete freundlich: „Der mit den struppigen Zotteln ist ein Mörder. Er hat einen Steuereintreiber gemeuchelt, der ihn gerechtfertigt gezüchtigt hat, weil er seiner Steuerpflicht nicht nachkommen wollte.“
‚Oder konnte‘, dachte Anwin, behielt den Gedanken aber lieber für sich.
„Der mit dem Bürstenschnitt ist der schlimmere Fall. Er hat ein Heiligtum entweiht und öffentlich gegen die Götter geflucht. Ich darf den Wortlaut natürlich nicht wiedergeben, aber es war wirklich dreist, ein Sakrileg wie es nur selten vorkommt. Es ist gut, dass du ihn ausgewählt hast, Rassek. Er soll kein schnelles Ende haben.“
Das Gespräch zwischen seinem Meister und dem Gardisten wandte sich nun Persönlichem zu und Anwin schenkte ihm keine Aufmerksamkeit mehr. Stattdessen blickte er in das Gesicht des Sträflings mit dem Bürstenhaar. Er hielt, so wie der andere, den Kopf gesenkt, dennoch konnte man die Angst in seinen Gesichtszügen lesen, obwohl er die Worte des Offiziers gar nicht mitbekommen haben konnte. Anwin glaubte nicht, dass er wusste, welches Schicksal ihm zuteil werden würde, aber offenbar hatte er genug Phantasie, um sich auszumalen, dass seine Zukunft nicht sehr rosig aussah. Davon war Anwin ebenfalls überzeugt, nicht nur wegen des Gesprächs zwischen dem Heiler und dem Gardisten, sondern auch aus Erfahrung: wenn Rassek lachte und bester Laune war, bedeutete das oft für irgendjemanden nichts Gutes. Meist war der Irgendjemand er und er hatte das Gefühl, dass er auch diesmal wenig Freude an dem haben würde, was er zu sehen oder zu tun gezwungen werden würde.
Wie Katzenaugen in der Dunkelheit erschienen zwei Lichter im finsteren Gang, die langsam größer wurden, sodass man schließlich ein Flackern erkennen konnte. Die Silhouetten der Fackelträger manifestierten sich beim Näherkommen im Licht: zwei kahlgeschorene, muskulöse Sklaven, nur mit Lendentuch und Sandalen bekleidet strebten auf den Offizier zu und verbeugten sich untertänig. Dadurch konnte Anwin das Brandmal an der Schulter erkennen, das jeder Sklave trug. Sein Blick fiel auch auf die Gegenstände, die beide in jener Hand hielten, die sie nicht für das Tragen der Fackeln benötigten: ein breites, kurzes Seil und ein kleines Tuch aus rotem Stoff.
Die Gruppe war damit offenbar vollständig und setzte sich in Bewegung. Die Fackelträger kamen zuerst, dann die Gefangenen und seitlich von ihnen zwei Männer der Garde mit blank gezogenem Schwert; hinter ihnen die Soldaten mit den Zwingstöcken; dahinter Rassek und der Offizier und schließlich Anwin. Sie kamen nur langsam voran, weil den Sträflingen die Beine an den Fußgelenken mit einem Seil zusammengebunden waren, dessen Länge keine große Schrittweite erlaubte. Der düstere Gang ging stetig ein wenig abwärts, trotz der Fackeln war es dunkel, er schien das Licht aufzusaugen. Die Stimmung war so unheimlich, dass das Gespräch verstummte als ob selbst jenen, die hier bereits hunderte Male entlang geschritten waren, unwohl wäre. Anwin blickte zurück; das Licht der Halle war zu einem kleinen Punkt zusammengeschrumpft. Die Schritte der Männer hallten an den feuchten Wänden wider. Immer tiefer ging es, bald mussten sie unter der Pyramide angelangt sein.
Im Schein der Fackeln tauchten undeutlich zwei Schemen auf, über die Licht und Schatten tanzten. Beim Näherkommen erkannte sie Anwin: das waren die Götterdiener, über die er so viel Schauderhaftes gehört hatte. Kreaturen, bleich wie Maden, größer als die meisten Menschen und mit breiteren Schultern. Aber das Auffälligste waren die Augen: sie waren vollständig schwarz, sodass Pupille und Iris nicht zu unterscheiden waren, wenn sie überhaupt existierten. Auch der Augapfel selbst war schwarz. Mit dem Mund stimmte irgendetwas nicht. In den Händen hielten die beiden Kreaturen, die ein Tor flankierten, einen Gegenstand von sehr merkwürdiger Gestalt. Anwin konnte sich keinen Reim darauf machen, ahnte jedoch, dass es sich dabei um eine Waffe handeln musste, eine, die tödlicher war als selbst Speer, Schwert und Pfeil. Irritiert betrachtete er die Hände der Diener der Götter. Sie schienen zwei Daumen zu haben, abgesehen von einem, der sich an der richtigen Stelle befand, hatten sie noch einen dort, wo eigentlich der kleine Finger sein sollte.
In seiner Phantasie stürzten sich die Wesen auf ihn, rissen ihm die Gliedmaßen aus, um sie zu verzehren. Er hatte schon als kleines Kind von den Gerüchten gehört, sie äßen ausschließlich Menschenfleisch. Rassek hatte das bestätigt, allerdings bei anderer Gelegenheit hinzugefügt, dass das nur in ihrer Kindheit so war, später nicht mehr. Vielleicht sahen diese beiden in ihm also nicht ausschließlich Nahrung, aber dieser Gedanke konnte Anwin nicht wirklich beruhigen.
Jetzt bewegten sich die beiden – irgendwie eigenartig – und öffneten die Torflügel. Gleißendes, hellrotes Licht strahlte ihnen entgegen und blendete sie für den Augenblick. Die Fackelträger löschten die Flammen in dafür vorgesehenen, wassergefüllten Holzbottichen. Danach steckten sie die Fackeln in Halterungen an der Wand. Der kleine Trupp setzte sich wieder in Bewegung, einen jetzt etwas schmäleren Gang entlang. Boden, Wände und Decke strahlten gleichermaßen das merkwürdige Licht aus, sodass Anwin Schwierigkeiten hatte, sich in dieser kontrastarmen Umgebung zu orientieren. Sie steuerten auf einen zentralen, hohen Raum zu, der wie das Innere eines gewaltigen Eis aussah; er war nicht leer, viele Götterdiener querten ihn. Zahlreiche Gänge verzweigten sich von hier aus in alle Richtungen und von verschiedenen Ebenen, die durch Rampen verbunden waren, die wie Brücken ins Rauminnere reichten und ein irritierendes Gewirr erzeugten, einem Wurzelwerk oder dem Gespinst einer Baldachinspinne nicht unähnlich. Anwin wäre hoffnungslos verloren gewesen, aber Rassek und der Gardeoffizier schienen genau zu wissen, welchen Weg sie innerhalb dieses Labyrinths zu beschreiten hatten. Die kleine Menschengruppe hielt sich in Wandnähe, um den Götterdienern auszuweichen, die allen unheimlich waren, selbst dem Heiler. Auch er erhielt hier kaum mehr Aufmerksamkeit als ein Sklave in der Welt außerhalb der Pyramide. Schließlich erreichten sie die richtige Rampe, auf der ihnen – den Göttern sei Dank – keines der erschreckenden Wesen entgegen kam. Sie hielten auf eine ovale Öffnung zu, einem Mund gleichend, der zu einem O geformt war und sich anschickte, sie zu verschlucken. Hier schritten sie einen Weg entlang, der etwas schwächer beleuchtet war als der Raum, von dem sie herkamen. Anwins Augen erholten sich ein wenig.
Der Pfad endete in einem verhältnismäßig kleinen Raum, der eigentlich nur eine Erweiterung des Ganges war, von dem zwei Öffnungen weg führten. In seiner Mitte befanden sich zwei weiße, schmale Liegen, nebeneinander im Abstand einer Armlänge, lang genug selbst für einen großen Menschen und ein Götterdiener in schillerndem Gewand, der dahinter stand und wartete. Die Liegen waren aus Stein und erinnerten Anwin an einen Altar zur Opferung von Menschen, den er in Ur’Agron in einem Anbetungsraum gesehen hatte. Rassek verbeugte sich vor der fremdartigen Kreatur. „Ich begrüße dich O’Revan.“ Anwin wunderte sich, dass der Heiler die Götterdiener voneinander unterscheiden konnte. Rassek hatte leise und ehrfürchtig gesprochen, erhielt aber keine Antwort, außer einer knappen Geste mit der Hand. Er nickte dem Offizier zu, der das Zeichen an seine Männer weitergab, die offenbar genau wussten, was sie zu tun hatten. Die Soldaten zwangen die Sträflinge zu den Liegen, der mit dem Bürstenschnitt wollte sich wehren, aber die Schlinge um seinen Hals, die sich zuzog und die Dornen des Zwingstocks, die sich daraufhin in seinen Nacken bohrten, erstickten den Widerstand rasch. Blut rann von den zwei Wunden herab, was den Heiler dazu veranlasste dem Offizier einen ärgerlichen Blick zuzuwerfen. Der zuckte nur mit den Schultern. „Was denn? Mit den kleinen Wunden wirst du wohl noch fertig werden!“
„Wir brauchen sie unversehrt. Nehmt ihnen diese blöden Dinger ab! Legt den mit den kurzen Haaren auf den Bauch, den anderen auf den Rücken!“ Dem Gefangenen mit dem Bürstenschnitt wurde die Schlinge zuerst abgenommen und augenblicklich begann er sich heftig zu wehren, sodass es vier Männer, drei Soldaten und eines Sklaven bedurfte, um ihn zu überwältigen. Der Mann begann laut zu schreien, woraufhin der Sklave, der sich bislang nicht an der Fesselung beteiligt hatte, ihm das rote Tuch in den Mund stopfte und das breite Band um seinen Kopf schlang, sodass er geknebelt war. Schließlich wurden die Lederschlingen, die sich am Rand der Liege befanden, um Arme und Beine des schwer atmenden Opfers gelegt. Die ganze Zeit war der andere Gefangene mit dem Zwingstock in Schach gehalten worden, doch nun wandte sich die Meute ihm zu. Seine Gegenwehr war nicht weniger heftig, sobald er von der Drahtschlinge befreit war, aber er kämpfte still und hielt den Mund verbissen zu, um sich die Knebelung zu ersparen. Er wurde auf den Rücken gelegt und anschließend Arme und Beine mit den Lederbändern fixiert.
Der Heiler betrachtete das Werk und schien zufrieden. Er nickte dem Götterdiener zu, den er O’Revan genannt hatte und dieser verließ daraufhin den Raum durch das linke Tor. Kurze Zeit später kam er wieder zurück, in den eigenartigen Händen etwas haltend, das Anwin angeekelt zurückweichen ließ. Das Ding sah aus wie ein sehr bleicher, glatter Sack mit blauem Geäder, war etwa eine Elle und eine Hand lang und es lebte. Ein Ende zog sich langsam und rhythmisch zusammen und diese Bewegung wanderte dann wie eine Welle über den ganzen Körper. ‚Wie eine Riesenzecke‘, dachte Anwin, dem einfach kein besserer Vergleich einfiel. Es gab nichts, was er jemals gesehen hatte, das diesem grauenvollen Etwas wirklich glich. Aber an jenem Ende, das Anwin nun als Vorderende ansah – ein klar abgesetzter Kopf war nicht ausgebildet - befanden sich drei stilettartige Auswüchse. Außerdem hatte das Ding noch vier Klauen am Körper, zwei näher am Vorderende, zwei eher in der Körpermitte.
Langsam und vorsichtig senkte der Götterdiener den nun konvulsivisch zuckenden Sack auf den Rücken des gefesselten, kurzhaarigen Mannes zu. Obwohl dessen Kopf zu anderen Seite gedreht war, sodass er zu seinem Leidensgefährten hin blickte, hatte er doch die Annäherung des Götterdieners gespürt und versuchte abermals, sich zu wehren. Doch die Fesseln hielten.
Mit vor Grauen geweiteten Augen sah Anwin, wie das sackartige Lebewesen, kaum hatte es den Rücken des Mannes berührt, seine Klauen tief in dessen Fleisch versenkte. Der Mann zuckte vor Schmerz zusammen und wand sich in seinen Fesseln, aber vergebens. Die Kreatur machte nun Suchbewegungen mit dem Vorderende und als es die richtige Stelle am Nacken ihres Opfers gefunden hatte, rammte sie mit erstaunlicher Kraft und Effizienz das mittlere, kurze Stilett genau zwischen zwei Wirbeln in das Rückgrat des Wehrlosen, stoßweise immer tiefer. Dessen Körper bäumte sich auf und verharrte letztlich reglos bis auf rasche, unregelmäßige Atembewegungen. Der Mann war offenbar dabei, einen Schock zu erleiden, sein Blick wurde glasig. Hastig stellte sich Rassek zwischen die Liegen und legte seine Hände auf die Schultern beider Männer. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Wenig später war es nun der auf dem Rücken liegende Gefangene, der zunächst wie unter großen Schmerzen stöhnte und dann unregelmäßig zu atmen begann. Sein Blick wurde trüb.
Anwin überlegte, ob er das verdammte Ding vom Körper seines Opfers reißen sollte, aber beim ersten Schritt in seine Richtung hielt ihn der Offizier, der ihn die ganze Zeit beobachtet hatte, am Arm zurück. „Wenn du ihr Schicksal nicht teilen willst, lass das bleiben! Selbst nur der Versuch wäre unser aller Ende“, flüsterte er. Während Anwin das Gefühl der Ohnmacht würgen ließ, ergänzte er ohne ihn loszulassen: „Nur wenige Menschen überleben es, wenn ein Zirthee sein Rückenmark durchtrennt. Der Schock, weißt du? Deshalb muss dein Meister die Lebensenergie des anderen auf das Opfer übertragen, denn das Zirthee braucht es lebend“, erklärte er. „Wenigstens eine Woche muss der Mann noch am Leben bleiben, so lange ernährt es sich von seinem Blut. Dann bekommt es einen neuen Wirt und abermals überträgt ein Heiler die Lebensenergie eines Zweiten auf ihn, damit er nicht zu rasch stirbt“. Während dieser Erläuterungen sah Anwin mit einer morbiden Faszination zu, wie die grauenvolle Kreatur die beiden anderen Klingen mit drehenden Bewegungen in den Hals seines Opfers schraubte, immer weiter, vorbei an der Wirbelsäule und so präzise, dass dabei kaum Blut floss. „Das Zirthee zapft die Halsschlagadern an und nimmt sich einen Teil des Blutes, aber nicht so viel, das der Mensch gleich stirbt. Ab morgen wird er mit einem Schlauch gefüttert. Manche überleben so bis zu vierzehn Tage lang!“ Offenbar hatte das Zirthee sein Werk vollendet, denn Anwin konnte erkennen, wie die blauen Adern an der Körperoberfläche des Dings anschwollen. Nun wandte sich der Offizier an einen seiner Soldaten, die, wie Anwin erkennen konnte, nicht weniger bleich waren als er selbst. „Nehmt ihm die Fesseln ab, er kann sich nicht mehr rühren. Und auch den Knebel. Wenn wir draußen sind, kann er schreien, so viel er will“. Dann wanderte seine Aufmerksamkeit zum zweiten Gefangenen, dessen Augen starr und leer blickten. Seine Haut war sehr weiß und wachsartig.
‚Er hat das bessere Los erhalten, er hat es hinter sich‘, dachte Anwin. Rassek hatte inzwischen seine Hand von den beiden zurückgezogen.
„Und den da“, ergänzte der Offizier, „könnt ihr abtransportieren!“ Offenbar wussten die Soldaten, wohin sie den Leichnam zu bringen hatten, der wohl noch als Nahrung Verwendung finden würde.
O’Revan machte eine einladende Geste in Richtung des Heilers, während die Soldaten in Begleitung eines Fackelträgers mit dem Toten erleichtert den Raum verließen. Rassek verbeugte sich abermals und ging voran. Ihm folgten der Offizier und der Adept, sowie der verbleibende Sklave; der Götterdiener bildete die Nachhut, womit er gleichzeitig das Zirthee vor Anwin – zufällig oder nicht - beschützte. Sie schritten durch die türlose Öffnung in ein kurzes Gangstück, das sich bald wieder zu einem Raum erweiterte, beinahe identisch mit jenem, aus dem sie gerade gekommen waren. Auch hier lag ein bedauernswerter Mensch mit einem Zirthee am Rücken und einem Nährschlauch im Mund, der zu einem Behälter über dem Mann führte, welcher an einer galgenähnlichen Konstruktion baumelte. Unsägliches Leid sprach aus seinem schmerzverzerrten Gesicht, doch die Qual konnte den Heiler nicht rühren. Sein Blick verriet keinerlei Emotionen, berücksichtigte nur seinen Nützlichkeitsaspekt.
„Er hält noch eine Weile durch, aber wir werden morgen die Lebensenergie eines anderen auf ihn übertragen müssen.“
Anwin hatte sich bislang vom Anblick des Opfers fangen lassen, wandte nun aber seine Aufmerksamkeit dem Parasiten auf seinem Rücken zu. Er war größer, wohl schon weiter entwickelt, die Adern dicker, die Haut pergamentartig und durchscheinend. Irgendetwas regte sich in seinem Inneren. Anhand der Konturen und nach Art der Bewegungen, erkannte Anwin schließlich, an was es ihn erinnerte: es hatte die Form eines kleinen Kindes, kurze Arme und Beine bewegten sich zuckend. Jetzt drehte es das Gesicht in seine Richtung und deutlich konnte er durch die Haut des Zirthee die schwarzen, übergroßen Augen der Götterdiener durchschimmern sehen. Das Wesen schien ihn bemerkt zu haben, denn jetzt bewegte es die Hand in seine Richtung und Anwin konnte klar erkennen, dass diese Hand zwei Daumen hatte.
Rassek wandte sich ihm zu. „Verstehst du jetzt, weshalb wir für die Götter nützlich sind? Begreifst du nun den eigentlichen Zweck unseres Daseins? Es geht nicht darum, die Warzen der Adeligen zu entfernen oder sich um ihre anderen Wehwehchen zu kümmern! Auch jenen Gladiatoren zu helfen, die es verdienen, weiterzukämpfen, ist eine Aufgabe ohne Bedeutung“. Rassek machte eine theatralische Pause und deutete auf den ekelerregenden Parasiten. Dann fuhr er fort: „Das Zirthee ist ein Jugendstadium in der Entwicklung der Götterdiener und seine einzige Nahrung ist das Blut lebender Menschen! Aber ohne unsere Hilfe, ohne die Hilfe der Heiler, überleben nur wenige der Menschenopfer den ersten Tag. Sei dir der unglaublichen Ehre bewusst, die es bedeutet, jenen heiligen Wesen behilflich zu sein, die weit über uns stehen, direkt unterhalb der Götter!“
Anwin sah Rassek in die Augen, um herauszufinden, ob er tatsächlich glaubte, was er da sagte. Denn ihn erfüllte nur unsägliches Grauen, aber kein Ehrgefühl.
***
Anwin war froh, die Sonne wiederzusehen. Sobald wie möglich trennte er sich von der Gesellschaft des Heilers, der im Augenblick keine Verwendung für ihn hatte. Das war Anwins Glück, denn er hätte es kaum ertragen, jetzt zu seiner Ausbildungsstätte zurückkehren zu müssen.
Anwin wusste, was er hätte fühlen sollen, aber kaum hatte er die Pyramide verlassen, blieb in ihm bloß Leere zurück. Er war dabei, innerlich zu erkalten, Rassek hatte also Erfolg. Würde er je wieder in der Lage sein, ein positives Gefühl wie Liebe zu entwickeln? Oder selbst nur Trauer oder Mitleid? Was bedeuteten ihm die gequälten Menschen in der Pyramide, die Leidenden in der Arena? Er hatte sich an ihren Anblick gewöhnt und machte sich nicht mehr die Mühe, Mitgefühl zu entwickeln. Was bedeuteten ihm selbst Issa und das Andenken an ihre Mutter? Issa war in der gleichen Stadt, er sah sie an vielen Abenden und doch war sie weit, weit fort. Er konnte ihr nicht mehr ins Antlitz blicken, sie war so rein, selbst sie anzusehen, würde sie beschmutzten. Ja, er fühlte sich schmutzig, innerlich schmierig und dreckig. Er wünschte, er könnte sich einfach waschen und wieder so makellos und einfach werden wie früher! Ohne Erfahrung darüber, was Menschen anderen Menschen antaten. Wenn er nur von der Heilergabe befreit wäre! Bis zuletzt hatte er gehofft, dass seine Fähigkeiten irgendetwas Positives für Menschen oder wenigstens die Götter bewirken könnten. Nun, letzteres war ja der Fall! Die Götter! Seine Illusionen bezüglich dieser machtvollen Wesenheiten waren heute endgültig gestorben, was ihn nicht überraschte, er hatte ohnehin noch nie viel von ihnen erwartet. Was immer die Priester auch lehrten, Anwin hatte erfahren, dass die Götter den Menschen nicht mehr Gefühl entgegenbrachten als diese für die Ratten in den Kanälen unter der Stadt übrig hatten. Jetzt bewunderte Anwin diese Tiere, die wenigstens so klug waren, die Menschen nicht anzubeten.
Anwin ging ziellos durch die bunten, lärmigen Straßen Ur’Agrons. Er bevorzugte schmale Wege, da man hier keine Angst haben musste, von Pferdefuhrwerken überfahren zu werden. Hier trugen Männer und Frauen all das, was getragen werden musste. Seine schwarze Kleidung, die ihn als Heilerschüler auszeichnete, sorgte dafür, dass die Passanten ihm in großem Bogen auswichen, denn die meisten von ihnen waren Sklaven oder gehörten der ärmeren Schicht an, sie hatten von ihm nichts Gutes zu erwarten, im Gegenteil. Sie alle hatten Angst vor ihm. Er war das gewohnt, es verbitterte ihn nicht und da er in Gedanken versunken war hieß er die paradoxe Einsamkeit in der belebten Straße willkommen. Er achtete nicht auf seine Umgebung und nahm auch die vermummte Gestalt nicht wahr, die ihn seit geraumer Zeit verfolgte, zunächst in größerem Abstand, dann kam sie immer näher, sodass sie nun nur mehr zwei Schritt hinter ihm ging. Ihre Bekleidung bestand aus nicht viel mehr als abgetragenen Lumpen, Schuhe hatte sie keine, nur Stofffetzen waren um die Füße gewickelt. Das Gesicht war mit einem grauen Tuch verhüllt, das nur die Augen frei ließ. Der Verfolger war ungewöhnlich groß und breitschultrig, er überragte die Masse um einen Kopf, dennoch sah man, dass er in letzter Zeit wenig Nahrung zu sich genommen hatte, ja halb verhungert wirkte. Das wenige, was man von seinem hageren Antlitz erkennen konnte, war sonnenverbrannt, mehr rot als braun. Vielleicht ein Mann, der die Steppe durchwandert hatte, die Ur’Agros umfing, oder aber jemand, der viel Zeit auf einem Schiff verbracht, sich davor aber viel in geschlossenen Räumen aufgehalten hatte.
Der Mann beschleunigte seine Schritte noch ein wenig und schloss zu dem Heileradepten auf. Er flüsterte dessen Namen, woraufhin Anwin ihm ruckartig seinen Kopf zuwandte. Er starrte in ein Gesicht, von dem nur die dunklen Augen und der Ansatz einer markanten Nase zu sehen war. „Du kennst mich?“, fragte er. Der Mann zog das Tuch, das den unteren Teil seines Gesichts verhüllte, weg und nun erkannte ihn Anwin. „Derkan! Wie ist es dir ergangen? Seit wir in der verfluchten Stadt angekommen sind, habe ich nichts mehr von dir gehört!“
„Dann stehst du nicht in Kontakt mit meinem Bruder oder meiner Mutter? Und mit Issa wohl auch nicht?“
Anwin schüttelte den Kopf. „Ich bin im Ausbildungshaus der Heiler untergebracht, nicht in der Sklavensiedlung. Ich sehe deinen Bruder, deine Mutter und Issa oft, weil ihr Weg am Abend dort vorbei führt, aber sie werden immer bewacht. Daher weiß ich nichts über dein Schicksal.“
„Ich wurde der Rudersklave eines Händlers. Wenn sein Schiff im Hafen von Ur’Agron ankert, werde ich in die Sklavensiedlung gebracht. Deshalb weiß ich, dass es meiner Mutter nicht sehr gut geht. Ich mache mir große Sorgen um sie! Daher bin ich bei der ersten Gelegenheit von Bord gegangen, an den Strand geschwommen und zurückgekehrt.“
„Einfach so?“
„Nicht einfach so!“ Derkan grinste. „Ich habe so viel Wasser geschluckt, dass ich meinte, nie wieder in meinem Leben durstig zu sein. Der Schild, den ich zu meinem Schutz mitgehen ließ, war gespickt mit Pfeilen. Sie wollten meine Kündigung nicht widerspruchslos hinnehmen! Ich bin anschließend die Küste entlang marschiert und habe mich von lebenden Seekrabben ernährt.“
Anwin verzog angewidert das Gesicht.
„Das knirschende Geräusch, das man hört, wenn man den Panzer an den Beinen zerbeißt und ihre Bewegung im Mund – das lässt einen schaudern. Aber man gewöhnt sich daran. Sogar an den Geschmack.“
„Ach ja? Warum bist du dann so mager?“
„Ich wollte möglichst schnell weiterkommen! Keine Zeit für Krabbenjagd.“
„Du kannst nachher Brot haben, wenn du willst. In der Küche des Ausbildungshauses gibt es genug davon. Hungern müssen wir nicht.“
Derkan nickte. „Hör mal Anwin, kannst du meine Mutter heilen?“
Anwin lachte verbittert. „Klar, wenn man mich zu ihr lässt! Und wenn man mir jemanden gibt, auf den ich die Krankheit oder Schwäche übertragen kann. Aber wer sollte das wohl sein?“
„Ich!“
„Das würde Sera niemals zulassen, das weißt du.“ Anwin schüttelte den Kopf. „Außerdem – wenn du geflohen bist ist es wahrscheinlich nicht sehr klug, die Wächter um Einlass in die Sklavensiedlung zu bitten. Du kämst nur noch einmal dort hinaus. Nämlich wenn sie dich in die Arena schleifen.“
Derkan seufzte. Er wusste, dass Anwin recht hatte. „Aber ich muss zumindest Kontakt zu ihnen aufnehmen. Mehr noch: ich muss sie aus Ur’Agron hinaus bringen. Wenn nicht, stirbt meine Mutter als Opfer in der Arena. Ich habe Schreckliches über deren Tod gehört!“
Eine Wolke der Düsternis senkte sich auf Anwins Haupt. „Und ich habe Grauenvolles gesehen“, antwortete er leise. Auch die Alternative, dass sie wie so viele als wertlos angesehene Sklaven als Lebensenergiespender für ihre Herren herhalten musste, schien ihm keine erstrebenswerte Zukunft für Sera. Sie waren inzwischen in eine Seitengasse abgebogen, denn er wollte jetzt zum Ausbildungshaus der Heiler. „Du hast recht, rette Sera, wenn du kannst! Aber wie willst du das bewerkstelligen?“
„Ich weiß es noch nicht. Zunächst einmal müssen sie wissen, dass ich da bin. Dann … ich nehme an, dass man ins Sklavenghetto leichter ein- als ausbrechen kann; damit rechnet ja niemand! Wenn ich die Wachen überwältigen kann, kann ich sie raus bringen.“
„Du alleine? Und selbst wenn ihr aus dem Ghetto entkommen seid, sind die Stadttore immer noch zu. Und sie werden auch nicht geöffnet, bevor die Sklaven abgeholt werden und dann gibt es Alarm. Dann wird die ganze Stadt umgekrempelt, bevor sie die Tore öffnen. Das ist ein ganz mieser Plan!“
„Ich weiß, eigentlich ist es gar keiner. Aber in einem Punkt irrst du dich …“
Anwin schüttelte den Kopf. „Auf dem Weg zu bzw. von ihren Wirkstätten wäre es wahrscheinlich leichter, aber da sind die großen Stadttore auch schon - oder noch - geschlossen. Und selbst die kleinen werden nur auf Sonderbefehl hin geöffnet. Man müsste wissen, wo Issa, Eleran und Sera arbeiten. Sie müssen von dort unauffällig verschwinden, bevor sich die Stadttore schließen. Vielleicht haben sie irgendwann einen Botengang zu erledigen.“ Anwin dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. „Damit sollten wir besser nicht rechnen, ich habe noch keinen von ihnen in der Stadt angetroffen. Der Einzige von uns, der eine gewisse Freiheit genießt, bin ich. Und auch ich darf die Stadt nicht verlassen. Und …“
Derkan unterbrach den Redeschwall. „Ich weiß, wo sie arbeiten. Im Prinzip zumindest. Eleran und Issa sind in einem Gestüt beschäftigt, meine Mutter in der Küche eines Adeligen. Niedere Dienste, Kälberkropfknollen schälen, abwaschen und so. Zum Glück ist die Arbeit nur langweilig, aber nicht sehr anstrengend, sonst wäre ihre angeschlagene Gesundheit schon aufgefallen. Wo sie arbeiten haben sie mir erzählt. Ich habe nur dummerweise nicht danach gefragt, wo genau der Stall und die Küche sind. Ich kenne mich ja in der Stadt nicht sehr gut aus, gar nicht eigentlich. Und was ich noch sagen wollte, bevor du mich unterbrochen hast: Ur’Agron liegt am Zentralen See und hat daher einen Hafen. Und dort steht keine Stadtmauer, zumindest nicht direkt am Wasser, erst weiter hinten. Dort kenne ich mich ziemlich gut aus. Alles was ich brauche ist ein kleines Boot und völlige Dunkelheit. Deshalb muss die Flucht in der Nacht geschehen, deshalb muss ich in die Sklavensiedlung einbrechen und auch wieder rauskommen, zusammen mit meiner Mutter, meinem Bruder und Issa!“
„Wird der Hafen nicht bewacht?“
„Die Wächter und auch die Mauer kann man umgehen, indem man den unterirdischen Abwasserkanal verwendet. Das ist nicht angenehm, aber gerade deshalb ziemlich sicher. Ich bin schwimmend in die Stadt gekommen, im Schwimmen habe ich ja Übung. Ich bin sicher, dass man in einer sehr dunklen Nacht auf diesem Weg mit einer kleinen Gruppe Ur’Agron auch verlassen kann. Ein kleines Ruderboot werde ich schon finden. Es gibt genug kleine Fischerboote, nicht alle sind so reich wie der Händler, der mich kaufte.“
„Und wohin willst du dann?“
„Vielleicht nach Ur’Seleb, dort gibt es keine Sklaverei. Wir werden sehen. Das Wichtigste ist jetzt, dass sie wissen, dass ich da bin und dass eine Möglichkeit aufgebaut wird, Botschaften auszutauschen. Da hatte ich an dich gedacht.“
Anwin blickte ihn ungläubig an. „Wie hast du dir das vorgestellt?“
„Du kannst doch behaupten, dass du einen der Sklaven heilen musst. Dann lassen sie dich bestimmt ins Sklavenghetto.“
Anwin lachte bitter. „So läuft das nicht! Wenn die Herren zu dem Schluss kommen, dass ein Sklave so wichtig ist, dass er würdig ist geheilt zu werden, kommt ein Diener und ein Wächter zu uns, nimmt einen Heiler mit und bringt ihn zu dem Sklaven und einem von den Herren erwählten Spender. Manchmal ist der Adelige dabei und das ist wohl der Grund, warum Rassek, das ist der Heiler, der Issa das Auge genommen hat, mich zu solchen Aufträgen nie mitnimmt. Ich darf nicht in Kontakt zur Aristokratie kommen, denn sonst könnte ich erzählen, was damals vorgefallen ist, und dass Issas Mutter von SiVender ermordet worden ist. Vor allem hält er mich von Priestern fern, obwohl ich überhaupt nichts beweisen kann.“
„Aber du kannst es doch wenigstens versuchen. Sprich mit den Wächtern, vielleicht lassen sie dich in die Sklavensiedlung hinein.“
„Das hat doch nur in der Nacht einen Sinn und da bin ich im Ausbildungshaus eingesperrt.“
„Wenn ich es schaffe von einem Schiff zu fliehen, wirst du wohl aus einem Haus heraus kommen können!“
„In meinem Fall darf es niemand bemerken, das ist der Unterschied. Aber ich werde es versuchen, wenn du willst. Nur erhoffe dir nicht zu viel davon, ich bin überzeugt sie lassen mich nicht in die Sklavensiedlung.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: “Der einfachste Weg, sie wissen zu lassen, dass du hier bist, wäre, dich von ihnen sehen zu lassen. Sie kommen allabendlich am Heilerhaus vorbei, schräg gegenüber steht eine große Nerewi-Linde, in deren Schatten könntest du dich stellen. Da, siehst du?“ Sie traten gerade auf den Platz vor dem Ausbildungshaus und der mächtige Baum kam in Sicht. „Das ist allerdings gefährlich. Wenn sich Issa oder Eleran falsch verhalten, ist es um dich geschehen. Deiner Mutter zeigst du dich besser nicht, ich weiß nicht, ob sie schnell genug reagieren, bzw. eben nicht reagieren kann, sie ist ein sehr gefühlvoller Mensch. Sie kommt übrigens mit einer anderen Gruppe, meist etwas früher als Issa und Eleran.“ Anwin hatte sie erst gestern gesehen, sie war ein wenig hinter den anderen zurückgeblieben, gerade so viel, dass die Aufseher nicht zur Peitsche gegriffen hatten. Das erzählte er Derkan allerdings nicht, er machte sich ohnehin schon genug Sorgen.
Derkan blickte skeptisch zur Nerewi-Linde, dann nickte er. „Weder Issa noch Eleran sind dumm; sie werden mich nicht verraten.“
„Dann sei bei Sonnenuntergang hier. Geh jetzt in den Schatten des Baumes und warte dort, stell dich so hinter den Stamm, dass man dich vom Haus aus nicht sehen kann. Ich bringe dir dann etwas zu essen. Ich überquere den Platz etwas später, es ist besser für dich, wenn man uns nicht gemeinsam sieht. Selbst wenn Rassek nicht wüsste, dass du ein entlaufener Sklave bist, trachtete er danach, dir zu schaden, nur weil wir uns kennen!“
Derkan nickte ihm zu und ging dann langsam auf den großen Platz. Noch bevor er die Nerewi-Linde erreicht hatte, hielt Anwin forsch auf das schlichte aber geräumige Ausbildungshaus zu, das all den Prunk missen ließ, der die Paläste Ur’Agrons zierte und schon allein durch den dunklen Anstrich düster und einschüchternd wirkte, ein ganz bestimmt absichtlich herbeigeführter Effekt. Er trat durch das große Tor in die Eingangshalle und von dort direkt in den hellen, karg eingerichteten Speisesaal, der eigentlich viel zu groß war für die wenigen Adepten. Die Meister ließen sich die Speisen in ihre Räumlichkeiten im oberen Stockwerk bringen, allerdings nicht von ihren Schülern, sondern von Leibdienern.
Zu Anwins großem Ärger war der Saal nicht leer. Relaf saß einsam und mit grimmiger Miene hinter einem Becher und einem Krug voll saurem Wein. Er hatte sein Versagen in der Arena noch nicht verdaut, schloss Anwin. Grußlos ging er an ihm vorbei in die jetzt leere Küche und betrat schließlich die Selchkammer dahinter. Er wählte ein mittelgroßes Stück Fleisch und nahm es vom Haken, dann wandte er sich jenem Regal in der Küche zu, auf dem sich die Fladenbrote stapelten. Das oberste nahm er und klemmte es unter den Arm. Danach ergriff er noch einen Tonkrug, gefüllt mit dem dünnen Bier, das man den Adepten zugestand. Als er durch den Speisesaal schritt, spürte er, dass ihm Relafs finsterer Blick folgte.
***
Irgendwie verhielt sich Anwin eigenartig. Das lag nicht daran, dass er voller Speisen den Saal verließ, die Antipathie zwischen Anwin und ihm war Erklärung genug. Wäre er hiergeblieben, hätte Relaf den Saal verlassen, denn Anwins Anwesenheit meuchelte seinen Appetit. Er hatte ihn noch nie leiden können, seine außergewöhnliche Begabung und die Selbstverständlichkeit und Mühelosigkeit mit der er lernte war nachgerade ein Affront, bedachte man die Geringschätzung, ja den zur Schau getragenen Ekel, den er dem Heilertum entgegenbrachte. Wie konnte so ein Mensch der Gnade würdig sein? Dass die Götter ihn erwählt hatten, war nur schwer nachzuvollziehen; eher gar nicht. Relaf war allerdings nicht der Mensch, der den Ratschlag der Götter in Zweifel zog. Anwin trat alles mit Füßen, was Relaf für bewunderns- und erstrebenswert hielt. Trotzdem hatte er im Gegensatz zu Relaf die erste Probe bereits bestanden, obwohl Anwins Ausbildung erst Monde nach seiner begonnen hatte. Das alles wäre vielleicht noch tolerierbar gewesen, aber dass er Augenzeuge seiner großen Schmach gewesen war, war unverzeihlich. Anwins Meister, Rassek, verspottete den seinen, Dorwal, noch immer bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Das verlangte nach Ausgleich. Das war wohl der Grund, warum er jetzt aufstand und zur Tür ging. Anwin hatte sich nicht in seine Kammer zurückgezogen, sondern verließ gerade das Gebäude. Der Tag war schön, warum nicht im Schatten der Nerewi-Linde oder unter dem Vordach essen? Kein Grund zu Argwohn. Und doch …
Relaf folgte ihm und lugte vorsichtig hinaus, sich hinter dem Türrahmen versteckend. Anwin verschwand hinter dem mächtigen Stamm der Nerewi-Linde und dann passierte mal eine Weile gar nichts. Aber schließlich sah er ihn wieder, ohne Krug, Fleisch und Brot. Jetzt blickte er um sich, unauffällig, wie er wohl meinte. Relaf wollte sich schon zurückziehen, aber Anwin hatte offenbar gar nicht vor, zum Haus zurück zu kehren. Er verschwand in einem der vielen Gässchen, die in den Platz mündeten. Das war interessant. Relaf ging flugs in seine Kemenate, um sich seinen grauen Umhang zu holen. Der war unauffälliger als seine schwarze Kluft. Er verließ das Gebäude durch einen Seiteneingang, der in den Garten führte, den er hasste, denn die Adepten wurden von Zeit zu Zeit auch zum Unkraut Jäten eingesetzt, obwohl es dazu genug Unfreie gab. Auch das diente angeblich der Wesensbildung. Wieso man ab einem gewissen Alter bzw. Rang sein Wesen nicht mehr bilden musste, war eine Frage, die seinem Charakter fremd war; er wollte nur so schnell wie möglich eben jenes Alter und jenen Rang erreichen, um anschließend das Wesen anderer mittels Stockschlägen und Strafen bilden zu können.
Drei Wege standen zur Auswahl; er wählte den mittleren, der direkt zum Tor in der Gartenmauer führte. Er betrat ein kleines, leeres Gässchen und schloss sorgfältig das Tor hinter sich. Dort, wo die Gasse in den großen Platz mündete, hatte er einen guten Ausblick auf die Nerewi-Linde und das in einem anderen Winkel als vom Haupttor des Heilerhauses.
Vom Haus aus gesehen hinter der Nerewi-Linde, stand ein heruntergekommenes Subjekt und labte sich an den Köstlichkeiten, die ihm Anwin überreicht hatte. Der Mann war groß gewachsen und in staubige Lumpen gehüllt. Er aß geradezu gierig, als wäre er halb verhungert, das Fladenbrot war schon beinahe verputzt und vom Speck fehlte ebenfalls bereits ein guter Teil.
Hatte Anwin einen bedauerlichen Anfall von Barmherzigkeit? Zuzutrauen wäre es ihm. Sein Meister hielt ihn von Adeligen und Hohepriestern fern, es würde ihm ähnlich schauen, wenn er aus purem Trotz sich nun mit dem Abfall aus der Gosse umgeben würde. Relaf überlegte bereits, ob er ins Gebäude zurückkehren sollte, als der Mann seinen Krug leerte und sich anschickte den Schatten des Baumes zu verlassen. Schließlich siegte die Neugier und er beschloss, dem großgewachsenen Bettler hinterher zu gehen. Der folgte dem Lauf kleiner Gässchen, stets um Unauffälligkeit bemüht, so sehr, dass es schon wieder auffiel. Da er alle überragte, war sämtliches Streben in diese Richtung von vornherein zum Scheitern verurteilt und bloß kläglich. Dieser Mann, so wurde Relaf zunehmend klar, hatte etwas zu verbergen. Vielleicht konnte er Anwin die Teilnahme an einer finsteren Verschwörung gegen die Herrschenden nachweisen, das wäre zu schön! Zunächst aber schien sein Weg keinerlei Plan zu folgen, so als hätte er sich verirrt. An einer größeren Kreuzung blieb er stehen, blickte zur Pyramide, die hier gut zu sehen war. Von nun an war der hochgewachsene Mann zielstrebiger und ging rasch in Richtung Hafen, so schnell, dass Relaf Mühe hatte ihm zu folgen. Im Gegensatz zu Anwin bewegte er sich nur selten aus dem Areal des Heiler-Trainingsgeländes hinaus und war Wanderungen über längere Distanzen nicht gewohnt. Er begann zu keuchen, die Füße taten ihm bereits weh und so stellte er den Sinn seines Tuns abermals in Frage. Je näher sie dem Hafen kamen, umso weniger vertrauenserweckend und desto heruntergekommener wurde die Gegend. Huren standen in spärlicher Kleidung, die ihre Reize betonen sollte, aber oft so ärmlich und unsauber war, dass sie ihn eher abstieß, an den Häuserfronten. Wenn er näher kam, wackelten sie mit dem Hintern wie Aufziehpuppen und lachten über seinen entsetzten Blick. Das Ausbildungs- und Erziehungshaus der Heiler stand nicht gerade im Palastviertel der Stadt, aber einen so grässlichen, von Armut gezeichneten Bereich der Stadt hatte er noch nie gesehen. Unwillkürlich schloss er enger zu dem Mann auf, den er verfolgte, so als könnte der ihn beschützen. Hier stach er nur noch durch seine Größe, aber nicht mehr durch sein Aussehen aus der Menge hervor und es bestand nun die ernstzunehmende Gefahr, ihn zu verlieren. Auch deshalb, weil Relaf oft auf den Boden blicken musste, um Unrat und Kot auszuweichen, was ihm keineswegs immer gelang. Gelegentlich sah er sich auch schutzsuchend nach einer Stadtwache um, aber in dieses Viertel hatte wohl schon lange kein Mann der Stadtaufsicht seinen Fuß gesetzt. Relaf versuchte sich das Atmen abzugewöhnen, denn der Gestank, der über den Gässchen lag, war grauenvoll, aber es gelang ihm nicht. Er zog den Umhang enger um sich, als ihm eine Gruppe rauer Gestalten in der abgerissenen Kleidung der einfachen Matrosen entgegenkam. Er bezweifelte, dass sie einen Heileradepten freundlich behandeln würden, also war es besser, wenn sie ihn nicht als solchen erkannten.
Vor ihnen ragte nun die Mauer auf, die den eigentlichen Hafen von den Armutsvierteln dahinter trennte. Nur das Hafentor und die breite Straße, die geradlinig zur Pyramide führte, wurden bewacht und auch nur dort existierte überhaupt ein Durchgang, weit entfernt von den armseligen Hütten und brüchigen Häusern, die ihn jetzt umgaben. Keines der Gebäude des Armenviertels war an den Schutzwall angebaut, das war verboten und so war es ziemlich leicht, die steile Wand entlangzugehen, was der Verfolgte jetzt auch tat. In einer besonders verfallenen Gegend voller Schutt, Ratten und halbverhungerter Köter hielt der Mann auf den Eingang einer Art Höhle zu, eher handelte es sich um ein Loch in den Resten eines Steinbogens, gerade groß genug, dass ein Mann darin verschwinden konnte. Aber warum sollte das jemand wollen? Genau dort hin begab sich die Gestalt, hielt sich am Ast eines verkrüppelten Baumes fest. Dabei rutschte ihm der Fetzen, den er trug von der Schulter und Relaf konnte deutlich das Sklavenbrandmal sehen. Dann verschwand der Fremde in dem Loch.
Relaf wartete eine Weile. Als der Mann nicht wieder hervorkam, fasste er sich ein Herz und ging vorsichtig auf das Loch zu. Er blieb kurz davor stehen und sammelte das bisschen Mut, über das er verfügte. Dann spähte er in die Öffnung hinein, sah undurchdringliche Dunkelheit, roch übelkeitserregende Fäulnis und hörte das Plätschern rinnenden Wassers. Das hier war ein Abwasserkanal! Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er in der Ferne einen hellen Punkt. Das musste die Mündung des Kanals sein und sie befand sich zweifellos jenseits des Schutzwalls, wahrscheinlich nur wenige Mannslängen vom Zentralen See entfernt.
Anwin half einem entlaufenen Sklaven, der buchstäblich im Untergrund lebte, soviel war klar. Das würde den edlen Rassek ohne Zweifel interessieren. Natürlich durfte er seinen Meister Dorwal nicht übergehen und musste zuerst ihm seine Beobachtungen kundtun und auf die Erlaubnis warten, mit Rassek sprechen zu dürfen. Vielleicht bevorzugte es sein Meister, ihn selbst zu informieren. Relaf überlegte, wie er aus seiner Erkenntnis den maximalen Nutzen ziehen konnte, war aber Realist genug, um zu erkennen, dass da nicht viel zu machen sein würde. Aber er konnte Anwin erheblich schaden und das war ja schließlich auch schon etwas.
***
Anwin war übel gelaunt aufgewacht, wie das jeden Tag der Fall war, an dem er seinem Meister gegenüber treten musste. Also wirklich jeden Tag, er hatte seit Monden kein einziges Mal auf seinen Anblick verzichten dürfen. Seiner Meinung nach war es viel zu früh, aber es ging ihm da immer noch besser als dem Sklaven, der ihn zu wecken hatte. Nach einem kurzen, einfachen Mahl im großen Saal folgte er dem Diener, der die Speisen seines Meisters trug in dessen geräumigen und luxuriösen Wohnbereich. Während er unangenehm lange vor Rassek knien und bei der Einnahme des frühen Mahls aus allerlei Früchten und Gebäck zusehen musste, war ein Bote erschienen, hatte sich dem zu Tisch Sitzenden unterwürfig genähert und sehr leise mit ihm geredet, so leise, dass Anwin nicht verstehen konnte, was besprochen wurde. Immerhin hob es die Laune seines Meisters, was fast immer ein übles Zeichen war.
Nachdem der Bote gegangen war, nahm Rassek einen letzten Schluck, betupfte sich mit der Serviette geziert die gehobenen Mundwinkel und wandte sich Anwin zu.
„Steh auf!“ Anwin folgte der Aufforderung, aber nicht übermäßig rasch. Auch Rassek erhob sich. „Heute werden wir etwas tun, was dir sicherlich besser gefallen wird als deine Arbeit in der Halle des Amphitheaters! Wir werden jemanden heilen, Leiden lindern, so wie es deiner Vorstellung von den Aufgaben eines Heilers offenbar entspricht. Also sei ein bisschen fröhlicher!“
Anwin blieb skeptisch. Irgendetwas war an der Sache faul, der Gedanke, jemandem etwas Gutes zu tun, hatte Rasseks Laune noch nie gehoben. Überdies bedeutete den einen zu heilen stets auch, jemand anderem zu schaden.
„Außerdem wird es das erste Mal sein, dass du den Palastbezirk betrittst, sei dir der Ehre bewusst.“ Anwin konnte sich noch gut an das letzte Mal erinnern, als er sich der Ehre bewusst sein sollte. Ihm schwante Übles. Er wusste nicht, was er mit der guten Laune seines Meisters anfangen sollte und sagte daher lieber nichts. „Besorge mir eine Sänfte!“
Das tat Anwin und schon bald konnte es losgehen, sein Meister hatte sich hinter den Vorhängen der Sänfte versteckt, nachdem er den Trägern seine Anweisungen gegeben hatte, die Anwin nichts sagten. Er durfte neben dem Tragstuhl einher traben. So war es gut, fast so schön als ob er alleine wäre. Er konnte ungestört nachdenken, aber es kam nicht viel dabei heraus, obwohl er das Thema seit nunmehr einer Woche durchkaute. Ihm fehlten einfach wichtige Informationen. Derkan war am Abend nicht beim großen Baum erschienen, hatte sich aber möglicherweise an einer anderen Stelle seinem Bruder oder auch seiner Mutter oder beiden gezeigt. Aber was hatte ihn dazu veranlasst von ihrem gemeinsamen Plan abzuweichen und auch sonst nicht mehr seinen Kontakt zu suchen? Hatte er Anwin aus seinen Vorhaben gestrichen, weil dieser sich anfangs geweigert hatte, in die Sklavensiedlung zu gehen? Er konnte doch nichts dafür, dass die Wächter ihn – einen Schüler - niemals hineingelassen hätten! War Derkan einfach zu dem Schluss gekommen, dass Anwin nicht nützlich war? Sogar gefährlich; dass er ihn verraten könnte? Dass es ihm zu gut ging, um bei einer Flucht mitzuwirken?
Es ging ihm gar nicht gut. Derkan war nicht der Einzige, der an Flucht dachte. Aber wohin sollte er fliehen? Der Arm Ur’Agrons reichte weit, nirgends auf der Welt konnte er sich dem entziehen, auch nicht in Ur’Seleb. Und wie sollte er es bewerkstelligen, Issa mit sich zu nehmen? Denn langsam bezweifelte er, dass dies Derkan gelingen würde, denn jeden Abend sah er Issa und auch Eleran und Sera. Hatte Derkan resigniert und war schließlich doch alleine nach Ur’Seleb aufgebrochen? Nein, das war undenkbar, das würde Derkan nicht tun! Auch wenn das bedeutete, dass er Issa dann nicht mehr sah, hoffte er sehr, dass dieser schließlich doch noch mit seiner Flucht Erfolg haben würde.
Sie gingen jetzt schon eine Weile den Saum der breiten Straße, die zur Pyramide führte, entlang, auf der auch zu dieser Tageszeit schon reger Verkehr herrschte und auf der bereits eine Staubwolke lastete, die ihn oft husten ließ. Aber sie war auf andere Weise belebt als die schmalen Gässchen, die er gewöhnt war. Hier fehlten die lautstark feilschenden Händler, das Geschrei der Kinder und der Esel, das Hundebellen. Je näher sie kamen, umso beeindruckender wurde die goldene Götterwohnung. Anwin konnte sich nicht an die Ausstrahlung und die Erhabenheit des majestätischen Bauwerks, das nicht von Menschenhand stammte, gewöhnen. Jedes Mal zog es seine Blicke magisch an und er vergaß die wimmelnde Horde um sich und die Sänfte neben ihm. Er dachte an die Götter, die in den Palästen am Dach der Stufenpyramide wohnten, wenn sie gerade zu Besuch waren, herabgestiegen vom Himmel und an die Menschen essenden Götterdiener, die im Bauch des Gebäudes ihr Dasein fristeten. Wie sah die Welt von da oben aus? Welchen Eindruck erhielten die Götter von den Menschen zu ihren Füßen, von dem Gewimmel da unten? Wenn man in majestätischer Höhe in all der güldenen Pracht hauste, wie konnten da die Menschen als etwas anderes erscheinen denn als Ungeziefer, das man nach Belieben zertreten kann?
Sie bogen in eine hübsche Seitenstraße ab, immer noch breit verglichen mit den schmalen Gassen, die er üblicherweise beschritt und relativ menschenleer. Dass sie so weit weg von der Pyramide bereits ins Reichenviertel abbogen, war ein Zeichen, dass ihr Ziel nicht eine besonders angesehene, adelige Person war, denn die residierten in der Nähe der Pyramide, rund um Zagrans Palast. Sie gehörte vermutlich zur wohlhabenden Kaufmannsschicht. Schließlich standen sie vor einem netten, ummauerten Anwesen. Durch die Gitterstäbe des Tors konnte Anwin eine kleine Villa mit einem übermäßig gepflegten Park rundherum erkennen. Am Tor standen zwei Wächter und Rassek ließ sich dazu herab, den Vorhang beiseite zu schieben, damit ihn die bewaffneten Männer betrachten konnten. Daraufhin öffneten sie den Eingang und ließen ihn durch. Die vier Sänftenträger brachten ihn noch bis zur Villa, dann stand Rassek auf und ebnete die Falten seines Gewandes.
„Wir besuchen heute einen gemeinsamen Bekannten und alten Freund. Du wirst dich sicherlich an ihn erinnern, da bin ich überzeugt. SiVender ist sein Name.“
Ein eisiger Blitz zuckte durch Anwins Körper, seine rechte Gesichtshälfte brannte plötzlich, als hätten ihn tausend Nadeln gestochen. Noch Stunden später würde sie sich wie gelähmt anfühlen, aber er sagte nichts, er brauchte keine Heilung. All die Szenen, die ihn in seinen Albträumen plagten, die Ermordung Leiras, die Verstümmelung Issas, um diese Bestie wieder instand zu setzen, die Peitschenhiebe, die er und die anderen während der Wanderung nach Ur’Agron erdulden hatten müssen! Anwin wollte schreien: ‚Diese Kreatur heile ich nicht!‘, aber er ließ es bleiben. All das hätte Rassek lediglich zur Genugtuung verholfen und die wollte er ihm nicht gönnen. Stattdessen fragte er ruhig:
„Welcher Art ist sein Leiden?“
„Übermaß, Völlerei, die Folgen des Suffs und des Kauens der Blütenblätter der schwarzen Orchidee. All das schlägt sich auf seine Leber und hätte ihn ohne meine Hilfe längst ins Grab gebracht. Wäre er nicht so nützlich und spendabel …“
Ein Diener ging auf sie zu. Anwin erkannte ihn sofort. Er war der dunkelhäutige, muskelbepackte Riese, der SiVender nach Ur’Tragon begleitet und in der Stadt geblieben war, als sein Herr sich zum Rand der Welt begeben hatte. Er verbeugte sich sparsam vor Rassek.
„Wie geht es deinem Herrn, Ubandor?“
„Er leidet, Heiler Rassek, er leidet.“ Entgegnete er mit tiefer, ruhiger Stimme, die hervorragend zu seinem Äußeren passte. „Und um seine Leiden zu lindern hat er reichlich Schwarze Orchideenblüten gekaut.“
„Die seine Leiden schließlich erst verursachen, wie sinnvoll! Ist er überhaupt noch ansprechbar?“
„Nur noch in sehr begrenztem Ausmaß, er phantasiert bereits.“
Während des kurzen Gesprächs hatte sich ein weiterer Mann genähert, vom Tor her, nach der silbern glänzenden Schärpe, die sein dunkles Gewand umgürtete zu schließen, ein Sklave Zagrans. Der machte sich nicht einmal die Mühe Rassek zu begrüßen, sondern richtete ihm seine Botschaft unvermittelt aus:
„Mein Herr, der allmächtige Herrscher Ur’Agrons, Zagran III, schickt nach dir. Eile ist geboten!“
Rassek wandte sich Anwin zu. „Geh mit Ubandor zu SiVender und warte dort auf mich. Versuche nur dann ihn selbst zu heilen, wenn du Bedenken hast, dass er sterben könnte.“ Und an Ubandor gewandt: „Behalte den Kleinen gut im Auge. Er hat zwar sehr gelassen darauf reagiert, SiVender wiederzusehen, aber ich traue ihm nicht. Er ist wie eine Schlange, so verschlagen. Wenn er versucht, deinen Herren umzubringen, schlag ihm den Kopf ab!“
Anwin und Ubandor blickten sich kurz an, dann nickte der Riese langsam.
„Gut“, meinte Rassek noch, dann wollte er sich den Sänftenträgern zuwenden, aber Zagrans Leibeigener hielt ihn am Arm zurück. „Das wäre zu langsam. Eine Kutsche wartet vor dem Tor.“
„Folge mir.“ Anwin wandte sich Ubandor zu, der ihm voran ging. Sie betraten eine große, lichtdurchflutete Halle, die wohl einen beträchtlichen Teil des unteren Stockwerks einnehmen musste und in der einige Sklaven geschäftig waren. Zwei geschwungene Stiegen führten von hier zu einer durch ein Geländer geschützten und durch Marmorsäulen gestützten Veranda, die Zugang zu allerlei Räumen gestattete. Anwin betrachtete sich das alles genau, denn er hatte noch nie so viel Pracht in einem Haus gesehen, nicht einmal in der Pyramide, deren Inneres lediglich eigenartig, fremd und nichtmenschlich auf ihn gewirkt hatte.
Ubandor folgte den Stufen der rechten Treppe und Anwin tat es ihm gleich. Sie gingen in einen Wohnraum, dessen Wände mit allerlei Malereien verziert waren und hauptsächlich kriegerische Szenen zeigten. Von hier kamen sie abermals in einen hohen Raum, in dem ein bewaffneter Mann stand, der einen geschminkten Lustsklaven bewachte. Jener zuckte bei ihrem Erscheinen zusammen und drohte vor Angst in die Knie zu gehen. Wahrscheinlich, so dachte Anwin, war der junge Mann als Opfer ausersehen und freute sich daher wenig über das Erscheinen eines Heileradepten.
„Wo ist der Heiler?“, wollte der Bewaffnete wissen, der Ubandor offenbar gleichgestellt war. Beide waren zwar Leibeigene, hatten aber doch ein gewisses Ansehen und mussten nicht wie die Geringeren in der Sklavensiedlung wohnen, sondern hatten ihren eigenen Bereich auf dem Grundstück ihres Herrn, der größer war als die Hütten so mancher armer, freier Bürger. Der Riese schüttelte langsam den Kopf. „Er wurde zu Zagran befohlen, aber er hat seinen Adepten hiergelassen, der ihn notfalls auch heilen kann.“ Er zuckte zweifelnd die Schultern. „Sagt der Heiler.“
Der andere ließ ein kurzes Lachen vernehmen. „Der Herr wird toben! Aber erst, wenn er wieder die Kraft dazu hat. Es geht ihm nicht besonders, er wird wohl nicht warten können. Ich beneide dich nicht darum, ihm diese Botschaft zu bringen!“ Er winkte Ubandor weiter, der die beiden Türflügel öffnete, um Anwin in einen verdunkelten, raucherfüllten Raum zu lassen. Insbesondere nahe der Decke sammelten sich träge Schwaden einer leicht betäubend wirkenden Substanz. Ein süßlicher, unangenehmer Geruch lag in der dicken Luft. Zuerst konnte Anwin wenig erkennen, bis auf die brennenden Kerzen, die auf einem kleinen Wandaltar standen, der wohl U’Xetes geweiht war. Weiter hinten befand sich ein robustes Bett, in dem der übergewichtige Sklavenhändler lag, was Anwin mehr hörte als sah. Ein gelegentliches Keuchen, Röcheln und Stöhnen bezeugte das Leiden SiVenders; Mitleid konnte der junge Schüler mit dem grausamen Mann allerdings keines aufbringen. Er trug seine übliche düstere, üppig verzierte Kleidung, nur den Schmuck hatte er abgelegt.
„Rassek endlich! Es macht dir wohl Spaß mich leiden zu sehen! Beeile dich, siehst du nicht, dass ich im Sterben liege? Ubandor! Bring mir die schwarzen Blüten des Vergessens!“ Er hustete und krümmte sich anschließend vor Schmerz.
Ubandor entnahm einem urnenförmigen Gefäß eine Hand voll dunkler Blätter und legte sie auf einen zierlichen Porzellanteller. Damit näherte er sich seinem Herren, der gierig nach den Blüten griff und sie sich in den Mund schob; er kaute daran herum, um sich gleich darauf zu entspannen, als die schmerzlindernde Wirkung einsetzte. Erst als er ruhig atmete, wagte es der Sklave seinem Herrn die schlechte Botschaft zu übermitteln.
„Rassek wurde zu Zagran befohlen. Aber sein Adept ist hier. Er vermag dich zu heilen.“
„Oh ihr Götter! Warum quält ihr mich so! Bring den Nichtsnutz hierher! Ich möchte ihn mir ansehen!“
Ubandor drückte seine riesige Pranke in Anwins Rücken und schob ihn so nach vorne. Der Skalvenhändler blickte ihn aus kleinen, trüben Augen an. Dann wurde ein Funke des Erkennens sichtbar.
„Aaaah! Der Junge, der die Tochter der Priesterin beschützen wollte! Ich habe dich kleiner in Erinnerung; du bist gewachsen! Dir kann ich nicht trauen, da werde ich warten müssen.“ Er stöhnte. „Nun? Ist es eine große Befriedigung für dich, mich leiden zu sehen?“
Natürlich war es das, aber Anwin hatte keineswegs die Absicht, auf diese Bemerkung einzugehen. „Mein Meister sagt, Ihr fügt Euch dieses Leiden selbst zu, indem ihr die Blüten der Schwarzen Orchidee zu Euch nehmt und auch der schwere Rauch, der im Zimmer hängt, kann nicht gut für Euch sein. Warum tut Ihr das?“
Der Blick SiVenders wurde unstet und verschleiert, die Droge entfaltete ihre Wirkung. Eine Weile sagte der beleibte Mann nichts und Anwin rechnete schließlich nicht mehr damit, eine Antwort auf seine Frage zu bekommen. Aber dann bewegten sich seine wulstigen Lippen und leise sprach er, wie zu sich selbst: „Weil ich zu viel weiß. Weil ich Dinge gesehen habe, die du dir in deinen kühnsten Phantasie nicht vorstellen kannst! Weil ich aus einer Höhe gestürzt bin, die du dir nicht einmal auszudenken wagst. Wer wirklich frei war, erträgt die Pfanne nicht, die du „Welt“ heißt! Du denkst, ich bin frei, aber ich bin nur ein Sklave wie ihr alle! Höre Schwächling, was ich dir sage. Es gibt keine Götter - ich weiß das - und dennoch rufe ich sie an, täglich und noch öfter. Würde ich mich zu dem bekennen, was mir bekannt ist, es wäre mein Tod.“
Er atmete tief ein, krümmte sich unter einem plötzlichen Schmerz, dann versank er wieder in jenen Zustand zwischen Betäubung und Wachsein. „Was du ‚Welt‘ nennst, ist nicht mehr …“, er suchte nach geeigneten Worten, „als eine Warze am Hintern! Keine große Warze, oh nein! Eine kleine, eine winzig kleine, kaum sichtbar!“
Phantasierte der Mann? Sprach da ein drogenverwirrter Verstand? So wäre es Anwin wohl vorgekommen, hätte er nicht schon aus anderen Gründen Zweifel an den Geschichten der Priester gehegt. Zweifel, die er gleichwohl - außer Issa gegenüber - nie zu äußern gewagt hatte; es war zu gefährlich. „Der Hintern! Sagt mir, wie Ihr ihn nennt!“
SiVender lachte kurz und verzog gleich darauf gequält seinen breiten Mund. „Gaia heißt dieser völlig unbedeutende, rückständige Planet am Rande des Universums. Du bist sehr neugierig. Das wird noch einmal dein frühes Ende sein!“
Gaia? Planet? Universum? Worte, die Anwin noch nie gehört hatte und die offenbar etwas von unvorstellbarer Größe beschrieben. Er war so aufgeregt, dass er die Warnung des Sklavenhändlers nicht beachtete. Er wollte mehr wissen, selbst wenn ihn das das Leben kosten sollte. „Dann gibt es mehrere Hintern? Wie habt Ihr sie genannt? Planeten?“
SiVender winkte ihn verschwörerisch näher. „Oh ja, eine Menge! Planeten voller Pracht und Herrlichkeit, wie du sie dir nicht vorstellen kannst. Und ich habe sie alle gesehen. Oder jedenfalls die meisten. Oder zumindest viele! Ich bin zwischen ihnen gereist und habe mit mächtigen Menschen gehandelt, so mächtig, dass sie eure Götter wie Ungeziefer zertreten könnten. Und Ungeziefer sind sie wirklich.“
Anwin hatte sich noch nie sonderlich für Götter interessiert, das Sakrileg ließ ihn zwar schaudern, aber er wollte nicht, dass der Händler vom Thema abschweifte. „Warum? Warum habt ihr sie verlassen? Weshalb seid Ihr jetzt hier?“
„Ich hatte Macht in meinen Händen, unvorstellbare Macht. Und doch war ich letztlich auch auf Ivarn nur der Vasall eines noch mächtigeren Mannes: Ephram OrPhon, Herrscher über den Planeten – den Hintern, wie du sagst – und mächtig weit darüber hinaus. Sein Einfluss reichte bis in die höchsten Kreise der Magellanschen Föderation, die er gleichzeitig ausbeutete!“ Er lachte. Für eine Zeit versank der Sklavenhändler in seinen Erinnerungen, blickte fast verklärt; doch dann verdüsterten sich seine Züge. „Er gab mir einen Auftrag. Ich habe nicht versagt, das nicht. Ich sollte einen seiner Todesengel in der Tarnung einer Lustsklavin in eine bestimmte Stadt bringen. Das habe ich getan! Nicht ich scheiterte, sie war es! Und doch zürnte er mir!“ Offenbar litt SiVender sehr unter der Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war. Er zitterte – und nicht nur vor Schmerz. Anwin sagte nichts, rührte sich auch nicht. Er hatte instinktiv erkannt, dass es jetzt das Beste war, vergessen zu werden, denn erlebtes Unrecht will erzählt werden.
„Er verbannte mich in den finstersten Winkel des Universums. An einen Ort, von dem ich nicht mehr wegkomme, nie mehr, denn ich kenne den Weg zurück nicht und verfüge nicht mehr über die Möglichkeit zurückzukehren, ohne Raumschiff mit Enigma-Antrieb. Jedes Mal, wenn ich ihm über den Boten melde, was hier vor sich geht, bitte ich darum, heimkehren zu dürfen, aber er antwortet mir nicht, kein einziges Mal hat er das getan. Soll ich mich weigern, ihm zu dienen? Nein, das wäre selbst an einem so fernen Ort mein Tod. Also werde ich ihm weiterhin Nachrichten über eure Götter schicken, alles, was ich in Erfahrung bringen kann. Und meine beste Quelle ist Rassek. Er erfährt viel – geht bei den Göttern und ihren Dienern ein und aus – und ich bezahle ihn gut. Was Ephram an diesen Kreaturen so sehr interessiert, ist mir zwar schleierhaft, aber das geht mich ohnehin nichts an.“
Anwin erkannte, dass er jetzt wieder Fragen stellen musste, wenn er etwas erfahren wollte, das ihm nützlich sein konnte. „Raumschiff? Ist das einer dieser Götterwägen? Bist du auf der Pyramide gelandet?“
„Damit die Götter Bescheid wissen? Spinnst du? Kein Mensch darf offiziell in ihre Welt hinein oder aus ihr heraus. Die wenigen, die dies im Auftrag deiner Götter tun, werden durch eine der Randfestungen geschleust!“
„Aber du bist nicht durch eine der Bastionen gelangt! Du kanntest einen anderen Weg?“
„Ja! Angelegt von früheren Spionen, denn die Familie OrPhon interessiert sich schon seit Generationen für diesen Planeten! Hast du dich nicht darüber gewundert, dass ich mich so gut am Rand der Welt auskenne, dass ich dort eine Höhle kenne, in der wir den Leichnam der kleinen Priesterin verschwinden lassen konnten? In dieser Höhle steht eine unscheinbare Götterstatue, von der Länge eines Arms, die U’Rieften darstellt. Dreht man sie in die Richtung, in der die Sonne läuft, öffnet sich ein schmales Tor und ein enger Gang offenbart sich, der aus der Welt hinaus führt. Der Gang endet abrupt an einem Abgrund, zehn Mann tief. Dort findet sich auch eine Strickleiter, die man hinablassen kann. In die Welt hinein kommt man also nur mit Hilfe oder wenn man sehr gut klettern kann. Aber wer will schon freiwillig in diese Schüssel? Ich hatte jedenfalls Hilfe, trotzdem war der Aufstieg unendlich mühsam und auch sehr gefährlich. Dann bin ich nach Ur’Agron, wo alles vorbereitet war, für die Rolle, die ich nun spiele.“ Die letzten Worte hatte SiVender nur mehr geflüstert, aber Anwin hatte alles vernommen, was ihm wichtig war. Er zitterte fast vor Aufregung und dann tat er es wirklich, als ihm einfiel, dass er und der Sklavenhändler nicht die einzigen im Raum anwesenden Personen waren. Ubandor hatte er während des Gesprächs völlig vergessen. Wie treu war der Mann seinem Herrn, wie treu den Göttern? Konnte er ihn, Anwin, mit diesem Wissen ziehen lassen? ‚Würde ich mich zu dem bekennen, was mir bekannt ist, es wäre mein Tod‘, hatte SiVender gesagt. Wenn er sich später an dieses Gespräch erinnern konnte, würde er ihm in jedem Fall nach dem Leben trachten. Verstohlen blickte er sich um, aber der dunkle Riese stand da wie eine düstere Statue. Er wirkte völlig unbeteiligt, als hätte er nicht mitbekommen, was besprochen worden war. Er erwiderte auch nicht seinen kurzen Blick.
Die Ruhe, die SiVenders Körper erfasst hatte war nur von kurzer Dauer. Auf sie folgte ein Sturm, ein Aufbäumen unter Schmerzen, der Skalvenhändler heulte, seine Finger umkrallten Anwins Arm, sein nun klarer Blick suchte ihn. „Ich kann nicht länger warten! Heile mich! Ubandor, hol den Spender!“
Gerade eben noch an eine Skulptur gemahnend, zeigte sich nun, wie unglaublich rasch der großgewachsene Leibeigene sich bewegen konnte. Mit wenigen, weit ausholenden Schritten war er bei der Tür, riss sie auf und packte den wartenden Jungen am Oberarm, dessen entsetzter Blick Anwins Herz rührte, so sehr er sich auch bemühte, keine Gefühle mehr zu haben. Äußerlich aber blieb er distanziert und kühl.
Der Junge hatte zu viel Angst um sich ernstlich zur Wehr zu setzen, er war völlig eingeschüchtert. Sein Blick glich einem gehetzten Tier, einer gestellten Beute, um die sich bereits die Jäger sammelten. Nur ein Wimmern entrang sich seiner Kehle, zum Schreien brachte er nicht den Mut auf. Ubandor schleifte ihn unsanft auf das Bett zu, hielt ihn dort in einem Abstand fest, der es Anwin gerade noch erlaubte, sich zwischen ihn und den Sklavenhändler zu drängen. Anwin bemühte sich um innerliche Ruhe und Sammlung und senkte langsam seine Hände auf die Schultern des Jungen und die des beleibten Mannes, der sich in Qualen wand. Gleich darauf erkannte er die Quellen des Schmerzes. Er spürte sie nicht, vielmehr sah er den düsterroten Fleck in jenem Bereich, wo sich die Leber des Mannes befinden musste und die etwas helleren im Bereich der Lungenflügel. Schlimm! Es stand schlimm um ihn, er war tatsächlich in Lebensgefahr, denn auch sonst war er durch Wohlleben im Übermaß und Völlerei geschädigt und geschwächt. Anwin erkannte, dass auch der Junge diese Leiden nicht überleben würde, auch wenn seine Konstitution gut war, auch dann nicht, wenn man ihn eine Weile in Ruhe ließ – was wohl kaum der Fall sein würde. Das beunruhigte Anwin sehr, er wollte keinen Mord an Unschuldigen mehr begehen, auch wenn ihm klar war, dass das Opfer ihn den Rest seines Lebens hassen würde, wenn es überlebte; zurecht wie er fand. Und das alles, dieses unsäglich qualvolle Ende musste es auf sich nehmen für eine unmenschliche Kreatur; für diesen Menschenhändler und Meuchler. Immer noch zögerte er. Warum ihn nicht einfach sterben lassen? Er hätte es verdient! Ein möglichst langsames, qualvolles Ende. Aber irgendetwas hielt Anwin zurück; der Schimmer einer Idee vielleicht, so klein wie ein Funke und von der Konsistenz eines Hauchs, einer Ahnung.
Trotz der Taten, zu denen er gezwungen worden war, sah er sich selbst immer noch nicht als Mörder, wider besseres Wissens. Er wollte den Jungen nicht töten. SiVender hingegen müsste seine Rache fürchten, aber es war ein ohnmächtiger Zorn, der ihn erfüllte. Er konnte sich weigern, SiVender zu heilen, was sein Ende wäre. Er konnte aber nicht verhindern, dass Rassek vielleicht doch noch rechtzeitig käme und er damit vielleicht einen völlig sinnlosen Tod stürbe. Gegenwärtig nutze ihm SiVenders Ende zudem nicht, weder ihm selbst, noch Issa, Eleran oder Sera. Jetzt zu sterben war sinnlos, denn er hatte noch eine Aufgabe.
Langsam baute er nun jene Brücke, die ihm wie ein spinnwebartiges Geflecht aus Licht erschien und die den Austausch ermöglichen sollte. Nun griff er mit irrealen Händen nach der frischen, grün leuchtenden Kraft des Sklaven und zog sie über die Brücke. Der Junge gab nicht freiwillig auf was ihm gehörte. Er wehrte sich mit erstaunlichem Geschick. Anwin war verblüfft, denn solche instinktiven Fähigkeiten hatte er noch nie erlebt. Der Knabe war etwas Besonderes, ohne es zu selbst zu wissen. Hatte auch er die Gabe des Heilens? Anwin hatte keine Erfahrung darin, wie sich die Gegenwehr solcherart Begabter anfühlte.
So mancher Heiler wäre vielleicht am Widerstand des Jünglings gescheitert oder hätte einfach keine Lust daran gehabt sich abzumühen und ein anderes Opfer verlangt. Anwin hatte aber ein spezielles Interesse daran, herauszufinden, wie machtvoll die Gabe des Heilens bei ihm ausgebildet war und zog daher verstärkt an der Lebensenergie, so sehr ihn dies auch erschöpfte. Schließlich überwand er den Widerstand und leitete die Heilung ein. Er nahm die Kraft des Kindes, langsam und vorsichtig, nicht alles, was nötig gewesen wäre, den Mann vollständig zu heilen, sondern genau so viel, dass SiVender keine Schmerzen mehr haben würde und sich vollständig geheilt wähnte. Die Saat des Leidens blieb aber in SiVenders Organen und schon bald würde er wieder seine oder Rasseks Hilfe benötigen. Das brachte Anwin ein klein wenig Genugtuung und – was viel wichtiger war – es rettete dem Opfer wahrscheinlich das Leben, denn so blieb doch hinreichend Lebensenergie in ihm.
Letztlich ging es rasch, SiVenders Körper entspannte sich zusehends, während der Junge sich unter Schmerzen krümmte und schrie. Nichts konnte Anwin tun, um dessen Qualen zu lindern; er verfluchte sich selbst für die grausame Tat und hatte nicht mehr den Mut, dem Knaben in die Augen zu schauen. Abrupt stand er auf und lief aus dem Raum, um beim nächsten Erker stehenzubleiben, abgewandt, als ginge ihn die ganze Sache nichts an. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, er zitterte am ganzen Körper, ihm war übel. Er bekam am Rande mit, dass das Opfer von dessen Wächter weggebracht wurde, SiVender schien eingeschlafen zu sein, rührte sich jedenfalls nicht. Ubandor näherte sich Anwin, er spürte ihn, sah ihn nicht, denn er blickte hinaus in den sonnigen Garten. Der Riese blieb neben ihm stehen und schwieg. Anwin wollte seine Ruhe, nichts sonst, er reagierte nicht auf ihn. Aber nach einer Weile benötigte er ein Ventil für die Wut auf sich selbst und die Welt.
„Was ist? Warum stehst du da? Du brauchst keine Angst um deinen Herren haben, es geht ihm gut! Er wird noch viele Priesterinnen meucheln können, viele Menschen auspeitschen und versklaven! Und das alles dank mir, der ich ihm mehr als alle anderen den Tod wünsche! Ich habe ihn gerettet, also mach‘ dir keine Sorgen um ihn!“
„Mein Herr ist ein grausamer Mensch, um ihn mache ich mir keine Sorgen!“ Ubandor betonte das Wort ‚ihn‘ überdeutlich.
„Aber du würdest dein Leben für ihn geben.“
„Aye, das würde ich, aber nicht aus Treue, sondern aus Furcht!“
„Du fürchtest um dein Leben?“
Der dunkelhäutige Riese lachte. „Ist das ein Leben?“ Und dann flüsterte er: „Ihr Götter! Wie mich dieser Mann anwidert! Und ich muss ständig um ihn sein!“
Anwin war verblüfft. „Ist es nicht gefährlich, mir das anzuvertrauen?“
„Doch! Sehr!“
„Warum tust du es dann? Was fürchtest du? Um wen machst du dir Sorgen?“
Die Mimik des Mannes änderte sich, er schien zu schrumpfen, wurde verletzlich. „Ich habe dich beobachtet. Du bist nicht so wie Rassek und die anderen Heiler, die ich kenne; nicht so wie ihre Schüler. Ich habe von deinen Taten am Rande der Welt gehört, von deiner Liebe zu dem Mädchen. Du weißt, was Liebe ist.“
„Ich wusste es. Jetzt fühle ich nicht mehr viel.“ Anwin schwieg eine Weile. Dann wandte er sich dem großen Mann zu und sah ihm in die Augen. „Wen liebst du?“
Der Hüne senkte den Blick. Nun wirkte er nicht mehr bedrohlich, trotz des geschulterten Breitschwerts. „Ich habe eine Frau und eine Tochter. Wir haben ein kleines Haus hinter der Villa, in seiner Reichweite. Jeder Ungehorsam kann dazu führen, dass er ihnen etwas antut. Das ist schon geschehen.“ Wut erfüllte Ubandor. „Liebe macht ohnmächtig.“
„Ich weiß.“
„Was nützt mir meine Stärke? Was nützt mir mein Schwert?“
„Es sei denn, du bringst die, die du liebst aus seiner Reichweite. Du hast heute Dinge gehört, die kaum jemand weiß. Es ist möglich!“
„Nein, das ist es nicht, denn ich weiß nicht, wo die Höhle liegt, von der SiVender gesprochen hat. Und vor allem ist meine Tochter krank. Schwer krank!“
Anwin lachte leise, aber nicht über das Leid des Mädchens, sondern weil er nun endlich den Grund für dieses Gespräch erkannte. „Warum bittest du deinen Herren nicht, sie zu heilen?“
„Das habe ich getan, aber er hat mich nur ausgelacht, so wie du jetzt!“
„Das habe ich nicht, das Leid deiner Tochter tut mir aufrichtig leid! Gelacht habe ich, weil ich einen Augenblick lang so naiv war zu denken, du würdest mit mir sprechen, ohne nach irgendeinem Nutzen zu trachten. Aber das ist egal. Ich soll also deine Tochter heilen?“
Der dunkelhäutige Mann nickte. „Ich bitte dich darum. Auf Knien wenn du willst, denn sie bedeutet mir alles!“
Mit einem sarkastischen Unterton brachte Anwin hervor: „Und natürlich hast du schon ein geeignetes Opfer ausgewählt! Wer soll an ihrer statt leiden?“
„Ich!“
Die Antwort des Riesen traf Anwin unvorbereitet, diese Selbstlosigkeit hatte er nicht erwartet, trotz der Liebesbezeugungen, Worte sind das eine, Taten etwas völlig anderes. Unwillkürlich musste er an das ähnliche Angebot Derkans denken. Er hatte es abgelehnt. Ubandors Ansinnen hingegen war in gewisser Hinsicht etwas völlig anderes. „Um zu wissen ob das möglich ist, muss ich deine Tochter sehen. Es wäre für deine Familie wohl kaum eine Hilfe, wenn du stürbest oder der Arbeit für deinen Herren nicht mehr nachkommen könntest.“ Er sprach diese Sätze völlig unmoduliert. Ubandor reagierte darauf.
„Was ist, was stört dich?“
„Hast du den Gedanken, jemand anderen an deiner Stelle als Opfer zu verwenden nie gedacht? Einen Bettler vielleicht, der niemandem etwas bedeutet und den du danach ins Jenseits befördern kannst, sodass dein Herr niemals davon erfahren würde? Es gäbe genug Heilerschüler, die das nicht stören würde, weißt du. Gegen eine kleine Bezahlung …“
Ubandor schüttelte den Kopf. „Niemals, das ist meine Aufgabe als Vater.“ Dann, nach einer kleinen Pause ergänzte er: „Welche Bezahlung verlangst du?“
Diesmal schüttelte Anwin den Kopf. „Kein Geld, aber du hast schon recht. Doch helfen wir zuerst deiner Tochter. Bring mich zu ihr, bevor Rassek zurückkehrt.“
Die Erwähnung dieses Namens ließ den großen Mann erschaudern. Er deutete Anwin, ihm zu folgen, verließ den Raum und rannte die Stiegen hinab, Anwin immer im Schlepptau. Sie verließen die Villa durch einen Hinterausgang und folgte einem Pfad, der sie aus dem prachtvoll angelegten, blühenden Garten hinaus führte, auf einen Teil des Grundstücks, der sich durch hohe, alte Bäume auszeichnete und Sträucher, die ihnen die Sicht auf dahinter liegende Hütten nahmen. Sie waren gerade groß genug, um einen Raum mit zentralem Kamin zu beherbergen, aber jedenfalls nicht baufällig und durchaus gepflegt. Auf eine hielt Ubandor zu, öffnete die Tür, betrat den dunklen Raum und bat Anwin herein. Neben dem Herd stand eine erschrocken wirkende Frau, die erstaunlich klein war – irgendwie hatte Anwin angenommen, dass ein Riese wie Ubandor auch eine große Frau haben würde. Sie wies feine Gesichtszüge und eindrucksvolle Augen auf, ihre Haut war sehr hell – ein weiterer Kontrast zu ihrem Mann. Sie hatte prachtvolles, langes, dunkles Haar. In ihrer Hand hielt sie ein Tongefäß aus dem Dampf aufstieg.
Jetzt wo sich Anwins Augen langsam an die relative Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er weitere Details erkennen. Im äußerten Eck des Raumes hockte ein kleines, mageres Mädchen von höchstens acht Jahren auf einer großen Liegestatt und blickte ängstlich zu ihm. Sie war von einer Krankheit gezeichnet, ein Schweißfilm lag auf ihrer Haut und das an sich schöne Haar wirkte strähnig. Obwohl es in dem Raum nicht kühl war und sie in eine dicke, wollene Decke gehüllt, zitterte sie am ganzen Körper. Und sie hustete laut und in einem fort, obwohl sie schwach und erschöpft wirkte.
„Meine Frau und meine Tochter“, stellte Ubandor die beiden vor. Anwin nickte der Hausherrin zu und eilte dann zu dem Mädchen. Er setzte sich an die Kante des Bettes und streckte die Hand nach ihr aus, der sie aber auswich.
„Keine Angst, Kelina, das ist ein Heiler, der tut dir nichts.“
Kelina indes blickte ihn nur umso furchtsamer und skeptischer an; von Heilern hatte sie schon gehört, und dass von ihnen nichts Gutes zu erwarten war. Aber weil sie ihrem Vater vertraute, ließ sie die Berührung schließlich doch zu. Anwin legte seine Hand auf ihre Stirn und erkannte sogleich das Toben in ihrem Inneren. Die Lebensenergie wirkte bereits fadenscheinig, die Lunge war in einem üblen Zustand und es handelte sich um eine fortschreitende Krankheit, die ihr mit Sicherheit den Tod bringen würde, in ein, vielleicht zwei Wochen. Ubandor erkannte den Ernst in Anwins Miene. Der Adept stand auf und deutete dem Leibwächter, mit ihm nach draußen zu gehen.
„Wie steht es um Kelina?“
„Die Krankheit ist sehr gefährlich, sie schreitet fort und eine Hoffnung darauf, dass deine Tochter von selbst gesund wird, besteht nicht. Sie ist bereits sehr geschwächt. Ich fürchte, wenn wir ihr nicht helfen, ist sie bald nicht mehr am Leben!“
Der große Mann sah ihn entsetzt an. „Das darf nicht geschehen! Wir werden ihr helfen!“
„Hast du bedacht, dass die Lungenfäulnis auch dich schwächen wird? Wie lange wirst du sie vor deinem Herren verbergen können?“
„Das weiß ich nicht, das kannst nur du mir sagen! Was passiert, sobald ich die Krankheit in meinem Körper trage?“
Anwin schüttelte den Kopf. „Deine Lunge ist viel größer als ihre, deshalb vermute ich, dass du vorerst nicht so schwer leiden wirst. Aber diese Erkrankung ist heimtückisch und breitet sich aus! Andererseits mag sie sich im Körper eines Erwachsenen unwohl fühlen und langsam wieder verschwinden – ich kann es dir nicht sagen, mir fehlt jegliche Erfahrung. Du trägst ein großes Risiko.“
„Aber eines, das sich auszahlt! Wir wollen nicht länger zögern, meine Tochter braucht meine Hilfe.“
Anwin nickte dem beeindruckenden Mann zu und ging wieder hinein. Er lächelte das magere Kind mit den feinen, ansprechenden Gesichtszügen an und bemühte sich auch sonst, beruhigend auf sie zu wirken. „Dein Papa und ich, wir werden dich jetzt heilen. Dann hast du keine Schmerzen mehr!“ Das Mädchen blickte vertrauensvoll zu ihrem Vater auf, der ihr zunickte. Dann kam er näher und beugte sich herab, sodass Anwin, der auf der Kante der Bettstatt saß, seine Schulter berühren konnte. Die andere Hand legte er auf Kelinas Stirn.
Diesmal gab es keinen Widerstand zu brechen, das erste Mal seit er seine Heilergabe benutzte, konnte er das, ohne eine Vergewaltigung zu begehen, ohne dass sich das Opfer wehrte. Es war anders. Langsam und in interferierenden Wellen zog er die Krankheit von dem Kind ab und übertrug gesunde Lebensenergie auf sie. Er merzte auch die letzten Spuren der unheilvollen Krankheit aus, das Mädchen schien aufzublühen. Zugleich fühlte Ubandor die Schwäche, die sich in seinem Körper ausbreitete und der er von nun an widerstehen musste. Er fühlte, dass er den Alltag mit dieser Beeinträchtigung bewältigen konnte, um aber einem Angriff Paroli zu bieten, um ein erfolgreicher Leibwächter sein zu können, war er bereits jetzt zu schwach. Er würde Kraft und Ausdauer vorspielen müssen, wo sie nicht mehr vorhanden waren. Und den Reiz in seiner Lunge, der ihn dazu bringen wollte, in einem fort zu husten, den würde er unterdrücken müssen. Trotzdem war er glücklich! Er brauchte nur in die erlösten Züge seiner Tochter zu sehen, um zu wissen, dass es richtig gewesen war, was er getan hatte, goldrichtig!
Es war vollbracht, Anwin zog seine Hand zurück und nickte dem Mädchen zu. Die sprang auf, lief zu ihrer Mutter und flüchtete in ihre Arme, die sie daraufhin wiegte. Die Frau lächelte, strahlte fast, der sorgenvolle Ausdruck ihrer Augen war verschwunden solange sie ihre Tochter betrachtete, erschien aber wieder, als sie ihren Mann ansah. „Wie geht es dir?“
„Ich habe schon Schlimmeres überstanden, mach dir keine Sorgen! Als ich den Pfeil mit meiner Schulter abgefangen habe, durfte ich nicht ruhen, musste am nächsten Tag bereits wieder SiVender begleiten.“ Er hustete ausgiebig. „Da werde ich das hier ebenfalls überstehen.“ Er wandte sich Anwin zu. „Ich stehe in deiner Schuld. Wenn ich dir helfen kann, ohne meine Familie in Gefahr zu bringen, werde ich das tun.“
Anwin nickte Mutter und Tochter zu und meinte dann: „Lass uns das draußen besprechen. Wir müssen ohnehin sehen, ob Rassek mich bereits sucht.“
Als sie den schmalen Pfad zur Villa betreten hatten, jenseits der Sträucher, begann Anwin zu reden. Er legte dem Riesen dar, welche Hilfe er von ihm erwartete. Ubandors Miene verdüsterte sich zusehends, er sah schließlich überaus unglücklich drein.
„Du hast mir deine Hilfe versprochen, vergiss das nicht!“
„Wie könnte ich!“, antwortete Ubandor.
„Was wird mit deiner Tochter geschehen, in ein paar Jahren? Oder bereits früher, wenn deine Gesundheit nachlässt?“
Ubandor nickte. Natürlich wusste er, dass sie im Alter von zwölf Jahren verkauft werden würde und da sie sehr hübsch war, würde sie wohl die Gespielin irgendeines alternden Adeligen werden, bis er ihrer überdrüssig geworden sein würde. Einen kurzen Moment überlegte er sogar, ob SiVender sie als sein Spielzeug behalten mochte, aber er verkaufte eigentlich stets die Kinder seiner Sklaven. Später mochte sie im Haushalt ihres Herren arbeiten und schließlich einem wichtigen Sklaven zum Geschenk gemacht werden. So zumindest war es ihrer Mutter ergangen. Dass seine Frau mit ihm glücklich geworden war, soweit ein Sklavenleben Glück zuließ, war letztlich Zufall, nichts weiter. Niemand konnte garantieren, dass seine Tochter einem Mann geschenkt werden würde, der sie gut behandelte. Und der Weg dorthin war schrecklich, das wusste er, obwohl – oder gerade weil – seine Frau nie über diese Phase ihres Lebens sprach.
Ubandor barg sein Gesicht in seinen gewaltigen Händen und seufzte. „Also gut, du hast recht! Ich werde dir helfen!“
Kaum hatten sie die große Halle durch den Hintereingang betreten, stürmte ihnen Rassek vom Vordereingang her kommend entgegen, überaus verärgert, denn den Rückweg von Zagrans Palast hatte er zu Fuß zurücklegen müssen. „Wegen so einer Kleinigkeit weggerufen zu werden! Die Frau wäre auch von selbst wieder gesund geworden, verwöhnte Kreatur! Wie geht es SiVender? Hast du ihn geheilt?“
Anwin antwortete knapp mit einem Nicken.
„Ich hoffe doch, du hast ihn nicht allzu sehr leiden lassen!“ Seine sardonisch verzerrten Gesichtszüge bewiesen Anwin, dass Rassek genau das Gegenteil erhoffte. „Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?“
„Die gab es! Der Junge, das Opfer, ist vielleicht selbst Heiler. Er war in der Lage sich zu wehren, sein Widerstand war nur schwer zu überwinden.“ Anwin schilderte Details des Erlebten und der Heiler schüttelte langsam den Kopf.
„Es gibt Menschen, die sich gegen uns wehren können, ohne selbst Heiler zu sein. Nach allem was du mir schilderst, ist der Knabe einer von ihnen. Ich werde das in der großen Pyramide melden müssen, falls er noch lebt. Ist das der Fall?“ Diese Frage richtete Rassek an Ubandor.
„Er hat recht lautstark gebrüllt, als er fortgebracht wurde. Das spricht eigentlich dafür.“ Nach dieser Bemerkung nickte Ubandor dem Heiler kurz zu und zog sich zurück.
Anwin hatte dem Jungen eigentlich helfen wollen und hatte jetzt das unbestimmte Gefühl, mit seiner Erwähnung einen Fehler gemacht zu haben. „Was geschieht mit ihm?“
„Er muss kastriert werden, die Götter wollen nicht, dass sich Menschen mit dieser erblichen Eigenschaft vermehren. Manche von ihnen sind so stark, dass nicht einmal ich an ihre Lebensenergie herankomme. Ich kann sie dann auch nicht auf die Nahrung der Zirthee übertragen. Aus Sicht der Götter und Götterdiener sind Menschen mit dieser Eigenschaft nicht nützlich, langfristig sogar gefährlich.“
„Könnte er nicht doch ein Heiler sein?“, fragte Anwin unglücklich. Rassek schüttelte den Kopf. „Einmal abgesehen davon, dass dann sein Vater ebenfalls Heiler sein oder seine Mutter einer Heilerdynastie entstammen müsste, Priesterin sein müsste, stimmt das einfach nicht mit dem überein, was du mir geschildert hast.“ Abrupt wechselte Rassek das Thema: „Wenn der Kleine noch lebt, bedeutet das, dass SiVender nicht so krank war, wie es den Anschein hatte! Wenn du mächtiger geworden bist, nach weiteren Jahren Ausbildung, wirst du in der Lage sein, weniger Lebensenergie zu übertragen als für die vollständige Heilung nötig ist. Das ist schwer, aber möglich! Es ist gut, wenn du den Keim der Krankheit in den reichen Kunden bewahrst, so dass sie unsere Hilfe vermehrt brauchen und uns nicht nur öfter bezahlen müssen, sondern, was noch wichtiger ist, von uns abhängig bleiben. Schreib dir das bereits jetzt hinter die Ohren und übe deine Fähigkeiten! Es ist von großer Bedeutung, dass wir unsere Macht über so viele einflussreiche Menschen wie möglich bewahren, ohne dass den Adeligen auffällt, was wir tun.“
Anwin schwieg. Er hatte heute Fähigkeiten bewiesen, die er eigentlich noch gar nicht haben dürfte, hatte tatsächlich die Krankheit unerkennbar in dem Sklavenhändler belassen. Er war seiner Ausbildung voraus und keiner wusste es. Das mochte noch irgendwann sein Trumpf sein. Und auch Rasseks Bemerkung über Heilerdynastien waren es wert, überdacht zu werden.
***
"Meister, was soll ich dort? Es gibt heute doch keine Gladiatorenkämpfe und die Opferungen überlebt sowieso niemand!“
„Sieh dir ruhig das Schauspiel an, das bildet!“
„Aber warum darf ich mich dann nicht auf die Tribünen setzen, wie die anderen Zuschauer auch? Warum muss ich wieder in die Halle, in die die Gemeuchelten gebracht werden?“
„Du wirst schon sehen!“
‚Das bedeutet nichts Gutes, das bedeutet gar nichts Gutes‘, dachte Anwin immer wieder auf dem Weg zur Arena, den er später unternahm als sonst - den Opferungen musste er wirklich nicht zuschauen. Am unscheinbaren Hintereingang der Halle nickte er dem Wächter zu, er war ihm inzwischen gut bekannt, obwohl Anwin nie das Wort an ihn gerichtet hatte. Der ließ ihn passieren, leider. Die große Halle war wie stets sehr dunkel, nur das Rund der Arena leuchtete grell und vergittert aus der Düsternis. Die maskierten Schausteller sammelten sich bereits vor einem der Tore. Sie nahmen Anwin nicht wahr, der sich möglichst weit weg so hinstellte, dass er gut in die Arena sehen konnte. Die Zuschauerränge waren voll besetzt, Lachen schallte bis zu ihm, die Spaßmacher in ihren knallbunten Kostümen waren gerade draußen, jonglierten, schlugen Purzelbäume und stellten allerhand Schabernack an. Anwins Aufmerksamkeit wechselte zu den Schauspielern. Manche standen ruhig da, geradezu überlegen, andere litten offenbar an Lampenfieber, wie er aus ihrer fahrigen Gestik schloss, die Mimik konnte er ja wegen der Masken nicht sehen. Der Augenblick vor dem großen Auftritt! Anwin setzte sich in den Sand und hielt sich mit der Linken am Bronzegitter fest. Weiter hinten im Raum, nahe dem finsteren Durchgang zur Pyramide lag der Leichenhaufen, das Endprodukt der heutigen Opferungen. Anwin blickte nur kurz hin, Entsetzen spürte er keines mehr, dazu war er inzwischen zu abgestumpft.
Besser er konzentrierte sich auf die Schausteller. Er betrachtete die kunstvollen, bemalten Holzmasken mit ihrer starren, stark übertriebenen Mimik. Die da mit den überheblichen Zügen musste wohl einen Herrscher darstellen oder einen, der sich zumindest für mächtig hielt – sie erinnerten ihn an Rassek, den mächtigsten Mann, den er kannte, denn Zagran in seiner Lodge war zu weit weg, um sein Gesicht deutlich erkennen zu können. Die Maske mit der verhärmten Mimik mochte zu einem Sklaven gehören und die feinen Gesichtszüge zu einer edlen Frau. Rund ein Dutzend Mimen hatten sich hier versammelt.
Die Narren beendeten ihren Auftritt unter freundlichem Applaus und rannten nach vielen Verbeugungen vor Zagran und dem restlichen Publikum zu jenem Ausgang, hinter dem sich die Schausteller bereits sammelten. Aber noch war der Augenblick des Auftritts nicht gekommen, Sklaven, auf die Anwin bislang nicht geachtet hatte, öffneten das breite Torgitter und begannen, Requisiten hinauszutragen, Stühle, Tische, sogar Wandteile. Andere, die nichts Gutes verhießen, blieben vorläufig in der Halle zurück. Das Stück, soviel war jetzt schon klar, spielte in der Welt der Adeligen, denn die Bühne war voll von Gegenständen, die Prunk darstellen sollten. Anwin hatte noch nie ein Schauspiel gesehen und begann sich darauf zu freuen. Dass er nicht auf den Tribunen sitzen durfte, störte ihn nicht mehr, denn auch das Drumherum um die Aufführung fand er sehr interessant.
Jetzt war es soweit, der Ausrufer drängelte sich an den Mimen vorbei und betrat das Arenarund, eilte zur Mitte und kündigte mit lauter Stimme das Schauspiel „Die Rache des Herren“ an. Er wies zum Halleneingang, hinter dem die Darsteller standen und nun erfolgte ihr Auftritt unter tosendem Applaus, das Ensemble musste bekannt und gut sein. Sie stellten sich in einer Linie auf und gingen vor Zagran auf die Knie, dann bildeten sie einen Halbkreis in Richtung Publikum und verbeugten sich tief.
Nachdem die Schausteller, die in der ersten Szenen nicht gebraucht wurden, wieder abgetreten waren, begann die Vorführung, der Anwin gespannt folgte. Um vom Publikum noch gehört zu werden, mussten die Schauspieler brüllen, was dem Ganzen einen unrealistischen Anstrich gab. Auch die Gesten waren übertrieben, aber Anwin gewöhnte sich rasch daran, ebenso wie an die starre Mimik der Masken. Dann tauchte er in die Handlung ein und er vergaß, dass alles nur gestellt war.
Der Inhalt des Stücks war simpel und bestimmt nicht neu; ein gut aussehender Sklave verliebte sich in die schöne und grenzenlos verwöhnte Tochter des Hauses, oder, besser gesagt, zunächst begehrte sie ihn und stellte ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach. Sie war ausgesprochen phantasievoll im Herbeiführen zufälliger Treffen und selbst wenn der Leibeigene sehr dumm gewesen wäre, hätte er schließlich erkannt, was sie von ihm wollte. Aber er war gar nicht dumm. Er zauderte und wollte noch seinem Herren ein guter Diener sein. Anwin fand das übertrieben. Natürlich fürchtete der Leibeigene auch die Folgen dieser Verbindung, aber nach und nach wurde ihm klar, dass er den Konsequenzen ohnehin nicht entgehen konnte. In einem herzzerreißenden Monolog erkannte er, dass die Tochter, wenn er ihrem Drängen nicht nachgab, aus Rache wohl eine Vergewaltigung behaupten würde, angedeutet hatte sie dies ja schon, denn sie bekam stets ihren Willen und hatte ja sonst nichts zu tun als zu überlegen, wie. Da war es wohl klüger, wenn er ihr ihren Willen ließ, noch dazu, wo er sich ohnehin nach ihrem prächtigen Körper verzehrte. Hier betrachtete Anwin die Schauspielerin, die die Tochter spielte, eingehender. Sie war etwas dicklich, ja pummelig, was für einen Augenblick die Illusion der Identifikation zerstörte. Anwin dachte an den gertenschlanken, gazellenhaften Körper Issas.
Schließlich kam es zur lang erwarteten Bettszene. Der Sklave hopste übertrieben auf dem Mädchen herum, was Erheiterung auslösen sollte; das Publikum lachte denn auch pflichtschuldigst und die einfacheren Gemüter besonders laut. In diesem Moment betrat die Mutter, die ihre Tochter zu einem gemeinsamen Einkaufsbummel überreden wollte, unaufgefordert den Raum, erkannte, was sich abspielte und kreischte los. Ihre beiden Söhne, die sich ganz zufällig in allernächster Nähe aufgehalten hatten, eilten zu ihr, die vermeintlich Hilfe brauchte. Da sahen auch sie den Frevel, den der ruchlose Sklave an ihrer Schwester beging. Endlich nahm auch die Tochter wieder ihre Umwelt wahr und reagierte entsprechend uneigennützig. Sie kreischte ebenfalls los und schrie bereits „Vergewaltigung, Vergewaltigung!“, als ihre Brüder den Sklaven von ihr wegzerrten. Indem sie mit den Händen über die Maske fuhr, deutete sie an, dass sie sich die imaginären Tränen aus dem Gesicht wischte. Heulend blieb sie am Bett sitzen, während ihr Liebhaber wohl ins finstere Verlies gebracht wurde? Hier folgte eine Pause. Tatsächlich, ein paar Requisiten wurden umgeräumt, die Szene wirkte düsterer. Im Kerker wurde dem Sklaven noch einmal ein ausgiebiger Monolog gegönnt, den Anwin gut hören konnte ohne allerdings den Mimen zu sehen, denn die aufgestellte Kerkerwand stand zwischen der Halle und ihm. Verständlich, sie sollte ja den Zuschauern auf den Rängen nicht die Sicht versperren.
Trotzdem war Anwin bisher so von der Szene gefesselt gewesen, dass er erst jetzt bemerkte, dass zwei bullige Soldaten einen Mann in die Halle gebracht hatten, der genau so eine Maske trug, wie der Mime, der den Sklaven spielte. Kurz trafen sich ihre Blicke, bevor dem Gefangenen ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt und er hinaus gebracht wurde. Jetzt fiel Anwin auf, dass der Mann mindestens einen Kopf größer war als sein Schauspieler-Pendant. Er war überhaupt ungewöhnlich groß. Jetzt begannen die Arenadiener die restlichen Requisiten nach draußen zu bringen, für die abschließende Szene. Andere, nun nicht mehr gebrauchte, wurden hineingetragen. Gleichzeitig verhüllte sich der Darsteller des Sklaven und eilte auf die große Halle zu.
Die Arena wurde – wie so oft – in einen Richtplatz verwandelt: zwei Pfosten mit ehernen Ketten, die nahe dem oberen Ende befestigt waren, wurden so in dafür vorgesehene Löcher im Boden versenkt, dass sie noch übermannshoch heraus ragten. Die Arme des Gefangenen wurden im Handgelenksbereich in die Eisenreifen eingeschlossen. Wäre der Mann nicht so groß, hätten seine Füße nicht mehr den Boden berührt. So aber konnte er, zwischen den beiden Pfosten aufgehängt, mit den Zehenspitzen gerade noch den Sand der Arena fühlen. Angenehm war die Haltung dennoch nicht. Die Familie des Adeligen, einschließlich der Tochter saß auf bequemen Stühlen. Jetzt stand der Herr auf und beauftragte die beiden Foltermeister, mit ihrer Arbeit zu beginnen. Sie schleppten allerlei Peitschen und Zangen und andere Gerätschaften heran. Der massigere Mann ergriff eine siebenschwänzige Peitsche, in die die scharfen Zähne eines Gari-Raubfisches eingearbeitet waren und näherte sich dem Opfer. Der andere riss ihm die Kleidung vom Leib, so dass er abgesehen von der Maske nackt war. Was jetzt folgte, konnte Anwin sich vorstellen, er wandte sich ab. Dennoch zuckte er zusammen als er das Klatschen hörte, mit der das Folterwerkzeug die Haut des Opfers aufriss und von seinem Leib fetzte. Dem Gequälten entfuhr ein gurgelnder Laut, eine Art Stöhnen, mehr nicht. Anwin hielt sich die Ohren zu. Warum ging er nicht einfach? Er blickte in Richtung Ausgang, ein Wächter stand dort mit verschränkten Armen - wie stets - und irgendwie, vielleicht, weil der Mann ihm starr in die Augen blickte, wusste Anwin, dass dieser den Auftrag hatte, ihn nicht gehen zu lassen, bevor das Schauspiel zu Ende war. Ihm graute. Welche Pointe hatte Rassek sich für ihn ausgedacht?
Mit den Händen die Ohren bedeckend und mit dem Rücken zum Gitter blieb Anwin eine lange Zeit sitzen. Man hatte nicht vor, das Opfer schnell sterben zu lassen. Anwin hatte die Augen geschlossen und versuchte, an etwas Schönes zu denken, aber es gelang ihm nicht. Immer wieder drängte sich ein Gesicht in seine Vorstellung. „Ihr Götter, lasst es nicht IHN sein“, dachte er. Und das war das erste Mal, dass er sich an die Götter wandte, seit Issas Mutter ermordet worden war. Natürlich würden sie ihn nicht erhören, das taten sie nie. Sie erhörten nicht einmal die, die gläubig waren, warum also ihn?
Nach einer gefühlten Ewigkeit vibrierte die Erde, so stark war der tosende Applaus und das rhythmische Trampeln. Anwin wandte der Arena wieder seine Aufmerksamkeit zu. Um das blutende Bündel standen die Mimen im Kreis, auch der Darsteller des Sklaven hatte sich zu ihnen gesellt und sie verbeugten sich in alle Richtungen, außer natürlich zur Halle hin. Die ersten Menschen verließen bereits die Tribünen als die Darsteller in die Halle zurückkehrten, glücklich ob der gelungenen Aufführung, ja geradezu wie im Rausch. Anwin konnte einzelne Wort- und Satzfetzen wahrnehmen. „Hat man mir die Wut angesehen, als ich auf den Mann eingestochen habe?“, fragte gerade die Darstellerin der Tochter ihre „Mutter“ und hüpfte dabei ein wenig auf und ab. Lachend nickte diese ihr zu, wobei sie sich die Maske vom Gesicht zog und die Perücke abnahm. Alle taten das jetzt, auch der Mime, der die meiste Zeit den Sklaven gespielt hatte – eben bis die Abschlußszene begonnen hatte. Jetzt wurde die gackernde Gruppe der Schauspieler vom Eingang weg gedrängt, denn die beiden Folterer, die den zerschundenen Leichnam trugen, traten ein. Nachdem die träge Masse endlich ausgewichen war, brachten sie den Mann, der noch die Sklavenmaske trug, zu dem Haufen der Opfer, der gewissermaßen auf ihn wartete, denn normalerweise war er um diese Tageszeit längst zu den Götterdienern gebracht worden, die ihrer Mahlzeit harrten. Anwin erwartete, im dunklen Gang die beiden Lichter der Fackeln aufleuchten zu sehen; aber noch blieb er finster.
Langsam und in großem Bogen ging Anwin um die Mimen herum, die sich noch immer gegenseitig beglückwünschten und ihre eigenen Großtaten hervor strichen. Schließlich stand er über den blutverschmierten Überresten des einst beeindruckenden Mannes. Fast magisch fühlte sich Anwin von der Maske angezogen. Er ging in die Knie, griff danach und zog sie von der einzig unversehrt gebliebenen Körperstelle, dem Gesicht. Was er vermutet hatte, wurde augenblicklich als grausame Wahrheit erkannt. Obwohl inzwischen darauf vorbereitet, packte Anwin das Grauen; sein Herz pumpte das Blut so kräftig in seinen Kopf, dass ihm schwindelte und er rote Schlieren vor den Augen sah; ein anderes Rot als das des Blutes rund um ihn. Er begann unkontrolliert zu zittern.
„Derkan, mein Freund“, sprach er nach einer Weile tieftraurig, als er sich wieder etwas beruhigt hatte. Dann griff er in seinen Nacken, löste den Knebel und entfernte das Tuch aus seinem Mund. Da erschrak Anwin noch einmal heftig, denn der Totgeglaubte öffnete mit zitternden Lidern zögerlich die Augen. Langsam klärte sich der Blick und heftete sich auf ihn. Schließlich flüsterte die leidende Kreatur irgendetwas, er konnte es nicht verstehen und beugte sich weiter hinab zu Derkans Mund.
„Anwin, warum?“, verstand er schließlich und begriff, dass jemand ihn in dem Glauben gelassen hatte, er hätte ihn verraten. Welch einen Hass, welch eine Verachtung verriet diese Tat! Sturzbachgleich traten Tränen in Anwins Augen und nahmen ihm die Sicht.
„Derkan, nein! Ich habe dich nicht verraten. Ich hatte keine Ahnung, dass du gefangen genommen worden warst! Nicht bis sich hier unsere Blicke getroffen haben!“ Er schluchzte. Jeder Atemzug Derkans verriet seine Qual und die Mühsal seines Kampfes gegen den Tod. „Wer hat dich in dem Glauben gelassen, ich hätte dich verraten?“
Leise und bruchstückhaft erzählte Derkan und oft brach ihm vor Schmerz die Stimme: „Als ich noch am gleichen Tag, an dem wir uns getroffen hatten aus der Kanalisation geklettert war, warteten die Häscher bereits auf mich! Unter ihnen auch Rassek. Er erzählte mir, du hättest mich ausgeliefert, um ihm deine Ergebenheit zu demonstrieren und ihm zu zeigen, dass du ein würdiger Heiler geworden wärst.“
„Ooooh, Rassek! Das wirst du büßen!“, entfuhr es Anwin voller Hass. Er griff nach Derkans Schultern und versuchte, seine eigene Lebenskraft in ihn fließen zu lassen, obwohl er wusste, dass dies nicht möglich war und ihn in Gefahr brachte. Sofort ergriff ihn eine maßlose Schwäche, die ihn fast in Ohnmacht stürzte, ohne dass Derkan auch nur im Geringsten davon profitierte. Erschöpft, aber wütend hielt er nach einem Opfer Ausschau. Sie hatten alle auf ihn eingestochen, alle bis auf den Schausteller des Sklaven. Alle waren sie würdig, Derkans Leben zu retten. Aber auch dieser Schritt war vorhergesehen worden, obwohl niemand hätte ahnen können, dass Derkan die grausame Prozedur überlebte und sei es auch nur für kurze Zeit. Vielleicht hatte Rassek angenommen, er würde sich auf die Schauspieler stürzen, um sie zu verletzen. Die beiden Foltermeister standen jedenfalls zwischen den Mimen und ihm und blickten ihm höhnisch entgegen.
„Anwin!“
Derkan hatte seinen Namen fast laut ausgesprochen und berührte ihn mit einer Hand an der Schulter. Sofort widmete er ihm seine volle Aufmerksamkeit.
„Anwin, rette meinen Bruder und meine Mutter! Du musst sie befreien, versprich mir das! Versprich es!“
„Und wenn es mich mein Leben kostet! Ich werde sie aus der Stadt führen!“
Ein angestrengtes Lächeln erschien auf Derkans Gesicht, dann entspannten sich seine Züge und sein Blick richtete sich in die Unendlichkeit.
Anwin brach über dem Leichnam zusammen und weinte.
***
Issa hatte zu dem jungen, braunen Pony eine besondere Zuneigung gefasst und umgekehrt wohl auch. Sie hatte ihm sogar einen Namen gegeben, Mi‘oro. Mi‘oro war nicht so prächtig anzusehen, wie andere; nicht so voller Feuer und Dynamik wie die Pferde, die der adelige Herr schätzte; nicht so schnell auf der Rennbahn wie die stolzen Favoriten des Gestüts. Mi‘oro war klein und gutmütig, zutraulich und freundlich. Auf der Stirn hatte er eine Blesse, was Issa sehr schön fand, aber von anderen offenbar als Makel angesehen wurde. Mi‘oro war ein Pferd, das man lieb haben konnte, wegen seines Charakters, aber gerade auch wegen seiner Schwächen. Er genoss wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung von Seiten seiner Herren und da ging es ihm wie ihr. Und auch sie hatte einen Makel, wenngleich einen viel schlimmeren: ihr vernarbtes, blindes Auge.
Sie freute sich immer, wenn sie ihm das Fell striegeln durfte, die Mähne bürsten, die Hufe reinigen. Sie erzählte währenddessen, was sie erlebt hatte, aber das war nicht so viel. Also schilderte sie ihm auch noch die Probleme und Sorgen um Sera, Derkan und – ja, auch – um Anwin. Manchmal sang sie ihm einfach ein Lied vor, ganz leise nur. Sie wollte immer ein fröhliches Lied singen, aber kaum passte sie einmal nicht auf, merkte sie, dass es doch ein trauriges war, das sich von ihren Lippen löste. Aber Mi‘oro beschwerte sich nicht darüber, sondern hörte zu, wobei er gelegentlich mit den Ohren wackelte. Dann erinnerte er sie an K’nu, wenngleich seine Ohren viel kleiner waren. Er verstand, dass sie nicht immer fröhlich sein konnte, so sehr sie sich auch darum bemühte, denn er war ihr Freund, genau wie Eleran, der sich trotz ihrer Entstellung nie von ihr abgewandt hatte, eher im Gegenteil. Auch er bemühte sich in ihrer Gegenwart um Fröhlichkeit, ließ sich lustige Dinge einfallen, um ihre Stimmung zu heben. Manchmal durfte sie gemeinsam mit ihm arbeiten, Mist wegbringen und so, aber in letzter Zeit nicht mehr so oft. Das war sehr schade, aber sie trafen sich immer noch in der Sklavensiedlung. Dann hielten sie sich manchmal an den Händen und hatten sich sogar einmal geküsst. Das war recht merkwürdig, denn eigentlich hatte sie immer damit gerechnet, dass es Anwin sein würde, der sie küssen würde. Aber das war früher, in einem anderen Leben.
Wenn sie bei Mi‘oro war, dachte sie auch immer an ihre Mutter. Ob es ihrer Seele gut ging? War sie jetzt dort, hinter der Welt? Wenn es diesen Ort tatsächlich gab, so wie Anwin vermutete, war das doch möglich. Sie sehnte sich nach Leira und ihr Herz wurde schwer, weil sie an ihren Tod denken musste. Eine Träne löste sich von ihrem guten Auge und dann merkte sie, dass es schon wieder geschehen war: das Lied, das sie sang, war schwermütig.
Sie schrak aus ihrer Gedankenwelt als der große, rundliche Aufseher den Stall betrat was nicht zu überhören war, weil das Tor so quietschte. Er sah sich um und fand sie schließlich. „Du, Issa, bring den Gaul raus in die Übungskoppel.“
Issa nickte rasch und bemühte sich, dem Befehl schnell nachzukommen. Der Aufseher war ein gutmütiger Mann, Trödelei duldete er aber nicht. Er wollte selbst ein angenehmes Leben und war bereit, dies auch seinen Untergebenen zu gönnen - soweit ein Sklavendasein dies eben zuließ - solange sie ihm keine Schwierigkeiten machten. Dennoch konnte er auch mit aller Härte bestrafen, wenn er von seinen Herren den Befehl dazu erhielt. Er tat das nicht gerne, das konnte man ihm ansehen. Zweimal war sie dabei gewesen als er einen Sklaven wegen Nachlässigkeiten ausgepeitscht hatte, denn die anderen Sklaven mussten immer bei der Bestrafung zusehen.
Issa sattelte Mi‘oro und legte ihm das einfache Zaumzeug um, dann führte sie ihn hinaus. Es war ein strahlender Tag und es brauchte eine Weile, bis sich ihr Auge an die Helligkeit gewöhnt hatte. Beim Übungsgehege standen der junge Herr und sein kleiner Bruder. Schnell senkte Issa ihr Haupt, um unauffälliger zu wirken. Die beiden trieben gerne ihren Spott mit ihr, der hässlichen Einäugigen. Wenn ihr Vater dabei war, duldete er das nicht, er war ein wirklich netter Mann. Aber die Jungen waren anders, überheblich und manchmal vermutete Issa, dass sie auch grausame Züge aufwiesen. Bislang war der alte Herr aber immer bei ihnen gewesen und hatte sie gleichsam gezügelt. Doch diesmal sah sie ihn nicht. Dafür konnte sie hinten beim Misthaufen Eleran erkennen, wie er Mist vom Karren schaufelte.
Issa brachte Mi‘oro in den umzäunten Bereich, der zum Reitenüben gedacht war. Nachdem sie das Gatter geschlossen hatte, ging sie zu den jungen Herren und überreichte dem Älteren Mi‘oros Zügel, knixte vor den beiden und wandte sich zum Gehen. Heute wurde sie zum Glück nicht beachtet und wollte den Übungsplatz so unauffällig und schnell wie möglich verlassen. Eleran kam gerade mit der leeren Mistkarre vorbei und sie wollte mit ihm gemeinsam zurück zum Stall gehen, um auch noch die restlichen Pferde zu versorgen und zu pflegen. Doch leider hatte sie sehr gute Ohren und hörte daher was der ältere zum jüngeren Sohn des Herren sagte, der inzwischen im Sattel saß:
„Los, gib‘ dem Viech ordentlich die Peitsche, mal sehen, wie schnell das wertlose Biest sein kann!“ Dann lachten die beiden, aber es war kein fröhliches Lachen sondern ein hässliches, gemeines. Dass der Ältere gerne die Peitsche verwendete, wusste Issa nur zu gut, denn sie kannte die Verletzungen, die seine bevorzugte kurze, sägezackige Peitsche, die aus der Haut des Gari, eines Seetieres, gemacht war, auf der Kruppe seiner Reittiere – oder vielmehr seiner Opfer – hinterließ. Schnell blickte Issa zurück und musste feststellen, dass der Jüngere eben dieses Marterinstrument in der Hand hielt.
Eleran hatte ebenfalls gehört, was der Ältere gesagt hatte und wusste daher, was jetzt passieren würde. Grauen erfasste ihn, er blickte zu Issa und erkannte, dass er sie nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte und dass der näher stehende Aufseher offenbar die Bemerkung nicht mitbekommen hatte.
Also kam es, wie es kommen musste. Issa rannte zurück, kniete sich vor die adeligen Jungen hin, die darob merklich überrascht waren. „Bitte, ihr edlen Herren! Mi‘oro ist nicht wertlos! Er ist es nicht gewohnt, misshandelt zu werden! Bitte hetzt ihn nicht und peitscht ihn nicht. Er ist so vertrauensvoll und empfindsam!“
„So so, der Krüppel hat also einen Namen! Mi‘oro, hm? Und der andere Krüppel setzt sich für ihn ein! Welch lächerliche Gemeinschaft!“, erwiderte der Ältere zynisch. Er war knallrot im Gesicht geworden, man konnte ihm seine Wut ansehen. „Hast du vergessen wer du bist, dass du es wagst uns Vorschriften zu machen? Hast du vergessen, dass dieses verkrüppelte Tier bloß ein Nutzvieh ist, so wie du auch? Das wird dich teuer zu stehen kommen!“
Inzwischen war Eleran herbeigerannt und fiel neben Issa auf die Knie, aber lediglich auf eines; er wollte nicht zu unterwürfig erscheinen. Mit der Rechten umfasste er ihre Schulter. „Bitte Herr, tut ihr nichts! Aus Sorge um das Pferd hat sie sich vergessen, es tut ihr leid! Bitte vergesst das Ganze, wir gehen jetzt. Wir wollen Euch nicht weiter stören.“
Elerans Eigenmächtigkeit brachte den Adeligen erst recht in Rage. Er brüllte nach dem Aufseher, der die Szene mit Entsetzen beobachtet hatte. Diese Narren hatten seine Autorität untergraben! Er war sehr bleich im Gesicht geworden. Zitternd kam er näher. „Ihr Herren, es tut mir sehr leid!“
„Du wirst gleich jeden Grund haben, dass es dir leid tut!“ brüllte ihn der andere an. „Nimm diese Peitsche“, er entriss seinem Bruder das Folterinstrument, „und züchtige diesen … Mistkerl“. Bei dieser Bezeichnung für Eleran lachte der Jüngere, was die Laune des Älteren etwas hob. „Sonst erfährt mein Vater davon! Zehn Peitschenhiebe auf den Rücken, sofort! Und dann schreib ihn und sein abstoßendes Liebchen auf die Opferliste!“
Der Aufseher nahm die Peitsche, verbeugte sich. Genau genommen durfte ihm nur der Herr selbst Befehle erteilen und nicht einer seiner Söhne. Aber die Dummheit des Burschen, die zwar das Mädchen vor Schlimmerem bewahrt hatte, musste Konsequenzen haben, denn seine Autorität vor der Sklavenschaft hatte unangezweifelt zu sein, gerade vor seinen Herren und adeligen Besuchern des Gestüts.
Issa begriff jetzt erst, welche Folgen ihre unüberlegte Handlung hatte, aber es war ihr klar, dass jeder weitere Schritt ihrerseits die Situation nur noch übler werden ließe. Alles, was sie noch tun konnte, war still vor sich hin zu weinen.
***
Hatte seit damals, seit Derkans Tod, je wieder die Sonne geschienen? Wenn ja, hatte er es nicht mitbekommen. Anwin hockte auf der Veranda im Trockenen und beobachtete, wie der Regen die Blätter der Nerewi-Linde zum Vibrieren brachte: sie gaben unter dem Gewicht zunächst nach und schwangen dann wieder elastisch nach oben, nach dem der Tropfen die zentrale Ader entlang nach unten geronnen war und sich gelöst hatte – nur um neuerdings auf ein Blatt zu fallen womit der ganze Prozess von neuem begann. Winzige, zahllose Kaskaden. Es konnte schon eine Weile dauern, bis ein Tropfen schließlich endgültig zu Boden fiel.
Anwin gefiel das Geräusch, wie der Regen ohnmächtig auf das Dach des Heilerhauses prasselte – wäre er nur viel stärker, so stark, dass er es zum Einstürzen brächte.
Irgendwann kam der Sklavenzug an der Linde vorbei, immer in Gruppen mit Aufseher. Das sechste oder siebente Menschenknäuel enthielt Eleran und Issa. Ihre nackten Füße waren voll Schlamm, die Fetzen, die sie kleideten, konnten die Nässe nicht von ihrem Leib halten. Sie musste ihn stützen, denn er war wieder geschlagen worden, wie so oft in letzter Zeit. Fürsorglich und liebevoll nahm sie die Last auf sich. Aber noch etwas drückte auf ihre schmalen Schultern. Ein Gefühl wie Schuld? Sie blickte Anwin traurig aus ihrem gesunden Auge an, da war nichts von der Verbitterung, die er selbst verspürte. Sie hatte sich nicht geändert, erschien ihm so rein, wie eh und je, eine Blume auf einem Misthaufen. Ob man ihnen von Derkan erzählt hatte? Von seinem Tod und auch die Geschichte vom Verrat? Eine Lüge, die ihm seine letzten Freunde nehmen konnte. Waren sie das überhaupt noch? Er hatte alles getan, um sie einander zu entfremden. Um sie vor Rassek zu schützen, aber das konnten sie nicht wissen.
Nein, er hatte es ihnen nicht erzählt. Wie auch? „Hallo, ich habe seit Monden nicht mehr mit euch gesprochen. Aber jetzt habe ich eine Neuigkeit für euch …“ Das erschien ihm falsch und er ahnte auch, dass Rassek nur darauf wartete, auf irgendein Zeichen, dass ihm der Tod Derkans nahe ging, ihn endlich völlig gebrochen hatte. Aber den Gefallen hatte er ihm nicht getan. Er hatte ihn weiterhin höflich und sehr, sehr distanziert behandelt, hatte sich nicht wutentbrannt auf ihn gestürzt, war nicht in Tränen ausgebrochen. Rassek wirkte ein wenig irritiert und hatte ein paar Mal von sich aus versucht, das Thema anzusprechen, doch Anwin war ihm elegant ausgewichen, hatte sich aalglatt daran vorbei gewunden und immer so getan als wüsste er von nichts.
Aber er hatte nichts vergessen. Das würde er nie können, schon gar nicht das Versprechen, das er Derkan gegeben hatte. Schon gar nicht den Hass auf Rassek, den schon gar nicht.
Sie verschwanden hinter der Regenwand. Noch ein paar Gruppen zogen an ihm vorbei, dann kam Sera, gebeugt, krank, hustend. Schwach schon davon, sich den ganzen Tag über stark geben zu müssen. Lange konnte sie nicht mehr so tun als ob. Sie schwankte, hatte kaum mehr die Kraft zu ihm zu blicken. Letztlich verschwand auch sie hinter einem Regenvorhang.
Die Zeit verging, das tat sie immer. Wozu eigentlich? Was konnte schon besser werden? Sera würde sterben, bald schon. Eleran würde erschlagen werden, irgendwann einmal und durch einen neuen Sklaven ersetzt. Issas Schicksal mochte er sich nicht ausmalen. Ob auch sie geschlagen wurde? Dass er keine Spuren gesehen hatte, die darauf hinwiesen, bewies noch gar nichts. Er selbst? Er würde weiter heilen, verstümmeln und töten. Seinen verachtenswerten Weg weitergehen.
Dann, nach unbestimmter Zeit, änderte sich seine Stimmung schlagartig. Aufmerksamkeit, Neugier. Denn er sah einen dunklen Punkt, eingehüllt von Regenschleiern. Langsam kam er näher, wuchs an, wurde zu einem großen, breitschultrigen, dunkelhäutigen Riesen und bewies ihm, dass er richtig vermutet hatte. SiVenders Leibwächter hatte ihn ebenfalls erkannt. Sein Ziel war das Haus der Heiler gewesen, aber nun hielt er direkt auf ihn zu. Sein Gang war nicht so kraftvoll wie gewohnt, er wirkte erschöpft. Da war niemand, vor dem er sich verstellen musste. Denn Anwin wusste Bescheid.
„Sei gegrüßt Ubandor! Wie geht es dir? Ist deine Tochter wohlauf?“
Ubandor hustete verhalten. „Meiner Tochter geht es – dank dir – sehr gut! Sie hat alle Lebensfreude wiedergefunden, die so typisch für sie ist. Mir, nun ja, geht es nicht so besonders. Es wird eher schlechter, langsam zwar, aber doch. Noch kann ich mich verstellen, aber nicht mehr lange!“
„Sag mir, Ubandor, wird es noch lange nötig sein, dich zu verstellen? Was ist der Grund deines Besuchs?“
Der Riese lachte. Es war nur ein Versuch, der in Keuchen endete. „Als ob du das nicht ahnst! SiVender hat seine Laster nicht aufgegeben. Er frönt ihnen genauso wie schon vor der Heilung durch dich. Er bedarf eurer Hilfe – wieder einmal und erstaunlich früh! Du hast ihn nicht wirklich geheilt, oder? Nur ein wenig sein Leiden gelindert.“
„Eine vollständige Heilung hätte den kleinen Jungen umgebracht. Warum hätte ich ihn töten sollen? Er hat niemandem etwas getan.“
Der Leibwächter nickte. „Ein Heiler, der sich um seine Opfer sorgt! Ich habe mich nicht in dir getäuscht.“
„Läuft alles wie besprochen?“, wollte Anwin wissen. „Wirst diesmal du die Opfer besorgen?“
„SiVender hat mit niemandem darüber gesprochen, außer mit mir. Ich kann das halten, wie ich will. Ich werde genau so vorgehen wie du das gewünscht hast. Ich werde Rassek informieren und dann zur Sklavensiedlung gehen.“
„Die Sklaven sind vorher hier vorbei gekommen. Sie befinden sich jetzt wahrscheinlich bereits in ihren Unterkünften. Wird es Schwierigkeiten geben?“
„Wenn sie von ihren Herren für die Heiler freigegeben worden sind, wird alles ganz einfach. Wenn nicht, muss ich mir etwas einfallen lassen.“
„Gut, tu das!“ Mit einer Geste der Hand wies Anwin Ubandor an, voranzugehen. Das erschien ihm nur natürlich, denn Ubandor kannte den Weg zu Rasseks Unterkunft. So konnte Anwin außerdem das mächtige Krummschwert bewundern, das der Leibwächter geschultert hatte. Die Klinge steckte allerdings in einer einfachen Lederscheide, nur der verzierte Griff war zu sehen. Obwohl das Schwert riesig war, wirkte es auf dem mächtigen Rücken Ubandors wie ein Brotmesser.
Sie erklommen die Stufen und folgten einem langen Gang. Schließlich klopfte Ubandor mit seiner mächtigen Faust gegen eine massive Holztür – man hatte den Eindruck, er schlüge sie halb ein. Ein halbnackter Sklave entriegelte und öffnete. Er erkannte die beiden und bat sie herein. Rassek saß, die Füße bequem hochgelagert, draußen auf dem Balkon und lugte zwischen zwei Säulen hindurch in den Regen, einen sicher nicht leeren Weinbecher in der Hand. Sein Blick, der sich jetzt ihnen zuwandte, schien etwas getrübt zu sein, seine Bewegungen nicht mehr ganz sicher. Er musste bereits beinahe die ganze Amphore geleert haben, die auf einem kleinen Tischchen neben ihm stand.
„Ubandor und mein Adept! Warum stört ihr mich am späten Nachmittag? Lass mich raten“, fuhr er an den Leibwächter gewandt fort, „Dein Meister hat sich nicht zurück halten können und sich in die Welt der frohen Träume geflüchtet, die ihm die Schwarze Orchidee liefert! Und jetzt ist er wieder einmal aufgewacht. Er ist ein jämmerlicher Narr! Wenn er wenigstens die Dosis konstant hielte! Irgendwann kann selbst ich ihn nicht mehr retten! Wie auch immer, Anwin soll dich begleiten und für ihn tun, was nötig ist.“
„Meinem Herrn geht es in der Tat sehr schlecht! Er möchte diesmal unbedingt von dir geheilt werden. Er führt die Tatsache, dass er sich schon wieder elend befindet darauf zurück, dass dein Adept kein so guter Heiler ist wie du. Er ist auch nicht mehr bereit für einen Adepten so viel zu bezahlen wie für einen Meisterheiler.“
Das war eine klare und sehr ärgerliche Drohung, die prunkvolle Ausstattung der Räumlichkeiten Rasseks ließen wenig Zweifel daran, dass er keinem bescheidenen Lebensstil frönte und die kleine Villa, die er unlängst gekauft hatte und nun einrichten ließ, verschlang eine Menge Gold. Rassek wollte hin zu den Reichen und Bedeutenden, so wie es ihm gebührte, hatte er doch das Ansehen der Götter und vieler Adeligen. Wäre die Zahlungsmoral der Aristokraten besser, hätte er das Ausbildungshaus längst verlassen, denn Seinesgleichen widerte ihn an. SiVender war einer der wenigen, die pünktlich und verlässlich zahlten, man durfte den Mann nicht vergraulen. Immerhin zahlte er nicht nur für Heilungen, sondern auch für Informationen über die Aristokratie und die Götter. Wirklich heilen durfte man ihn auch nicht, deshalb hatte Rassek letztens nur ungern Anwin die Genesung überlassen. Aber offensichtlich hatte dieser ohnehin versagt und hätte daher ruhig auch zukünftig die Heilung des grausamen Sklavenhändlers übernehmen können. Aber wenn dieser drohte weniger Entlohn zu geben, blieb ihm wohl nichts anderes übrig als sich selbst auf den Weg zu machen. Er beauftrage daher seinen Leibsklaven damit, die Sänfte kommen zu lassen, er war nicht mehr sicher auf den Beinen, die Straßen waren schmutzig und der Regen – nun ja – unangenehm nass.
„Gut“, meinte Ubandor, „dann wäre hier alles geklärt! Ich muss noch zum Sklavenghetto und ein paar Opfer besorgen, die geeignet erscheinen. Ich möchte dir ein wenig Auswahl lassen. Oder möchtest du die Opfer selbst auswählen, Herr?“
Rassek winkte ab. Er hatte nun wirklich keine Lust, die Sklavensiedlung zu betreten. Wenngleich niemand so gut die Gesundheit eines Menschen beurteilen konnte wie ein Heiler, vermochte auch ein Unbegabter dies einigermaßen verlässlich festzustellen. Er war nicht gerade nüchtern, ihm war flau im Magen, sein Gleichgewichtssinn ein wenig durcheinander, ein Bienenschwarm tanzte in seinem Schädel. Das alles sagte ihm, dass er unnötige Anstrengung besser mied. Einen Augenblick überlegte er, ob er Anwin mit Ubandor mitschicken sollte, entschied sich aber schließlich dagegen. Es machte ihm mehr Spaß, den Adepten neben sich im Regen waten zu wissen, durchnässt bis auf die Haut, während er selbst im Trockenen saß. Selbst diese kleine Demütigung tat dem Jungen gut.
Rassek hüllte sich in seinen rotschwarzen Mantel und gemeinsam gingen sie zum Eingang des Hauses, wo bereits die Sänftenträger warteten. Rassek nutzte die Überdachung, um trocken in den Tragsessel zu gelangen und zog alle Vorhänge zu. Ubandor trennte sich bei der Linde von ihnen, bereits jetzt hörte man Schnarchlaute aus der Sänfte.
Umhang und Kapuze schützten Anwin nur sehr unvollständig, da der starke, böige Wind die Tropfen manchmal fast waagerecht auf ihn zutrieb, ihm den Schutz vom Kopf riss, immer wieder, das kalte Wasser lief von Haaren und Gesicht unter die Kleidung. Zuerst war die Kälte gekommen, nun zusätzlich die Nässe. Anwin musste an die Sklaven denken, an Issa, Eleran und Sera, die nahezu ungeschützt durch den Regen getrieben worden waren, wie Vieh. Auch den Sänftenträgern hatte niemand einen Mantel gegönnt. Er hatte wahrlich keinen Grund sich zu beschweren. Trotzdem zitterte er bald und das Gefühl wich aus seinen Fingern und schon davor aus seinen Zehen, denn sein Schuhwerk bot nur unzureichend Schutz vor dem kalten Schlamm, durch den sie langsam stapften. Der Matsch war auch der Grund, dass sie deutlich langsamer vorankamen als das letzte Mal. Als sie die Große Straße erreichten, wurde es ein wenig besser. Ur’Agron wirkte im Unwetter trist, aber wenigstens sah man die Pyramide nicht, die zunehmend finster und bedrohlich auf ihn wirkte, seit er wusste, was in ihrem Inneren vor sich ging.
Das monotone Schreiten durch den Regen hatte auch etwas Gutes. Die langweilige Umwelt verblasste immer mehr und er versank in seinen Gedanken. Dies war der Tag, an dem sein Leben wahrscheinlich zu Ende gehen würde und an dem er wohl auch das seiner ehemaligen Gefährten in Gefahr brachte, fast aller Menschen, die er mochte oder mehr als das. Er überlegte, was alles schief gehen konnte – eigentlich wirklich alles – und ermahnte sich, dass er trotzdem den Mut nicht verlieren durfte. Er hatte lange auf eine Gelegenheit wie diese gewartet, sie würde sich ihm nie wieder bieten. Er dachte an Derkan, das tat er in letzter Zeit ohnehin ständig, aber diesmal nicht an die Grausamkeit seines Endes, sondern an seinen Auftrag an ihn. Beschütze Eleran, Sera – und natürlich Issa. Denke nicht an dein eigenes Schicksal. Rette sie. Und dann waren da noch andere Emotionen, der Wunsch nach Rache, Hass. Diese Gefühle waren sein Anker, etwas, an dem man sich festhalten konnte, das ihn kühn werden ließ. Wenngleich die Angst noch immer überwog.
So in sich versunken merkte er kaum, dass sie bereits vor der Villa SiVenders standen, dass Rassek die Vorhänge zurückzog und sich aus der Sänfte mühte, die von den Trägern abgesetzt worden war, was ihn wohl aufgeweckt hatte. Dass er ihn anschrie, er möge ihm helfen, verbannte ihn schließlich vollständig aus seiner Gedankenwelt. Das und der Schlag ins Gesicht, nicht so stark und treffsicher ausgeführt wie sonst. Soweit Anwin das beurteilen konnte, war der Mann nicht nüchterner als in seiner Unterkunft, der Schlaf im Tragsessel war zu kurz gewesen, um ihm wahre Erholung zu bieten, um den schweren Kopf loszuwerden. Gut.
Kaum waren sie eingetreten, nahmen ihnen zwei junge Sklavinnen in weißen Gewändern die Mäntel ab, lockerten die Bänder um die gefetteten Lederstiefel, die in Anwins Fall nichts desto trotz durchnässt waren und zogen sie von ihren Füßen, die sie anschließend mit Tüchern trockneten und in warme Hausschuhe hüllten.
Dann war plötzlich wieder alles anders. Welch ein Tag! Kein Zaudern mehr, keine Ängstlichkeit! Kalter Hass durchflutete ihn, ließ ihn erzittern. Äußerlich mochte es erscheinen als sei dies eine Nachwirkung der Kälte, Rassek würde sich deshalb keine Gedanken machen, selbst wenn der Egomane den Zustand seines Schülers überhaupt mitbekam. Jetzt folgte er den beiden Mädchen und Anwin schloss sich ihm an. Der Heiler bewegte sich langsam und ein wenig, nur ein wenig, schwankend. ‚Kann man in diesem Zustand überhaupt heilen?‘, fragte sich Anwin, aber es war keine Frage die ihn wirklich interessierte. Er ballte die Fäuste, presste die Zähne aneinander, fletschte die Lippen. Niemand sah es, sah das Verlangen nach Rache in seinen Augen.
Die Stiegen hinauf tat Rassek sich nicht leicht. „Stütze mich, du unnützer Kerl!“, schrie er ihn an und Anwin tat wie ihm geheißen und half ihm hinauf. Gleichzeitig erlebte er eine überaus realistische Vision, wie er ihn hinunter stieß und er mit gebrochenem Genick am Fuße der Treppe liegen blieb. In einer Blutlache. Wo die herkommen sollte, überlegt er nicht. ‚Das ist alles unwirklich!‘, dachte er. Rassek hatte einen anderen Tod verdient. ‚Nimm dich zusammen‘, ermahnte er sich, ‚es dauert nicht mehr lange!‘.
Eines der zarten Mädchen öffnete die Tür zum Vorraum, die zweite blieb am anderen Türstock stehen und verneigte sich. „Brauchen die edlen Herren noch etwas?“, fragte sie und Rassek verneinte unwirsch. Sie betraten den länglichen Raum, die Tür schloss sich hinter ihnen, sie waren allein. Diesmal hatte Anwin keinen Sinn für die Wandmalereien. Er folgte seinem Meister bis fast vor die Tür zu dem Raum, in dem sich SiVender im Rauch der Schwarzen Orchidee seinen Träumen hingab. Dann blieb er stehen und flüsterte: „Du hast Derkan auf dem Gewissen!“
Rassek ging noch ein paar Schritte, bevor die Worte in die Finsternis seines Schädels drangen. Dann drehte er sich betont langsam um. „Wie war das?“
„Du hast ihn ermordet, den flüchtigen Sklaven. Nicht mit eigenen Händen, das nicht. Du hast ihn ausgeliefert und verraten, nachdem du mitbekommen hast, dass wir uns unterhalten hatten. Wie immer dir das gelungen ist.“
Ein böses Grinsen erschien auf Rasseks Gesicht. „Das sollte dich lehren was passiert, wenn du versuchst, dich meinem Einfluss zu entziehen! Wir haben nie darüber gesprochen, aber ich hoffe er hatte keinen leichten Tod! Man hat mir erzählt, ihr hättet noch ein paar Abschiedsworte gewechselt. Sag mir, kleiner Schüler, was gab es denn noch Wichtiges zu bereden, bevor seine Seele ins Jenseits gerissen wurde?“
Anwin blickte ihm in die blutunterlaufenen Augen. „Ich habe ihm versprochen, seinen Tod nicht ungesühnt zu lassen. Ich habe ihm versprochen, dich zu töten!“
Kurz wirkte Rassek nur erstaunt. Dann verzerrten sich seine Züge vor Wut und er holt mit der rechten Faust zum Schlag in Anwins Gesicht aus. Doch die Bewegungen waren derart langsam, dass Anwin ihm einfach seine Hand ins Gesicht drücken konnte und schon fiel Rassek nach hinten.
„Ich bin nicht mehr der kleine Junge, den man nach Belieben treten kann! Selbst wenn du nüchtern bist, bin ich dir physisch nicht mehr unterlegen! Und du bist nicht nüchtern! Warum hast du dich nicht von mir heilen lassen, bevor wir aufgebrochen sind? Hast du deinen Zustand unterschätzt?“
Spott zeichnete die Züge des Heilers. „Ich werde dir immer überlegen sein! Berühre mich doch!“
„Bist du dir da sicher? Oder zweifelst du nicht daran, seit du mich das erste Mal ergriffen hast und den Widerstand fühltest, zu dem ich fähig bin?“
Unsicherheit flackerte in den Augen seines Meisters auf, das erste Mal seit er ihn kannte. Anwin hatte eine seiner unterdrückten Ängste entfacht. Aber dann erwachte das Selbstbewusstsein wieder. Abermals zeichnete ein sardonisches Lächeln sein Gesicht. „Du kannst mir nichts anhaben! Weißt du nicht, wer ich bin? Hast du es nicht erraten? Hast du dich nie gefragt, woher ich die kleine Priesterin am Rande der Welt gekannt habe? Oh, ich habe sie gekannt, ich habe sie sehr gut gekannt. So gut, wie ein Mann eine Frau kennen kann. Ich bin der Vater ihrer Tochter! Und für dieses Mädchen würdest du alles tun. Willst du also der Mörder ihres Vaters sein?“
Anwin taumelte einen Schritt zurück. Er hatte nie über Issas Vater nachgedacht, er war für ihn nie mehr als ein gesichtsloser Samenspender gewesen. ‚Das ändert nichts‘, dachte er und wiederholte es gleich laut. „Sie wird es nie erfahren. Du bist kein Vater auf den man stolz sein kann! Du bist Derkans Mörder! Du bist der Mann, der mich zu dem gemacht hat, was ich bin! Du bist der, der mich zu einem Monster geformt hat! Du bist der, der mich so weit gebracht hat, dass ich sogar Issas Vater töten kann!“
Rassek hatte sich inzwischen aufgerichtet, saß auf seinen Unterschenkeln, hatte sich mit der linken Hand aufgestützt und hielt die rechte zur Abwehr. Anwin schlug sie beiseite und ergriff seinen Meister mit beiden Händen am Hals als wollte er ihn erwürgen, während er selbst niederkniete. Mit voller Wucht stürzte er sich auf Rasseks innere Barriere, während er gleichzeitig fühlte, wie ihn der Ältere angriff, versuchte, ihm seine Lebensenergie zu rauben. Und tatsächlich wurde er schwächer. Instinktiv wollte er sich zurückziehen, um sich auf die Abwehr konzentrieren zu können, aber dann ließ er seine volle Wut gegen die mentale Mauer prallen, die Rasseks Leben schützte. Was machte es schon, wenn der Meister obsiegte, Anwin kämpfte nicht ums Überleben. Wenn es ihm nicht gelang, den Heiler zu überwältigen, dann musste und wollte er sterben, dann war er sowieso nutzlos.
Aber Rassek wollte leben! Angesichts des zornigen Angriffs seines Schülers gab er rasch seinen eigenen Angriff auf und manifestierte seine volle mentale Kraft bei seinem inneren Schutz. Vor Anwins geistigem Auge erschienen Schlieren in allen Regenbogenfarben, sie waberten auf und ab, versuchten sich zu jener Brücke zu verbinden, die es einem von ihnen erlauben würde, die Energie des anderen in sich zu saugen. Anwins Puls raste vor Anstrengung, alle Farben verbanden sich jetzt und ein greller, weißer Blitz wurde aus ihnen geboren, dann barst etwas, Rassek schrie auf, dann war die Brücke plötzlich da. Hell, gleißend, ein spinnwebzartes Gebilde und doch bedrohend, mörderisch. Rassek hatte noch nicht aufgegeben, nutzte nun die Verbindung zwischen ihnen seinerseits und einen Augenblick schien nicht klar, wer hier der Stärkere war. Aber dann siegte Jugend und Begabung vor Erfahrung und das blutrote Etwas, die Lebenskraft eines Heilers, floss einer Flutwelle gleich auf Anwin zu und – da niemand da war, an den er sie weitergeben konnte – ergoss sich in ihn, nahm ihn in Besitz. Einen Moment fühlte er sich unglaublich stark, unbesiegbar, kalt, allen überlegen, dann diffundierte Rasseks Energie aus ihm heraus und verschwand aus dieser Welt, da kein Heiler überschüssige Lebenskraft in sich bewahren kann.
Anwin brach neben Rassek zusammen. Er atmete schwer, zitterte, war voller kaltem Schweiß. Es dauerte, bis er sich wieder aufrichten konnte. Er blickte in die bleichen, verhassten Züge seines ehemaligen Mentors - wider Willen, soweit es ihn betroffen hatte – und wurde sich langsam klar, dass es vollbracht war. Der Leib neben ihm rührte sich nicht mehr und würde das auch nie wieder tun. Anwin musste jetzt zugeben, dass er seinen Meister unterschätzt hatte. Wäre dieser nicht betrunken gewesen, hätte der ungewöhnliche Kampf leicht anders ausgehen können.
Anwin atmete tief ein und versuchte sich an das zu erinnern, was ihm Ubandor über diesen Raum erzählt hatte. Irgendwo an der Wand musste eine unauffällige Tür sein, die in eine kleine Kammer mündete. Sie beherbergte Putzutensilien. Er blickte in Richtung Wand und hatte bald das Gesuchte gefunden. Wenn man wusste, dass die Tür da war, war sie gar nicht so schwer zu erkennen. Ubandor und ihm war klar gewesen, dass Rasseks Leiche nicht einfach in der Gegend liegen bleiben konnte, sie musste rasch verschwinden. Mühsam kam er hoch und taumelte die paar Schritte auf die Wand zu, presste die Hand dagegen. Die unauffällige Tür gab ein wenig nach und fast sofort federte sie ihm entgegen. Er öffnete sie weiter, drehte sich um und ging dann die paar Schritte zurück zu Rasseks leblosem Körper. An einem Bein zog er die Leiche zur Tür und in die schmale, ohnehin schon überfüllte Kammer hinein. Dann trat er einfach auf den Körper, der zur Hälfte noch in den Vorraum hineinragte, und über ihn hinweg. Er ergriff ihn an den Schultern und wuchtete ihn hoch. Angesichts seiner Erschöpfung fiel ihm das unerwartet schwer. Aber schließlich drückte er ihn noch ein wenig in den kleinen Raum hinein, sodass er seitlich gegen die Wand kippen konnte. Vorsichtig und ruhig schloss er die Tür wieder und sah sich um. Nichts, wirklich nichts deutete auf den Kampf hin, der hier stattgefunden hatte. ‚Welch ein Vorteil, keinen Tropfen Blut vergießen zu müssen, wenn man einen Menschen meuchelt‘, dachte er zynisch.
Anwin gönnte sich einen Augenblick, um seine Nerven zu beruhigen. Er richtete seinen schwarzen Umhang und ging dann langsam auf den Raum zu, in dem SiVender lag. Vorsichtig öffnete er die Tür. Der Sklavenhändler ruhte auf dem breiten Bett, eingehüllt in süßlich riechende Rauchschwaden und rührte sich nicht. Offenbar war er in einem traumähnlichen Zustand und hatte nichts von dem mitbekommen, was sich außerhalb ereignet hatte. Anders mochte es sich mit dem jungen Leibsklaven verhalten, der an der Wand neben dem Bett kniete und ihn ängstlich aus übergroßen Augen ansah. Aber der würde nichts verraten oder sonst irgendetwas tun, was die Aufmerksamkeit auf ihn zog, da war sich Anwin sicher. Zudem war auch der Sklave in einem rauschähnlichen Zustand gefangen. Schließlich musste auch er die Dämpfe einatmen, die von der Schale mit den Blütenblättern der Schwarzen Orchidee, die in einer merkwürdig gefärbten Flüssigkeit schwammen und von einer darunter befindlichen Kerze erhitzt wurden, ausgingen.
Anwin näherte sich langsam SiVender und starrte in sein aufgedunsenes Gesicht. Die glasig wirkenden Augen des Sklavenhändlers waren nicht geschlossen und richteten sich langsam auf ihn. War er sich seiner Anwesenheit bewusst?
„Mein Meister ist unterwegs. Er muss noch einen Besuch machen, kommt aber bald.“ Hatte SiVender ihn gehört? Nichts deutete darauf hin. Nun gut, ob oder nicht war ohnehin gleichgültig. Anwin wurde des betäubenden, süßlichen Gestanks überdrüssig, drehte sich um, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Hier im Vorraum gab es wenigstens Fenster. Hier war es nicht so stickig und schwer zu atmen. Er blickte hinaus. Man sah weiter, die düsteren Wolken hoben sich langsam. In der Ferne zuckte ein Blitz. Anwin musste nun warten und Untätigkeit brachte ihn zum Denken und das war gegenwärtig gar nicht gut. Er dachte zurück an den Tag, an dem der Sklavenjäger Issas Mutter trotz deren heftiger Gegenwehr ermordet hatte. Er dachte an das Unheil, das daraufhin Issa widerfahren war und spürte abermals Hass auf Rassek und SiVender in sich aufsteigen. Immer wieder erlebte er diese Szenen und schämte sich seiner eigenen Schwäche und Ohnmacht. Aber daraus wuchs Entschlossenheit. Er war nicht mehr hilflos!
Anwin wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er sah, dass sich eine kleine Menschengruppe dem Tor näherte. Drei erbärmlich wirkende, bis auf die Haut durchnässte Sklaven waren aneinander gebunden und wurden von einem Riesen vor sich her getrieben. Der dunkelhäutige Mann war selbst auf diese Distanz unschwer zu erkennen. Ubandor! Und die aneinander gefesselten? Ein junger Mann und zwei Frauen, eine davon deutlich älter und schwächer, sie wurde von den anderen in die Mitte genommen und gestützt, so gut das mit auf den Rücken gebundenen Händen eben ging . Anwins Herz tat einen Sprung. Ubandor war erfolgreich gewesen! Er hatte es geschafft, Issa, Eleran und Sera hierher zu bringen. Anwin hob die Hand und winkte. Ein verabredetes Zeichen, das nur von Ubandor gesehen und unauffällig erwidert wurde. Er wusste jetzt, dass er hier keine weiteren Schwierigkeiten zu erwarten hatte, denn die Möglichkeit, dass Rassek Anwin besiegte, war immer die größte Gefahr für ihr Vorhaben gewesen und gerade deshalb hatten sie diesen Fall nie ausführlich erörtert. Für Anwin hätte es dann ja auch nichts mehr zu Handeln oder Überlegen gegeben, er wäre tot gewesen.
Erleichterung durchflutete ihn. Einen Augenblick musste er sich gegen die Brüstung lehnen und gegen die plötzliche Schwäche ankämpfen. Was jetzt kam würde nicht einfach werden, dessen war er sich bewusst. Es dauerte noch eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die Eingangstür bewegte und die Gruppe endlich erschien, allen voran Eleran, dann Sera und Issa, zuletzt Ubandor. Anwin konnte nicht anders, er musste zunächst seine Aufmerksamkeit auf Issa konzentrieren, auf ihre Mimik, sehen wie sie sich fühlte. Als sie seiner gewahr wurde, hier an diesem Ort, erschrak sie heftig. Sie flüsterte seinen Namen und blickte ihn einen Moment verständnislos an, dann kam die Erkenntnis. Schnell sah sie weg, ihr Gesicht spiegelte Furcht und Trauer wider. Natürlich, er wusste welche Schlüsse sie aus dem Beobachteten ziehen musste, er trug schließlich die Kluft der Heileradepten und doch waren Ubandor und er zu dem Schluss gekommen, dass es klüger war, sie nicht einzuweihen. Ubandor hatte ihnen also nichts verraten, so war es besser, denn alle drei mussten sich der Situation geziemend benehmen, um nicht aufzufallen und der Mord an Rassek hätte auch schief gehen können, dann hätte ihr Wissen sie und auch Ubandor gefährdet. Und mit dem Riesen auch dessen Familie.
Anwin widmete seine Aufmerksamkeit jetzt auch den anderen. In Seras Antlitz beobachtete er die gleiche Betroffenheit, Verachtung lag in den Zügen von Eleran – und ein wenig Verwirrung. Er würde ein Problem werden. Ubandors Mimik konnte man keine Gefühle entnehmen. Er nickte ihm zu. Dann trieb er die Gruppe weiter, schob sie vor sich her und an Anwin vorbei. Längst sah ihn keines der ausgewählten Opfer mehr an.
Als Ubandor an ihm vorüber ging, fragt er: „Gab es Schwierigkeiten?“
Der Dunkelhäutige schüttelte den Kopf. „Sie waren alle als potentielle Spender freigegeben, alle als wenig wertvoll eingestuft. Nicht sehr schmeichelhaft für sie, aber nützlich!“ Er erlaubte sich ein feines Lächeln mit ein paar Lachfalten um die dunklen Augen. Anwin hingegen erschrak. Was wenn sie bereits zur Heilung von jemand anderem als SiVender eingesetzt worden wären?
„Und bei Dir?“
Anwin schüttelte den Kopf. „Er ist in der Kammer.“
„Wie auch immer“, fuhr der Hüne fort, „ich werde uns bei meinem Herren anmelden“. Er schritt rasch auf die Tür zu, vorbei an dem armseligen Sklavenhäufchen und riss sie auf. Anwin konnte sehen, dass das Kind, das an der Seite von SiVenders Bettstatt kniete, heftig erschrak. Ubandor ging zu ihm, umfasste seinen dünnen Oberarm und zog es hoch, blickte ihm aus kurzer Distanz in die weit geöffneten Pupillen.
„Du kannst gehen. Warte im Aufenthaltsraum auf weitere Anweisungen!“ Ängstlich huschte das Kind an ihnen vorbei, ein wenig taumelnd, aber offensichtlich stellte es die Befehlsgewalt Ubandors nicht in Frage. Gut, ein potentielles Problem weniger.
SiVender war von dem Lärm endlich aufgewacht und Ubandor wandte sich ihm zu, beugte sein Haupt und legte die rechte Faust an die Brust.
„Herr, ich bin zurück und bringe den Adepten des Heilers und Opfer, die für deine Heilung geeignet sind“.
SiVender richtete sich ein wenig auf. „Wo ist Rassek, der verdammte Kerl! Wenn er glaubt, ich zahle für seinen unfähigen Adepten genauso viel wie für ihn, dann hat er sich getäuscht und zwar gewaltig!“
„Herr, er ist aufgehalten worden. Ohne Zweifel bedauert er sehr, bei deiner Heilung nicht anwesend sein zu können, aber er verspricht, dass es das letzte Mal sein wird!“
Das war nicht ganz gelogen, wie Anwin bei sich feststellte. Ubandor überraschte ihn immer wieder, es war SiVender nie gelungen, ihn zu brechen.
„Schick den elenden Adepten herein“, befahl der Sklavenjäger. Ubandor nickte ihm zu und so betrat Anwin den stickigen Raum, trat an die Bettkante und verneigte sich artig und scheinbar unterwürfig.
„Wenn du wieder so pfuschst wie das letzte Mal, werde ich dafür sorgen, dass man dich so auspeitscht, dass von deiner Haut nur noch Fetzen übrigbleiben! Hast du mich verstanden?“
Anwin antwortete scheinbar verängstigt: „Ja, Herr. Diesmal werde ich alles richtig machen.“ Das hatte er ja tatsächlich vor, er musste nicht lügen. Er atmete tief ein. Es konnte beginnen. Er nickte Ubandor zu. „Das Mädchen!“ Dabei blickte er Issa an und sie ihn. Fassungslos!
Als Ubandor sich ihr näherte, stellte sich Eleran zwischen sie. „Fass sie nicht an!“, zischte er. Der Hüne war nicht in der Stimmung zu diskutieren und verpasste dem jungen Mann einen ansatzlosen rechten Haken auf das Kinn. Eleran sackte ohnmächtig in sich zusammen; er fiel nach vorne. Kurz bevor er den Boden berührte, ergriff ihn Ubandor und ließ ihn sanft zu Boden gleiten. Gut, fand Anwin, bloß keine Verletzungen. Währenddessen hatte sich Issa nicht gerührt, aber sie starrte auf den auf dem Boden liegenden Eleran und eine Träne rollte aus ihrem gesunden Auge. Der Riese ergriff sie am Oberarm und zog sie mit sich.
Besorgt erkundigte sich Anwin: „Wird er wieder?“
Ubandor nickte. „In diesen Dingen kenne ich mich gut aus. Er schläft nur ein wenig.“ Anwin hob die Augenbrauen und ließ es dabei bewenden. Ubandor zog das Mädchen neben die Bettstatt auf den ungeduldig wartenden Sklavenhändler zu. Offenbar hatte er wieder Schmerzen. Er blickte Anwin wütend an. „Mach endlich, du Trottel!“
Anwin verbeugte sich: „Das werde ich, oh Herr!“ Mit einer fließenden Bewegung näherte er seine Linke der Schulter SiVenders und seine Rechte der des Mädchens – aber im letzten Augenblick bewegte er seine Hände rasch ein Stück weiter, legte sie auf das milchige Auge des Mädchens und auf das gestohlene des Sklavenhändlers. Der begehrte auf, brüllte „Was soll das?“, wurde aber von Ubandor in das Bett gedrückt. Anwin antwortete ihm nicht, er handelte! Er baute die seidige, filigrane und doch so mächtige Lichtbrücke auf, ließ die blaue Energie über die Brücke fließen, empfand dabei eine ungeahnte Genugtuung. In kürzester Zeit war es vollbracht! Issa taumelte ein wenig zurück, überrascht und ebenso überrumpelt wie der Sklavenhändler. Sie hielt ihre Hand vor ihr Auge, das wieder sehen konnte und ebenso schön war wie ehemals. Mit beiden gesunden, großen, dunklen Augen sah sie Anwin verblüfft an und er versank in dem Blick.
„Nimm, um zu geben – das Gesetzt U’Xetes, des schrecklichen Gottes!“, sprach er, während der Sklavenhändler wie wild heulte und sich aus dem festen Griff zu befreien trachtete. Anwin hatte die Hand zurückgezogen und so das schrecklich entstellte Auge offenbart, das nun zurückgekehrt war zu Leiras Mörder. Zum Glück war die Hausstatt das Brüllen und Toben ihres Herren gewohnt, man wusste, dass Ubandor bei ihm war, also kam niemand, dennoch war Eile ratsam. Anwin wandte sich Ubandor zu. „Ich kann dir nicht helfen! Seine Lunge ist von den Dämpfen in so schlimmem Zustand, dass sie keinen Nutzen für dich hat. Es tut mir leid!“ Man sah ihm an, dass er meinte, was er sagte und Ubandor nickte nur, schicksalsergeben.
„Dann nimm jetzt die Frau!“ Sera hatte sich besorgt neben Eleran gekniet, der jetzt erste Lebenszeichen von sich gab. Erleichterung spiegelte sich in ihren Zügen. Der Kummer um ihren Sohn hatte sie so gefangen, dass sie nichts von dem mitbekommen hatte, was im anderen Zimmer vor sich gegangen war. Ubandor nickte Issa zu. „Hol sie bitte, ich muss meinen Herren festhalten.“
Issa zögerte nur einen Augenblick, ging dann zu ihr und sprach sanft auf sie ein: „Sera, liebe Sera, bitte komm mit mir!“ Sie half ihr, sich auf die Beine zu stellen und zog sie vorsichtig mit sich und ließ sie schließlich neben dem Bett knien.
Sera blickte sie erstaunt an. „Dein Auge!“
„Dein Herz!“, antwortete Anwin. Dann stellte er sich zwischen sie und den tobenden SiVender, berührte beide an der Schulter, beobachtete den schwachen Rhythmus, das flackernde, rötliche Pulsieren, die fadenscheinige Lebenskraft des Organs. Es war allerhöchste Zeit! Er baute die Brücke und zog gnadenlos an SiVenders Lebensenergie, übertrug sie auf Seras Herz, das an Kraft gewann und fast augenblicklich gesundete. Dann nahm er noch den Rest seiner Energie, eigentlich gar nicht nötig für die Heilung, alles! Der Sklavenhändler bäumte sich noch ein letztes Mal auf, röchelte schmerzerfüllt, dann wurde er still, für immer.
Sera taumelte überrascht zurück als die Schwäche von ihr wich. Seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so gut gefühlt, so voller Kraft. Issa machte überglücklich einen Schritt auf sie zu und hätte sie wohl gerne umarmt, wären die Banden nicht gewesen. Dann eilten die beiden auf Eleran zu, sie knieten sich neben ihn.
Anwin blickte Ubandor in die Augen und nickte. „Nimm ihnen die Fesseln ab. Die brauchen sie jetzt für eine Weile nicht mehr und das Blut muss wieder frei in ihre Hände fließen.“
Ubandor lächelte. „So fest habe ich sie nicht gefesselt! Wären sie etwas geschickter, hätten sie sich selbst befreien können.“ Dann ging er auf sie zu und löste die Hanfschnüre von ihren Gelenken. Nun nicht mehr in ihrer Bewegung eingeschränkt, fiel Issa Eleran um den Hals und Anwin registrierte mit einem leichten Stich der Eifersucht, dass diese Umarmung mehr ausdrückte als Freundschaft. Schließlich wurde dies auch Issa klar und sie sah ein wenig schuldbewusst zu ihm auf, ließ Eleran aber nicht los, der seinerseits Issa an sich zog und seinen Kopf an ihren legte. Anwin blickte zurück zu dem Mädchen und lächelte, so gut es ging, ein wenig säuerlich. Dann packte er Eleran am Oberarm und zog ihn hoch.
„Hört mir zu, hört mir alle gut zu! Wir haben nicht viel Zeit! Ich habe vor zu fliehen und nehme an, dass das auch für euch gilt! Wer das nicht will, den geleitet mein großer Freund“, er deutete auf Ubandor, „zurück in die Sklavensiedlung!“
„Niemand will zurückkehren!“, meinte Eleran. „Wohin willst du fliehen? Nach Ur’Seleb, wo es keine Sklaverei gibt? Derkan hat mir das erzählt!“ Seine Augen leuchteten.
Anwin schüttelte den Kopf. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Sklaverei auch nach Ur’Seleb kommt! Es ist der Wunsch der Götter, Rassek hat mir das erzählt.“
„Rassek!“, keuchte Issa. „Er kann jeden Moment kommen, wenn er seinen Auftrag erfüllt hat. Das hast du dem Sklavenhändler gesagt!“
„Da habe ich ein bisschen gelogen“, antwortete Anwin. „Rassek geht nirgendwohin, außer gemeinsam mit uns.“ Als er sah, wie erschrocken Issa darauf reagierte, ergänzte er: „Also, nur sein Leichnam. Er liegt in einer kleinen Kammer.“ Anwin zeigte auf die schwer zu sehende Tür an der Seitenwand. „Ich habe ihn gemeuchelt, genauso wie SiVender, den Sklavenhändler. Ich bin inzwischen ein begnadeter Mörder geworden, Issa.“
Ihre Blicke verfingen sich, dann stammelte sie: „Anwin, ich muss dir etwas sagen … Eleran, er war immer da, wenn ich Hilfe brauchte, hat mich beschützt … Eleran und ich … sind mehr als Freunde.“ Dann hauchte sie: „Wir lieben uns!“ Sie senkte ihren Blick.
Anwin antwortete mit einer Neutralität - ja fast Kälte - in der Stimme, die er nicht empfand. Im Gegenteil, er war in seinem Leben noch nie so aufgewühlt gewesen. „Rassek hat mir eine Menge erzählt, zum Beispiel, darüber, dass die Gabe – der Fluch – des Heilens in der Familie liegen muss. Man erbt sie. Mein Vater hat diese Eigenschaft aber nicht und keiner seiner Vorfahren hatte sie, da kann ich mir ziemlich sicher sein; sowas fällt auf. Also stammt sie wohl von meiner Mutter, von jener Frau, von der mir mein Vater nie erzählt hat – und das wohl mit gutem Grund. Sie war eine Frau, die anders gelebt hat, als es den Göttern gefällt. Oder noch immer so lebt, im Verborgenen. Issa, ich vermute, dass deine Großmutter meine Mutter ist! Sie war die Einzige, die diesen Fluch an mich weitergeben konnte! Sie muss zum Zeitpunkt der Empfängnis etwa drei Dutzend Jahre alt gewesen sein, noch nicht zu alt für eine Geburt. Du kannst also ‚Onkel‘ zu mir sagen! Ich denke, du verstehst, warum ich dir das jetzt erzähle! Die Kurzfassung: ich wünsche euch beiden von Herzen alles Gute. Du brauchst an deiner Seite einen Menschen, der noch Liebe und andere positive Emotionen empfinden kann. Das kann ich nicht mehr, dazu habe ich zu viel erlebt und zu viel getan!“
Issa drückte einen Kuss an seine Wange und hauchte: „Danke!“.
Eleran nahm den Gesprächsfaden wieder auf, der sie beschäftigt, bevor Issa ihre Liebe zu ihm gestanden hatte. „Aber wenn nicht nach Ur’Seleb, wohin wollen wir dann fliehen? Müssen wir dann nicht von Ort zu Ort, immer verfolgt?“
„Ich wollte es euch nicht erzählen, weil ihr mich dann wahrscheinlich für verrückt haltet. Außer Issa vielleicht. Also gut. Wir werden die Welt verlassen!“
Eleran blickte Sera an, Sera Eleran. In beider Mimik konnte man lesen, dass sie tatsächlich der Meinung waren, die Ereignisse der letzten Zeit wären zu viel für Anwin gewesen. Nur Issas Augen leuchteten, denn sie erinnerte sich an ein Gespräch, das vor langer Zeit stattgefunden hatte, in der Ebene zwischen dem Rand der Welt und Erefendor.
„Dann hast du ihn gefunden? Den Weg nach draußen? Weißt du, was uns dort erwartet?“
Anwin nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. „Alles, was ich weiß, ist, dass es ein ‚draußen‘ gibt. Ich kenne sogar den Ausgang. Aber es ist ein Weg ins Ungewisse. Ich habe keine Ahnung, was uns dort erwartet. Doch ich weiß, was hier auf uns wartet, nämlich der baldige Tod. Vielleicht leben wir auch draußen nicht lange, vielleicht leben dort nur Götter. Es ist einfach besser als auf ein Ende in der Arena zu warten und möglicherweise kann ich mir noch die eine oder andere Frage beantworten, zum Beispiel wohin die Götterwägen fliegen.“
„Aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass Derkan uns folgen kann“, wandte Sera ein. „Hast du in letzter Zeit von ihm gehört?“
Das war der Augenblick, vor dem sich Anwin gefürchtet hatte, nun musste er ihr vom grausamen Tod ihres älteren Sohnes erzählen. Er öffnete langsam den Mund, aber die schrecklichen Worte wollten ihm nicht entweichen.
Plötzlich wurde die Tür zur Halle geöffnet, man sah eines der weiß gekleideten Mädchen zurücktreten und ein groß gewachsener Mann in goldener Rüstung betrat den Raum. Ein Bote der Götter! Rasch fielen alle auf die Knie, nicht nur das zerlumpte Sklavengrüppchen, sondern auch Anwin und der Leibwächter. Anwin und Ubandor waren erschrocken, denn keiner der beiden hatte diese Komplikation vorausgesehen. Der Mann durchschritt rasch den langen Vorraum und blieb vor dem knienden Anwin stehen.
„Adept! Wo ist dein Herr? Die Götter verlangen nach ihm!“ Seine kräftige, tiefe Stimme offenbarte, dass er befehlsgewohnt war und ungeduldig.
„Herr“, antwortete Anwin, wie er es sich zurechtgelegt hatte, „er wurde zu einem Adeligen befohlen, dessen Namen er mir nicht genannt hat als er aufbrach.“
Der Bote schnaubte verärgert und überlegte offenbar, wie er in dieser unerwarteten Situation vorgehen sollte. „Kannst du eine Narbe verschwinden lassen?“
Anwin war klar, dass er mitgehen musste, wenn er die anderen retten wollte. Für ihn selbst mochte dieses unerwartete Ereignis wohl das Ende bedeuten, aber Ubandor konnte die Scharade wie geplant durchziehen, auch ohne seine Hilfe. Aber wenn jetzt eine – unweigerrlich erfolglose – Suche nach Rassek begann, dann waren alle verloren. Spätestens am Stadttor wäre für alle das Ende gekommen. Er antwortete daher mit einem Selbstbewusstsein, das er nicht empfand: „Selbstverständlich! Ich bin am Ende meiner Ausbildung!“
„Dann wirst du mich begleiten! Da Heileradepten nicht zu den Göttern vorgelassen werden, bist du mit sofortiger Wirkung und Kraft meiner Autorität Heiler! Solltest du mich über deine Fähigkeiten belogen haben, bist du am Tag der Götter eines der Opfer in der Arena!“
Anwin sah, dass Issa ihn ängstlich anblickte, nicht um sich, sondern um ihn besorgt. Ubandors Gesichtsausdruck war starr wie meistens, verriet keines seiner Gefühle. „Mach weiter, wie besprochen, ohne Zögern! Auch ohne mich.“ Mehr wagte Anwin nicht zu sagen, war vielleicht selbst das schon verräterisch? Nein, entschied er, niemand konnte Verdacht schöpfen, nur weil er diese Worte gehört hatte. Er nickte dem Boten zu, der sich daraufhin umdrehte, Anwin folgte ihm. Am Eingang der Villa hießen ihn zwei der weißgekleideten Mädchen sich hinzusetzen. Sie zogen ihm seine nun peinlich sauberen Lederstiefel über. ‚Hoffentlich denkt Ubandor daran, Rasseks Schuhe mitzunehmen‘, überlegte Anwin, der nie so detailliert über die Flucht nachgedacht hatte. Sie durften keine Spuren hinterlassen, wenn das Entkommen gelingen sollte, denn sie benötigten einen erheblichen Vorsprung.
Der Bote wartete ungeduldig bis die Prozedur vorbei war, denn er selbst hatte keine Hausschuhe angezogen. ‚SiVender wird es egal sein‘, dachte Anwin bei sich und hatte bei dem Gedanken das irre Bedürfnis zu kichern, dann folgte er dem Boten hinaus in den Garten. Es regnete nicht mehr, aber die Welt dampfte, Nebelschwaden stiegen vom Rasen auf und Tropfen glitzerten überall, denn die Sonne war gerade dabei, sich hinter einer dicken, grauen Wolke hervor zu quälen. Unmittelbar vor dem Haus, so nahe, dass man von der untersten Stufe direkt auf das Trittbrett gelangen konnte, stand eine Prachtkutsche, mit Blattgold verziert und dem Zeichen der güldernen Wabe. Der Kutscher trug eine farblich entsprechende Livree, nur die vier schlanken, drahtigen Pferde waren schwarz. Der Bote öffnete die Tür, zog den Vorhang auf und setzte sich in Fahrtrichtung auf den samtbezogenen Sitzplatz. Er erwartete offenbar, dass Anwin einstieg, also ließ er sich ihm gegenüber auf der weichen Bank nieder. Keinen Augenblick später setzte sich das Gefährt über die schottrige Einfahrt in Bewegung und verließ bald darauf SiVenders Anwesen. Nach erstaunlich kurzer Zeit erreichten sie die große Straße zur Pyramide, wo die Pferde zeigen konnten, was in ihnen steckte. Anwin dachte an seine Ritte auf K’nu dem Esel, die sehr gemütlich gewesen waren und an seine Fahrten mit dem Wagen, den K’nu gezogen hatte, langsam und im Einheitstempo. Wer brachte jetzt die Guri-Rüben zum Markt von Erefendor? Wie mochte es der Stadt unter dem neuen Statthalter gehen? Und gab es die kleine Siedlung überhaupt noch? Lebte sein Vater noch?
Langsam versickerten diese Gedanken, als die Fahrt immer schneller wurde, schneller als Anwin sich jemals bewegt hatte. Ängstlich blickte er auf die vorbeirasenden Häuser und Menschen. Die Geschwindigkeit des Vierspänners war viel zu hoch, rücksichtslos hoch, denn niemand konnte den Pferden noch rechtzeitig ausweichen, wenn er ihnen zufällig im Weg stand. Dennoch genoss Anwin schließlich den Rausch der enormen Schnelligkeit. Ob SiVenders Pferde auch so schnell sein konnten? Wie lange würden sie dann bis zum Rand der Welt brauchen, an jenen Ort an dem sein Leben begonnen hatte und an dem nun auch sein zweites beinahe angefangen hätte – wären ihm nicht die Götter dazwischen gekommen! Waren sie allwissend?
Schließlich wurde die Kutsche wieder langsamer. Anwin ahnte, dass die Pyramide in unmittelbarer Nähe sein musste, wenngleich er sie nicht sah, da er ja gegen die Fahrtrichtung saß. Aber er kannte die Gegend hier nur zu gut, viel besser als ihm lieb war. Sie hielten, der Bote stieg aus, eine bewaffnete Eskorte wartete bereits. Anwin folgte seinem Beispiel und gemeinsam, flankiert von den Wächtern, gingen sie auf die gewaltige, himmelragende, hexagonale Pyramide zu. Anwin war jetzt bereits im inneren Bereich, einer Art Parkanlage um die Pyramide, die niemand ohne Erlaubnis und keiner ohne Bewachung betreten durfte. Sie hielten auf ein großes Tor zu, das sich langsam öffnete, um sie einzulassen, die Soldaten blieben hingegen zurück.
Wie schon beim letzten Mal als er die Pyramide betreten hatte, umfing ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit. Unwillkürlich zauderte er ein wenig. Wie konnte das Innere der Pyramide, wie konnte der weite Gang nur so hell sein? Die Wände glühten in einem sanften, rötlichen Schimmer, der alle Konturen etwas verwischte. Anwin dachte an den Ort, wo die Diener der Götter aufwuchsen und schauderte. Musste er ihn wieder besuchen? Wohl kaum, denn diesen Bereich durfte auch ein Adept betreten. Neugier überwog die Ängstlichkeit. Er würde heute Dinge sehen, deren nur ganz wenige Menschen ansichtig wurden, dessen war er sich sicher. Ob er das allerdings überleben würde …
Weit vor ihnen stand wie eine bleiche Statue einer der Diener der Götter mit seinen tiefschwarzen Augen, dem eigenartigen Mund und den Händen mit zwei Daumen und den zu langen Fingern. Er hielt ein merkwürdiges Ding, Anwin zweifelte nicht daran, dass es eine gefährliche Waffe war. Aber er trat beiseite, als sie kamen, und das Tor vor ihnen öffnete sich weit, die Türflügel glitten einfach beiseite und verschwanden in der Wand. Kaum hatten sie den Raum dahinter betreten, schloss sich der Ausgang wieder und es gab keinen weiteren. Anwin überlegte, ob er in Panik verfallen sollte. Was war schief gegangen? Warum wurden sie hier eingesperrt? Wussten die Götter von seinen Plänen? Abermals stellte er sich die Frage, ob sie vielleicht doch allwissend wären. Dann, plötzlich, zog ihn eine merkwürdige Kraft auf den Boden zu, er geriet ins Taumeln, nur ganz kurz, dann hörte die Kraft auch schon wieder auf zu wirken. Sein Begleiter blieb völlig ungerührt, er hatte seinen Körper in Richtung Tür gewandt und stand fest wie eine Säule. Da suchte auch Anwin innere Gelassenheit und bemühte sich, sein zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen. Tatsächlich ließ das Pochen in den Schläfen schließlich nach. Nach geraumer Weile fühlte er sich unerwartet wieder sehr merkwürdig, er schien viel leichter zu sein und abermals verlor er ein wenig das Gleichgewicht. Auch diese irritierende Empfindung dauerte nicht allzu lange. Dann war wieder alles so wie er es gewohnt war.
Langsam wichen die Türflügel beiseite, verschwanden wieder in der Wand und da war nicht mehr der Gang, durch den sie gekommen waren! Die Öffnung gab den Blick auf einen Raum frei, der in unirdischer Pracht schimmerte. Es war als wären hier unzählige Regenbogen gefangen, sie wanden sich in dem Versuch, sich zu befreien. Das Farbenspiel, das von den Wänden auszugehen schien und von sich drehenden Prismen, von denen einige auf Sockeln im Raum standen, irritierte Anwin. Ihm gegenüber fehlte ein Teil der Wand und so konnte er nach draußen sehen und sich, was dringend nötig war, wieder ein wenig orientieren. Wie durch Zauberhand war er offenbar an die Spitze der Pyramide gelangt, man sah im Hintergrund fahl den Rand der Welt. Davor aber stand auf einer großen Plattform ein Götterwagen, ein unheimliches, bizarres Etwas, das sich irgendwie ohne Pferde bewegen konnte. Aber Pferde hätten sowieso nichts genutzt, außer sie wären geflügelt. Also musste der Götterwagen selbst lebendig sein, ein unheimliches Wesen des Firmaments, ein Dämon vielleicht, den sich die Götter gefügig gemacht hatten.
Gestalten erschienen in dem unwirklichen Licht, schemenhaft, sein Begleiter sank auf die Knie und senkte den Blick. Anwin beeilte sich, es ihm gleich zu tun, nur dass ihn die Neugier dazu trieb, ein wenig länger hinzusehen als erlaubt war und klug, denn er wusste ja von Issa, dass der Anblick eines Gottes einen Menschen in den Wahnsinn treiben konnte.
Aus dem gleißenden Licht schälten sich drei Konturen, nur die mittlere war ein Gott, bzw. wie man schon an der schmalen Taille erkennen konnte, eine Göttin. Golden war ihre Haut, golden ihr Kleid und ihre viel zu großen Augen schimmerten vielfarbig wie das Licht, das durch die Prismen fiel. Schnell senkte Anwin den Blick, aber er lugte immer noch hinter den Wimpern hervor, um so viel in sich aufzunehmen, wie stattlich war – und ein wenig darüber hinaus. Die Göttin war einen Kopf größer als ihre menschlichen Begleiter. Jetzt konnte er ihre Hände sehen und ein kalter Schauder rieselte sein Rückgrat hinab, denn die Göttin hatte – so wie die Götterdiener – zwei Daumen, je einen an den Handaußenseiten. Den „unmenschlichen“, den nach hinten gerichteten, hielt sie an die Hand gepresst, so dass sie auf den ersten Blick menschlich wirkte, wenn auch die Finger ungewöhnlich lange waren. Wäre er nicht ein so sorgfältiger Beobachter, es wäre ihm die Fremdheit entgangen.
Mit einer Stimme, die so vieltönend war, wie das Licht im Raum vielfarbig, begann sie zu sprechen: „Heiler, ich, U’Rieften, habe dich hierher bringen lassen, weil du meinem Freund helfen sollst.“ Sie zeigte auf einen ihrer Begleiter und Anwin hatte daher den Mut ihn sich näher zu besehen, wenigstens einen Augenblick lang. Der Mann war hochgewachsen und muskulös, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, die in einem außergewöhnlichen Ausmaß Kälte, Überheblichkeit und Verachtung ausstrahlten. Sein Haupt umrahmte ein grellweißer Schein, manchmal war es als würden helle Blitze aus dieser Aura hervor zucken. Er trug eine prunkvolle, leichte, schwarzgoldene Rüstung, die auf seinem Brustharnisch grausame Kriegsszenen zeigte. Unterarme und -schenkel waren geschient. Ihm fiel auf, dass sein rechter Handrücken durch eine hässliche Narbe verunstaltet wurde. Berufsbedingt hatte er gelernt, auf solche Details zu achten.
Kurz erhaschte Anwin auch einen Blick auf seine Begleiterin, die in einen schwarzen Overall gewandet war, der ihre üppige Figur und dennoch sehr schlanke Taille auf eine wenig schickliche Art betonte. Das Gesicht war ungewöhnlich schön, aber ihr Blick war so starr, dass ihn die blauen Augen an die eines Reptils gemahnten und verursachten, dass ihr Anblick für Anwin nicht angenehm war sondern beängstigend. Irgendetwas stimmte mit dieser Frau mit dem langen, dunklen Haar nicht. Zum Glück beachtete sie ihn gar nicht, denn er hatte die Empfindung, ihr Schlangenblick könne töten.
Schnell wandte er sich U’Rieften zu. „Göttin der Anmut und des Friedens, ich sehne mich stets danach, den Göttern zu dienen“, log er gewandt, „verfügt über mich, wie es Euch beliebt.“
„Mein ehrenwerter Begleiter“, meinte die Göttin in sanften Glockentönen, „trägt eine Narbe an seiner Hand, ein Andenken an einen heroischen Kampf. Die sollst du jetzt entfernen. Bist du dazu in der Lage?“
Anwin wunderte sich über die Frage und das Ansinnen. War die Göttin nicht allwissend? Dann müsste sie doch eigentlich seine Fähigkeiten kennen. Aber vielleicht war die Frage ja nur eine Höflichkeitsfloskel. Aber Höflichkeit, einem winzigen Wurm wie ihm gegenüber? Nun ja, es war nicht an ihm, die Götter zu verstehen.
Das Ansinnen verwunderte ihn auch deshalb, weil die Göttin doch allmächtig war. Wozu bedurfte es da der Dienste eines unwürdigen Menschleins wie ihm? Trotz dieser Gedanken antwortete er ohne Zaudern. „Herrin, ich werde mein Bestes geben, um eine vollständige Heilung zu erreichen!“
Die Göttin nickte und bewegte ganz leicht ihre Hand, die Andeutung einer Geste, mehr war es nicht. Dennoch eilten zwei Götterdiener herbei, die zwischen sich einen jungen, augenscheinlich gesunden Mann an den Oberarmen festhielten. Ohne Zweifel war er das erwählte Opfer. Bei ihnen angekommen, ließen die Götterdiener ihn los und er sank ehrfurchtvoll und schicksalsergeben in die Knie, voll Ergriffenheit. Sein Gewand wies ihn als Priesteradepten aus, was bedeutete, dass er freiwillig bereit war, den Göttern zu dienen. Was war eine Narbe oder Schlimmeres für einen dem Jenseits verhafteten Menschen im Vergleich dazu, einer leibhaftigen Göttin gegenüber zu stehen bzw. zu knien? Die meisten Priester sahen in ihrem Leben nur ein einziges Mal einen Gott! Jeder Zwang war bei ihm eigentlich gänzlich unnötig und so nahm Anwin an, dass die Götterdiener ihn nur aus Gewohnheit so hart angepackt hatten.
Eine Geste der Göttin hieß Anwin sich erheben, was er auch sofort tat. Er nahm die Rechte des Opfers, machte dann einen kleinen Schritt auf den ebenso merkwürdigen wie mächtigen Mann zu, der ihm nun seine vernarbte Hand entgegenhielt. Jetzt konnte Anwin erkennen, dass auch seine Handfläche narbig war. Offenbar hatte ihm ein Messer vor Jahren eine Wunde zugefügt. Kaum berührte Anwin die Narbe, begannen bereits seine unheimlichen Kräfte zu wirken. Er war so verblüfft, dass er beinahe den Kontakt abgebrochen hätte, denn der Mann war erstaunlich alt und doch sprach sein Äußeres für Jugend oder für zumindest deutlich weniger als drei Dutzend Jahre. Seine Aura war hell, am Rand etwas ausgefranst, wie stets bei älteren Menschen und verströmte genau so viel Kälte wie sein Blick. Jetzt versuchte er sie mit der des Opfers zu verbinden, des Priesters, der zum Glück keine latenten Heilergaben besaß. Der Wunsch nach einem anderen Spender wäre hier wohl nicht sehr gut aufgenommen worden. Lichtfäden wanderten von den beiden Auren aufeinander zu, umwanden sich, wurden verknüpft. Nun kamen die ersten, hässlich tiefroten, dumpfen aus der vernarbten Region hinzu. Anwin identifizierte die Lichtstränge aus dem komplementären Bereich des Opfers, die strahlend waren und in diesem Augenblick die anderen berührten, aneinander entlang wanderten aber getrennt blieben. Sie wiesen einander den Weg, umschlangen sich zuerst, nur um sich danach wieder zu trennen und ihre ursprünglichen Plätze zu tauschen. Anwin lenkte diesen Prozess mit sanfter Präzision. Schließlich war die Heilung vollbracht, Anwin trennte zunächst die imaginäre Lichtbrücke, die nur er sah, gab dann den physischen Kontakt zu den beiden Menschen auf, dem Geheilten mit dem Schimmer umrahmten Haupt und dem erschrocken blickenden Priesteradepten. Er kniete sich wieder neben seinen Begleiter, dem Götterboten, hin und versank in Bedeutungslosigkeit. Wahrscheinlich hatte der schwarzhaarige Mann ihn bereits vergessen, als er staunend und zufrieden seine makellose rechte Hand betrachtete, frei von jeder Verunstaltung – nur war die Haut in der Narbenregion rosa wie die eines neugeborenen Babys.
„Ich danke dir für diesen kleinen Dienst“, sprach er, nicht an ihn, sondern an die Göttin gewandt, „sei dir meiner Zuneigung und Hilfe sicher. Ihr seid die Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters! Wer außer euch könnte diese Rolle verkörpern? Ihr seid für unsere Zukunft fast ebenso wichtig, wie wir für die eure. Nun denn – es ist Zeit für mich, zum Olymp zurückzukehren. Gehab dich wohl!“
U’Rieften verbeugte sich tief - vor einem Menschen! Anwin hätte das sicherlich nicht sehen sollen, aber er hatte es gesehen, da er nicht so in sich zusammengesunken war, wie sein Begleiter oder der Adept. Was für eine verkehrte Welt! Anwin verstand das alles nicht, nahm sich aber vor, dass er eines Tages begreifen würde, was hier gerade vor sich gegangen war.
Die Frau und der Mann mit dem gleißenden Schein bewegten sich Hand in Hand auf den Götterwagen zu, nur die Göttin selbst blieb noch. Völlig unerwartet sprach sie ihn an: „Das hast du gut gemacht, kleiner Heiler! Vielleicht hast du einen bescheidenen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?“
Durfte er wagen, die Befreiung all jener zu erbeten, mit denen er geflohen war? Nach der Ermordung von Rassek und SiVender wohl kaum. Die Flucht musste stattfinden, durfte nicht gefährdet werden, er durfte die anderen nicht verraten. Also blieb nur noch ein Wunsch. „Göttin“, brachte Anwin mit kläglicher, leicht zittriger Stimme hervor, „meine Heilergabe hat so viel Leid über Menschen gebracht – bitte, nehmt sie fort von mir!“
Da sprach U‘Rieften, leise, fast wie zu sich selbst: „Nicht von uns Göttern stammt diese Gabe, sondern vom bionischen Feld der Vegetation dieses Planeten. Wir züchten nur deren Träger, sammeln sie, verstärken sie. Um die Kraft zu verlieren, müsstest du den Planeten verlassen.“
Wenngleich diese Worte an Anwin gerichtet waren, hatte er das Gefühl, er hätte sie nicht wahrnehmen sollen. Aber er hatte sie gehört! Schon wieder dieses unfassbare Wort: ‚Planeten‘. SiVender hatte es verwendet als er im Delirium sprach und es hatte etwas Größeres bedeutet als die Welt, etwas wirklich Gewaltiges.
Mit lauterer Stimme fuhr die Göttin fort: „Ich weiß, dass deine Gabe Unheil über die Menschen bringt und das tut mir unsäglich leid. Wir werden das ändern! Der Mann, der gerade da war, wird uns dabei helfen. Aber bis dahin ist deine Kraft von unendlicher Bedeutung. Wir brauchen dich! Ein Ereignis steht bevor, wie es nur alle hundert Jahre eintritt, ein Ereignis von unvorstellbarer Schönheit: die Geburt von Göttern wird sich bald ereignen und du, kleiner Heiler und Deinesgleichen, ihr werdet eine bedeutende Rolle dabei spielen! Jeder von euch ist wichtig! Deshalb kann und will ich dir deine Gabe nicht nehmen!“
Anwin hatte die Worte vernommen, enttäuscht, aber scheinbar ergeben senkte er sein Haupt noch mehr. Dann wurde er von seinem Begleiter an der Achsel gepackt etwas gröber als notwendig. Hatte Anwin die Etikette verletzt? Hätte er das Angebot der Göttin ablehnen sollen? Der Götterbote war aufgestanden, blickte mit steinerner Miene zu ihm und deutete nun, es ihm gleich zu tun. Die Göttin hatte sich dem Priesteradepten zugewandt, Anwins und seines Begleiters Anwesenheit war nicht länger erwünscht. Sie gingen durch das offene Tor in den kleinen Raum, die Türflügel glitten aufeinander zu, schlossen sich. Der innere Aufruhr überdeckte die Merkwürdigkeiten die nun geschahen - dass Anwin das Gefühl hatte, plötzlich leichter zu sein und dann etwas später, schwerer. Er taumelte nur ein bisschen. Als sich die Tür wieder öffnete, war da abermals der gleichmäßig glühende Gang, nicht mehr die Wohnung der Göttin. Wenig später verließen sie die Pyramide und sein Begleiter forderte ihn auf, den Geschützten Bereich so schnell wie nur möglich zu verlassen. Zwei Soldaten eskortierten ihn, während er über Formulierungen wie: ,Goldene Menschen des Ersten Zeitalters‘ nachdachte. Die Schatten waren schon sehr lang, die Sonne, wenn auch für ihn unsichtbar hinter der Pyramide, musste bereits nahe am Horizont stehen, die Stadttore bald geschlossen werden. Jählings rückte das so eben erlebte in den Hintergrund. Die Flucht! Kaum hatte ihn seine Eskorte verlassen, rannte Anwin über den nassen, schweren Boden in Richtung des Westtores, das nicht allzu weit weg war, aber vielleicht zu weit. Während des Laufs versuchte er seiner Verwirrung Herr zu werden, konnte aber nicht verhindern, dass ihn Gedankenfetzen heimsuchten, die jetzt, da er sich auf das Entkommen konzentrieren wollte, unerwünscht waren. Wie konnte die Göttin ihn gehen lassen, wenn er so wichtig war? Musste sie nicht, dank ihrer Allwissenheit die Flucht erahnen? Und den Mord an einem Heiler, der ohne Zweifel ebenso bedeutend war wie er selbst, wenn nicht bedeutender? Hieß das nicht, dass ihnen ihr Vorhaben unmöglich gelingen konnte und die Göttin nur ein Spiel mit ihm spielte? Wollte sie ihm eine Lehre erteilen, indem sie ihre Macht demonstrierte?
Anwin war ein schneller Läufer, aber seine Ausdauer war mäßig. Als er sich dem Platz vor dem Stadttor näherte, keuchte er bereits, seine Lunge brannte und sein Herz schien den gleichmäßigen Schlagrhythmus aufgegeben zu haben, ihm wurde ziemlich schlecht. Aber das Tor war noch offen! Und da, in einer Ecke, verborgen vor den Stadtwächtern, stand eine Kutsche mit vier rostroten Pferden. Hinten war ein kleiner Käfigwagen angehängt, in dem fünf zerlumpte Gestalten saßen. Alle hatten den Blick gesenkt, bis auf das kleine Mädchen, das ihn erschrocken ansah. Ubandors Tochter! Sie gab den anderen ein Zeichen und Issa blickte ihn jetzt an; Erleichterung lag in ihren Zügen. Mochte sie auch einen anderen lieben, sie machte sich immer noch Sorgen um ihn! Ubandor saß vorne am Kutschbock und hielt die Zügel fest in der Hand. Auch er hatte ihn nun gesehen! Laut dröhnend erscholl der Gong, der das Schließen des Tores ankündigte und Anwin mobilisierte seine letzten Kraftreserven, taumelte vorwärts, erbrach sich, rannte trotzdem weiter, vorbei an den Sklaven im Zwinger, bekam die Kutschentür zu fassen öffnete sie hastig und kroch hinein. Die Plätze in Fahrtrichtung waren bereits besetzt, ganz nach Plan. Er selbst begab sich also auf die andere Seite - schweißüberströmt - und blickte auf sein gegenüber. Es war Rassek, mit fahlem Gesicht und geschlossenen Augen. Dennoch hatte Anwin das Gefühl, er würde ihn anstarren. Er blickte zu Boden und sah, dass der Ermordete seine Lederstiefel trug. Unbehaglich rutschte er mit letzter Kraft auf die andere Seite, nur um nun der Leiche SiVenders gegenüber zu sitzen. Das Gesicht des Sklavenhändlers war nicht weniger bleich, sein zerstörtes Auge vom Rand einer Kopfbedeckung unsichtbar gemacht.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung, langsam zunächst, die beiden Toten rührten sich kaum, sie waren erstaunlich gut festgezurrt. Anwin zog die Vorhänge von den Türfenstern an beiden Seiten weg, so dass man die zwei Männer von außen sehen konnte. Denn die Wächter der Stadt hatten die Order, jedes Gefährt zu kontrollieren. Einer der geharnischten Männer tat das auch, aber er kannte Ubandor zu gut, um mehr als nur einen kurzen Blick in das Innere der Kutsche zu werfen. Abgesehen von Anwin waren die Insassen hoch angesehene Leute, die man besser nicht verärgerte, in dem man sie weckte, denn sie schienen zu schlafen. Trotzdem rechnete Anwin jeden Augenblick damit, dass der Trug entdeckt werden könne. Er war angespannt und zitterte.
Leise wandte sich der Wächter an Ubandor: „Wohin geht’s?“
„Nach Ur’Neften.“
„Ohne bewaffnete Begleitung?“
„Es lohnt sich kaum, uns zu überfallen! Sieh dir nur den jämmerlichen Haufen an, den wir mit uns führen! Und überhaupt! Zähle ich nicht?“ Ubandor grinste und ließ seine Muskeln spielen.
Der Wächter lachte. „Doch, Ubandor, du zählst! Du bist der beste Kämpfer, den ich kenne. Ich habe selbst erlebt, wie du acht bewaffnete Gegner erledigt hast, die gleichzeitig auf dich einstürmten! Das macht dir keiner nach!“
Der dunkelhäutige Riese lachte ebenfalls. „Dann vergiss nicht, die Geschichte zu erzählen, wenn du das nächste Mal mit einem Krug Bier in der Taverne sitzt, mitten unter den anderen Schurken! Dann habe ich weniger zu tun, ich werde langsam faul, das Abschlachten macht mir nicht mehr so viel Spaß wie in meiner Jugend“. Mit einem letzten Gruß trieb er die Pferde an und ließ die Stadt ungehindert hinter sich. Die Torflügel schlossen sich langsam und knarrend. Anwin beobachtete, wie die trutzige, mächtige Stadtmauer immer niedriger wurde und selbst die Pyramide immer weniger eindrucksvoll erschien. Die Sonne war hinter den Zähnen des Weltenrandes verschwunden, der Horizont leuchtete golden. Er wagte noch nicht an das Gelingen zu glauben, wähnte, dass sich die Tore doch noch einmal öffnen würden und Soldaten hinter ihnen her jagten. Aber so war es nicht, sie blieben geschlossen.
Dunkelheit senkte sich über die Welt, trotz der zahllosen Sterne, die das Firmament bald bedeckten, dennoch bewegte sich der Vierspänner weiter; erst als eine kleine Aue ihren Weg begleitete, hielten sie. Ubandor stieg vom Kutschbock und befreite die Gefährten, während Anwin daneben stand. Trotz der seltsamen Umstände war Ubandors Tochter in den Armen ihrer Mutter eingeschlafen. Der Hüne half seiner Frau vorsichtig aus dem Gehege und nahm beide in die Arme, überglücklich, dass er sie schützen konnte. Anwin hätte gerne Issa genauso an sich gedrückt, aber Eleran hätte da wohl etwas dagegen gehabt. Also ließ er es bleiben und nahm nur ihre Hand. Eleran musste selber sehen, wie er sich aus dem Käfig zwängte, aber so bald ihm das gelungen war, half er Sera.
„Was geschieht jetzt?“, wollte Issa wissen. Anwin wunderte sich, dass ihre dunklen Augen im schwachen Licht der Sterne so leuchten konnten.
„Wir werden Rassek, SiVender und den Käfigwagen im Wäldchen verschwinden lassen. Dort wird sie so bald niemand finden! Ihr setzt euch in die Kutsche und ich nehme neben Ubandor Platz! Und dann geht es weiter, an den Rand der Welt, zum Ausgang!“
Issas Neugier war noch nicht befriedigt. „Wie ist es dir ergangen? Hast du wirklich einen Gott gesehen?“
Da musste Anwin lachen, so sehr, dass er schließlich Seitenstechen bekam und sich auf die karge Erde setzten musste.
Ubandor musterte ihn verblüfft. „Was ist so komisch?“
„Die ganze Zeit, seit mir klar geworden ist, dass wir fliehen müssen, hatte ich mehr Angst vor den Göttern als vor Rassek oder SiVender, vor ihrer Allmacht und Allwissenheit! Dabei wissen sie gar nichts! Und allmächtig sind sie auch nicht! Selbst, um jemanden zu heilen, brauchen sie meinesgleichen! Es gibt keine Götter! Es gibt goldene Wesen, die mächtiger sind als wir Menschen, die wir in der Welt leben, aber nicht mächtiger als andere. Denn es gibt Menschen, die außerhalb leben und sogar in Götterwägen fliegen, ich habe sie gesehen! Vielleicht sind die ‚Götter‘ sogar weniger mächtig als diese! Die ‚Götter‘ sind Fremde, die uns versklavt haben, die uns belügen und betrügen und deren Diener uns verspeisen!“ Nun blickte Anwin auf und seine Stimmung hatte sich gewandelt. „Hört, was ich euch verspreche! Ich werde euch aus dieser Welt führen, werde anderen erzählen, dass es einen Ausgang gibt, meinem Vater und anderen aus der Siedlung. Wer den Mut hat, uns zu begleiten, der soll es tun! Ich werde einen Ort finden, auf diesem ‚Planeten‘, der für euch eine neue Heimat werden kann! Wo ihr in Frieden leben könnt.“ Und dann ergänzte er in Gedanken: ‚Aber ich werde nicht bei euch bleiben. Ich werde den Spuren der Götterwägen folgen, immer weiter, bis ich verstehe. Bis ich die Scharade begreife, die hier gespielt wird. Und bis ich vielleicht den ‚Planeten‘ verlassen kann und von meinem Fluch befreit bin!'

Rückkehr nach Historia

Prolog

Das Mädchen saß seit Tagen immer nach Sonnenuntergang an dem kleinen Tisch in der unbeleuchteten Ecke und der Mann mit dem Wieselgesicht beobachtete sie von der Theke aus. Sie war keine Hure, da sie nie jemanden ansprach und jeden Versuch einer Kontaktaufnahme durch einen der männlichen Tavernenbesucher sofort selbstbewusst im Keim erstickte. Um wenig Aufmerksamkeit zu erregen, hatte sie ihre schlanke – aber an den richtigen Stellen dennoch üppige - Gestalt mit einem schwarzen Satinumhang verhüllt, das Cape war weit nach vorn gezogen, sodass ihre fein geschnittenen Züge kaum zu erahnen waren. Nur einige schwarze Locken wanden sich heraus aus der Dunkelheit, wie Höllennattern aus einem Erdloch, ließen eine reiche Haarfülle erahnen und auch im schwachen Licht der Kerzen waren die kalten, blauen Augen deutlich auszumachen. Aber selbst so bekleidet war sie nicht unauffällig, sie war, wie ihr Umhang verriet, wohlhabend und hatte an einem Ort wie diesem daher nichts verloren. Jetzt reckte sie sich, hob das Glas an die Lippen, um zu trinken, und für einen Moment klaffte der dunkle Mantel wie ein Vorhang auf und erlaubte einen kurzen Blick auf die verheißungsvolle Bühne – volle Brüste und einen weiten Ausschnitt.
Der Wieselgesichtige hatte gesehen, was er sehen wollte, legte einige Münzen auf die Theke und verließ die Schänke. Er ging nicht weit. Vom Licht der nächsten Gaslaterne kaum berührt, konnte er zwei dunkle Gestalten ausmachen, beide bis an die Zähne bewaffnet. Er wandte sich den Halsabschneidern zu.
„Sie ist es“, war alles, was er zu ihnen sagte, dann verschwand er in der Finsternis. Die Männer setzten sich in Bewegung, betraten die Taverne und hielten direkt auf das Mädchen zu, das ihnen entgegenblickte ohne Besorgnis zu offenbaren. Schlagartig verstummten alle Gespräche im Raum. Der Größere von beiden sprach sie leise aber weit hörbar an: „Komm mit.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, legte er die Hand an den Schwertknauf. Das Mädchen blickte sich um. Alle die sie ansah, blickten hinunter zu ihren Händen oder ihrem Glas; Hilfe konnte sie hier nicht erwarten. Für einen sehr kurzen Augenblick wirkte sie unsicher und verletzlich. Doch der Eindruck verflog rasch. Schließlich stand sie auf und verließ die Taverne mit ihren beiden Begleitern, die sie in ihre Mitte nahmen. Sie gingen durch enge dunkle Gassen, bis sie die Orientierung verloren hatte. Vor einem halb verfallenen Haus blieben sie stehen und einer ihrer Begleiter klopfte gegen eine schwere Eichenholztür. „Ich bin’s! Mach auf.“ Die Tür schwang auf, eine große Hand ergriff sie am Oberarm und zerrte sie in den Raum. Gleich darauf schlug der Mann die Tür mit der anderen Hand wieder zu und verriegelte sie, schleifte sie mit sich in den nächsten Raum, in dem eine brennende Kerze auf einem Tisch stand; dahinter sah sie undeutlich die Silhouette eines breit gebauten Mannes. Er nickte dem anderen zu.
„Es ist gut. Du kannst gehen. Setz dich Mädchen.“ Während der andere verschwand, setzte sie sich auf den schäbigen Sessel und rieb sich mit der Hand über den schmerzenden Oberarm. Sie versuchte, wieder so etwas wie Würde auszustrahlen. Zornig blickte sie ihr Gegenüber an.
„Was willst du von mir? Wer bist du überhaupt?“ Der Mann stellte fest, dass sie schön war, wenn sie so viel Wut ausstrahlte. Er lächelte sie zynisch und ohne Wärme an.
„Die Frage ist wohl eher, wer du bist!“ Nachdem sie sich eine Weile stumm gemustert hatten, fragte er: „Willst du nicht deinen Umhang ablegen? Du wirst eine Weile hier bleiben.“ Sie regte sich nicht. Also begann er erneut: „Das Königreich Askhauran ist voller Legenden. Eine besagt, dass in jedem Jahrhundert eine Frau geboren wird, die von Dämonen gezeichnet ist.“ Er senkte seinen Blick von Augenhöhe auf ihren Busen, zog ein langes Rapier und richtete es dorthin, wo der schwarze Umhang ein wenig auseinander klaffte. Mit der Klinge schob er den Umhang beiseite. „Gezeichnet durch ein halbmondförmiges Muttermal zwischen den Brüsten. Diese Frau ist verflucht, durch und durch böse, eine Hexe; sie allein ist eine Gefahr für die askhauranische Dynastie. Weil sie das Könighaus stürzen kann, werden traditionell alle jungen Mädchen mit dem Halbmond zwischen den Brüsten in den Wüsten des Königreichs ausgesetzt; ohne Wasser natürlich. Die meisten sind keine Hexen, aber man will das Risiko nicht eingehen. Und trotzdem hast du das Mal und lebst! Wie ist das möglich?“
Jetzt schob die junge Frau das Cape zurück und nahm den Umhang von den Schultern. Ihr ärmelloses Kleid offenbarte ihre weiße Haut, die fast makellos war. Fast! Denn zwischen ihren wohlgeformten Brüsten leuchtete rötlich der Halbmond, Zeichen der Verfluchten. „Sieh es dir an!“, zischte sie. „Ist es das, was du suchst? Willst du mich deshalb umbringen?“
Der massige Mann lächelte und legte die Klinge auf den Tisch. „ Wenn ich das gewollte hätte – meine Schergen hätten es längst vollbracht! Du nützt mir lebend mehr! Hilf mir, den König und die Königin zu ermorden, und ich mache dich zu einer reichen und bedeutenden Frau. Jetzt sind die Bedingungen perfekt! Die Priesterschaft, die die Dynastie beschützt hat, ist schwach geworden. Sie kennen den Willen ihrer Götter nicht mehr, sind machtlos. Du kannst mir helfen, wenn du die bist, für die ich dich halte. Wenn ich erst am Thron sitze, wirst du meine Hohepriesterin und alle Menschen in Askhauran werden deine Götter anbeten! Ich bin Alandro, der Cousin des Königs! Dass ich dir meine Identität offenbare ist ein Vertrauensbeweis, doch verflucht seiest du, wenn du dieses Vertrauen missbrauchst! Nun sag mir, wer du bist.“
Jetzt lächelte auch sie ihr herzloses Lächeln, ihr Blick war starr wie der einer Schlange. „Verflucht bin ich schon, aber hab’ keine Angst, dass ich dich verrate! Und wer du bist weiß, ich längst! Wer sonst hätte ein Interesse daran, das Herrscherpaar zu töten, wem steht es im Weg, als dem Cousin des Königs? Außerdem sehe ich sehr gut in der Dunkelheit, schließlich bin ich eine Hexe! Ich bin ... Salomene ... Ja, so kannst du mich nennen. Was blickst du so entsetzt? Ich bin die, auf die du gewartet hast. Dein Wunsch soll binnen einer Woche in Erfüllung gehen, König und Königin von Askhauran werden sterben.“
***
Der Jäger drehte sich leichtfüßig um, da seine scharfen Sinne ein Geräusch wahrgenommen hatten. Das kleine Mädchen war ihm gefolgt. Sie war schmutzig, ihr magerer Körper in einen groben, grauen Stofffetzen gehüllt, ihre kurzen schwarzen Haare hingen zottelig an ihr herab und Strähnen bedeckten Teile ihres Gesichts. Trotzdem waren die großen Augen, die wie Kohlenstücke hinter dem haarigen Vorhang hervor lugten, unübersehbar. Sie verrieten einen eisernen Willen. ‚Meine Tochter!‘, dachte der Jäger, es gab wirklich keinen Zweifel an der Vaterschaft.
„Nimm mich mit“, sagte sie.
Er schüttelte nur den Kopf. „Geh zurück! Es ist gefährlich. Geh zu deiner Mutter und deiner Schwester. Willst du, dass sie sich Sorgen machen?“
„Mutter macht sich Sorgen, weil sie nichts hat, was sie uns zu essen geben kann. Ich habe ihr gesagt, dass ich dich begleite. Sie war deswegen eher erleichtert.“
Der Mann knurrte. „Ich gehe nicht auf die Jagd!“
„Warum hast du dann deinen Dolch, deine Lanze, Köcher und Bogen bei dir?“ Das Mädchen blickte aus Augen, die in dem mageren Gesicht riesig wirkten, zu ihm auf. Er wusste, er sollte sie verscheuchen, wenn es sein musste, mit Schlägen. Aber er brachte es nicht über sich. Keines seiner Kinder sollte Angst vor ihm haben. Er war ein tapferer Krieger, aber es gab etwas, wovor er sich fürchtete: dass eines seiner Kinder ihn voll Schrecken ansah. Das durfte nicht geschehen, er konnte ihr also nicht drohen.
„Es wird gleich dunkel, du solltest schlafen gehen.“
„Ich kann nicht schlafen, mein Magen tut mir weh.“
‚Natürlich‘, dachte er, ‚sie hat Hunger.‘
„Wohin gehst du?“
Er konnte es mit Vernunftargumenten versuchen. „Wir können hier nicht bleiben, in dieser lebensfeindlichen Wüste. Also gehe ich in die Berge.“
Entsetzen spiegelte sich in den Zügen des Mädchens. „Aber ... aber das ist fürchterlich gefährlich. Dort leben grauenvolle Dämonen!“
„Eben“, meinte er, „du siehst also, du kannst mich nicht begleiten, Athaly!“
„Aber du kannst dort nicht hin ...“, flüsterte sie.
Er versuchte ihr zu erklären: „Der Rat hat beschlossen, dass jemand nachsehen muss, ob die alten Sagen überhaupt wahr sind. Wer weiß, vielleicht gibt es längst keine Ungeheuer mehr da oben. Aber Wasser gibt es dort! Und Wälder, Wiesen vielleicht, Wild und Früchte. Zu viele Shwakara sind schon verhungert. Sieh dich selbst an! Du schaust aus wie ein wandelndes Skelett! Alle Kinder der Shwakara sind vom Hunger gezeichnet, viele sind bereits gestorben!“
Athaly blickte zurück. Das fast schon permanente Lager – sie waren nun schon seit mehreren Monaten hier - war klein, der Stamm bestand nicht mehr aus sehr vielen Menschen. Alle Zelte hatten unter dem riesigen Baum platz, der ihnen in dieser kahlen Landschaft ein wenig Schutz bot. An einem der Äste hing eine Schaukel, die ihr Vater aus einem krummen Stück Holz und Resten von verdrillten Darmsaiten und Lederstreifen für sie gebaut hatte und die sie innig liebte aber auch so oft verwendete, dass die Schnüre ständig rissen. Dann blickte sie ihn liebevoll an und sagte: „Mich wirst du nicht los! Schon gar nicht, wenn du etwas Gefährliches vor hast. Schließlich kann ich dich verteidigen!“ Sie hob die kleine Armbrust, die sie in der rechten Hand hielt. Ein Köcher voller kurzer Pfeile hing über ihre linke Schulter.
Der Shwakara seufzte. „Dann beeil dich. Wir sollten die Ebene überquert haben, bevor es hell geworden ist.“ Glücklich stapfte sie mit ihren dünnen Beinchen wie ein Stelzenvogel hinter ihm her. Aber der Weg war weit und sie wurde schließlich doch müde, was in ihrem entkräfteten Zustand nicht verwunderlich war. So machte er schließlich Pause und teilte mit ihr seine Ration aus gewürztem Eidechsendörrfleisch. Sie schob sich gierig ein paar Streifen in den Mund und schloss dabei die Augen, um den Geschmack besser genießen zu können. Wasser gab es noch keines; das würden sie morgen dringend brauchen. Die Kleine lugte sehnsüchtig zu dem prall gefüllten Reptilienhautschlauch, aber das nützte nichts. Ihr beider Leben hing von einer sinnvollen Einteilung der Flüssigkeit ab. Da blickte sie in den Himmel. Myriaden Sterne blinkten zurück, größere und kleinere, in seltsamen Mustern, die sie nicht zu deuten wusste, aber ihr Vater vermochte mit ihrer Hilfe in dieser sternenhellen Nacht genau die Richtung zu erkennen, in die sie gehen mussten. Viel zu rasch war die Erholungspause vorbei, sie mussten weiter wandern. Weil sie so müde war, kamen sie nur recht langsam vorwärts; ihr Vater hatte ihre Hand genommen und zog sie weiter; fast schlief sie im Gehen. Schließlich verfärbte sich der Himmel rotgolden im Osten und die Konturen des mächtigen Gebirges wurden sichtbar; dunkel und drohend. Athaly hörte, wie ihr Vater leise schnaufte. Er war unzufrieden, weil sie noch so weit weg waren. Jetzt, bei Licht, mussten sie darauf achten, nicht von herum streifenden Jagdtrupps anderer Völker gesehen zu werden, die die Gelegenheit gern nutzen würden, ein um Wasserstellen konkurrierendes Volk zu schwächen oder von Sklavenjägern, die auf der Durchreise vom Wilahet – Meer in Richtung Westen waren, wo die reichen Zivilisationen geldgierige Menschenhändler anlockten, die dort ihren Fang gewinnträchtig feil bieten konnten. Ihr Weg führte sie entlang des Fußes der Schwarzen Berge, wo es genug Wasserstellen gab, nicht durch die Wüste, wo selbst die Shwakara oft kein Auslangen finden konnten. Der Jäger hatte also allen Grund vorsichtig zu sein, wenn er in Begleitung seiner kleinen Tochter unterwegs war, denn die Händler waren beritten und in offener Landschaft konnten sie ihnen nicht entkommen. Sie wanderten daher entlang eines ausgetrockneten Flussbettes, wo die Vegetation etwas dichter war und einigen Sichtschutz bot. Als die Sonne schon hoch stand, hörten sie Stimmen und der Mann reagierte sofort. Er zog Athaly rasch ins dichte Unterholz, darauf hoffend, dass die Fremden keine Spurensucher bei sich hatten. Die eherne Lanzenspitze bedeckte er mit Sand, um ein verräterisches Aufblitzen zu vermeiden. Dann erst spähte er aus dem Schatten in das Sonnenlicht. Sieben berittene und bis an die Zähne bewaffnete Halsabschneider flankierten eine Gruppe armseliger, gefesselter Gestalten im Gänsemarsch, die Hände nach vorne gebunden und das kurze Seil um den Hals des Vordermanns gelegt, alle zerschunden und offensichtlich geschlagen. Blutige Striemen zeichneten den Rücken eines jeden und eine lange, geflochtene Lederpeitsche befand sich in den Händen der berittenen Peiniger. Etwa dreißig Gefangene mochten diese Kolonne des Leids und der Hoffnungslosigkeit bilden, nicht nur Männer, auch Frauen und selbst Kinder, die nicht mehr als zehn Sommer zählten, also jünger waren als Athaly, schlurften mühsam kaum dreißig Fuß entfernt an ihnen vorbei und sein Kind hatte die Augen voller Mitleid weit aufgerissen, wie ihr Vater besorgt bemerkte. Er blickte sie eindringlich an, den Finger an die Lippen gepresst. Sie verstand und gehorchte, denn sie war durchaus gehorsam, zumindest, wenn nicht Zuneigung im Spiel war. Ihre Empörung über das, was sie hier mit ansehen musste war groß, aber die Sorge um ihren Stamm überwog; deshalb – und nicht aus Mangel an Mut – verzichtete sie auf den Versuch, die Sklaven ganz alleine zu befreien. Trotzdem zitterte und bebte sie und ihr Vater kannte sie gut genug, um ein Stoßgebet an die Götter der Shwakara zu schicken, dass sie nicht wie ein Vulkan explodieren möge. Sieben Berittene, mit Kettenhemden geschützte, anzugreifen, wäre Selbstmord. Selbst wenn sein Pfeil einen von ihnen treffen würde, steckten sechs Speere im nächsten Augenblick in seinem Körper und seine Tochter würde wohl der traurigen Menschenkette angegliedert werden.
Es war offensichtlich, dass die Gefangenen nicht nur Schmerzen, sondern auch großen Durst litten und so war es nicht weiter verwunderlich, dass ein ausgemergeltes, kleines Mädchen schließlich erschöpft zusammenbrach. Das verursachte Unruhe in der Kette, denn die Frau vor ihr versuchte sich an den gewürgten Hals zu greifen, was wiederum ihrem Vordermann die Luft abschnürte. Einer der Sklavenhändler ritt herbei und ließ die Peitsche auf den Rücken des Mädchens klatschen. Doch das rührte sich nicht. Daraufhin stieg er vom Pferd, löste das Seil vom Hals des Mädchens und legte es um den der Frau, die vor ihr gegangen war; dann zog er ein langes Rapier aus einer Scheide an seinem Gürtel und durchschnitt damit das Seil, das von den gefesselten Armen des Mädchens zum Hals der Frau lief, löste die Schlinge, und stach die Klinge schließlich durch die Brust des Mädchens, das daraufhin die Augen weit aufriss und stöhnte. All das geschah so rasch, dass der Eindruck erweckt wurde, der Mann habe diese Bewegungen schon hunderte Male durchgeführt und tatsächlich trog dieser nicht. Dann ließ er die Peitsche schnalzen und der Zug setzte sich wieder in Bewegung; das kleine, blutende Bündel blieb liegen.
Unendlich viel Zeit schien zu vergehen, bis die Gruppe außer Sicht geriet, als sie einer Flussschlinge folgte. Danach aber wühlte sich Athaly so schnell es ging durchs Gestrüpp und lief zu dem Mädchen. „Schnell, Vater, komm!“
„Psst, sei leise!“, kam die Antwort gedämpft aus dem Geäst, aus dem der Mann mühselig hervorkroch.
„Ich glaube, sie lebt noch!“ Athaly’s Stimme klang besorgt. Er trat zu ihr, nahm den Schlauch vom Rücken und löste den Korkstöpsel. Behutsam hielt er die Öffnung an die Lippen der Kleinen und ließ ein paar Tropfen auf ihren Mund rinnen. Sie schluckte ganz automatisch in winzigen Schlucken, wie ein Baby. Nach einer Weile gab er den Schlauch an Athaly weiter. „Trink“, forderte er seine Tochter auf, die trotz der Ereignisse ihren Durst nicht vergessen hatte. Sie trank vorsichtig, denn ihr war bewusst, dass das Wasser für einen gereicht hätte, aber für drei? Bald gab sie den Behälter wieder zurück.
„Du auch!“ Ihr Vater lächelte und nahm ebenfalls einen Schluck. Dann sah er sich die Wunde näher an, wozu er den staubigen Stofffetzen zur Seite schieben musste, der ihre Schulter bedeckte.
„Der Stich ist zu hoch, um tödlich zu sein, siehst du?“, erklärte er. Er schüttelte den Kopf. „Was sind das für Menschen?“ Ekel erfüllte ihn.
„Wird sie überleben?“, wollte Athaly wissen.
„Sie ist so schwach. Ich glaube nicht.“
„Wir müssen sie mitnehmen“, meinte seine Tochter.
„Natürlich“, antwortete er, in Wahrheit nicht wirklich überzeugt. Was hätte er getan, wenn Athaly nicht dabei gewesen wäre? Hätte er sich eingeredet, dass sie sowieso sterben musste? Hätte er das wertvolle Wasser mit einer vom Tode gezeichneten geteilt? Er wusste es nicht. Athaly, die Mitleidige wusste es. Das genügte. Dennoch hatte er das Gefühl falsch zu handeln. Er müsste darauf hinweisen, dass das Wasser nicht für drei reichen würde, müsste die Gefahr für ihr Leben kalkulieren, das diese Tat verursachen würde. Stattdessen hob er das kleine Mädchen hoch und ging los.
„Komm, Athaly, wir müssen eine Wasserstelle finden. Der Schlauch ist fast leer und wir haben nicht genug getrunken.“ Sie folgten dem trockenen Flussbett während die Sonne immer höher stieg und zunehmend unbarmherziger auf sie nieder brannte. Gegen Mittag fanden sie feuchten Sand, den sie mit den Händen wegscharrten. So sammelte sich genug Wasser, um den Schlauch wieder zu füllen und anschließend noch zu trinken. Athaly ließ etwas Wasser in ihre hohle Hand rinnen und träufelte so etwas Flüssigkeit in den Mund der Fremden, die reflexartig schluckte ohne das Bewusstsein zu erlangen. Dann zogen sie sich in den Schatten einiger Büsche zurück, um auf den Abend zu warten.
***
Er kam über den weiten Rücken der See. Der Mann war außergewöhnlich hässlich. Eine Narbe lief von links nach rechts über Stirn, Nase und wohl auch die Wange, aber ein dichter schwarzer Bart verdeckte sie dort. Wenn er ging, ein wenig gekrümmt, als hätte er einen Buckel, schleifte er ein Bein nach. Und doch lagen in seinem Blick Autorität und Selbstbewusstsein, konnte man erkennen, dass seine Gestalt eigentlich hochgewachsen war. Verstärkt wurde der achtungsgebietende Eindruck noch durch ein helles, silbernes Strahlen, das sein Gesicht wie ein Heiligenschein umhüllte. Wenn seine lange, dunkle Mähne vom Wind gestreichelt wurde, leuchtete es stellenweise besonders hell, als würde es den Bewegungen seines Haares folgen. Auch jeder seiner ungleichmäßigen Schritte verursachte ein irritierendes Aufflackern, das rund um sein Gesicht zu wandern schien.
Der Mann war ungewöhnlich gekleidet. Ein weißes, mit einem feinen Muster goldbesticktes Gewand fiel von seinen Schultern hinab bis zu den Knöcheln. Die Ärmel waren kurz und ließen muskulöse Oberarme erkennen, wie die eines Schmieds. Die Füße steckten in hohen Ledersandalen und in der Rechten trug er einen krummen aber massiven Gehstock, der gut zu seiner restlichen Erscheinung passte.
Diese Welt erschien ihm fremd; zwar war er die Nähe des Meeres gewöhnt. Aber der türkisfarbene Ton seiner unruhigen Oberfläche, die den Himmel wiederspiegelte erschien ihm eigenartig, ebenso wie der Gesang, der im Rhythmus der Wellen auf- und abebbte und ihn so sehr anlockte, dass er ihn an den der Sirenen der griechischen Mythologie erinnerte. Vom Landesinneren her gelangte ein würzig aromatischer Duft an den felsigen Strand, obwohl der heiße Wind von der See her blies. Auch auf seinem Heimatplaneten hatte es Pflanzen gegeben, die aromatische Öle in die Luft verströmten, aber diese hier rochen anders, wenngleich ebenfalls angenehm.
Der Mann stützte sich schwer auf seinen Stock und blickte zurück. Hinter ihm lag der schmale Kieselstrand, an dem er sein kleines Boot an einer ausgespülten Wurzel vertäut hatte. Die Einheimischen hatten von so einem Strand gesprochen, aber es musste wohl ein anderer gemeint gewesen sein. Trotzdem war er sich sicher, seinem Ziel bereits nahe zu sein. Mühsam kroch er die oft rauen, manchmal durch einen moosartigen Bewuchs auch watteweichen Felsen hinauf und hinab wobei er der gischtigen See auswich. Jetzt wurden die Felsplatten größer und das Gehen daher einfacher, wenngleich die Steine nass waren; es musste am Vortag geregnet haben. Im Meer, dicht unter der Oberfläche, folgte ihm ein mannsgroßer Schatten. Nun verharrte das Ungetüm, zwei Augen erhoben sich an langen fadenfeinen Tentakeln in die Höhe und gönnten sich einen asynchronen, periskopartigen Rundblick. Dann fokussierten sie ihn; sie zwinkerten, schließlich versanken sie wieder im Meer. Die See war glasklar; näher zum Strand sah man bis zum Untergrund, auf dem das Wellenspiel Lichtmuster zauberte.
Weit vor sich erkannte er eine einsame Gestalt, die auf einem Felsen hockte und auf die unruhigen Wellen hinaus blickte; ein junger Mann. Wenn der Wind durch seine fast glatten, blonden Haare fuhr, vermeinte er ein silbernes Aufblitzen zu erkennen; aber das mochte Einbildung sein, genährt durch eine Wunschvorstellung. Der junge Mann war breitschultrig, mehr sehnig als muskulös, schlank mit langen Gliedmaßen und von der Sonne Wägans tief braun gebrannt. Bekleidet war er nur mit einer kurzen Hose. Die Arme hatte er um seine Knie geschlungen. Er schien den Wanderer nicht zu bemerken, denn er starrte weiterhin auf die unendliche See.
Weil der Mann seine Aufmerksamkeit erregen wollte, setzte er seinen Stock bei jedem Schritt kraftvoll auf, sodass sein Weg von einem klackenden Geräusch begleitet wurde. Schließlich stand er neben dem Jungen. „Hallo! Kannst du mir sagen, wo ich Anteia finde?“ Er reagierte nicht, daher begann er sie zu beschreiben. „ Sie ist eine Frau von einem anderen Planeten. Etwa einen Kopf kleiner als ich, sehr schlank …“ Er zögerte kurz, „Zumindest war sie das einmal. Und wenn sich die Sonne in ihrem Haar fängt, schillert es in allen Regenbogenfarben.“ Er bewegte seine Linke um seinen Kopf herum, um das Gesagte zu unterstreichen. Der Mann wartete auf irgendeine Reaktion des Jungen, aber es kam keine; er blickte weiter unverwandt gerade aus und zuckte mir keiner Wimper. Nach einer Weile ging der Mann langsam weiter. Als er vielleicht zwanzig Schritte weit gekommen war, hörte er doch undeutlich etwas, das sich wie „du bist Hephaistos“ anhörte. Er drehte sich zu dem Jungen um und rief: „Was? Was hast du gesagt?“
Der junge Mann musterte ihn jetzt, stahlblaue Augen blickten ihn an. Er antwortete: „Du bist Hephaistos!“
Der Wanderer ging zurück. „Und wie heißt du?“
„Gjefren SoErgen.“ Der Wanderer nickte.
„Dann bist du der Sohn Tjonres und Anteias. Gjefren, du hast recht, man nannte mich früher einmal Hephaistos, einen Gott, doch jetzt nicht mehr. Ich muss mit deinen Eltern sprechen. Führst du mich zu ihnen?“
Gjefren erhob sich elegant und ging vom Strand weg, auf einen schmalen Pfad zu, der durch die buschige und für Wägan typische schraubige Vegetation führte. Der ehemalige Gott hatte ihn übersehen und, selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, hätte er ihm misstraut.
„Was war das für ein Ungetüm, das mir gefolgt ist?“, fragte er.
„Ein Quadrabbler. Die sind ziemlich neugierig aber harmlos, allerdings bei der Ernte oft lästig.“
Der Pfad führte weiter den Strand entlang, war aber leichter zu gehen als der Weg über die Felsen. Bald schon erreichten sie ein stattliches Anwesen, das von Bäumen umgeben war und daher vom Meer aus nicht gesehen werden konnte, trotz der leuchtend weißen Wände. Die Terassentür, die zur gewaltigen Lagune hin orientiert war, war offen. Warum auch nicht? Unerwarteter Besuch war hier sicherlich selten. Gjefren blickte kurz hinein und wandte sich dann um.
„Meine Mutter wird hinten in der Kühlhalle sein. Morgen sollen die Sirenenfrüchte abgeholt werden, die für den interplanetaren Handel vorgesehen sind und sie kümmert sich um die Logistik.“ Er eilte weiter nach hinten und der einstige Gott humpelte nach. Jetzt erkannte er, dass das Anwesen weit größer war als man von dem Pfad aus hätte erkennen können. Hinter dem beeindruckenden Herrenhaus lag noch ein weiteres geräumiges Gebäude mit einem Tor, das groß genug war, dass ein Gleiter hindurch schweben konnte. Gjefren lotste ihn aber durch eine kleine Tür daneben. Sobald er die Halle betrat, sank die Temperatur um mindestens zwanzig Grad. Er fröstelte, der Junge schien hingegen unbeeindruckt. Sie war hell, weil die Decke großteils transparent war. Dicht an dicht standen Regale, fast wie in einer Bibliothek, aber sie enthielten keine Bücher, sondern merkwürdige, kugelige, birnenförmige oder auch länglich gekrümmte Objekte unterschiedlicher Farbe. Die Dinger waren sortiert.
Gjefren deutete auf sie und erklärte: „Sirenenfrüchte. In unserer Lagune gibt es acht verschiedene Sirenenarten mit sehr unterschiedlichen Früchten, nicht nur was das Aussehen betrifft, sondern auch den Geschmack und die Eignung für allerlei Zubereitungsarten. Manche werden roh gegessen, andere müssen vor dem Verzehr gekocht werden, bei manchen ist das Innere weich, bei anderen sehr hart und so weiter. Aber alle schützen vor Krebs und deshalb sind sie interplanetar so begehrt, insbesondere auf Planeten, die von der Terranorm deutlich abweichen, denn dort ist Krebs sehr viel häufiger, Hautkrebs, Lungenkrebs, Magenkrebs, je nachdem wie die Lebensbedingungen sind. Manche Planeten sind für Menschen nur dank unserer Früchte besiedelbar.“ Ein gewisser Stolz schwang in seiner Stimme mit, aber auch Sehnsucht nach den fernen Planeten.
Hinter einem Regal trat plötzlich eine grazile Gestalt hervor; ein feingliedriges Mädchen, hätte er gedacht, wüsste er es nicht besser. In ihrem schwarzen Haar tanzte ein Regenbogen, ihre großen, dunklen Augen waren auf den Fremden gerichtet – zuerst wirkte sie ein wenig erschrocken, dann nur noch verblüfft und schließlich erschien ein strahlendes, bezauberndes Lächeln.
„Hephaistos“, rief sie und lief leichtfüßig zu dem Mann. Der abermals den Eindruck hatte, ein junges Mädchen käme auf ihn zu. Sie schlang stürmisch ihre schlanken Arme um seinen Hals und brachte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht, weil er von dieser Geste überrascht worden war. Er hatte auf einen freundlichen Empfang gehofft, aber nicht mit dieser Begeisterung gerechnet. Er lachte.
„Gemach, mein Kind, gemach. Ich bin ein alter Mann. Und auch kein Gott mehr. Es wäre mir lieber, du würdest mich bei meinem Geburtsnamen nennen: Sarpedon.“ Anteia ließ sich nicht beirren.
„Und ich bin kein Kind mehr! Wie kommst du hierher? Ich dachte es gibt keinen Weg von Historia in die Föderation! Egal. Komm erst mal mit ins Haus, ich glaube, es gibt eine Menge zu erzählen und du hast sicher Hunger und Durst.“
Als sie das Herrenhaus betraten und die große Glastür öffneten, brandete eine Lärmwelle auf ihn zu, die ihn überraschte.
„Ein Überfall?“, fragte er verunsichert seine entzückende Begleiterin, die darauf hin herzlich lachte.
„Oh nein! Bloß das ganz normale Getöse, das eine kleine Großfamilie so mit sich bringt.“
Beim Betreten der Küche erblickte er Tjonre, der ihm den Rücken zuwandte und gerade von einem etwa achtjährigen Jungen attackiert wurde. Er versuchte ihm gleichzeitig auf das Schienbein zu treten und in den Magen zu boxen. Währenddessen machte Tjonre einige wenig originelle Scherze, was das älteste, brünette Mädchen im Raum veranlasste zu grinsen. Vielleicht amüsierte sie sich auch nicht über den schalen Scherz, sondern über Tjonre selbst, er war sich da nicht so sicher. Am Tisch saß ein jüngeres, blondes Mädchen und sang stereotyp eine Zeile des letzten Sommerhits: "♪Mein Badeg’wand kriegt keinen Sonnenbrand♪“. Kaum dass sie den Raum betreten hatten, stürzte sich ein weiteres, dunkelhaariges Mädchen auf Gjefren und fing einen Disput mit ihm an, dem nur ein Eingeweihter folgen konnte. Anteia und ihr Begleiter wurden vollständig ignoriert.
„Ruheee!“, schrie sie, woraufhin es tatsächlich etwas leiser wurde. Tjonre drehte sich um und erkannte den Fremden.
„Hephaistos!“ Er ging auf ihn zu, gab ihm die Hand. „Jetzt kann ich dir endlich dafür danken, dass du Elri, also meine Frau Anteia, beschützt hast. Aber wie kommst du hierher? Weiß die Föderation endlich, wie man nach Historia kommt?“
„Kinder, das ist euer Onkel Sarpedon vom Planeten Historia“, bemühte sich Elri die Aufmerksamkeit der Horde auf den Besucher zu lenken. Pflichtschuldigst begrüßten sie ihn durch Händeschütteln, dann brandete der Lärm erneut auf.
„Nisaya!“, wandte sich Elri an das dunkelhaarige Mädchen, deren Haare ebenso funkelten und glitzerten wie die ihrer Mutter, „deine Geschichtsstunde beginnt gleich! Ab in den Holoraum.“ Nisaya zog eine Grimasse, verschwand dann aber in einem angrenzenden Zimmer.
„Thamga, Ihmga, wolltet ihr nicht zur Lagune und noch ein paar Sirenenfrüchte fischen? Und nehmt Djamig mit! Euer Bruder braucht Bewegung!“ Nachdem die beiden Mädchen den Fremden noch einmal skeptisch beäugt hatten, verließen sie zusammen mit dem blonden Achtjährigen die Küche.
***
Missmutig betrat Nisaya den Holoraum und schnappte sich die Fernbedienung. Die Klasse war bereits versammelt und begrüßte sie mit Gejohle. Sie ging zu ihrem Platz hin, als sie sah, dass ein Junge ihr die Zunge zeigte. Giftig blickte sie ihn an, dann richtete sie die Fernbedienung wie ein Waffe auf ihn: „Zapp!“ und weg war er. Beim Weitergehen trat sie absichtlich durch einen anderen Mitschüler durch, was dieser mit einem Wutschrei quittierte.
„Lass das, du weißt genau, ich kann das nicht leiden!“
Wenn er auf eine Entschuldigung von ihr harrte, konnte er lange warten. Sie sah ihn übermütig an, dann richtete sie die Fernbedienung auch auf ihn: „Zipp!“, wieder einer weniger.
Das erboste ein Mädchen mit roten Zöpfen: „Nisaya! Du kannst doch nicht immer ...“
„Doch kann ich!“ Eigentlich gingen ihr die alle auf die Nerven. „Zappzappzappzapp...“ Und schon stand sie allein im Raum. Wie wohltuend. Doch leider währte das Vergnügen nicht lange; die Lehrerin visualisierte sich, eine streng blickende, dickliche Frau, mit kurzen dunkeln Haaren. Wie gerne hätte Nisaya auch sie weggezippt, den wogenden Busen, den wabbelnden Bauch, aber das ging leider nicht.
Einen Augenblick lang dachte sie nach; sie musste eine Entscheidung treffen, die ihr eine Menge Scherereien einbringen konnte. ‚Was soll’s?’, dachte sie. Während die Dicke mit monotoner Stimme vor sich hin brabbelte, wobei gleichzeitig im Hintergrund erläuternde Szenen zur Gründung der Föderation abliefen, stand Nisaya auf und wollte sich hinausstehlen.
„Nisaya, bleib stehen!“ Die schneidende Stimme war unverkennbar, sie nervte das Mädchen nun schon seit Jahren.
„Tut mir leid, das geht nicht. Da draußen geht etwas wirklich Wichtiges vor sich.“
„Bestimmt nicht so wichtig wie dein Geschichtsunterricht!“
„Ja, genau, um Geschichte geht’s. Da draußen passiert sie gerade! Später können sie sie mir dann beibringen. In hundert Jahren oder so...“
„Das ist unglaublich. Deine Eltern werden davon erfahren!“
‚Aber sicher nicht, bevor der Unterricht vorbei ist’, dachte Nisaya, öffnete die Tür und verließ hastig den Raum, gejagt von weiterem Gekeife der Lehrerin. Endlich war die Tür wieder zu. Sie ging in Richtung Bibliothek, weil sie dort Stimmen hörte. Die Erwachsenen hatten sich dorthin zurückgezogen, wie sie das oft taten, denn beide Eltern lasen gern und eine Wand des Raumes sah wirklich so aus wie die einer antiken Bibliothek, mit Regalen und Buchrücken. Alles natürlich nur Attrappe. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er einmal eine richtige, alte Bibliothek besessen hatte, auf einem anderen Planeten namens Ivarn. Mit richtigen Büchern, ganz primitiv. Nisaya glaubte ihm kein Wort. Die Großen wollten sich nur wichtig machen. Aber das Erscheinen des Fremden, der angeblich ihr Onkel war, – und wegen der schillernden Haare mochte da was dran sein – hatte ihrer Überzeugung, dass sie bloß Aufschneider waren, einen Dämpfer versetzt. Die Sache war zu interessant, um sie zu verpassen. Sie stand nun hinter einem Türrahmen und konnte erkennen, dass sie nicht die Einzige war, die lauschte. Beim anderen Eingang zur Bibliothek erhaschte sie kurz einen Blick auf ihren großen Bruder. Sie hoffte, dass er sie nicht gesehen hatte oder wenigstens erst petzen ging, wenn alles Spannende besprochen worden war. Trotzdem wunderte sie sich ein wenig über ihn. Lauschen und solche Sachen waren sonst nicht seine Art.
„Ich würde dir jetzt gerne ein Glas eures Weins anbieten“, sagte ihr Vater gerade, „aber da ihr ihn lieber für euch behaltet kann ich das nicht. Nijem-Wein habe ich leider auch nicht. Ich hatte mal einen Weinbaubetrieb! Und die Piraten haben den Wein auch in die Föderation geschmuggelt und das tun sie immer noch. Aber das ist illegal und außerdem sind wir sowieso nicht reich genug, um uns das leisten zu können. Trotzdem; ein wenig hat mich schon die Wehmut gepackt als vor zwei Jahren ein Handelspartner einen Nijem kredenzt hat – nach einem für ihn besonders günstigen Abschluss. Na ja, unser Globalgetränk ist auch nicht so schlecht: Kelwe, wird aus vergorenem Sirenenfruchtsaft hergestellt. Ist allerdings nicht jedermanns Sache.“ Dabei blickte er zu Elri, die ein wenig den Mund verzog. Er leerte ein wenig von einer dunklen, schwarzbräunlichtrüben Flüssigkeit aus einer verzierten Karaffe in zwei erlesene, für Wägan typische, leicht grünstichige Gläser, schob das eine seinem Gast zu, der es in seine große Hand nahm und ergriff selbst das andere. Sie prosteten sich zu und tranken. Nun war es an Sarpedon, den Mund zu verziehen. Das Gesöff schmeckte säuerlich-bitter-adstringierend.
„Es ist gewöhnungsbedürftig.“
Tjonre seufzte. „Das hat Elri auch gesagt, als sie es das erste Mal probiert hat. Gewöhnt hat sie sich allerdings nie daran. Ich muss zugeben, wir schaffen es nicht, das Zeug zu exportieren.“ Sarpedon nahm noch einen Schluck.
„Jedenfalls enthält es Alkohol und das brauche ich jetzt.“ Nun beteiligte sich Elri am Gespräch, was Nisaya sehr begrüßte. Das Thema „Kelwe“ langweilte sie.
„Vielen Dank noch mal für die Götterrüstung, sie hat mir das Leben gerettet. Reja wollte mich umbringen.“
„Ich dachte, sie wäre deine Freundin, sonst hätte ich ihr nicht gesagt, wo sie dich findet. Warum hast du mir nicht gesagt, wie die Dinge zwischen euch standen?“
„Ich wollte nicht schlecht über jemanden reden und ich habe eigentlich nicht angenommen, dass ich sie jemals wiedersehe.“
Sarpedon nickte bedächtig sein Haupt. „Ich war allerdings auch überrascht zu hören, dass Zeus ihr den Zugang zu ihrer Fähre gestattet hat.“
„Oh, sie kann sehr überzeugend sein“, meinte Tjonre, „sie erreicht das durch Körpereinsatz.“ Und mit einem Blick zu Elri: „Was ich allerdings nicht aus eigener Erfahrung weiß.“ Elri lächelte. Sie neigte überhaupt nicht zu Eifersucht, Tjonre gab ihr aber auch keinen Grund dazu. „Wie ist es mit Reja eigentlich weitergegangen? Hat sie einen Weg gefunden, nach Ivarn zurückzukehren?“
„Nein. Soviel ich gehört habe, hat sie zwar Kontakt mit ihrem Cousin Ephram aufnehmen dürfen, doch der hat sich auf Historia nicht mehr blicken lassen. Jedenfalls war sie Aphrodite ein Dorn im Auge. Sie wollte ihren Tod, doch die Götter haben sich für eine Verbannung ausgesprochen, wohl auch, um einem Streit mit Ephram aus dem Weg zu gehen. Damals war noch nicht klar, dass Ephram den Kontakt zu Historia beendet hatte. Reja wurde auf einen anderen Kontinent gebracht, auf dem Achaischen Kontinent wollte Aphrodite sie nicht länger dulden. Paieon hat dann dafür gesorgt, dass wir sie los geworden sind.“ Er lachte. „Kurz vorher hat ihm jemand einen Dolch durch die Hand gerammt. Das war ein ziemlicher Schock für ihn, aber leider kein heilsamer. Er ist das Ekel geblieben, das er immer schon war.“
„Paieon?“ Tjonre schüttelte sich. „Das muss der Gott sein, der mich umbringen wollte. Ich habe heute noch eine Narbe an der Seite, ein nettes Andenken an unsere kurze Begegnung. Granoc war das mit dem Dolch, einer meiner Begleiter.“
„Du scheinst diesen Paieon nicht besonders zu mögen“, stellte Elri fest. Sarpedon nahm noch einen Schluck Kelwe, nachdem Tjonre ihm nachgeschenkt hatte.
„Du sagst es, Anteia. Wir waren nie besonders gut aufeinander zu sprechen und dass ich euch geholfen habe, scheint ihm nicht besonders gefallen zu haben. Er hat mir ziemliche Vorhaltungen deswegen gemacht, damals, aber ich habe dem keine besondere Bedeutung beigemessen, denn die meisten Götter waren wütend auf mich. Ich wiederum war wütend auf Reja, nachdem mein Avatar auf Lemnos mir erzählt hatte, was geschehen war. Wie auch immer. Paieon ist jedenfalls der Grund, warum ich jetzt hier bin.“
„Inwieweit?“, wollte Tjonre wissen.
„Die Person, die ihr als Zeus kennen gelernt habt, ist gestorben. Ich nehme an, es war ein natürlicher Tod, er war alt. Im letzten Jahr hat sich sein Äußeres sehr verändert, er hat ausgesehen wie der Neunzigjährige, der er ja war. Auch uns bleibt das Altern nicht erspart, es beginnt nur sehr spät und verläuft dann äußerst rasch.“ Er blickte zu Elri, die das ungerührt zur Kenntnis nahm. Sie hatte ja auch wirklich noch keinen Grund sich Sorgen zu machen, die nächsten fünfzig Jahre oder auch länger würde sie aussehen wie eine Zwanzigjährige. Tjonre hingegen hatte jene Falten und Fältchen im Gesicht, die ein Mittvierziger nun einmal hatte. Immerhin waren es keine Falten des Grams, sondern Denkerfalten und Lachfältchen. Elri war diplomatisch genug ihm zu versichern, dass ihm die Runzeln ein interessanteres Aussehen verliehen. Er war aber hinreichend intelligent, das nicht zu glauben.
Sarpedon schmunzelte. „Macht euer immer größer werdender scheinbarer Altersunterschied Probleme?“
Tjonre grinste. „Na ja, wenn wir in Neustadt spazieren gehen, engumschlungen und küssend, gibt’s schon finstere Blicke und gelegentlich sogar eine Bemerkung wie: ‚Der Alte muss aber reich sein, das er sich so ein junges Ding fangen konnte‘. Meist sind das neidische junge Männer, die Elri selbst gerne für sich haben wollten. Und wenn wir alle gemeinsam irgendwohin gehen, die ganze Familie, dann macht man mir Komplimente zu meinen hübschen Töchtern und fragt, wo ich denn meine Frau gelassen habe, warum sie nicht mitgekommen ist und so.“
Elri ergänzte: „Gelegentlich baggert mich ein Neunzehnjähriger an und ich muss ihm dann klar machen, dass ich meinen dreißigsten Geburtstag schon eine Weile hinter mir gelassen habe.“ Sie schmunzelten. Nach einer kurzen Pause setzte Tjonre das Gespräch fort.
„Zeus ist also gestorben. Ich mochte ihn ehrlich gesagt nicht besonders. Ich glaube, er war an dem Mordversuch an Raft und mir beteiligt, auch wenn er wohl von Ares und Helios ausgeheckt wurde. Wie auch immer. Wieso bringt Zeus Tod dich hierher und was hat Paieon damit zu tun?“
„Über die Jahre hat Paieon sich bei den anderen Göttern beliebt gemacht. Natürlich war er auch als Arzt überaus wichtig. Die Rolle des Zeus ist sehr begehrt und schon zu Lebzeiten des alten Zeus wurde beschlossen, wer sie bekommt, nämlich Paieon, der eigentlich Epistor heißt. Nun, für mich hatte das fatale Konsequenzen. Ich war nie beliebt bei den anderen Göttern, aber doch toleriert. Ich habe ihnen wohl zu oft einen Spiegel vor ihr Gesicht gehalten und ihnen gezeigt, wie dumm, borniert und unfähig sie eigentlich sind. Kaum waren die Ernennungsfeiern für Zeus beendet, wurde beschlossen, nicht nur die Rolle des Götterarztes, sondern auch die des Schmieds der Götter neu zu besetzen. Die Konservativeren waren anfangs dagegen, aber Epistor kam mit einigen Präzedenzfällen. Gelegentlich wurde bereits früher eine Rollenumbesetzung durchgeführt, bevor der aktuelle Träger der Rolle gestorben war. Der ehemalige Inhaber wurde dann aus dem Olymp verbannt. Genau dieses Schicksal war auch für mich vorgesehen und hat mich schließlich getroffen. Das Einzigartige war allerdings, dass ich nicht nur den Olymp, sondern gleich den Planeten verlassen musste. Davor waren bereits seit Generationen die alten interstellaren Schiffe nicht mehr verwendet worden. Ich frage mich natürlich: warum jetzt? Epistor argumentierte mit meiner Gefährlichkeit. Natürlich hätte er mich auch töten können, aber die Götter töten einander nicht, der Gedanke an die Sterblichkeit ist zu schrecklich für sie. Wenn ein anderer Gott getötet werden kann, dann vielleicht auch sie. Aber da steckt noch mehr dahinter. Ich glaube, dass Epistor auf diese Weise die Raumtauglichkeit der alten Schiffe testen wollte. Er hat nicht diese beschränkte Sicht auf Gaia, sein Ehrgeiz geht irgendwie weiter. Das war ja schon früher so, als er mit diesem Sandarken irgendwelche finsteren Pläne geschmiedet hat. Man müsste wissen, was er damals vor hatte.“ Weder Elri noch Tjonre erinnerten sich gerne an den düsteren Riesen mit den unmenschlichen Kräften, der Elris Eltern ermordet hatte und schließlich von ihr in Notwehr getötet worden war, wobei sie Tjonre und seine Begleiter gerettet hatte. „Wisst ihr etwas darüber?“
„Eine meiner Begleiterinnen, das Tanzmädchen Yasiwi, wurde von drei Grauen Menschenaffen entführt, die irgendwie Paieons Kreaturen waren. Sie hatten übermenschliche Kräfte und ein Gebiss, das mir heute noch Angst einjagt, wenn ich daran denke“, antwortete Tjonre. Er schauderte.
„Wozu wurde sie entführt?“, wollte Sarpedon wissen.
„Das weiß ich nicht. Vielleicht weiß es Yasiwi; ich bin damals nicht mehr dazu gekommen, sie zu fragen. Gleich nach unserer Rettung durch Elri – sie ist mit Reja’s Fähre gekommen, hat ein Loch in die Mauer der Festung des Sandarken gesprengt und ihn anschließend erledigt,“, bei diesen Worten lächelte er ihr zu, „ist unsere Gruppe auseinandergegangen. Granoc der Kimerier und Yasiwi sind gemeinsam zu einer Stadt nahe der Schwarzen Berge zurückgekehrt, während wir zusammen mit einem Einheimischen namens Gorm mit der Fähre dorthin geflogen sind. Wir haben dann Yasiwi nie wieder gesehen.“
„Und über die Grauen Menschenaffen? Was weißt du über die?“
Tjonre dachte kurz nach. „Irgendwer hat mir erzählt, ich glaube es war der Kimerier, dass es sich bei ihnen um zurückgebildete Menschen handelt. Bei ihnen ist die Evolution sozusagen rückwärts gelaufen, nur unglaublich schnell, in wenigen Generationen oder bloß in einer. Jedenfalls waren sie Paieons Diener. Einen hat Granoc erledigt, einen anderen Gorm. Der dritte könnte sogar noch leben, wenn diese Affen eine so lange Lebenspanne haben, ich weiß nicht.“
Sarpedon grübelte eine Weile. „Es wäre sehr interessant, dass Genom solch eines Affen zu untersuchen. Wenn es sich tatsächlich um veränderte Menschen handelt, könnte Epistor etwas damit zu tun haben. Dann hat er Versuche an Menschen durchgeführt und dieses Tanzmädchen wäre sein nächstes Opfer geworden. Aber wozu? Falls so ein kranker Mensch überhaupt ein ‚wozu’ braucht. Dieser Perversling hat das vielleicht nur zum Spaß gemacht.“
„Vielleicht hat es irgendetwas mit dem zu tun, was Kostral vor hatte“, meinte Elri. „Du musst wissen, dass Kostral meinen Vater damit beauftragt hatte, eine untergegangene Zivilisation auf einem Planeten im Heimatsystem der Sandarken zu untersuchen, nicht auf dem Ursprungsplaneten der Sandarken, Arkeen, aber entweder der nächstäußere oder der nächstinnere, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Das Ergebnis seiner Untersuchungen hat den Sandarken gar nicht gefallen, es hat ihre Ursprungsmythen und ihren Glauben, allen anderen Lebensformen prinzipiell überlegen zu sein, widersprochen und war damit sozusagen ein Sakrileg. Offenbar wären die Sandarken ohne die andere Lebensform nie entstanden.“
Sarpedon schwieg eine Weile, dann sagte er: „Man müsste wissen, wie diese Kreaturen denken. Vielleicht könnte man dann verstehen, was Paieon da getrieben hat. Geht es vielleicht um irgendeine Form der Rache an der gesamten Menschheit? Aber warum macht Epistor dann weiter, auch nachdem der Sandarke bereits gestorben ist?“
„Vielleicht machen wir uns zu viele Sorgen, möglicherweise will er ja nur in eine Handelsbeziehung zu den Piraten oder sogar mit der Föderation treten, wer weiß? Er könnte ja zum Beispiel einen großen Weinhandel aufziehen.“
Sarpedon lachte. „Das würdest du tun! Aber glaube mir, Epistor funktioniert anders. Wenn er den Planeten verlassen will, dann ist er eine Bedrohung für den Rest der Galaxis.“
Tjonre war nur teilweise geneigt ihm zuzustimmen. „Hm, ganz normal ist er wirklich nicht. Wer wüsste das besser als ich? Aber gegen die Föderation? Wie sollte er gegen die ankommen?“
Nachdem sie kurz geschwiegen hatten, meinte Sarpedon: „Apropos Weinhandel. In dem Boot, mit dem ich gekommen bin, liegt ein Seesack, in dem sich einige Amphoren mit Wein befinden. Die könnten wir später leeren.“
„Schmeckt dir Kelwe nicht?“, wollte Tjonre wissen.
„Na ja …“ Sie lachten und Elri blickte ihn ahnungsvoll an. Schließlich fand sie, dass es an der Zeit war, die fundamentale Frage zu stellen. Sie kannte ihren Onkel gut genug um zu wissen, dass er nicht nur einen Höflichkeitsbesuch gemacht hatte.
„Was hast du jetzt vor?“
Er kratzte sich kurz am Bart, dann antwortete er: „Ich muss zurück nach Gaia! Das ist nicht so leicht, wie ihr vielleicht glaubt. Man hatte mir freigestellt, wo in der Föderation ich wieder real werden wollte. Ich habe mich natürlich für dieses System entschieden. Immerhin seid ihr meine einzigen Verwandten innerhalb der Magellanschen Föderation. Epistor hat den Schiffsavatar dann dahingehend programmiert, dass dieser die Adresse von Gaia löschte, sobald ich in eurem Sonnensystem angekommen war. Und zwar auf eine Weise, die es mir unmöglich macht, die Information wieder zu rekonstruieren.“ Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: „Die Götter wissen nichts von deinem Medaillon, Elri, oder, falls du es ihnen je gesagt hast, haben sie es wieder vergessen. Wäre es anders, sie hätten nicht zugelassen, dass ich Kontakt zu euch aufnehmen kann. Nach eurer Flucht waren sie natürlich besorgt, dass ihr Geheimnis keines mehr ist, doch Reja hat ihnen versichert, dass sie mit Ephrams Hilfe das Raumschiff, in dem ihr euch damals befandet, verschwinden lassen kann. Sie hatte wohl mit etwas Dankbarkeit von Seiten der Götter gerechnet. Nun ja, da wurde sie enttäuscht. Wie auch immer, die Position von Gaia blieb der Föderation offenbar unbekannt und daher nahm schließlich auch ich an, dass es Ephram OrPhon tatsächlich gelungen war, das Schiff zu zerstören. Ich war natürlich zutiefst betrübt, da ich euch tot wähnte. Ganz habe ich die Hoffnung aber nie aufgegeben, sonst wäre ich nicht hierhergekommen.“
„Ephram konnte nur die Information zerstören, wie man nach Historia kommt, nicht aber das Schiff“, erklärte Elri, „das ist der Grund, warum die Föderation den Weg nach Historia nach wie vor nicht kennt.“
Sarpedons Mimik verriet Hoffnung. „Aber das Medaillon? Habt ihr das noch? Es würde mir den Weg weisen! Ich weiß, es bedeutet dir viel, aber könntet ihr es mir trotzdem geben?“
Elri blickte ihn betrübt an. „Wir haben es leider im Meer verloren, gleich nachdem wir gelandet sind. Die Patrouille ließ es mit Metalldetektoren suchen, sie tauchten bis in fünfzig Meter Tiefe, aber vergebens.“ Sie schüttelte unglücklich den Kopf.
In diesem Moment visualisierte sich Sarjon, der Avatar des Hauses. Er erschien als Mann in Tjonres Alter, groß aber nicht zu schlank, mit blondem, welligem Haar und einem etwas dunkleren, sorgfältig gestutzten Vollbart. Eine breite, blaue Schärpe hielt seinen Leibrock zusammen. Die ganze Erscheinung erinnerte Tjonre nunmehr seit fast zwanzig Jahren frappierend an Franak, seinen ehemaligen Widersacher im Streit um Elvinia – die inzwischen seinen älteren Bruder geehelicht hatte – und früheren Besitzer der Farm. Gern hätte er Sarjons Aussehen geändert und durch jenes von Talira ersetzt, den schlanken sehr femininen und sehr bissigen Vampir mit den langen blonden Haaren und den großen Augen mit geschlitzter Pupille und den blutroten Lippen, wagte dies aber nicht, in Hinblick auf Elri. Sie hatte Talira stets etwas einschüchternd empfunden.
„Was gibt es, Sarjon?“
„Zum einen wollte ich euch darüber informieren, dass ein Sturm aufzieht. Er soll in etwa einer halben Stunde hier sein. Zum anderen möchte dich eine Lehrerin sprechen.“ Er sah dabei Elri an, die sehr blass wurde und dann schrie:
„Nisaaaya, wo bist du? Komm beichten! Was hast du getan? Wieder einmal.“ Nisaya hütete sich zu erscheinen. „Ist es die Mathelehrerin? Oh Galaxis, hoffentlich nicht.“
„Nein, Geschichte“, antwortete der Avatar.
„Oh Tjonre, könntest diesmal nicht du ...“ Elris Stimme hatte einen flehenden Unterton angenommen. Auf Tjonres Stirn bildeten sich erstaunlich rasch Schweißperlen. Es handelte sich um kalten Angstschweiß. Er zuckte mit den Achseln.
„Ich habe die nötige Ausbildung nicht.“
„Welche Ausbildung meint er?“, wandte sich Sarpedon an Elri.
„Meine Zeit als Sklavin“, erklärte sie, „Dabei stimmt das gar nicht. Soviel kriechen und buckeln musste ich damals kaum jemals!“ Sie seufzte. „Also bleibt das wieder einmal an mir hängen.“
„Bevor du mit ihr sprichst“, warf Tjonre ein, „müssen wir uns um dein Boot oder deinen Gleiter kümmern, Sarpedon. Wir sollten das Ding weiter den Strand hinauf ziehen.“
„Ich bin nicht bei eurem Strand gelandet, sondern in einer Bucht etwas weiter nördlich“, korrigierte Sarpedon.
„Dann haben wir noch weniger Zeit! Unwetter kommen hier sehr rasch. Ich werde Gjefren bitten es zu holen.“ Tjonre rief seinen älteren Sohn, der erstaunlich schnell zur Stelle war und erklärte ihm die Situation, dann begann er wieder über das Medaillon zu sprechen. „Wie gesagt, sie haben die ganze Küste hier abgesucht, bis in ziemliche Tiefen, aber nichts gefunden.“
„Es gab damals Sturm, wie du mir erzählt hast, vielleicht hätten sie nicht so weit unten, sondern eher in den Gezeitentümpeln weiter oben suchen sollen.“ Während Gjefren das sagte, blickte er Sarpedon intensiv in die Augen. Der Fremde verstand. Tjonre hingegen dachte an das Unwetter und Elri an die Lehrerin, sodass ihnen nichts Eigenartiges an Gjefrens Bemerkung auffiel.
„Bitte beeile dich“, meinte Tjonre an seinen Sohn gewandt, der daraufhin den Raum rasch verließ.
***
Sie hatten sich durch dichtes, dorniges Hartlaubbuschwerk gekämpft und der Durst war ihr ständiger Begleiter gewesen, doch das war jetzt vorbei. Als sie endlich die Hügel erreicht hatten, änderte sich das Landschaftsbild drastisch, die Vegetation wurde weicher, großblättriger, weniger dicht. Mühselig war es immer noch, aber jedenfalls sicherer, als weiterhin dem Flusslauf zu folgen. Athaly bedauerte ihren Vater, der das Sklavenmädchen tragen musste – zusätzlich zu seinen Waffen und dem Wasserschlauch. Sie hatte ihm ihre Hilfe angeboten, doch davon wollte er nichts hören. Wasser gab es inzwischen jedenfalls genug; zuletzt waren sie einem trockenen Flußbett gefolgt und während sie anfangs mühselig in seinem Lauf nach der köstlichen Flüssigkeit graben hatten müssen, gab es dort später vereinzelt Lacken und schließlich sogar ein Rinnsal. Etwa zur gleichen Zeit fanden sie auch die ersten Feigenbäume, die reichlich Früchte trugen.
Das kleine Mädchen hatte immer noch nicht gesprochen. Jeden Tag trank sie gierig, wenn sie wach war, aß ein bisschen und schlief die meiste Zeit in den Armen von Athalys Vater. Doch die schwere Wunde begann zu heilen, obwohl sie immer noch vor Fieber zitterte und manchmal sogar mit den Zähnen klapperte. Gelegentlich gab sie unverständliche Laute von sich, keine Sprache, wie Athaly meinte, dann wieder schrie sie vor Panik; im Traum, wie sie rasch erkannte. Sie gingen jetzt am Tag und schliefen in der Nacht; bald wagten sie es, bei Dunkelheit ein Feuer zu entfachen, denn die Stimmen in der Finsternis erschreckten sie und sie kannte die Tiere nicht, die sie verursachten. In der Wüste war es wesentlich stiller gewesen. Manchmal hörte sie auch scharrende Geräusche ganz in der Nähe. Trotz ihrer Angst vor großen Raubtieren versuchte sie zu schlafen, auf den Schutz des kleinen Feuers vertrauend. Und sie war so müde, dass ihr das gelang, obwohl sie sich nicht wirklich sicher fühlte. Davor aber versuchte sie jeden Abend mit dem kleinen Mädchen ins Gespräch zu kommen, doch sie war verschlossen wie eine Auster. Sie streichelte ihre hellbraunen Haare, stellte Fragen über ihre Vergangenheit, ohne jemals eine Antwort zu erhalten. Dennoch wuchs die Vertrautheit und sie war sich sicher, dass das Mädchen keine Angst mehr vor ihr oder ihrem Vater hatte. Wer aber könnte auch vor ihr oder ihm Angst haben?
Ihr Pfad wurde immer steiler, trotzdem kamen sie besser voran, denn die Vegetation wurde in Bodennähe weniger dicht. Bald bewegten sie sich im Schatten von Baumriesen, die viel höher waren und dichter belaubt als jener Baum unter dem ihr Stamm sein Lager errichtet hatte, wenngleich sie weniger breit waren und deshalb nicht ganz so eindrucksvoll. Trotz der Üppigkeit des Pflanzenwuchses erschreckte sie die Fremdheit der Landschaft und sie vermeinte gelegentlich ein Geräusch wie von einem brechenden Ast hinter sich zu vernehmen. Dann blickte sie zurück, aber das dichte Gebüsch erlaubte keine weite Sicht. Wer in einigem Abstand ihren Spuren folgte, war für sie unsichtbar. Bildete sie sich das leise Krachen nur ein?
„Hörst du es auch?“, fragte sie leise ihren Vater, der vor ihr ging. Er sah zurück und nickte nur. Also keine Einbildung; sie wurden wirklich verfolgt. Athaly schluckte. Sollte sie ihre Armbrust spannen? Sie entschied sich dafür und legte einen kurzen Pfeil ein.
Stunden später querte eine schmale Schneise den Bachlauf. ‚Es könnte sich um einen kleinen Weg handeln, wie ihn die Füße von Menschen über Jahre bilden’, dachte sie. Ihr Vater blieb stehen und untersuchte den Pfad, hielt vor allem nach Fußabdrücken Ausschau. „Ist das Menschenwerk?“, wollte sie von ihm wissen.
„Ich glaube nicht“, antwortete er zögernd, „jedenfalls kann ich keine frischen Fußabdrücke finden.“
„Dann also vielleicht ein alter Weg, der inzwischen aufgegeben wurde?“
„Vielleicht, aber ich bezweifle, dass es hier überhaupt Menschen gibt. Zumindest habe ich außer dieser Schneise bislang keinen Hinweis auf sie gefunden.“
„Das ist gut für uns, nicht wahr? Wenn es Menschen gäbe, hätten sie wahrscheinlich kein Interesse daran, das Land mit neuen Siedlern zu teilen.“
Ihr Vater nickte. „Aber was hält sie von hier fern?“
„Die alten Legenden!“, antwortete sie mit so viel Überzeugung, dass sie das Gefühl hatte sich selbst zu belügen. „Aberglaube.“
„Wirklich? Und was ist mit unserem heimlichen Verfolger? Aber auch ich wünschte mir, du hättest recht. Hier gibt es so viel Nahrung und Wasser! Alles in Fülle.“ Er griff nach einer Feige und aß sie, blickte dabei aber besorgt nach hinten.
„Was sollen wir tun?“, wollte Athaly wissen. „Sollen wir dem Pfad folgen?“
Ihr Vater nickte. „Wer weiß, vielleicht werden wir dadurch unseren Verfolger los.“
Die Schneise ging sanft bergauf und war gerade breit genug, dass eine Person bequem schreiten konnte, also gingen sie wieder hintereinander. Athaly blickte immer öfter zurück, um nicht überrascht zu werden. Ihr war ziemlich unheimlich zumute. Fasziniert sah sie auf die Gänsehaut an ihren Armen. Ihr war überhaupt nicht kalt aber das Gefühl, dass ihnen Gefahr drohe, verdichtete sich immer mehr; sie konnte es beinahe angreifen. Auch ihr Vater war sehr wachsam. Das Sklavenmädchen, das er trug, behinderte ihn, sonst hätte er sicherlich den Dolch gezogen. Plötzlich blieb ihr Vater stehen.
„Was ist?“, wollte Athaly wissen.
„Da vorne ist eine Mauer. Der Pfad endet hier.“
Sie blickte an ihrem Vater vorbei. „Ein Weg, der an einer Mauer endet? Was hat das für einen Sinn?“
„Ich weiß es nicht, aber wir werden es herausfinden.“ Mit diesen Worten setzte er sich wieder in Bewegung. Schließlich standen sie vor einem hohen Bauwerk. Sie sahen nur einen dunklen, völlig glatten, steilen Wall, die etwa an die dreißig Fuß hoch sein musste. Der Blick war nur nach oben frei, links und rechts vom Pfad wuchs dichtes Buschwerk und nicht allzu hohe Bäume. „Die Wand sieht sehr robust aus, aber hier muss irgend eine Art von Eingang existieren. Sonst macht der Pfad keinen Sinn.“ Ratlos tastete ihr Vater das Hindernis ab.
„Was ist das für ein Material?“ Athaly war sich sicher, dass sie noch nie derartige Steine gesehen hatte, falls das überhaupt Steine waren, aus der diese fugenlose Umfassung gebaut worden war.
„Früher muss die Fläche um das Gemäuer frei gewesen sein; die Bäume sind nicht viel älter als fünfzehn Jahre. Im Vergleich zu den Baumriesen, die in den vergangenen Tagen unseren Weg gesäumt haben, sind sie fast lächerlich klein“, meinte ihr Vater. Athaly blickte nach oben; es stimmte. Das Laub ragte kaum über die Mauer empor. „Das ist eine Art Festung“, ergänzte er. „Den Legenden nach wohnten hier schwarze Männer aus Eisen.“
„Vielleicht tun sie das immer noch?“ Ihre Stimme zitterte bei der Vorstellung. „Dieses Gebäude ist keine Ruine und ein Weg führt hierher.“
„Stimmt“, bestätigte ihr Vater, „aber die Umgebung ist verwahrlost. Und das Material, aus dem diese Festung besteht, zerfällt wohl nicht so leicht. Ich muss irgendwie da hinein.“
„Was? Wieso?“ Athaly war jetzt sehr ängstlich.
„Weil das unsere Chance ist! Darum haben sie mich hierher geschickt, Athaly! Stell dir nur vor. Wir könnten hier leben! Hier gibt es alles im Überfluss! Wenn die Monster von hier weggezogen sind ...“ Er blickte sie mit einer ungewöhnlichen Intensität an. Da wurde ihr klar, dass sich ihr Vater um seine Familie und den Stamm große Sorgen machte, ja dass er der Verzweiflung nahe war. Er würde hier nicht aufgeben, bevor er wusste ob ihnen Gefahr drohte. Athaly hingegen fühlte sich sehr unwohl.
„Und unser Verfolger?“
„Wenn er sich nicht heran wagt, kann er auch nicht so gefährlich sein.“ Ihr Vater setzte das Mädchen ab, hob einen Stein auf und begann damit gegen die Wand zu hämmern. „Hier muss irgendwo ein Eingang sein.“
„Es klingt aber nicht hohl“, meinte sie.
„Vielleicht gehen sie hier nicht hinein, sondern hinauf.“ Links vom Weg stand ein besonders hoher Baum mit großen, herzförmigen Blättern, dessen Rinde abgegriffen aussah. Athaly blickte in seine Krone und versuchte sich vorzustellen, wie sie den Baum hinaufkletterte und sich schließlich über den Mauerrand hochzog. Sie schüttelte unbewusst ein wenig den Kopf, denn sie erkannte, dass sie das nicht schaffen würde, so beweglich sie auch war. Ihr Vater schien zu dem gleichen Schluss gekommen zu sein, denn er sagte: „Wer immer da hinauf kommt muss ein ungewöhnlich begabter Kletterer sein. Ich glaube, zur Not könnte ich das schaffen, aber um ständig diesen Weg zu verwenden, ist die Hangelei da oben zu mühselig und auch zu gefährlich. Der Abstand zwischen dem höchsten Ast und der Wand ist doch beträchtlich. Nein, ich glaube nicht, dass Menschen diesen Pfad verwenden, auch keine ehernen.“
„Wer dann?“
„Nun ... die alten Legenden sprechen auch noch von anderen Dämonen, die hier leben sollen. Von riesigen, grauen Menschenaffen, die Jungfrauen verschleppen und selbst einmal Menschen gewesen sein sollen. Derartigen Kreaturen würde es wahrscheinlich leicht fallen, den Baum zu erklimmen.“ Athaly schauderte. Worauf hatte sie sich da eingelassen? Eherne, düstere Menschen mit unglaublicher Kraft und Graue Riesenaffen! Sie würde nie wieder ruhig schlafen können, wenn sie überhaupt überlebte.
„Glaubst du, dass wir von solch einem Monster verfolgt werden?“
„Es ist jedenfalls gut, dass du einen Pfeil in deine Armbrust gelegt hast. Ich gebe dir auch noch meinen Dolch, bevor ich da hinauf klettere.“ Damit übergab er ihr die Waffe mit dem Griff voran und sie übernahm sie zögerlich. Sie wollte nicht, dass er da empor kletterte. Er zwinkerte ihr noch einmal zuversichtlich zu. Dann begann er den Baum zu erklimmen, indem er mit einem Sprung den untersten Ast umfasste, der so hoch war, dass Athaly ihn nicht hätte erreichen können. Er zog sich hinauf und kletterte schnell höher; die Zweige standen dicht genug, um mühelos weiter zu kommen. Bald war er dreißig Fuß hoch, so hoch wie der Wall, aber zu weit weg, um ihren Rand erfassen zu können. Jetzt bekam Athaly Angst.
„Vater, das geht nicht. Du bist zu weit weg, da kommst du nicht hin!“ Sie schrie es hinauf. „Siehst du etwas?“
„Ja. Das Gebäude muss gigantisch sein. Ich sehe eine Kuppel, die im Sonnenlicht schimmert. Sie ist aber ziemlich zerstört. Ich kann sie nur sehen, weil sie so weit nach oben ragt. Ich bin etwas zu tief, um über den Rand zu spähen. Gut. Ich komme runter.“ Er kletterte behände zum untersten Ast hinab und Athaly hoffte schon, er hätte von seinem Plan Abstand genommen. „Reich mir die Lanze hinauf.“
„Die Lanze?“ Er nickte. Sie ergriff das massive, elf Ellen lange Holz und reichte es ihm mit nach unten weisender Spitze. Vorsichtig kletterte er wieder ganz nach oben, legte die Lanze mit einem Ende in eine Astgabel über ihm und die Spitze ließ er auf den Mauerrand hinab; jetzt hatte er eine Brücke, die aber nicht ganz waagrecht war und daher abrutschen konnte. Athaly wurde mulmig wenn sie daran dachte, dass das genau dann passieren konnte, wenn er seine Hände nicht mehr an einem Ast aber auch noch nicht am Mauerrand hatte. Sie fühlte wie sich ihr Magen zusammenkrampfte und sie blickte mit schreckgeweiteten Augen nach oben. So weit weg. So winzig. Jetzt war der Augenblick gekommen. Ihr Vater schwang sich über den Abgrund, die Hände nur mehr auf dem Schaft der Lanze, die ihre Position beibehielt und zum Glück weder verrutschte noch durchbrach. Dann hatte er mit einer Hand die Oberkante der Mauer erreicht, den Ellbogen darauf gelegt, schließlich den Fuß eingehakt und sich bald gänzlich hochgezogen. Beide, die Lanze und er, verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Dann war es still.
„Vater?“ Niemand antwortete, nichts rührte sich, der Wald atmete Schweigen. „Vater??“ Diesmal kam die Frage lauter, ängstlicher. War er auf dem Dach gleich weitergelaufen und antwortete deswegen nicht? Dann hörte sie etwas, das wie ein Röcheln klang, danach ein Krachen als ob ein Ast brach und dann noch ein undefinierbares Geräusch, etwas, das sie noch nie gehört hatte und von dem sie – aber das wusste sie noch nicht – den Rest ihres Lebens hoffen würde, dass sie es auch nie wieder hören würde. Kurz blickte ein großer, tiefschwarzer Totenschädel mit rotglühenden Augen zu ihr hinab, dann kam ein melonengroßer Gegenstand auf sie zugeflogen und hätte sie getroffen, wäre sie nicht eilig nach hinten gewichen. Eine warme Flüssigkeit bespritzte sie. Dumpf landete das Ding vor ihren Füßen und da kam der grauenvolle Moment des Erkennens. Sie keuchte und anschließend entwich ein unmenschliches Winseln ihrer Kehle. Sie hörte einen grellen Schrei, so unglaublich laut und glaubte er käme von ihr, aber so war es nicht. Das Sklavenmädchen blickte auf das Ding, auf die aufgerissenen Augen, auf das vertraute Gesicht mit dem Ausdruck des Erstaunens, auf das Blut, das viele Blut; es klebte auch auf ihr.
„Sie sind noch da“, hörte sie sich sagen, „die Monster. Sie sind noch da.“ Und dann begann sie zu schluchzen, immer heftiger, zittriger. Sie ergriff die Hand des kleinen Mädchens. „Wir müssen weg! Schnell! Lauf! Wir müssen weg!“ Sie zerrte das Kind auf die Beine und schleifte sie nach, hielt ihre Hand in ihrer Linken und rannte mit ihr so schnell es ging, ohne zurückzublicken zu dem Schrecken, dessen sie jetzt angesichtig werden würde.
Aber das war auch gar nicht nötig, denn das Grauen harrte auch vor ihr auf sie. Mitten auf dem Pfad stand die gewaltige Kreatur in ihrem silbergrauen Pelz mit gefletschten Zähnen, mächtigen Armen mit riesigen Händen. Der Dämon aus zahlreichen Sagen, der Graue Menschenaffe. Er brüllte, richtete sich auf, trommelte mit seinen Fäusten auf der breiten Brust und dann rannte er auf allen vieren auf sie zu. Sie stellte sich vor ihre Begleiterin, hob die Armbrust, zielte und schoss, als der Affe nur noch wenige Fuß von ihr entfernt war. Die Pranke traf sie und wirbelte sie durch die Luft, bis sie mit einem Baumstamm kollidierte und schließlich verkrümmt im Laub liegen blieb. Ein grauenvoller, stechender Schmerz in ihrem linken Unterarm ließ sie nicht daran zweifeln, dass sie ernsthaft verletzt war. Dennoch richtete sie sich gleich wieder auf, denn sie hatte Angst um das kleine Mädchen. Regungslos stand es neben dem riesigen Affen, der leblos zusammengebrochen war, der Schaft des Pfeils ragte aus seinem Hals. Jetzt, wo er keine Bedrohung mehr darstellte, konnte sie sehen, dass er uralt gewesen sein musste, die zerfurchte Haut, das silbrige Haar, die trüben Augen. Wenn nicht, wenn er nur ein wenig schneller gewesen wäre oder sie besser gesehen hätte, würde sie jetzt gewiss nicht mehr leben. Prellungen von dem wuchtigen Aufprall machten jede Bewegung zur Qual, dennoch rannte sie auf ihre Begleiterin zu, ergriff sie mit der Rechten und dann liefen sie wieder los, weg von der Festung. Vor lauter Eile versäumte sie es, dem Bachlauf zu folgen, sie hasteten weiter, immer den Pfad entlang, so schnell die kleine Sklavin nur laufen konnte, denn die ehernen Menschen würden ihnen wahrscheinlich folgen. Schließlich änderte sich die Vegetation drastisch, hohe Bäume wurden seltener und eine blühende Hochebene erstreckte sich vor ihnen, erfüllt von der Farbenpracht verschiedenster Blüten und vom regen Treiben der bunten Blütenbesucher, die über die Blumen und Gräser tanzten. Gras und Kräuter wuchsen hüfthoch und über allem thronte der azurblaue Himmel. Von hier konnte sie die Festung sehen, die hohen Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln, die weite, dürre Ebene, aus der sie gekommen war. Und sie begriff plötzlich, dass der schmale Pfad dereinst eine breite Straße gewesen sein musste und die Feste ein Knotenpunkt des Lebens. Wer immer hierher kam, würde diesen Weg benutzen. Als die Bewohner keinen Kontakt zur Außenwelt mehr wollten, hatten sie begonnen, etwa da wo sie jetzt war eine deutliche Warnung zu positionieren: auf einem hohen hölzernen Pfahl hing ein Mensch, dem man die Haut abgezogen hatte, ein Toter, wie sie annahm. Aber dann ging ein qualvolles Zittern durch den Körper und Athaly brach in Tränen aus und lief abermals davon, ihre Begleiterin hinter sich her zerrend. Welch grauenvolleren Kontrast konnte es geben als an diesem so wunderschönen Ort ein derart schreckliches Verbrechen zu verüben? Athaly stellte sich immer wieder zwei Fragen: Wie wäre der heutige Tag verlaufen, wären sie nur diesen Weg hinauf gekommen? Sie ahnte, dass ihr Vater bei dem Mahnmal umgekehrt wäre, um sie und den Stamm nicht in Gefahr zu bringen. Und die zweite Frage: Was würde morgen wohl an diesem Pfahl hängen? Der Kopf ihres Vaters oder sein enthaupteter Körper? Immer wieder stellte sie sich diese Fragen, während sie weiter lief, ging, kroch, bis sie zusammenbrach.
***
Gjefren rannte den felsigen Strand entlang ohne Angst zu haben, er könne sich an den oft scharfkantigen Vorsprüngen verletzen; er war ja hier aufgewachsen, kannte jeden Fleck. Über ihm war der Himmel noch türkisfarben, doch über dem Meer färbte er sich bedrohlich schwarz und Blitzadern durchbohrten die Wolken. Gjefren folgte in geringem Abstand seine ebenso gewandte, grazile Schwester Nisaya.
„Ich weiß, was du vorhast!“, schrie sie.
„Nichts weißt du!“, brüllte er zurück.
„Glaubst du wirklich, ich weiß es nicht?“
„Was denn?“ Langsam wurde ihm seine Schwester lästig.
„Dass du es gefunden hast.“ Und nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, setzte sie triumphierend hinzu: „Das Medaillon! Ich weiß, du hast es!“
Gjefren fluchte lautstark und rannte noch schneller, in der Hoffnung sie abzuhängen. Ohne Erfolg. „Sagtest du nicht immer, dass die Alten sich nur wichtig machen wollen? Dass ihre Geschichten nichts als Märchen sind? Nun gut, du hast beim Durchstöbern meines Zimmers – dass du gefälligst nicht zu betreten hast – ein altes Medaillon gesehen, billiger Tand, was beweist das schon?“ Der Wind wurde stärker.
„Ich habe auch gehört, was Sarpedon darüber gesagt hat, nicht nur du hast gelauscht, also habe ich meine Meinung geändert! Er ist außerdem wirklich unser Verwandter. Ein Gott! Wir sind Halbgötter!“
„Bloß Viertelgötter“, konterte er.
„Egal. Du willst es ihm anbieten, dafür dass er dich mitnimmt!“
„Schwachsinn! Was sollte ich auf dem blöden Planeten?“ Die See wurde jetzt rauer, verlor ihre Spiegelglätte, kalte Böen mischten sich mit der warmen Luft.
„Ha! Glaubst du wirklich, ich weiß nicht, dass du von hier weg willst? Sehnsucht nach der Ferne!“ Er sah sie so an, wie man jemanden ansieht, für den man sich gerade eine adäquate Todesart ausdenkt. „Keine Angst, ich verrate dich nicht ...“ Nach einer Weile ergänzte sie: „Wenn du mich mitnimmst!“
Er wurde wütend. „Du spinnst! Du spinnst total! Nie und nimmer nehme ich dich mit!“ Sie waren endlich bei der kleinen Schotterbucht angekommen.
„Ha, du hast dich verraten! Es stimmt also!“
Noch wütender geworden blickte er sie an und schaute dann verblüfft das Boot an. „Was bei der Galaxis ist das?“
„Ein Boot?“, erkundigte sich Nisaya. „Ja schon, eins aus dem Museum, mit Außenbordmotor und Flüssigtreibstoff und so. Warum hat er sich keinen Gleiter genommen?“
„Du weißt doch, wie sie Außerweltler behandeln. So hat jemand mit seiner Schrottkiste noch gutes Geld gemacht. Sehr ehrlich ist das natürlich nicht ...“ Gjefren hatte den Eindruck, dass das schäbige Verhalten des Verkäufers seiner kleinen, grinsenden Schwester auch noch imponierte! Was für ein Biest sie doch war. Er löste das Seil von der Wurzel, zog das Boot ins Wasser und sprang hinein. Mit einem kühnen Sprung folgte ihm Nisaya, was er mit einem finsteren Blick quittierte. Er versuchte, den Motor zu starten. Erst beim vierten Versuch gelang es ihm. Dann tuckerten sie die Küste entlang, nicht zu nahe am Ufer, weil die Wellen inzwischen bereits bedenklich hoch waren und die See immer noch unruhiger wurde. Der Streit fiel ihm wieder ein.
„Vergiss das Ganze. Du hast keine Chance! Nicht die geringste!“
„Ah! Der Herr kehrt den Macho heraus und glaubt ich erstarre vor Furcht!“ Sie blickte jetzt grimmig, was sie ziemlich gut konnte. „DU hast keine Chance, weil ich hier der matschigste Macho bin! Klar?“ Das sah er auch so, deswegen versuchte er sich in einer neuen Taktik. Mit beruhigendem Unterton sagte er:
„Sieh doch mal. Du bist hier viel besser aufgehoben. Was willst du denn dort? Als Viertelgöttin. Dich nimmt doch keiner ernst.“
„Die Frage ist doch wohl, was ich hier soll! Mein Körper ist unbrauchbar!“ Sie hielt ihm die Hände entgegen, ganz nah ans Gesicht, sodass er fast gar nichts mehr erkennen konnte, und spreizte die Finger ganz weit. „Siehst du? Keine Schwimmhäute! Ich kann hier gar nichts machen!“
„Dafür hast du als einzige die regenbogenschimmernden Haare geerbt! Die Kerle stehen sich drauf.“
Sie verzog ihr Gesicht als ob sie auf etwas sehr Saures gebissen hätte. „Igitt! Das sind Idioten! Mit Schwimmhäuten kann man wirklich etwas anfangen!“
„Weißt du, es gibt künstliche Flossen, die kann man kaufen.“
„Es sind doch nicht nur die Schwimmhäute. Es ist einfach alles! Ich kann die Luft nicht solange anhalten wie die anderen. Mir wird bald kalt im Wasser. Meine Haut wird schrumpelig und unansehnlich, wenn ich länger tauche. Mein ganzer Körper ist einfach nicht für diese Welt geschaffen! Wie ich gesagt habe: unbrauchbar!“
Gjefren seufzte. „Und deinen Freund, willst du den einfach verlassen?“
„Freund? Welchen Freund?“
„Na, diesen Artjoli, der immer um dich herumscharwenzelt!“
„Das soll mein Freund sein? Du spinnst!“
„Was passt denn nicht mit ihm?“, fragte Gjefren ohne wirkliches Interesse.
„Hast du ihn schon mal lächeln gesehen? Weißt du wie der lächelt? Schief! Als hätte er halbseitige Gesichtslähmung! Ich nehme mir doch keinen Freund mit einem schiefen Lächeln! Einfach gruselig.“ Sie schauderte, vielleicht auch wegen der plötzlich eintretenden Kälte, denn Boreas kam, der kalte Wind. Gjefren mochte ihn, denn er war – so wie er selbst - ein Kind der Eos. Die Wellen trugen jetzt, gepeitscht vom Sturm, Schaumkronen.
Was sie über ihre körperlichen Fähigkeiten gesagt hatte, ließ sich nicht von der Hand weisen und galt größtenteils auch für ihn. Seine Tauchfähigkeiten waren ebenfalls eher bescheiden, um nicht zu sagen: erbärmlich. Die anderen Pflücker würden ihn wohl auslachen, wäre er nicht Tjonres Sohn. Selbst seine beiden anderen Schwestern stellten ihn in den Schatten.
„Hör mal“, sagte er, „ich möchte hier fort. Stimmt. Und Sarpedon wird mich mitnehmen, wenn er wirklich zu diesem Planeten will. Aber dich nimmt er bestimmt nicht mit, wenn er nur ein bisschen Freundschaft für unsere Eltern empfindet, weil du zu jung bist. Verstehst du das nicht?“ Erschrocken nahm er gleich darauf das wohlbekannte diabolische Grinsen in Nisayas Gesicht wahr.
„Er muss es ja nicht wissen, nicht wahr?“
„Du willst, dass ich ihn belüge? Ich soll dich irgendwie an Bord schmuggeln? Und wie lange willst du dort den blinden Passagier spielen?“ Nisaya bedeckte ihre Augen mit den Händen.
„So lange wie notwendig. Bis er nicht mehr zurückkehrt. Und dann ...“. Sie nahm die Hände von den Augen.
Inzwischen hatte das jämmerlich schaukelnde Boot den Schotterstrand vor dem Herrenhaus erreicht. Die Landung war nicht gerade überzeugend, denn das Boot wurde mit der Breitseite an den Strand geworfen und wäre beinahe umgekippt, aber die beiden Insassen sprangen behände auf die nassen, vom bewegten Wasser gerundeten Steine, wobei Gjefren den Seesack geschultert hatte. Gemeinsam zogen sie das kleine Schiffchen weiter an Land. Da sie ohnehin schon völlig durchnässt waren, störte sie der Wolkenbruch, der gerade einsetzte, auch nicht mehr besonders. Ein greller Blitz schlug ganz in der Nähe ein, der Donner war ohrenbetäubend und war sofort zu hören.
„Zeus tobt!“, schrie Gjefren und Nisaya antwortete:
„Wundert mich nicht!“ Sie beeilten sich ins Haus zu kommen, hinterließen Pfützen am Fußboden und Nisaya ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Gjefren beschloss, erst den Seesack abzuliefern und rutschte mehr als er ging in die Küche.
„Aber, selbst wenn du zurück könntest, wo wolltest du denn hin?“, fragte Tjonre gerade. „Im Olymp bist du alles andere als willkommen.“
„Das würde ich nicht einmal versuchen. Epistor ist gerade dabei mit altem Brauchtum zu brechen. Da ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis er schließlich auch einen Gott ..., also, einen ehemaligen, umbringt. Aber mir bleibt noch die Unterwelt, wo der starke Hades und die schreckliche Persephone regieren oder auch die Unterwasserstadt vom Erderschütterer Poseidon und seinem Sohn Triton. Ich muss herausfinden, was Epistor vorhat. Zur Festung des Sandarken, Mesawa, kann ich nicht, denn der Avatar verwehrt jedem den Zutritt. Außerdem ist gar nicht sicher, dass Epistor damals schon seine finsteren Pläne verfolgt hat. Also – irgendwelche finsteren Pläne hat er ohne Zweifel damals schon gehabt – aber ob sie mit seinen derzeitigen Absichten zusammenhängen, ist natürlich fraglich.“ Gjefren wartete, ob Elri etwas sagen würde, doch sie schwieg. Wohl einfach deshalb, weil sie nicht damit rechnete, dass Sarpedon nach Historia zurückkehren könne. Gjefren hingegen erinnerte sich sehr klar an eine Szene seiner Kindheit: Seine älteste Schwester spielte ausgelassen mit dem Schmuck ihrer Mutter, den sie Stück für Stück aus einer hölzernen Schatulle hervorzog. Elri machte sich nichts aus Schmuck, daher gab es eigentlich nicht allzu viel zu bewundern, aber für die kleine Thamga war das wenige doch sehr beeindruckend. Tjonre stand währenddessen mit dem Rücken zum Bett, auf dem die Schatulle ruhte und der kleine Gjefren saß auf seinen Schultern. Tjonre hielt seine Beine fest, Gjefren ließ sich nach hinten fallen und zog sich dann wieder hinauf: Bauchmuskeltraining, dutzende Male hintereinander. Jedes Mal kippte der Raum, er sah seine Mutter und Schwester verkehrt, dann sah er sie gar nicht mehr sondern die weiße Decke des Raumes und dann die vom Bett abgewandte Wand. Weil das ein bisschen langweilig war, hörte er genau zu.
„Oh, was ist das für ein schöner Ring!“ Thamga wirkte entzückt und nahm ihn aus der Schatulle. Er hatte einen sehr großen Stein, so groß wie ein Fingerglied, war schwarz und längs von goldenen, diffusen Adern durchzogen.
„Das“, erklärte Elri, „ist ein Ringschlüssel. Er hat mir den Zugang zu einem kleinen Raumschiff gewährt.“
„Oh, wir haben ein Raumschiff?“
„Nein, das Schiff ist schon längst weg. Aber der Ring öffnet auch noch einen ganz, ganz großen Palast!“
„Es ist eigentlich mehr eine Burg“, korrigierte Tjonre, den Gjefrens Beine um seinen Hals würgten, sodass er im Gesicht schon bedenklich rot angelaufen war. Thamga hatte noch keinen Palast gesehen und auch keine Burg und Gjefren auch nicht. Aber sie wussten, dass es sich bei beidem um ein sehr großes Gebäude handelte.
„Und wo steht der Palast?“, wollte Thamga wissen.
„In den Schwarzen Bergen auf einer waldigen Hochebene“, erläuterte Elri ihrer Tochter, „nahe einem Binnenmeer. Dort haben früher schaurige, eiserne Riesen gewohnt. Aber Papa und ich haben sie vertrieben.“
„Eigentlich war Mama das ganz alleine.“ Tjonre wollte die Lorbeeren nicht, die ihm nicht gebührten.
„Und jetzt“, fuhr Elri fort, „steht die Burg ganz verlassen da und wartet darauf, dass jemand mit dem Ringschlüssel kommt, um ihn herein zu lassen.“
„Da kann sie lange warten“, meinte Tjonre dazu. Thamga war nun sehr neugierig und Gjefren auch, dem man das allerdings nicht ansah. Das tat man nie.
„Wie hast du ganz alleine die Monster vertreiben können?“
„Deine Mutter war damals eine Göttin, Eos, die Göttin der Morgenröte. So eine Göttin wird mit ein paar Monstern mit links fertig.“ Dass ihre Mutter eine Göttin war überraschte Thamga und Gjefren nicht, denn manchmal nahm Tjonre Elri in die Arme und nannte sie „meine kleine Göttin“. Sie wirkte dabei aber nicht besonders stark.
Gjefren machte sich bemerkbar. „Der Seesack!“, verkündete er, ging triefend in den Raum und legte ihn neben Elris Onkel auf den Boden.
„Danke! Tut mir leid, dass ich dich in das Unwetter geschickt habe.“
„Auf Wägan wechselt das Wetter rasch, nass wird man sowieso ständig und ebenso rasch trocknet man dann auch wieder“, antwortete er. Sarpedon zog eine kunstvoll verzierte Amphore von der Länge eines Unterarmes hervor und entfernte den Verschluss.
„Nichts gegen euren Kelwe, aber dieser Wein ist wirklich edel.“ Tjonre holte vier neue Gläser und stellte sie neben Sarpedon zum Einschenken hin. Gjefren war also ebenfalls eingeladen, beschloss aber sich zunächst etwas Trockeneres anzuziehen.
***
König Alandro von Askhauran saß in seinem prunkvollen Thronsaal, allein, abgesehen von zwei Dienerinnen, die ihm nachschenkten, wenn sein Krug leer wurde und das war sehr oft der Fall. Der unmäßige Alkoholkonsum der letzten Jahre hatte seinen Körper und Geist aufgeweicht, kaum jemand hätte ihn noch als den entschlossenen Mann wiedererkannt, der er gewesen war, bevor er der Hexe Salomene begegnet war. Damals hatte sie Wort gehalten; wenige Tage nach ihrem Gespräch war das Königspaar tot aufgefunden worden, aber eine Ursache für den plötzlichen Tod konnte niemand an ihren makellosen Körpern erkennen. Da aber ihre Gesichter den Ausdruck namenlosen Grauens verewigten, munkelte man, sie wären gestorben als sie einer jener Kreaturen der jenseitigen Welt der Finsternis angesichtig worden waren, deren Anblick für Sterbliche unerträglich war. Ihr Ableben war die Folge schwarzer Magie, dessen war man sich gewiss, da die Wache, immerhin sechzehn Mann, nichts gesehen oder gehört hatte. Ganz sicher war niemand durch das Tor zum Schlafgemach gegangen; weder war jemand herein- noch hinausgekommen. Das hatte die Befragung der Wachleute in Anwesenheit des Kanzlers noch am selben Tag erbracht. Bereits innerhalb einer Woche hatte der Kanzler im Beisein des versammelten Adels Alandro zum König ausgerufen: der König ist tot, lang lebe der König. Alandro war kaum in der Lage gewesen, die Genugtuung zu verhehlen, die ihn erfüllte. All seine Pläne waren auf- und seine Wünsche in Erfüllung gegangen. Zumindest dachte er das. Nur eins blieb noch zu tun; er musste dieses Weib los werden, das ihm zu seinem Sieg verholfen hatte und nun die Einzige war, die ihn noch zu Fall bringen konnte. Er rief sie unter dem Vorwand zu sich, ihre Zukunft als Hohepriesterin besprechen zu wollen – im Dunkel des Raumes lauerten zwei Meuchelmörder mit dem Auftrag, sie ihm vom Hals zu schaffen. Sie kam. Bis dahin hatte sein Vorhaben sich gut entwickelt, doch dann ... Alandro schauderte, wenn er an jenen Tag zurück dachte und, wenn er darüber nachsann, wie sein Leben nun aussehen könnte, wäre er Salomene nie begegnet. An jenem Tag aber lagen zwei entsetzlich zugerichtete, tote Meuchelmörder in dem kleinen Zimmer, das er für das Treffen ausgesucht hatte und er selbst erlebte Schmerzen, die so grauenvoll waren, dass er es nie für möglich gehalten hätte, dass es solche überhaupt gab. Nicht viel hätte gefehlt und sein Geist hätte sich für immer umnachtet. Sein Körper blieb für viele Tage ein unkontrolliert zuckendes Bündel. Jeder Versuch sie zu ermorden oder jeder Widerstand gegen einen ihrer Befehle, so hatte sie ihm klar gemacht, hätte eine Wiederholung seiner Erfahrungen zur Folge. Er war aber letztlich zu feige gewesen, um gegen sie aufzubegehren, denn er empfand grauenvolle Angst vor ihr. Seit diesem Tag war er nichts anderes mehr als eine Marionette, eine Situation, die er nicht ertragen konnte. Deshalb hatte er sich in die tröstenden Arme des Alkohols und anderer Drogen geflüchtet, was seine Selbstverachtung nur noch förderte. Alandro befand sich bereits in jenem Zustand zwischen Wachheit und Delirium, in dem man die Welt nur noch nebelhaft empfindet und physische und psychische Schmerzen kaum mehr eine Rolle spielen, weil langsam das Bewusstsein zerfließt und Rhizopodien in alle möglichen Richtungen aussendet. Trotz der sehr beschränkten Wahrnehmungsfähigkeit sah er das grelle Licht, das plötzlich durch die zuvor nachtschwarzen Fenster in den großen Saal drang, hörte den brausenden Lärm, wie von einem Tornado, und dann das Splittern des Fensterglases. Die beiden Mädchen schrieen auf und flohen, was er wohl auch machen sollte; aber er war schon zu träge, ja mehr noch: völlig apathisch. Eine Weile blieb es still in dem gewaltigen Raum, dann öffnete sich das Tor und eine schöne, kalte Frau in einem schwarzen Kleid mit großzügigem Ausschnitt und düsterem Umhang betrat den Raum. Beeindruckend wirkten ihre großen, blauen Augen und ihre ungezügelte dunkle Mähne. Alandro erstarrte vor Furcht, als er des halbmondförmigen Muttermals zwischen ihren Brüsten gewahr wurde; Salomene, die Hexe und Hohepriesterin erstattete ihm einen Besuch. Sie glitt in den Raum wie eine Schlange, bewegte sich mit wiegenden Hüften und blickte über die Schulter zurück. Sie war also nicht alleine, kam in männlicher Begleitung. Jemand, der ungleich bedeutender sein musste als er, der König von Askhauran. Er beschloss den Besoffenen zu spielen, allerdings viel spielen musste er da nicht. Unter gesenkten Lidern spähte er hervor und betrachtete Salomenes Begleiter. Er war hoch gewachsen und schlank, mit krausem dunklen Haar. Er trug ein weißes, knielanges Gewand mit goldenem Rand. Seine Gestalt war fast makellos wie die eines Gottes; eine hässliche, auffällige Narbe am Handrücken störte den Eindruck der Perfektion.
„Hattest du nicht das letzte Mal als wir uns trafen blonde Haare?“, wollte der Fremde wissen.
„Die hätten nicht zu Salomene, der Hexe, gepasst. Ich verändere ganz gerne mein Äußeres, meinen Namen, liebe es eine Rolle zu spielen. Das war schon immer so. Schon als ich noch eine Piratin war.“ Sie seufzte.
„Salomene?“, wunderte er sich, „was gefällt dir an ‚Reja’ nicht?“
„Der Name passt einfach nicht hierher. Ich hatte schon viele Namen und Identitäten. ‚Araissa’ war zum Beispiel eine Soldatin, ‚Elina’ eine Sklavin. ‚Salomene’ ist eine Hexe und Priesterin! Früher waren meine Ziele groß, jetzt sind sie klein, notgedrungen. Ich muss mich mit diesem Spucknapf von einem Königreich zufrieden geben und es noch dazu mit dem da“, sie deutete dabei auf Alandro, „teilen. Lieber in diesem Spucknapf die Erste, als im Universum die Zweite, aber dann wenigstens an der Seite eines richtigen Mannes. Der da ist ein versoffener Wicht!“
„Warum befreist du dich nicht von ihm?“, wollte ihr Begleiter wissen. Alandro verspürte wieder das altbekannte Entsetzen. Als ob eine eiskalte Hand nach seinem Herzen griffe. Bevor er Salomene kennen gelernt hatte, hatte er sich selbst als kaltblütigen, grausamen und gleichgültigen Menschen gesehen, der dazu geboren war zu herrschen. Einen wirklich bösen Menschen. Salomene hatte ihm gezeigt, dass er selbst als Bösewicht nur ein drittklassiger Dilettant war.
„Nun, wie geht es den Göttern?“, wollte sie wissen.
„Wie immer. Sie langweilen sich unsterblich. Was sie brauchen ist eine herausragende Aufgabe! Zwietracht zwischen den Achaiern zu säen ist auf Dauer – so über die Jahrtausende – keine erfüllende Beschäftigung. Es ist Zeit für eine Wende. Nun ja, aber zunächst zu dir. Wie bist du Hohepriesterin geworden? Ich habe dich zwar mit dem Sonnenwagen hier in der Nähe abgesetzt, nachdem Aphrodite dich auf dem Achaischen Kontinent nicht mehr dulden wollte, aber da warst du machtlos.“
Sie lächelte süffisant. „So lange das Universum voll Idioten ist, werde ich immer herrschen. Der Trunkenbold auf dem Thron war ein recht nützliches Werkzeug. Er war damals nur ein kleiner Adeliger, der Cousin des Königs. Natürlich war er mit dieser Position unzufrieden, denn er ist fast ebenso ehrgeizig wie dämlich. Er hat mich damit beauftragt, das Königspaar zu ermorden. Zum Lohn für die gute Tat wollte er mich zur Hohepriesterin der hiesigen Priester machen. Sie beten eine Schlange an, Seth. Ich hätte ihn denunzieren können und auf die Dankbarkeit des Königspaares hoffen, aber das wäre nicht amüsant gewesen. Also benutzte ich die Götterrüstung, die du mir gegeben hast. Danke übrigens, sie ist nach wie vor sehr nützlich und durch sie bin ich alles andere als machtlos, zumindest in dieser primitiven, unterentwickelten Ecke des Universums. Mithilfe von Alandro bin ich in den Palast gekommen, wo ich die gesamte Palastwache paralysierte. Dieser Paralysestrahl funktioniert prächtig! Die gesamte Wache hat also geschlafen, was später natürlich keiner mehr zugeben wollte, aus Scham und aus Selbstschutz. Weder den anderen Leibgardisten gegenüber noch dem Kanzler, der den Fall untersuchen ließ. Auf diese Weise wurde der Mord unerklärlich, ja sogar übernatürlich. Die Tötung des Königspaares erfolgte durch Elektroschock, ohne äußere Wunden zu hinterlassen. Na ja, jedenfalls fast. So genau sind die Leichen aus Respekt nicht untersucht worden. Das Ganze war für diese abergläubischen Idioten unverständlich und damit ein Beweis für mächtige Magie. Bei Alandro und den wenigen die in den Mordkomplott eingeweiht waren, hat das meinen Ruf als gefährliche Hexe natürlich gefördert. Und damit ihre Angst vor mir.“
„Aber war das klug? Haben sie nicht versucht dich umzubringen?“
„Doch, natürlich! Wie hätten wir beide in seiner Situation gehandelt? Wir hätten die Mitwisser beseitigt, sobald sie unnötig geworden wären. Mir war klar, dass er das versuchen würde. Eine gute Gelegenheit, mir endgültig seine Achtung zu sichern. Ich habe die beiden Auftragsmörder ins Jenseits befördert und ihm dann gezeigt, wie unangenehm sein Leben sein kann, falls er auf die Idee käme, mich noch einmal zu betrügen.“ Sie lachte. „Danach war er bereit, den Vertrag zu erfüllen, den er mit mir geschlossen hatte. Er bekam seinen Thron, ich eine Position, die mir alle Macht über das Königreich in die Hände legt und die ich auch dann behalte, wenn er dem Königspaar folgt. Was, sobald ich in meiner Position hinreichend gefestigt bin, geschehen wird. Möglicherweise muss ich gar nichts tun, er säuft sich langsam zu Tode.“ Sie blickte amüsiert, aber dann wurde sie nachdenklich. „Was ist mit Ephram? Hat er ...“
Paieon schüttelte langsam den Kopf. „Wenn er den Olymp besucht hätte, wäre ich sofort gekommen oder hätte ihn hierher geschickt. Mir ist klar, dass du hier wie in der Verbannung lebst.“ Sie nickte und ganz kurz sah sie verzweifelt aus, aber dieser Eindruck war so schnell vorbei, dass er nicht sicher sein konnte, sie wirklich einen Augenblick ohne Maske erlebt zu haben. „Er hat nicht mehr versucht, mit uns in Kontakt zu treten. Und auch wir haben kein Geschäft mehr mit ihm gesucht, also ...“, ergänzte er.
„Also hat er mich vergessen – nein, das wohl nicht“, korrigierte sie sich, „vergessen hat er mich sicher nicht. Er hat mich verraten. Aber irgendwann, lieber Cousin, irgendwann kehre ich zurück und dann ...“ Sie trat hinter den Thron, zog einen purpurnen Samtvorhang beiseite und nahm zwei erlesene Gläser, die in einer prachtvoll verzierten Vitrine mit Glastüren gestanden hatten und füllte sie mit einem dunkelroten Wein aus einer Amphore, die auf dem kleinen Tischchen daneben gestanden hatte. Eines überreichte sie ihrem Gast. „Auf die Götter!“ Paieon lächelte abschätzig, da er von den anderen Göttern nicht allzu viel hielt.
„Auf unsere Zukunft!“ Dieser Trinkspruch gefiel ihr gut und sie prostete ihm zu, um dann einen tiefen Schluck zu nehmen. Erst dann trank auch der Götterarzt; so ganz traute er dieser Frau nicht, dafür war sie ihm zu ähnlich; wenn es ihr eine Vorteil brächte ihn zu vergiften, würde sie es tun. Er war sich aber ziemlich sicher, dass sein Tod gegenwärtig nachteilig für sie wäre und dass sie sich dessen auch bewusst war. „Ich muss zugeben, ich hatte gehofft, dass dein Besuch mit einem plötzlich erwachten Interesse von Ephram an meiner Person zusammenhängt. Da dies aber offensichtlich nicht der Fall ist, muss er eine andere Ursache haben.“
„Kann ich nicht einfach eine schöne Frau wiedersehen wollen?“
Sie lachte darüber, so als hätte er gerade etwas völlig Abwegiges von sich gegeben. „Also sag schon, welche Bedeutung habe ich für dich? Welche Rolle hast du mir in deinen Spielen zugeschanzt?“
„Deine Bedeutung? Ganz einfach. Du bist die einzige Person, die ich kenne, deren Horizont nicht bei diesem Planeten endet. Du kennst die freien Planeten und die Föderation!“
„Schon wahr, aber welchen Nutzen hat diese Kenntnis für einen Gott, der diesen Planeten sowieso nicht verlassen will? Der seinen Anbetern weismachen will, dass die Welt eine Scheibe ist und nur aus einem Kontinent besteht? Der nicht will, dass irgend jemand den Weg hierher findet?“
„Du sprichst von Zeus und seiner herrschenden Clique. Nicht alle denken so. Ich jedenfalls nicht. Und Zeus ist nicht unsterblich, wenngleich man es ihm nicht ansieht, ist er doch recht alt. Wenn er abtritt, muss sein Nachfolger gewählt werden und ich habe vor, dann seine Rolle zu übernehmen. Meine Ziele sind aber weniger beschränkt als seine. Wenn es soweit ist, wirst du in der Tat nützlich für meine weiteren Pläne werden.“
„Wie das, ihr könnt den Planeten doch ohne fremde Hilfe nicht verlassen?“
„Einmal abgesehen davon, dass Leute wie dein Cousin uns gegen entsprechende finanzielle Mittel den Weg bereiten würden, stimmt das nicht. Wir haben eine eigene Flotte, sicherlich ein bisschen eingerostet, aber durchaus funktionsfähig.“
„Hast du denn überhaupt eine echte Chance deine Pläne zu verwirklichen? Alles steht und fällt damit, ob du es schaffst Zeus zu werden. Wie willst du das erreichen?“
Paieon lachte. „Ich bin der Arzt der Götter. Sie brauchen mich, glaub mir das. Sie brauchen mich viel öfter als ihnen das gefällt. Und ich nutze das aus. Es mag noch ein oder zwei Jahrzehnte dauern, aber der Moment wird kommen!“
„Und bis dahin?“, wollte sie wissen. „Du kommst doch nicht jetzt schon zu mir, wenn du erst in Jahrzehnten eine Funktion für mich in deinen Plänen vorsiehst.“
Er blickte auf sie hinab und schmunzelte. „Da hast du recht. Nun, ich brauche noch etwas von dir – ein Kind!“
Reja erbleichte. Schwanger werden und all das. Einen schreienden Quälgeist, den man nicht einmal umbringen durfte. Ihr schauderte ob der Unannehmlichkeiten. „Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“, zischte sie.
„Doch“, erwiderte er kalt. „Und noch etwas. Gleich nach der Geburt wirst du dich von ihm trennen. Also keine Muttergefühle.“
‚Das ist absurd’, dachte Reja. Laut sagte sie: „Was das betrifft, musst du dir wirklich keine Sorgen machen. Aber ist dir klar, was das für mich bedeutet? Wenn ich schwanger bin, werde ich vollkommen wehrlos, weil mir dann die Götterrüstung nicht mehr passt. Ohne sie bin ich nur ein ganz normaler Mensch.“
„Du musst ja nicht. Überleg es dir. Willst du weg von diesem Planeten oder nicht? Es liegt bei dir.“
Reja fluchte phantasievoll. „Warum suchst du dir keine andere aus?“
„Das habe ich bereits getan. Ich hatte schon Kinder.“
„Was ist aus ihnen geworden?“
Paieon dachte an seine Grauen Menschenaffen. „Sie sind gestorben, nehme ich an. Egal, sie waren für meine Pläne nicht vollkommen, aber dein Kind wird es sein. Es ist ein Neuanfang. Also? Triff deine Entscheidung.“
Sie stellte ihr Glas ab und nahm seine Hand. „Gut, aber nicht hier. Meine Gemächer bieten mehr Sicherheit.“ Sie zog ihn mit sich und verließ schließlich den prunkvollen Saal. Auf dem Thron lungerte ein betrunkener aber glücklicher Regent. Es bestand also noch Hoffnung. Er würde ein wenig Geduld brauchen, aber letztlich würde er die Hexe los werden, denn nun kannte er ihren Schwachpunkt.
***
Der Gedanke, munter zu werden, kam ihr bedrohlich vor, denn sie ahnte, dass sie nicht aus, sondern in einen Albtraum erwachen würde, noch bevor sie sich den Grund für dieses Gefühl ins Gedächtnis rufen konnte. Aber der dumpfe, pulsierende Schmerz in ihrem linken Arm half ihr dabei, sich zu erinnern. Ihr Vater war tot! Ermordet auf eine derart grauenvolle Art, dass sie sich noch am vorangegangenen Tag nicht hätte vorstellen können, dass jemals etwas dermaßen Schreckliches geschehen könne. Sie versuchte sich ein wenig aufzurichten, aber der stechende Schmerz in ihrem Arm überzeugte sie rasch davon, dass sie dazu nicht in der Lage war. Und doch: es blieb ihr gar nichts anderes übrig, denn sie trug die Verantwortung für das Kind, das Sklavenmädchen. Aus Sorge um die Kleine riss sie die Augen auf. Sie lag nicht weit von ihr entfernt im Gras, von der tiefliegenden Sonne beschienen. Sie atmete gleichmäßig, die Augen mit den fein gezeichneten Wimpern waren geschlossen, die Gesichtszüge entspannt. Nichts deutete auf die entsetzlichen Erlebnisse hin, die das kleine Wesen hatte erdulden müssen. Die Tage der Sklaverei, Hunger, Durst und Erschöpfung, den Mordversuch, das Ende von Athalys Vater und schließlich den Angriff des Grauen Menschenaffen und das blutige, gehäutete Bündel Mensch. ‚Wenn sie schläft, muss auch ich mich nicht bewegen’, dachte sie erleichtert. Jedoch wich die Erleichterung dem Gefühl der Verzweiflung als ihr klar wurde, dass es ihr wohl nicht gelingen würde, ihre Begleiterin in Sicherheit zu bringen. Und auch für sie selbst gab es keine Hoffnung. ‚Steh auf!’, versuchte sie sich selbst zu befehlen, aber es gelang ihr nicht. ‚Öffne wenigstens noch mal die Augen!’ Das klappte besser. Die Szene war grundsätzlich die gleiche geblieben, nur war es jetzt dunkel. Sie musste wieder eingeschlafen sein, ohne es zu merken, ja sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass sie mit den Schmerzen überhaupt schlafen könnte. Immer wieder huschten Erinnerungsfetzen durch ihren Kopf, kamen und entglitten ihr abermals, verzerrten sich und wuchsen zu wüsten Träumen, während ihr Körper zitterte und sich mit einem Schweißfilm bedeckte, obwohl ihr fürchterlich kalt war. Sie wurde gejagt und von Bestien zerfleischt und war doch froh, dass all das sie davon ablenkte, sich der Wirklichkeit zu stellen; kein Traum konnte so schlimm sein.
Vielleicht ein bisschen später, möglicherweise viel später erwachte sie abermals und nochmals gelang es ihr, die Augen zu öffnen, nur ganz kurz. Sie sah nun die Silhouette ihrer Gefährtin der letzten Tage, seitlich von einem Feuer beschienen, hörte das Knacken von brennendem Holz, roch den Rauch und die Asche nur ganz leicht. ‚Jemand ist hier’, flüsterte es, aber sie war zu erschöpft, sich zu bewegen und zu tief im Unbewussten versunken um zu erkennen, dass sie selbst es gewesen war, die diese Erkenntnis gedacht hatte. Sie atmete nicht mehr flatternd und ihr Körper wurde auch nicht mehr geschüttelt wie Espenlaub im Wind. Gefahr? Vielleicht. Wie auch immer, sie war wehrlos und musste das, was kommen wollte bedingungslos akzeptieren. Sie öffnete ihre Augen abermals, nur ein wenig, sodass sie ihre Wimpern sah, die sie schützen sollten wie ein Zaun. Ein hochgewachsener Mann, den sie nur als schattenhaften Umriss wahrnehmen konnte, stand vor den Flammen und hielt etwas in der Hand. Das Ding war nicht größer als eine Faust, doch es gab ein merkwürdig pulsierendes Licht von sich; es wechselte in ruhigem Rhythmus von dunklem Purpur zu Hellrot. In dem Augenblick, in dem er damit näher kam, zuckte sie instinktiv zurück; doch als er es über ihren verletzten Arm hielt, geschah etwas Merkwürdiges. Das Ding pulste jetzt genau im Rhythmus ihrer Schmerzen. Dann nahm die Intensität der Helligkeitsänderung ab, bis es schließlich nur mehr gleichmäßig und schwach vor sich hin glühte. Und da stellte sie fest, dass auch das dumpfe, quälende Pochen des Armes schwächer geworden und durch ein erträgliches, gleichmäßiges Brennen ersetzt worden war. Jetzt geriet der Mann selbst ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Das Gesicht unter der Kapuze wurde im roten, düsteren Licht in seinen Konturen erkennbar. Buschige Augenbrauen umrahmten tiefliegende Augen; eine markante Nase und hochliegende Jochbögen gaben ihm ein scharfes Profil. Die untere Hälfte verschwand unter einem gepflegten Vollbart. Als sie den Mund betrachtete, teilten sich die Lippen.
„Das Herz von Galahar vermag zu heilen und den Schmerz zu lindern“. Er sprach leise und sanft.
„Vermag es auch eine schmerzende Seele zu heilen?“, wollte sie wissen, erfüllt von der Trauer um ihren geliebten Vater. Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht, so schwach und krächzend klang sie. Eine Träne rann ihre Wange hinab.
Der Fremde lächelte wehmütig. „Nein, leider nicht. Das vermag nur die Zeit. Vielleicht.“
Athaly hob den Blick. „Meine Begleiterin. Das junge Mädchen. Du musst ihr helfen.“
„Sie schläft ruhig und fest. Mach dir keine Sorgen. Schlaf jetzt.“
Kaum hatte er das gesagt, vermochte sie ihre Augen nicht mehr offen zu halten. Sie versank in einen tiefen, traumlosen, heilsamen Schlaf.
Als sie wieder erwachte, stand die Sonne schon ein Stück über den Wäldern des Ostens und wärmte ihren Körper nun statt eines Feuers. Sie hob den Kopf und blickte sich um. Die Feuerstelle rauchte noch ein wenig, ihre Begleiterin schlief und der merkwürdige, große Mann saß an einen Stein gelehnt auf dem Boden und schaute zu ihr. Als er erkannte, dass sie wach war, stand er auf, nahm den Ziegenhautschlauch, der neben ihm gelegen hatte auf und ging zu ihr, um ihr zu trinken zu geben. Da merkte sie, wie durstig sie war und trank mit gierigen Zügen. „Wie heißt du?“, wollte der Mann wissen.
„Athaly“, entgegnete sie.
„Und das andere Mädchen?“
„Ich weiß es nicht“, bekannte sie, „sie spricht nicht. Und wer bist du?“
„Tethaton“, erwiderte er, „ich bin ein Magier, der sich aufs Heilen versteht, eine Fähigkeit, die ich bei euch wirklich gut gebrauchen kann. Was, bei Seth, ist euch zugestoßen? Ihr seht aus, als wäre eine Elefantenherde über euch getrampelt. Dein Arm ist gebrochen und du hast überall Prellungen und deine Begleiterin hat eine schlecht verheilte, sehr tiefe Schnittwunde an der Schulter und noch so einiges anderes. Wunden, die wohl von Peitschenhieben herrühren. Seid ihr entflohene Sklavinnen?“
Athaly schüttelte den Kopf. Sie wusste nicht, ob es klug war, dem Fremden etwas über ihre Vergangenheit zu erzählen, dazu kannte sie ihn noch zu wenig. Stattdessen stellte sie ihm eine Frage: „Dieses rotglühende, pulsierende Etwas. Was ist das?“
„Das Herz von Galahar ist die Quelle meiner Magie. Es ist mächtig, sehr alt und nicht von Menschenhand gemacht. Vor vielen Jahrtausenden lebte hier eine fremde Zivilisation - älter als die Menschheit - die über die unendlichen Abgründe der Finsternis in diese Welt gekommen war. Irgendwann verschwanden sie wieder, aber das Herz blieb. Es heilt Krankheiten und verlangsamt den Alterungsprozess, ja kehrt ihn bis zu einem gewissen Grad sogar um. Es wurde dafür geschaffen, Gutes zu tun und vielleicht ...“, es schien Athaly als wäre sein Blick in eine ferne Welt gerichtet, „Vielleicht ist das Herz der einzige Gegenstand, der so durch und durch gut ist, dass es keinem Menschen möglich ist, ihn zu missbrauchen.“ Athaly war beeindruckt, sie hatte die heilsame Wirkung des Herzens von Galalhar ja am eigenen Leib erlebt. „Schon deshalb“, fuhr er lächelnd fort, „kann das Herz nicht von einem Menschen erschaffen worden sein.“
„Worauf basiert die Magie des Herzens?“, wollte sie wissen.
Er lächelte abermals. „Ich weiß es nicht. Wüsste ich es, wäre es keine Magie mehr, sondern Wissenschaft. Dieses Wissen ist verloren gegangen, aber nicht die Kenntnis, wie man das Herz verwendet. Ich werde deinen Arm heilen. Und vielleicht kann ich auch deiner Begleiterin helfen. Wer weiß?“ Er lachte. Tethaton verwendete das Herz abermals, bewegte es entlang ihres verletzten Armes und wieder hatte sie das Gefühl, dass er nun weniger schmerzte und an Kraft gewann. Dann wandte er sich dem Sklavenmädchen zu und bewegte das Herz, das in seiner Hand leuchtete wie eine glühende Kohle in einer kreisenden Bewegung um den Kopf des Mädchens. Ihre Augenlider begannen ganz leicht zu zittern, sie atmete tiefer und erwachte schließlich. Als sie ihn sah, blickte sie erschrocken, genau wie sie selbst es getan hatte, dachte Athaly. Skeptisch schaute sie auf das glühende Ding in seiner Hand. Tethaton lächelte sie an und streichelte ihr mit der Linken über ihr Haar. Da beruhigte sie sich langsam, auch weil sie jetzt Athaly erkannte, die ihr unbesorgt erschien, vor allem aber, weil die wohltuende Wärme, die davon ausging, mehr und mehr ihr Inneres einhüllte. Sie blickte auf das wie lebendig pulsierende, rubinrote Herz und plötzlich fühlte sie sich völlig unbeschwert, wie frei von allem Körperlichen. Leise sprach Tethaton mit ihr: „Sag mir wie du heißt, kleines Mädchen.“
Sie antwortete, wobei ihre Stimme seltsam entrückt klang: „Liara, ich heiße Liara.“ Dabei starrte sie wie gebannt auf das pulsierende Ding und schien den Fragesteller überhaupt nicht wahrzunehmen.
„Liara, woher stammst du?“ Die Frage stellte er sanft und beruhigend, so als hätte er Angst, ein lauter Ton könne den merkwürdig starren Zustand, in dem sich das Mädchen befand, zerstören.
„Aus Askhauran, aus der Hauptstadt des einst goldenen Landes“, antwortete sie lächelnd. „Ich lebe dort in einem kleinen Palast, in einem wunderschönen Garten mit Springbrunnen zusammen mit meinem älteren Bruder und meinen Eltern.“ Sie war nun sehr fröhlich. „Wir laufen gerne um den Springbrunnen herum und spielen fangen.“ Athaly hatte den Eindruck, als wäre das Mädchen dieser Welt entrückt, als wäre sie jetzt wieder in ihrer Heimat und würde die Dinge, die sie schilderte gerade eben erleben und sich nicht lediglich an sie erinnern. Die Szene, die sie vor ihrem inneren Augen sah, musste sich dramatisch geändert haben, denn schlagartig blickte sie sehr ängstlich. „Da kommen Leute zu Besuch zu meinem Vater. Wir dürfen nie dabei sein, wenn sie kommen, aber gelegentlich höre ich doch etwas. Sie sagen, dass das Volk hungert und dass viele Menschen verschleppt werden und nach Tagen findet man ihre grausam verstümmelten Leichen. Ich habe Angst. Sie sagen, die Hexe sei daran schuld, Salomene nennen sie sie, das Königspaar war gütig, sie aber ist unmenschlich. Viele Jahre lang herrscht sie bereits. Am Anfang fürchteten sich alle vor ihr, zu sehr um zu handeln, aber einige besonders Verzweifelte wollen einen Aufstand wagen. Mein Vater will ihnen helfen. Dann ...“, Liara riss die Augen weit auf, die Pupillen waren stark erweitert, „Feuer, überall Feuer und viele Soldaten der Palastwache, ich verstecke mich hinter einem Vorhang und sehe, wie sich drei auf meinen Vater stürzen und immer wieder zustechen, immer wieder. Und da ist Blut, entsetzlich viel Blut. Meine Mutter schreit und einer der Soldaten tritt ihr in den Bauch und wie sie schließlich auf dem Boden liegt, sticht er mit einem Dolch auf sie ein.“ Sie schien nun ebenso verwundert wie entsetzt. „Ihre Augen sind so ... starr; ihr Blick so ... leer. Ich kann nicht mehr, ich fange an zu laufen und rutsche zwischen den Beinen eines der Soldaten durch – ich bin ja noch klein genug dafür. Er flucht und läuft mir nach und ein anderer ruft: ‚Schnapp sie dir, Salomene hat gesagt wir sollen die gesamte Brut vertilgen.’ Ich verstehe das nicht, aber es klingt bedrohlich und so laufe ich so schnell, wie meine kurzen Beine mir nur ermöglichen und schlage Haken, kurz bevor sie mich erwischen. Schließlich springe ich voller Panik aus dem Fenster und lande in einem Busch. Mein Bruder, Leron, muss das gesehen haben, denn er kommt mit seinem Pferd Sturmwind, schnappt mich am Träger des Kleides und dann galoppieren wir durch die Nacht. Beim Tor stürzen sich mehrere Männer auf uns; aber Sturmwind ist schneller und dann sind wir draußen und reiten durch die Nacht, so schnell und es ist dunkel und keiner kann uns folgen.“ Abrupt versiegte der Strom ihrer Worte und sie saß da wie eine zerbrechliche Puppe.
„Was geschah dann?“, fragte sie der Fremde.
„Es gelang uns, die Stadt zu verlassen, aber Sturmwind musste zurück bleiben; mein Bruder war sehr traurig deswegen. Wir flohen nach Osten bis das Land nicht mehr grün war sondern grau, kahl und verdorrt. Bei einer kleinen Oase haben uns die Sklavenhändler gefunden. Leron wehrte sich und wurde niedergeschlagen, was dann mit ihm passierte weiß ich nicht, denn bei den anderen Sklaven, zu denen ich gebracht wurde, war er nicht dabei.“ Eine einsame Träne lief ihre Wange hinab. „Dann wurden wir durch die Wüste getrieben, viele glühende Tage lang gen Westen und ich war immer so durstig, so schrecklich durstig, dass mir der Hunger im Vergleich gar nichts mehr ausgemacht hat. Schließlich konnte ich nicht mehr, ich fiel hin und, auch mit der Peitsche geschlagen, konnte ich nicht mehr aufstehen ...“
„Ab jetzt kenne ich die Geschichte“, ließ sich Athaly vernehmen. „Die Karawane folgte einem alten Pfad, der südlich der Schwarzen Berge durch die Steppe verläuft. Einer der Händler hat mit einer langen Klinge auf Liara eingestochen, siehst du, hier.“ Sie deutete auf die schlecht verheilte Wunde. „Er wollte, dass sie stirbt, aber wir haben das nicht zugelassen.“ Traurig ergänzte sie. „Mein Vater und ich“. Tethaton hüllte das Herz in seinen Umhang und Liara zwinkerte, rieb sich mit dem Handrücken die Augen und schaute sie dann erstaunt an.
„Nun, Liara, wie fühlst du dich?“, wollte Tethaton wissen.
Liara wandte sich ihm zu. „Woher kennt Ihr meinen Namen?“ An dieser verdutzten Frage erkannte Athaly, dass Liara keine Erinnerung an die letzten Minuten hatte. Das Herz vermochte nicht nur zu heilen, sondern verfügte offenbar noch über andere Formen der Magie.
„Ich weiß noch mehr über dich, woher du kommst und was dir widerfahren ist, Edle aus Askhauran“, erwiderte der Magier. Athaly begriff, dass die verblüffte Liara ihn für einen Gedankenleser oder Hellseher halten musste und er beließ sie in dem Glauben. Jedenfalls hatte er die scheinbar stumme Liara zum Sprechen gebracht und allein das war schon ein Wunder. Auch Athaly wollte sie nicht über ihren Irrtum aufklären, bevor sie die Gründe für sein Handeln kannte. Stattdessen fand sie es gegenwärtig wichtiger, ihren neuen Begleiter ein wenig besser kennen zu lernen.
„Und wer seid Ihr, Tethaton, und wohin wollt Ihr und wo kommt Ihr her und warum habt Ihr uns geholfen?“
Er lächelte über ihre Neugier. „Ich bin der Hüter des Herzens und seiner Magie. Ich ziehe durch die Lande und heile die Gebrechen der Menschen und das seit vielen Jahrdutzenden. Seit zu vielen. Ich fühle mich ein wenig müde und alt.“ Athaly staunte, denn der Mann mochte kaum mehr als zweieinhalb Dutzend Lebensjahre zählen. Er war schlank und sein dichtes Haar war frei von grauen oder gar silbernen Strähnen. Sie kannte viele Menschen die drei Dutzend mal die Sommersonnenwende erlebt hatten, ja einige sogar noch öfter. Eine Frau in der Siedlung war angeblich sogar älter als vier Dutzend. Also war er doch nicht so alt.
„Wie alt bist du denn?“
„Über acht Dutzend Mal habe ich die Jahreszeiten kommen und gehen sehen“, antwortete er.
„Aber ... das ist nicht möglich! So alt kannst du noch nicht sein!“
„Es ist das Herz von Galahar. Es bewirkt, dass sein Träger langsamer altert. Es kann bis zu einem gewissen Grad den Alterungsprozess sogar rückgängig machen“, erklärte der Mann. „Dennoch altert man weiterhin und dann, irgendwann, ist es an der Zeit, das Herz weiterzugeben. Auch ich habe es vor langer Zeit von einem wandernden Magier bekommen. Ich war schwer verletzt, wahrscheinlich ohne seine Hilfe tödlich verwundet, als er mich gefunden hat. Er hat mir das Herz geschenkt und damit mein Leben; aber sein eigenes war daraufhin wohl beendet, vermute ich. Eines Tages ist er weitergezogen ohne sich zu verabschieden und ohne mir zu sagen, wohin er ziehen würde.“ Er verstummte eine Weile und blickte in die Ferne. „Ich werde in die Ebene ziehen. Mögt ihr mich begleiten?“ Sie wollten beide so schnell wie nur irgend möglich fort von den Schwarzen Bergen.
„Ich muss zurück zu meinem Stamm. Sie müssen erfahren, was passiert ist und dürfen nicht noch jemanden hierher schicken, in den sicheren Tod.“ Athaly erzählte Tethaton was sie erlebt hatten, auch vom Tod ihres Vaters und wie sie zu ihren Verletzungen gekommen waren.
„Es ist traurig, dass wir uns nicht einen Tag früher getroffen haben“, meinte er, „ich weiß, dass die Feste der Erzmenschen ein Ort des Grauens ist. Ihr seid nicht die Ersten, die die alten Legenden anzweifelten. Der Pfahl mit dem verunstalteten Menschen, den ihr gesehen habt“, Athaly erschauderte bei der Erinnerung, „unweit von hier ist nicht der Einzige. Fast in jeder Richtung um die Burg steht ein solches abschreckendes Mahnmal. Ich selbst habe diesen Kreis allerdings nie betreten. So mutig und lebensmüde bin ich nicht.“
In den nächsten Tagen verließen sie die Schwarzen Berge und wanderten in die endlos erscheinende Ebene. Zunächst kamen sie nur langsam vorwärts. Sie mussten nicht hungern, denn Athaly erwies sich dank ihrer Armbrust und ihrer Fähigkeit sich lautlos anzuschleichen als begabte Jägerin, nachdem ihr Arm in unglaublich kurzer Zeit geheilt war. Auch bei Liaras Stichwunde entfaltete das blutrote Herz seine gewaltigen Heilkräfte.
Nach einigen Wochen erreichten sie Athalys Stamm und schweren Herzens erzählte sie ihrer Mutter, was geschehen war, die daraufhin in tiefe Trauer versank. Später erstattete sie auch dem Rat der Shwakara Bericht. Daraufhin wurde niemand mehr in die Schwarzen Berge entsandt. Als Thetathon schließlich weiterziehen wollte, fragte er Athaly, ob sie bereit wäre, mit ihm mitzukommen. Sie willigte ein, beließ Liara bei ihrer Mutter und er lehrte sie alle Geheimnisse des Herzens von Galahar. Sie zogen nach Samora und Corinthya, wo sie die Menschen stets freundlich empfingen, ja manche sie fast wie Götter anbeteten, doch hatte Athaly immer Heimweh und schließlich, nach Jahren, gelang es ihr, ihren Begleiter zur Rückkehr zu bewegen. Wenige Tage nachdem sie das Lager der Shwakara erreicht hatten, gelangte Tethaton zur Überzeugung, seine Aufgabe wäre erfüllt, eine Trägerin für das magische Juwel gefunden zu haben und verschwand aus ihrem Leben. Das Herz überließ er ihr. Athaly blieb bei ihrem Stamm und von nun an pilgerten die Kranken und Bedürftigen vieler Länder zu ihr, wurden oft geheilt und hinterließen Geschenke, sodass in dieser Zeit kein Shwakara mehr hungern musste. Athaly’s Ruhm verbreitete sich immer weiter und viele gute Menschen kamen. Doch irgendwann erfuhr auch ein sehr böser Mensch vom Herzen von Galahr und erkannte, dass es ihm Macht bringen konnte. Athaly wurde von den Menschen Heilerin genannt, doch diese Person nannten sie Hexe.
***
Sie hatten beschlossen baden zu gehen, einerseits, weil das Wetter geradezu traumhaft war, – auf Wägan war das Wetter eigentlich fast immer wunderbar, sah man von gelegentlichen Stürmen und häufigen Gewittern ab – und andererseits, weil es auf dem Planeten keine phantastischen Sehenswürdigkeiten gab, die man einem Touristen von Außerwelt unbedingt hätte zeigen müssen. Die Sonnenuntergänge waren das Schönste, was man sehen, die Gesänge der Sirenen das Beeindruckendste, was man hier hören konnte. Tjonre hatte Sarpedon eine seiner Badehosen geborgt, Elri trug einen himmelblauen Bikini – also türkisfarben – hübsche bunte Farbkleckse auf ihrem schlanken, aber nicht makellosen Körper. Die tanzenden bunten Lichter in ihrem Haar taten ein übriges, um Tjonres Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. Sie hatte sich Sarpedon zugewandt und die meisten Haare nach vorne gestrichen, sodass Tjonre auch noch ihren Rücken bewundern konnte. Da stellte sich bei ihm wie so oft jenes schmerzhafte, bedrückende Gefühl ein, als ob sein Herz in einer Stahlklemme gefangen wäre, als ob ein Gewicht seine Brust zusammendrücken und ihm das Atmen beinahe unmöglich machen würde und seine Augen wurden feucht, wenn er die Folgen früherer Misshandlungen sehen musste: ein dichtes Muster aus schmalen, feinen, hellen Linien, die kreuz und quer über ihren sonst braungebrannten Rücken verliefen; die Narben von Auspeitschungen, die sie als Sklavin hatte erleiden müssen. Er hatte das Gefühl versagt zu haben, weil er sie nicht früher kennen gelernt hatte und es ihm daher nicht möglich gewesen war, sie vor dieser Folter zu beschützen. Deshalb litt er jetzt. Elri hatte ein feines Gespür für sein Empfinden und sah mit einem warmen Lächeln nach hinten zu ihm; ein nonverbales „Ich liebe dich“. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander eine kleine Ewigkeit lang fest. Sie verstand ihn und wollte ihm gleichzeitig klarmachen, dass es ihr jetzt gut ginge, sehr gut sogar und dass die Narben an ihrem Körper die einzigen waren. Ihre Seele war frei davon und sie war glücklich mit ihm und den Kindern. Tjonre atmete tief durch, befreite seine innere Sicht von all den grausamen Bildern, die sich stereotyp wiederholt hatten, und versank in ihren nachtschwarzen Augen, dann lächelte auch er und der Bann war gebrochen, er war wieder im Hier und Jetzt und richtete seinen Blick auf das Meer hinaus, wo gelegentlich der Kopf einer seiner Töchter aus den Wogen tauchte. Thamga und Ihmga durchpflügten hurtiger als jeder Quadrabbler die See, nur Nisaya näherte sich bereits dem Ufer, wo sie sich niederhockte. Ihr war offensichtlich kalt geworden, sie konnte nicht so ausdauernd tauchen wie ihre beiden Schwestern, ein Faktum, unter dem sie litt. Deshalb schaute sie finster und grummelte vor sich hin. Djamig spielte im Wasser in Strandnähe und versuchte ein paar kleine, durchsichtige Tiere zu erhaschen. Viel Erfolg hatte er nicht. Gjefren machte sich nicht so viel aus Wasser. Er saß ein wenig getrennt von der Gruppe auf einem der größeren Felsen und sah hinaus aufs Meer. Sarpedon hatte Elri beobachtet und die Gefühlsschwingungen zwischen ihr und ihrem Mann wahrgenommen und wollte nicht stören. Deshalb erhob er sich mühselig aus seiner sitzenden Position, humpelte über den Schotterstrand und kletterte schließlich auf den Felsen hinauf, auf dem Gjefren saß. Er gesellte sich zu ihm. Nachdem sie eine Weile schweigend auf die ruhige See geblickt hatten, begann er: „Hier irgendwo liegt also das Medaillon, auf dem die Enigma – Adresse von Gaia gespeichert ist. Merkwürdig, dass es nie gefunden wurde, obwohl es mit Metalldetektoren von einem ganzen Trupp gesucht worden war!“
„Gar nicht so merkwürdig“, fand Gjefren, „sie haben einfach an der falschen Stelle danach Ausschau gehalten.“
„So weit ich weiß, haben sie im Meer gesucht! Wo hätten sie das sonst tun sollen?“
„Damals war die See sehr stürmisch. Es gab meterhohe Wellen! Sie hätten weiter landeinwärts suchen sollen. Hinter uns ist ein permanenter Sturmtümpel, seit mindestens zwei Jahrzehnten ist er nicht mehr ausgetrocknet, weil eine wilde See hier nichts Außergewöhnliches ist. Dort hätten sie zum Beispiel suchen können.“
„Haben sie aber nicht“, meinte Sarpedon, „aber vielleicht jemand anderes?“
Gjefren reagierte zunächst nicht, sondern blickte weiterhin hinaus auf die türkise Weite. „Gut möglich“, gab er dann zu. Sarpedon jubilierte innerlich. Als Gjefren das erste mal die Bemerkung gemacht hatte, sie hätten weiter Strand aufwärts suchen sollen, war Hoffnung in ihm gekeimt. Aus welchem Grunde auch immer, jedenfalls wollte er nicht, dass seine Eltern davon wussten, das war Sarpedon klar gewesen. Deshalb hatte er nicht gleich nachgefragt. Jetzt war die Gelegenheit günstiger.
„Wann hast du das Medaillon gefunden?“
„Das ist nun bereits zwei Jahre her. Es ist ziemlich stark mit Algen und festsitzenden Tieren bewachsen, aber eine Stelle war frei und hat geglitzert. Dadurch bin ich auf das Ding aufmerksam geworden.“
„Ob die Meme überhaupt noch funktionieren?“, fiel Sarpedon besorgt ein.
„Ich weiß nicht. Ich hatte keine Gelegenheit das zu testen. Unser Avatar ist etwas geschwätzig. Ich wollte nicht, dass meine Eltern erfahren, dass ich es habe. Sie hätten es doch nur der Patrouille weiter gegeben. Ich wollte es aber behalten und eine Möglichkeit finden es zu verwenden, um den Planeten zu verlassen.“
„Und die ist deiner Meinung nach jetzt da?“
Gjefren schaute Sarpedon erstmals in die Augen. „Du willst nach Historia zurück und ich möchte ebenfalls dorthin. Du hast ein Raumschiff, ich habe die Koordinaten.“
„Wägan ist sehr schön“, meinte Sarpedon, „es gibt grässlichere Orte, an denen man sein Dasein fristen könnte. Gaia ist ein sehr primitiver Planet, für die meisten ist das Leben dort sehr kurz. Wer sich nicht verteidigen kann, lebt nicht lange.“
„Du könntest mir eine deiner Rüstungen geben.“
„Ich müsste eine an dich anpassen, aber die Möglichkeit habe ich nicht, denn ich habe nur eine Rüstung mit in die Föderation nehmen können und die passt dir nicht. Anteia hat ihre vielleicht noch, aber die wird dir schon gar nicht passen! Glaub mir, es ist zu gefährlich.“
Gjefren blickte ihn nun entschlossen an, dachte dabei an die Schutzweste, die Tjonre getragen hatte und die immer noch irgendwo im Haus liegen musste. „Ich weiß, das ist nicht nett, aber du kommst entweder mit mir nach Historia oder gar nicht. Die Entscheidung liegt bei dir!“
„Und wie stellst du dir vor, dass deine Eltern die Einwilligung geben? Sie kennen Gaia gut genug, um zu wissen wie gefährlich der Planet ist. Sie werden niemals ihr Einverständnis geben.“
„Sie werden aber auch nie auf den Gedanken kommen, dass die Reise nach Historia geht, denn niemand weiß, wie man dorthin kommt. Erfinde ein anderes Ziel. Ihr Götter seid doch sicher sehr phantasievoll. Sie wissen, dass ich hier nicht übermäßig glücklich bin, mein Vater kennt das aus eigener Erfahrung. Also werden sie nichts gegen einen kleinen Ausflug haben, den ich zusammen mit dir unternehme. Das klingt doch wesentlich weniger gefährlich als der Patrouillendienst, für den mein Vater sich seinerzeit entschied, um von hier wegzukommen.“
„Es gefällt mir nicht, deine Eltern zu belügen!“
„Mir behagt es auch nicht. Mein Vater war mehr als zehn Jahre weg. Ich könnte viel früher wiederkommen, vielleicht nach ein paar Monaten schon.“
„Oder gar nicht mehr. Was ich vorhabe ist nicht gerade ungefährlich. Sich mit Epistor, also Zeus, und den anderen Göttern anzulegen kann durchaus meinen Tod bedeuten und auch den meines Begleiters.“ Um keine Zweifel aufkommen zu lassen präzisierte er: „Ich meine dich!“
„Du musst mich nicht in seine Nähe bringen. Setz mich irgendwo unterwegs ab! Vielleicht am Hyborischen Zeitalter. Das scheint recht interessant zu sein.“
„Und mindestens ebenso tödlich! Deine Eltern wollen mit Sicherheit, dass ich auf dich aufpasse!“
Gjefren hatte seit mehr als zwei Jahren den Wunsch Historia zu besuchen und daher keine Lust, Vernunftgründen zugänglich zu sein. „Wenn du recht hast plant Zeus etwas, das für die gesamte Föderation vernichtend sein könnte. Es wäre also lediglich eine kleine Notlüge. Was ist schon das Schicksal eines Einzelnen im Vergleich zu dem der gesamten Menschheit!“
„Eine Menge, wenn es sich bei dem Einzelnen um den Sohn meiner Nichte handelt!“
„Leben ist nun einmal gefährlich“, entgegnete ihm Gjefren. „Ich muss irgendwann die Verantwortung für mich selbst übernehmen und den Rockzipfel meiner Mutter loslassen, so wie mein Vater den seiner Mutter freigegeben hat. Ich werde das tun, ob mit oder ohne deine Hilfe. Auch ich kann jederzeit zur Patrouille gehen und das ist riskanter als mit dir zu gehen. Wäre es das nicht, hätten wir diese Plantage nicht, die jetzt unser Eigentum ist, weil der Vorbesitzer von einem Einsatz nicht wieder zurückgekehrt ist.“ Gjefren machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: „Und die Hoffnung, du könntest mich dazu überreden, dir das Medaillon zu geben, auch wenn du mich nicht mitnimmst, kannst du ruhig sterben lassen. Also was ist? Nimmst du mich mit?“
Sarpedon blickte eine Weile überaus finster, bevor er sich zu Gjefrens Erpressungsversuch äußerte. „Die Sache gefällt mir nicht, aber ich habe wohl keine Wahl. Also gut!“
***
Seit Jahren schlug das Herz von Galahar im Lager der Shwakara, das sich immer noch inmitten der Savanne im Schatten des großen Baumes ausbreitete. Dem Stamm hatte es zu bislang ungekanntem Wohlstand gebracht. Vielleicht wäre es übertrieben zu behaupten, die Shwakara würden alle mit prall gefüllten Bäuchen durchs Leben gehen, aber sie litten jedenfalls keinen Hunger mehr. Die Kinder wirkten jetzt fröhlich, lachten und jagten sich zwischen den Zelten und einige verwendeten auch noch die kleine Schaukel. Athaly wagte das hingegen nur noch ganz kurz, wenn es Nacht war, und niemand ihr zusah. Sie war mit ihrem Dutzend und einer Hand voll Jahren nicht nur erwachsen, sie war auch eine berühmte Heilerin, von der man ein einigermaßen seriöses Verhalten erwartete.
Der Reichtum der Shwakara stammte von den zahllosen Pilgern, die das Lager besuchten. Viele waren arm und sie gaben alles aus Dank für die Heilung eines Gebrechens oder einer Krankheit. Manche waren reich und sie gaben nur einen Bruchteil von dem was sie besaßen, aber für den Stamm war es immer noch viel. Gerade die Reichen hatten nicht nur körperliche Mängel; auch ihre Seele schien oft verletzt. So gering ihre Probleme auch im Vergleich zu denen der Besitzlosen waren, nahmen sie sie dennoch sehr, sehr ernst. Athaly wollte sich lieber mit den Sorgen der Mittellosen beschäftigen; das Herz hingegen machte keinen Unterschied und half allen, wenn es das konnte. Der Rat der Stammesältesten indes missbilligte zunehmend, dass Athaly sich auch mit kranken Habenichtsen einließ, die für ihre Hilfe keine Gegenleistung erbringen konnten. Die Ältesten waren Gierschlünde, die nach immer mehr schrien. Athaly war das anfangs egal, später erklärte sie ihnen, dass sie auch woanders hin ziehen könne. Danach hatte sie meist ihre Ruhe, wenngleich sich immer jemand fand, der sie in seine Machtspiele einbeziehen wollte. Sie ignorierte sie und ihre Auffassungen. Für sie zählte nur die Meinung ihrer Mutter, ihrer Schwester Aleia und die der blonden Liara, die für sie nicht weniger bedeutete, als es bei einer Schwester der Fall gewesen wäre. Manchmal sprach ihre Mutter sie allerdings darauf an, dass es nun an der Zeit wäre sich unter den Shwakara einen Mann zu suchen. Davon wollte Athaly nichts wissen. „Ich muss Menschen helfen!“, erklärte sie ihr, „Menschen, denen es oft sehr schlecht geht. Da kann ich mich nicht um einen Mann kümmern und auch nicht um plärrende Kinder.“ Ihre Wanderjahre hatten sie geprägt. Oft hatte sie das Bedürfnis so zu leben, wie es ihr Lehrer getan hatte. Mit den Karawanen zu ziehen, fremde Städte und Länder kennen zu lernen, die ganz, ganz große Welt und all die Wunder, die sie zu bieten hatte. Das war der wahre Grund, warum sie sich nicht binden wollte. Außerdem schüchterte ihr Ruf die jungen Männer des Stammes ein, die sich die meiste Zeit von ihr fern hielten, obwohl sie zu einer wunderschönen, feingliedrigen und zarten jungen Frau herangewachsen war. So war sie bei den Mächtigen, denen sie sich nicht unterordnen und von denen sie sich nicht als Werkzeug gebrauchen lassen wollte, unbeliebt, was sich natürlich sofort änderte, wenn sie krank wurden. Die anderen aber waren ihr gegenüber voller Ehrfurcht oder scheu. Anbetung aber wollte sie nicht. Nur ihre kleine Familie behandelte sie so respektlos, wie sie es sich wünschte. Ohne sie wäre sie unter all den Menschen einsam geworden.
Die Pilger kamen und gingen wieder; immer mehr Karawanen besuchten die kleine Siedlung und die Menschen reisten von immer ferneren Orten zu ihr. Das machte ihr nichts aus, auch wenn sie zunehmend weniger Zeit für sich hatte. Schlimmer war, dass unter den Hilfesuchenden immer mehr Verbrecher, marodierende Horden ebenso wie insbesondere Sklavenhändler, erschienen und ihren Beistand erpressten. Athaly wollte nicht ausgerechnet jenen helfen, die andere unterjochten und quälten. Aber der Stamm hatte nicht genug Krieger, um sie zu vertreiben und die Männer zeigten ihr nur allzu deutlich, welche Alternative drohte, wenn sie nicht bereit wäre, ihnen Hilfe angedeihen zu lassen. Sie musste gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn sie nicht wollte, dass die Kinder oder die Frauen der Shwakara in der Sklaverei endeten.
Erschöpft kroch sie am Abend aus dem kleinen Zelt, nachdem sie einen langen Tag versucht hatte, den Menschen zu helfen. Auch ein Sklavenhändler mit einem Bruch der Elle war dabei gewesen und Liara hatte sich aus Angst unter einer Decke verkrochen, solange die Karawane mit den erbärmlichen Kreaturen nicht weitergezogen war.
„So kann das nicht weitergehen! Ich muss den Stamm verlassen. Ihr seid nicht mehr sicher, solange ich hier bin.“
„Aber Athaly“, gab ihre Mutter zu bedenken, „erinnere dich zurück an die Zeit, als das Herz von Galahar noch nicht bei uns war. Wir hatten nie genug zu essen! Euch Kinder hat es am meisten getroffen. Kannst du dich nicht mehr an das Gefühl des nagenden Hungers erinnern? Daran, wie jede Bewegung eine Qual gewesen ist und selbst die Gedanken nur mehr träge dahin geflossen sind, das Zittern in Armen und Beinen? Willst du, dass es den Menschen wieder so ergeht? Wie viele der Kinder sind damals gestorben? Seit du hier bist, haben es die Menschen besser. Sie vergessen das jetzt manchmal, das stimmt.“
„Mutter, wir locken auch die bösen Menschen an, wie der Honig die Fliegen. Die fetten, besonders grauslichen Brummer. Es kommen immer mehr davon!“ Athaly klang verzweifelt. „Und wir können uns nicht gegen sie wehren.“
„Das konnten wir noch nie, Athaly. Der Stamm hatte noch nie so viele Krieger wie die anderen. Wir sind sowieso kein kriegerisches Volk. Und früher gab es immer Tote, wenn wir angegriffen wurden. Jetzt gibt es Drohungen, aber das ist auch alles.“
„Bis jetzt ja!“, entgegnete Athaly, „aber wie schnell kann sich das ändern.“ Nun mischte sich auch Aleia, die Jüngere ins Gespräch.
„Athaly, bitte denke an uns. Wir haben keinen Vater mehr. Was sollte aus uns werden, wenn du nicht mehr bei uns bist? Glaube mir, es war sehr schwer als du weg warst. Mutter hat den ganzen Tag geschuftet und doch war nie genug zu essen da.“
„Ich hatte gehofft, dass ihr vielleicht mit mir kommt.“ Athaly äußerte dies nur sehr schüchtern. „Denkt an all die Wunder, die ihr sehen könntet. Es gibt Länder mit mächtigen Flüssen, die das ganze Jahr über Wasser führen, die von saftigen Wiesen bedeckt sind, mit schneegipfeligen Bergen. Das Meer ...“ Sie schwärmte noch eine Weile von der Schönheit der Welt an fernen Orten und die Mädchen versanken in ihrer Phantasie. Selbst Liara dachte an die schönen Zeiten in Askhauran, als ihre Familie noch im Reichtum geschwelgt hatte, zumindest verglichen mit ihrem jetzigen Leben, denn damals empfanden sie die Zeit der Hexenregentschaft als tragische Epoche, die einem Dasein im Überfluss ein Ende setzte. Das war dann auch der Fall gewesen, aber nicht weil ihre Familie verarmt war, sondern weil sie ein Opfer der Gewalt geworden war. Erst dann hatte sie als Sklavin Unterdrückung, Schmerz und nagenden Hunger kennen gelernt. Ihre Eltern hätten sich mit den neuen Machthabern arrangieren können, aber das hatten sie nicht getan. Sie hatten für die Freiheit gekämpft. Für ihre und die von anderen, nicht der Gefahr achtend, die dies für ihre Kinder bedeutete. War das richtig gewesen? Sie war in dieser Frage wohl zu parteiisch, um sie zu beantworten.
„Aber was wird dann aus den anderen? Aus den Shwakara? Sie sind doch auch unsere Familie!“, meinte ihre Mutter wenig begeistert. Natürlich. Sie hatte hier eine Menge Freundinnen, ihr gingen die Menschen nicht aus dem Weg und niemand versuchte, sie als Werkzeug für Machtspiele zu missbrauchen. Und sie sah die Gefahr nicht, die Athalys Anwesenheit für den Stamm bedeutete, weil sie sie nicht sehen wollte.
„Schlaft jetzt. Ihr müsst müde sein.“ Die Mädchen hüllten sich in Decken ein, denn die Nächte konnten empfindlich kalt sein. Die Feuerstelle war längst erloschen, Holz und anderes Heizmaterial war in der Steppe rar.
Athaly schlief traumlos, das Herz von Galahar hielt sie in beiden Händen und krümmte ihren Körper darum herum. Das Herz sorgte dafür, dass sie von Albträumen und Sorgen während der Nacht verschont blieb. Doch es warnte sie nicht davor, dass sich das Unheil rasch und von den Shwakara und den Pilgern in den umgebenden Lagern unbemerkt näherte.
Als die Sonne über den Horizont empor stieg, riesig und rot, konnten aufmerksame Wachen eine Staubwolke beobachten, die verriet, dass sich eine Karawane näherte, denn es wehte nur eine leichte Brise. Später verzerrten Luftspiegelungen das Bild; Wagen und Reiter schienen über dem Steppenboden zu schweben und viel näher zu sein als es tatsächlich der Fall war. Sie wirkten vor dem riesigen Sonnenball mit seinen verschwommenen Konturen unheimlich. Obwohl die rotbraune Erde fest und nicht sandig war, wurden Transportmittel, die keine Beine hatten, sondern Räder hier nur sehr selten verwendet. Verblüffend schnell sammelten sich die Kinder des Stammes, um die Neuankömmlinge zu bestaunen. Wenngleich sie sie auch jetzt noch meistens enthusiastisch begrüßten, waren Besucher für sie eigentlich nichts Neues mehr, wohl aber Zelte auf Rädern. Es waren nur zwei von je vier Pferden gezogene, elegante Fuhrwerke, die von etwa hundert uniformierten, berittenen Kriegern eskortiert wurden. Die Pferden waren ebenso schwarz wie ihre düster gekleideten Reiter. Ihre Schilder trugen als Wappen einen Skorpion. Als Liara dieses Symbols angesichtig wurde, erschrak sie heftig und begann zu zittern. Sie war zusammen mit Aleia in der ersten Reihe gestanden, nun zog sie sie zurück, wollte sich verstecken, besser noch verkriechen. Aleia passte das nicht, sie wollte zuschauen.
„Was ist los mit dir? So lass mich doch! Da hinten kann ich nichts sehen!“
„Und nicht gesehen werden“, entgegnete Liara zutiefst erschrocken, „hast du das Wappen nicht gesehen?“
„Was ist damit?“
„Es ist das Zeichen der Hexe von Askhauran! Siehst du nicht? Es ist auf der Flagge und auch auf der Droschke, die voran fährt! Wohin auch immer dieses Zeichen kommt, bringt es den Tod mit sich!“
Liara ließ Aleia stehen und rannte zu dem kleinen Zelt in dem Athaly noch schlief, während ihre Mutter bereits zu dem nahen Wasserloch unterwegs war. Sie schlug die Plane beiseite und schüttelte die Hüterin des Herzens heftig. „Wach auf Athaly, schnell, wach auf. Du must fliehen! Die Hexe kommt!”
Athaly schüttelte sich und erwachte mühselig. „Was ist? Oh Liara lass mich doch schlafen!“ Sie verstummte, als es ihr endlich gelang die Augen zu öffnen und sie die weinende Freundin sah, die einer Panik nahe war. „Welche Hexe? Du meinst die Hexe, die deine Eltern ermordete? Oh Liara, vielleicht ist sie nur krank und braucht unsere Hilfe.“ Sie nahm Liara in den Arm und versuchte sie zu trösten. „Bestimmt will sie dir nichts tun.“ Aber auch Athaly war jetzt sehr beunruhigt. Ihr war klar, dass Flucht unmöglich war; trotzdem erfüllte sie Zuversicht. Der Stamm würde sie verteidigen, wenn sie überhaupt ihret- und des Herzens von Galahar wegen hierher unterwegs war. „Mach dir keine Sorgen, die Männer des Stammes werden uns schützen.“
„Sie hat viele Krieger mitgebracht“, schluchzte Liara, „viel mehr als die Shwakara haben.“ Athaly war jetzt ebenfalls besorgt, weigerte sich aber in Panik zu geraten; das konnte sie sich nicht leisten, denn sie musste Liara, ihre Schwester und ihre Mutter beschützen.
„Bleib hier“, sagte sie sehr sanft, „ich werde mit ihr reden.“
Athaly befreite sich von ihrer Decke, zog ihr einfaches, graues Kleid über, hüllte das Herz in ein Tuch, hörte nicht mehr auf das Wimmern der jüngeren Freundin und verließ das Zelt. Dann ging sie in Richtung der aufgehenden Sonne durch das Lager, das ihre Heimat war. Sie fühlte sich unwirklich, weil sie auf eine sehr reale Gefahr zuging, wie ein Insekt, das sich in die offenen Scheren eines Skorpions flüchtet.
Als sie die Menschenmauer der Gaffer schließlich erreichte, war die Truppe der Siedlung bereits sehr nahe gekommen. Die Krieger wirkten in ihren schwarzen Rüstungen bedrohlich und der Bannerträger hielt den gewaltigen schwarzen Skorpion vor rotem Hintergrund so, dass er einschüchternd wirkte. Die Männer trugen längliche Schilder in der Linken und massive Lanzen in der Rechten. Über die linke Schulter ragte der Griff eines Schwertes. Geschützt wurden sie durch Kettenhemden und eherne Arm- und Beinschienen; sogar ihre düsteren Pferde waren bewehrt. Jetzt hielt der Tross vor den Shwakara und jenen Pilgern, die sich zu ihnen gesellt hatten. Ein Mann, der wohl einen höheren Rang innehaben musste, stieg ab und ging auf den vorderen, prunkvoll mit Goldornamentik verzierten Wagen zu, öffnete die Tür und hielt sie auf, wobei er eine militärisch stramme Position einnahm. Athaly hielt unwillkürlich die Luft an, als ein zierlicher Fuß in einem schmalen Schuh erschien, der eher verspielt als robust wirkte und besser in einen Ballsaal als in diese karge Landschaft passen wollte. Mit großer Neugier verfolgte sie den Auftritt jener Frau, die Liara als Hexe bezeichnete. Sie trug ein dunkles Kleid, das ihre schlanke Taille ebenso akzentuierte, wie ihre üppigen weiblichen Rundungen. Ein sehr weiter Ausschnitt tat ein übriges, um die vollen Brüste ebenso zu betonen, wie das halbmondförmige Muttermal, das zwischen ihnen sichtbar war. Den Ruf der Hexe kannten sogar die Shwakara; es hieß, dass sie ebenso grausam war, wie die ehernen Teufel in den Schwarzen Bergen. Beim Anblick des fast lieblichen, herzförmigen, von dunklem Haar umsäumten Gesichts mit den zarten Zügen kamen Athaly Zweifel an diesen Gerüchten, bis sie die unbarmherzigen, tiefblauen Augen der Frau sah. Die Frau war nicht mehr jung, wenngleich auch noch nicht so alt wie die ältesten der Shwakara. Sie blickte ungeduldig auf die Menschen, die in ihren Augen wohl zerlumpt wirken mochten. Schließlich schrie sie: „Wer hat hier das Sagen?“ Athaly blickte um sich. Von den Ältesten war keiner da. Natürlich. Sobald sie die Soldaten gesehen hatten, war ihnen eingefallen, dass sie Wichtigeres im Westen des Lagers zu tun hatten. Die Hexe aber war keine sehr geduldige Kreatur. Sie winkte ungeduldig ihrem Adjutanten, der daraufhin auf die Menschen zuging und einem älteren, geschwächt wirkenden Mann mit der Faust ins Gesicht schlug, der, völlig überrascht und aus der Nase blutend, zu Boden ging. Athaly erkannte in ihm einen der Pilger, dessen schmerzende Schulter sie behandelte. Der Gehilfe der Hexe zerrte den Jammernden an den Haaren in Richtung Kutsche. Keiner der Umstehenden griff ein oder rührte sich auch nur. „Ist es so schwierig mir eine simple Frage zu beantworten?“, fauchte die Frau in schwarz. Nach einer Weile, als sich weiterhin niemand meldete, nickte sie ihrem Handlanger zu, der daraufhin den Dolch zog. Erst jetzt erwachte Athaly aus dem schockartigen Zustand, in den sie die sinnlose Grausamkeit der beobachteten Handlung versetzt hatte. ‚Diese Frau wird den Wehrlosen umbringen lassen und danach noch andere’, dachte sie entsetzt und empört.
„Nein!“, rief sie so laut sie konnte, „lasst den Mann in Ruhe!“ Jetzt spürte sie, wie sie zornig wurde. „Er hat Euch nichts getan! Ihr seid bloß als Gast der Shwakara hier. Wie könnt ihr es wagen, Euch so zu benehmen?“ Athaly verließ die Reihe und stürmte auf die Hexe zu. Obwohl sie von Liara bereits wusste, wer ihr Gegenüber war, fragte sie mit Wut in der Stimme: „Wer seid ihr überhaupt?“
Doch zunächst beantwortete die Hexe die Frage nicht. Sie wirkte nachdenklich. „So also heißt dieser lausige Stamm!“, bemerkte sie schließlich. Dann blickte sie ihr in die Augen und unwillkürlich fuhr Athaly ein Schauder über den Rücken. „Man nennt mich Salomene, die Hexe!“, kam die Antwort, woraufhin ein ängstliches Raunen durch die Masse der Beobachter ging. Alle hatten schon von den Gräueltaten dieser erbarmungslosen Frau gehört. Die Menschen traten unwillkürlich zurück, so als ginge sie die ganze Sache nichts an und ließen damit Athaly alleine. Salomene fixierte sie mit ihren Katzenaugen. Athaly beschloss, sich nicht einschüchtern zu lassen. Ganz gelang ihr das nicht. Der Blick ruhte auf ihr wie der eines Raubtieres auf seiner Beute. „Wer bist du?“, fragte die Hexe schließlich.
„Ich bin die Hüterin des Herzens, dessen heilende Kraft all diese Menschen hierher gelockt hat. Sie alle sind gebrechlich und keine Bedrohung für dich und deine Krieger. Sag was du wünscht; wenn wir dir helfen können werden wir das tun. Danach geh’ in Frieden“, lautete Athalys Entgegnung, die sie mit so viel Selbstbewusstsein hervorbrachte, wie ihr nur möglich war.
„Was ich will?“ Salomene lächelte humorlos. „Sieh mir ins Gesicht! Sag, was siehst du? Ich möchte eine ehrliche Antwort!“
„Was das betrifft“, antwortete sie, „müsst ihr euch keine Sorgen machen. Ich bin ehrlich.“ Sie zögerte ein wenig. „Ich sehe eine schöne, ältere, grausame Frau.“ Athaly schätzte anhand der zahlreichen feinen Fältchen in deren Gesicht, dass ihr Gegenüber wohl in dem gleichen Alter sein musste, in dem sich die älteren Frauen des Stammes befanden. Nur die ältesten hatten noch mehr Jahre angesammelt und das waren wenige. Sie wurden von den Shwakara mit großem Respekt behandelt.
„In einer der Bibliotheken von Askhauran fand sich ein Buch, das behauptet, das Herz von Galahar könne die Jugend wiederbringen. Sag kleines Mädchen, ist das wahr?“ War es das, was diese kalte Frau wollte? Ewige Jugend?
„Das Herz kann Euch nicht wieder jung machen, Ihr bleibt so alt wie Ihr seid. Ihr lebt vermutlich länger, wenn Ihr es habt, weil ihr keine Krankheiten bekommt und Wunden rascher heilen, aber sterben müsst ihr schließlich trotzdem. Es nützt Euch nichts!“
„Das Buch hat also gelogen? Oder bist du es, die lügt?“ Salomenes Züge verrieten Zorn.
Athaly ließ sich einschüchtern und wollte die Frau beschwichtigen. Deshalb erklärte sie: „Ich lüge nicht. Und auch der Autor des Buches hat sicherlich nicht absichtlich gelogen. Er war nur schlecht informiert. Das Herz kann jugendliches Aussehen zurückbringen, aber es macht Euch innerlich nicht jung. Ihr fühlt Euch nicht jünger und lebt vielleicht auch nicht länger. Es war ein Irrtum, der Euch hierher gelockt hat. Also nehmt Eure Krieger und geht!“ Athaly drehte sich von ihr weg, als wäre das Gespräch damit beendet, und wollte zurück zu den anderen, so schnell wie möglich, denn die Frau war ihr unheimlich, aber der Soldat hielt sie auf und schob sie wieder auf die Fremde zu.
„Nicht so hastig, kleines Mädchen! Wir sind noch nicht fertig. Jugendliches Aussehen ist schließlich auch nicht zu verachten. Es ist sogar genau das, was ich jetzt brauche! Wo ist das Ding und wie kann es mir helfen?“
Athaly hatte nicht die geringste Lust, ihr diese Fragen zu beantworten. Sie spürte die Bedrohung, die von der schwarzen Gestalt ausging und beschloss daher diesmal nicht ehrlich zu antworten. „Es ist mir leider gestohlen worden. Gestern erst.“
Die Regentin von Asakhauran lachte. „Wo ist jetzt deine Wahrheitsliebe? Du bist die Hüterin, wie du selbst gesagt hast. Was hütest du denn da in dem Tuch?“ Unwillkürlich wich das Mädchen einen Schritt zurück, aber sie wurde immer noch festgehalten. Ohne jede Mühe gelang es der Stärkeren, ihr das Tuch samt Inhalt zu entreißen. Sie entfaltete das Gewebe und hielt das blutrote, faustgroße Juwel in der linken Hand, das ein pulsierendes Glühen abstrahlte. Der rötliche Schein beleuchtete das Gesicht der Frau und ließ es dämonisch wirken. Dann holte sie mit der rechten aus und versetzte Athaly einen derart heftigen Schlag auf die Wange, dass ihr Kopf zur Seite geworfen wurde. „Das ist für deine Lüge! Solltest du mich noch einmal belügen, wirst du mich kennen lernen!“ Athaly spürte den metallischen Blutgeschmack im Mund und sah aus dem Augenwinkel, dass ihre kleine Schwester auf sie zulief.
„Nein!“, schrie sie und machte eine abwehrende Geste. Aleia blieb stehen, doch Athalys Widersacherin hatte sie bereits erspäht. Ein triumphierendes Glitzern erschien in den Augen der Hexe.
„Sollen wir sie mitnehmen? Was meinst du, Hüterin? Wird das nötig sein?“ Athaly schüttelte rasch den Kopf. Sie empfand Angst, aber nicht um sich selbst, sondern um ihre Schwester. „Dann verrate mir also: was muss ich tun, um wieder jung auszusehen? So jung wie du?“
Athalys Widerstand war gebrochen. Mit zitternder Stimme erklärte sie, was in ihren Auge ohnehin kein Geheimnis war. „Leg das Herz an das deinige, jede Nacht, einen Monat lang. Das genügt.“ Dann fügte sie hinzu: „Die Shwakara werden Euch so lange beherbergen. Aber eure Männer können wir nicht bewirten, so viele Lebensmittel haben wir nicht. Es wird das Beste sein, Ihr schickt sie zurück.“
Die Frau, die sich Salomene nannte, lachte abermals. Wenn es nach der Häufigkeit ihres Lachens ging, müsste sie ein sehr humorvoller Mensch sein. ‚Merkwürdig nur’, dachte Athaly, ‚dass ich gar nicht diesen Eindruck habe.’
„Oh nein!“, sagte Salomene spöttisch mit schriller Stimme, „das Herz von Galahar kommt mit mir. Und du als seine Hüterin wirst mich begleiten!“
„Herrin“, versuchte Athaly sie umzustimmen, „nehmt uns das Herz nicht weg, es ist die Lebensgrundlage des Stammes! Und auch mich braucht Ihr nicht. Ihr habt doch bereits alles, was Ihr wollt.“ Verzweiflung klang in ihrer Stimme mit. Die Frau, die einst Reja die Piratin gewesen war, hörte sie, reagierte aber nicht auf den Klang, sondern nur auf den Inhalt ihrer Äußerung.
„Alles, was ich will?“, zischte sie, „Was weiß ein Trampel wie du darüber, was ich will? Glaubst du, ich - vor der die Bevölkerung zahlreicher Welten gezittert hat - bin zufrieden, weil ich einen Stein in meinen Händen halte, der als Jungbrunnen wirkt? Oder weil ich Herrscherin über ein winziges Land bin, so winzig, dass es auf diesem Globus kaum zu finden ist? Was ist Gaia gegen die Vielzahl von Welten, die ich seinerzeit besucht habe, vor der Unendlichkeit, die mein war? Was ist Askhauran gegen die Kontinente, die ich beherrschte und unterdrückte? Dieses Juwel ist nur der Schlüssel für die Rückkehr über den finsteren Abgrund des Himmels zu Macht und Reichtum in einer Fülle, die du dir nicht einmal vorstellen kannst!“ Athaly verstand nicht, was diese Frau sagen wollte; es klang irgendwie irre. Und doch war zu spüren, dass sie – wenngleich überaus grausam – doch nicht verrückt war, obwohl ihr Äußeres diesen Anschein erweckte: das Lodern in ihrem Blick, das kontrastreich geschminkte Gesicht, insbesondere die dunkel gefärbten Lippen und Augenlider; die langen dunklen Haare, die aber an der Basis weizenfarben waren; die schwarz lackierten, zugespitzten Fingernägel. War sie einer Geistesgestörten ausgeliefert? Wie sollte sie aus dieser Situation entkommen?
„Ich nehme den Stein mit und dich auch, kleines Mädchen“, äußerte sie schließlich sehr ruhig.
„Mich? Aber wozu das?“
„Nun. Erstens könntest du gelogen haben. Ich glaube das nicht, aber manchmal irre ich mich. Und zweitens kannst du mir noch mehr über das Herz beibringen. Wie man damit heilt, um nur ein Beispiel zu nennen.“
„Ihr wollt andere heilen?“ Athaly war erstaunt. Womöglich steckte doch auch ein guter Kern in dieser Kreatur. „Ich helfe euch gerne dabei. Ich gebe euch alle Informationen, die ihr dafür braucht.“
Salomene lächelte. Es war kein gutes Lächeln. „Sicher will ich das. Weißt du, kleines Mädchen, meine Feinde haben die lästige Eigenschaft unter der Folter zu rasch zu sterben. Da macht das Ganze ja überhaupt keinen Spaß mehr. Aber mithilfe des Herzens von Galahar kann ich sie heilen und dann wieder foltern, so oft ich will, bis ich dessen überdrüssig werde.“ Ihre Augen funkelten vor Fröhlichkeit. „Ach ja; das ist eine weitere Antwort auf deine Frage, warum ich dich mitnehmen muss. Du darfst die Erste sein, die das ausprobiert. Ich hoffe, du bist zäh und hältst lange durch! Es wird mir wohl an weiteren Versuchsobjekten mangeln. Ich habe nämlich vorübergehend meinen Sohn auf den Thron von Askhauran gesetzt, es wäre zu gefährlich gewesen, das Reich ohne Führung zu verlassen. Ich bin dort nicht besonders beliebt.“ Ihre Mimik verriet Unverständnis, ja sogar Erstaunen und ein wenig Empörung. „Wie auch immer“, setzte sie fort, „ihm wird jedenfalls schnell langweilig und dann wird er wohl die Gefangenen peinigen. Aber er ist nicht sehr subtil dabei. Ich fürchte, es werden nicht mehr allzu viele übrig sein, wenn ich zurück komme.“
Athaly wurde vor Angst schlecht. Das Blut wanderte aus ihrem Kopf in tiefere Körperregionen. Dennoch zwang sie sich, weiter mit dieser schrecklichen Frau zu sprechen. „Wie könnt Ihr denn sicher sein, dass Euer Sohn auf die Macht des Throns verzichten wird, wenn Ihr wieder zurückkehrt?“
„Oh, er ist ein bisschen gierig, da hast du schon recht. Aber sein Vater kehrt bald ebenfalls zurück und er hat überzeugende Argumente.“ Salomene blickt überaus zufrieden. Athaly erinnerte sie an eine Schlange, gleich nachdem sie ihre Beute verschlungen hat. Kurz dachte sie an ihren Lehrer zurück. Einst hatte er gesagt, dass man das Herz nicht missbrauchen könne, da es nur für gute Taten geeignet sei; wie sehr hatte er sich doch geirrt. Wie phantasievoll war doch diese Frau. Wie ... böse. Wieso waren die Guten – wie Tethaton – nur immer so naiv! Athaly hatte das Wissen darüber, wie man mit dem blutroten Juwel heilt nie als Geheimnis betrachtet. Aber nachdem ihr Salomene erzählt hatte, wozu sie diese Kenntnisse zu missbrauchen gedachte, blieb ihr gar nichts anderes übrig als zu schweigen. Was für Salomene wieder die Anwendung der Folter rechtfertigen würde – falls sie so eine Rechtfertigung überhaupt brauchte. Ihr Widerstand, den es zu brechen galt, war für diese abscheuliche Frau ein zusätzlicher Anreiz.
Wie eine satte Katze an der getöteten Maus schien die Frau von einem Augenblick zum anderen das Interesse an Athaly zu verlieren. Mit einer beiläufigen Bewegung an den Krieger, der sie festhielt, sagte sie mit abwesend monotoner Stimme: „Schaff sie in den Wagen und binde sie fest.“ Dann ging sie zu ihrer eigenen Kutsche zurück und stieg ein. Der Mann bog indessen Athalys linken Arm schmerzhaft nach hinten, hielt den anderen fest und zwang sie in den zweiten Wagen, der kein hölzernes Dach, sondern nur eine Plane hatte, die verhinderte, dass man hinein- oder hinaussehen konnte. Der Mann zog die Wagendecke vorne ein wenig zur Seite und trat in den Innenraum. Mit einem geflochtenen Hanfseil band er ihre Arme hinter ihrem Rücken überkreuzt aneinander, so fest, dass sie sich nicht befreien konnte. Das andere Ende des Seils knotete er an einen Metallring, Kopf eines massiven stählernen Nagels, der aus dem Boden hervorragte. Der Mann schien sein Handwerk zu verstehen und Athaly hatte nicht viel Hoffnung, dass es ihr gelingen würde, ohne jedes Hilfsmittel den Knoten zu öffnen. Als er mit seinem Werk zufrieden war, ließ er die Gefesselte allein. Sie fühlte ein Rucken; der Planwagen setzte sich in Bewegung. Die Geräusche, die sie vernahm, informierten sie darüber, dass der ganze Trupp abzog. Die Usurpatorin hatte was sie wollte und kehrte nun mit ihrer Beute in das geraubte Land zurück.
***
Die Männer brüllten vor Lachen. „Er will das Pferd kaufen, sagt er!“ Der Händler wischte sich mit einer haarigen, fettigen Hand Tränen aus dem Augenwinkel. Gjefren wurde rot wie eine Tomate. Diese Leute amüsierten sich köstlich auf seine Kosten, aber er wusste nicht wieso. Er hasste es ohnehin die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und noch weniger konnte er es leiden, ausgelacht zu werden. Dabei war er so stolz auf sich gewesen! Er hatte das Tier auf Anhieb erkannt, die Beschreibung seines Vaters war ja überaus klar gewesen: ein Tier ohne Hände und Füße; die Gliedmaßen wie Stelzen geformt. Eine elendslange Nase. Na gut, so lange war sie gar nicht, aber vielleicht hatte er ja übertrieben. Das war ein Pferd und man konnte es zum Reiten verwenden. Genau so etwas brauchte er, wenn er von Merion in die Schwarzen Berge gelangen wollte.
„Ich habe gefragt, wie viel es kostet, und nicht gesagt, dass ich es kaufen will!“, korrigierte er sehr ärgerlich.
„Nun, wie viel kostet ein Pferd? Noch dazu so ein Vollblut, wie das hier?“ Der Händler wandte sich mit dieser Frage an die Umstehenden, die wieder lauthals zu Lachen begannen. Dann blickte er Gjefren an. „Sechzehn Silberlinge!“ Irgendwie hatte er das Gefühl gerade übers Ohr gehauen zu werden, aber von Wägan her war er es nicht gewohnt zu feilschen, also tat er das hier auch nicht.
„Gut. Ich will es kaufen.“ Er hatte nur Farren dabei, aber die waren aus Silber und sogar etwas größer als die größeren Münzen, die man hier als Silberlinge bezeichnete. Der Händler übergab ihm das Seil, das um den Hals des Pferdes geschlungen war und die Münzen wanderten von Hand zu Hand. Dann ging er mit dem großen Tier durch die enge, staubige, mit allerlei Unrat verschandelte Gasse, verfolgt vom Gelächter der Männer und er spürte, wie seine Wangen glühten. Als wäre das nicht schon genug, begann das Pferd nun ebenfalls lauthals zu lachen – zumindest klang es so und er war sich sicher, dass das Tier ihn verspottete. „Sei ruhig!“, giftete er. Dann aber bogen sie um eine Ecke. Kaum sah er die Männer nicht mehr, fühlte er sich wohler.
Aber nicht lange. Schon näherte sich ein dreckiges Individuum mit unrasiertem Gesicht und stechendem Blick: „Braucht ihr einen Führer, edler Herr? Wohin wollt ihr denn?“
Gjefren hatte zwar die Karten – Photographien der Schwarzen Berge aus dem All – aber ein Führer würde das Ganze doch wesentlich vereinfachen! „In die Schwarzen Berge. Zu den schwarzen, ehernen Männern!“ Einen Augenblick sah ihn der Mann entsetzt an. Dann war er verschwunden. Hatte er etwas Falsches gesagt? Na gut, es musste auch ohne einheimischen Helfer gehen. Er hatte viele Millionen Kilometer zurückgelegt, da konnten ein paar hundert kein wirkliches Problem darstellen.
Zuerst hatte sich Sarpedon sehr gewundert, dass er nicht mit Nisaya und ihm in die Unterwasserstadt von Poseidon mitkommen wollte. Der Hyborische Kontinent sei gefährlich, hatte er gemeint. Gjefren hatte ihn daran erinnert, dass Sarpedon auf diesem Planeten nicht willkommen war und es daher genauso riskant war, in seiner Nähe zu bleiben. Außerdem war Gjefren schließlich erwachsen und konnte tun und lassen was er wollte. Seinem Onkel gefiel das gar nicht – aber schließlich hatte er ihn doch nach Merion gebracht, wo seinerzeit sein Vater auf dem Weg zu den Sandarken vorbeigekommen war. Letzte Stadt vor den Monstern. Gjefren hatte die Schutzweste seines Vaters an und ein Schwert in einer unansehnlichen Lederscheide gegürtet, ebenso wie einen Dolch. Er war in grauen, groben Stoff gekleidet und damit beinahe unauffällig, seine schillernden Haare verbarg er unter einer Lederhaube. Er hatte genug Proviant für einen Monat, Decken, Feuerzeug, Arzneien, aber alles war so, dass es wohl kaum das Interesse von Dieben erregen würde. Was gut war, denn Sarpedon hatte ihm ein kleines Vermögen mitgegeben und sicherheitshalber auch noch eine Plasmaimpulspistole. Geld und Schusswaffe trug er am Körper, unter dem knielangen Hemd, das er unter dem Waffengurt trug und über der Schutzweste, in einer Innentasche, unauffällig wie er hoffte. Nun, die Leute, die ihn beim Pferdehändler begafft hatten, mussten gesehen haben, wohin er beim Zahlen gegriffen hatte.
Den Rest seines Gepäcks trug er in einem Seesack, den er jetzt ungeschickt seinem Begleiter auflud, der davon wenig begeistert schien. Er ärgerte sich immer noch über den Händler und die anderen Leute, aber dann dachte er daran, wie sein Vater an sein Pferd gekommen war und danach fühlte er sich etwas besser.
Bald hatte er die Stadtmauer erreicht und passierte sie durch das Westtor. Er nahm den Pfad in Richtung Fluss, dem er aufwärts folgen wollte. Er betrachtete alles neugierig, denn dies war der Originalschauplatz der Familienlegende, die er immer wieder gehört hatte, erstaunlicher Weise ohne sich besonders zu langweilen. Stattdessen war seine Sehnsucht nach dem Fremden erwacht und sein Wunsch, all die wunderbaren Orte selbst zu sehen. An Gefahr dachte er dabei nicht. Die war durch wiederholtes Erzählen sicher immer mehr aufgebauscht worden. Jetzt erblickte er eine abwechslungsreiche Auenlandschaft im Gegenlicht, denn die Sonne stand nicht mehr besonders hoch, wenngleich noch in einigem Abstand vom Horizont. Den schillernden Fluss säumte ein beeindruckender, allerdings schmaler Galeriewald. Das Wasser floss träge dahin und die Rinne, die sich das Gewässer im Laufe der Zeit gegraben hatte, war nur zum Teil gefüllt, sodass man bequem das Ufer entlang wandern konnte; statt zu reiten ging er neben seinem Pferd. Er würde morgen versuchen herauszufinden, wie das mit dem Reiten funktioniert. Fürs Erste war ihm schon damit geholfen, dass er den schweren Seesack nicht selbst tragen musste. Er hatte es nicht eilig. Alles war so neu für ihn und gerade die merkwürdige Natur füllte ihn mit Erstaunen. Nicht nur das, was da war, erschien ihm verblüffend. Die Abwesenheit des Meeres, das sein bisheriges Leben geprägt hatte, war ebenfalls eigenartig. Er ging langsam und begann, besonders flache Steine aufzuheben und ebenso geschickt über das Wasser tanzen zu lassen wie sein Vater das vor vielen Jahren getan hatte, vielleicht gerade hier an dieser Stelle. Er hatte seine Begabung im Zielschießen geerbt. Auch sein Pferd hatte es nicht gerade eilig und wo immer besonders saftige Gräser wuchsen, blieb es stehen, fraß ein wenig und wackelte mit den großen Ohren. Gjefren zerrte an dem Seil, aber es half nichts. Er musste Geduld haben. Schließlich schickte sich die Sonne an, unterzugehen. Er band das Pferd an eine Wurzel, die der Fluss wohl beim letzten Hochwasser freigespült hatte, trank ein wenig Wasser aus seiner Feldflasche, aß dazu eine Portion aromatisierte Trockennahrung, an die er sich erst gewöhnen musste, entrollte den Schlafsack und wartete auf die Nacht. Der Goldton am Horizont verschwand rasch und machte immer mehr Sternen, die in willkürlich erscheinenden Mustern am Himmel hingen, Platz. Falsche Formen, nicht diejenigen, die er von Wägan her kannte. Der Mond tauchte auf und die noch um ein wenig größere Galaxis ebenfalls. Im silbernen Licht verblassten die meisten Sterne, aber immer noch blieben Myriaden sichtbar. Das Schauspiel, das sich ihm bot, war majestätisch, erhaben, er fühlte sich ganz klein und irgendwie beruhigt, weil all die Sterne über ihn wachten.
Als ein Ast irgendwo flussabwärts knackte, verflog das Gefühl der Sicherheit jäh. Er klappte die Decke schnell zur Seite, stand ungeschickt auf und wollte zur Innentasche greifen, in der sich die Plasmaimpulspistole befand, als ihn ein schwerer Körper zu Boden warf. Er fiel in den Sand und schrie erschrocken auf, sah schemenhaft wie sich eine Hand mit einem Messer hob, das eine sehr kurze Klinge hatte, sah im Mondlicht das vertraute Gesicht des Mannes, der sich als Führer angeboten hatte, dann stach er mit Wucht zu, traf ihn dort, wo lebenswichtige Organe waren, Leber oder Niere. Gjefren keuchte auf und erstarrte zu Reglosigkeit.
„Die Münzen schützen sein Herz“, sagte jemand, „ich war dabei als er bezahlte“. Der Dieb schob daraufhin sein Hemd ein wenig zur Seite, fand die Innentasche, griff nach der verdächtig scheppernden Münzbörse und ertastete auch die Handfeuerwaffe.
„Du hast das Geld?“, fragte der andere, der sich seinem Pferd näherte.
„Das und noch etwas anderes! Keine Ahnung was das sein soll. Bei dem Licht erkennt man nichts.“ Gjefren war klar, dass er die Pistole ergriffen hatte. Zum Glück war sie gesichert.
„Egal, nimm es mit. Was ist mit dem Typen?“
„Der müsste bald innerlich verblutet sein. Ich habe ihn ja genau bei der Niere getroffen. Er hat sich kaum gewehrt.“ Der zweite Mann griff nach dem Seesack, aber die Mähre wehrte sich, schleuderte ihre Hinterhufe nach dem Angreifer und schrie auf überaus schaurige Art. Offenbar traf einer der Tritte, denn der Mann heulte auf und wurde in den Sand geschleudert. Er fluchte. „Lass uns abhauen!“ Die beiden Schemen verschwanden in Richtung Stadt und ließen Gjefren liegen, der sich in einer Art Schockstarre befand, die aber gerade dabei war, sich in glühende Empörung zu verwandeln. Aber auch das änderte sich bald, schließlich schämte er sich, weil er nicht in der Lage gewesen war, sich zu wehren. Er betastete sich dort, wo das Messer ihn getroffen hatte und stellte erleichtert fest, dass er unverletzt war. Aber ohne die Schutzweste seines Vaters wäre er jetzt zweifellos tot. Er war gerade einmal einen Tag hier und hatte bereits seine beste Waffe verloren, eigentlich seine einzige, denn mit dem Schwert und dem Dolch konnte er wenig anfangen. Und auch sein Vermögen war dahin. Aber das, so wurde ihm klar, bedeutete lediglich, dass es kein Zurück mehr gab. Er musste seinen Plan, den er weder Sarpedon noch seiner Schwester erläutert hatte, verwirklichen. Gjefren griff nach dem Ring der an einer Schnur um seinen Hals hing. Es war der Ring, den einst seine Mutter getragen hatte und davor die Piratin Reja. Der Ringschlüssel.
***
Die Hexe hatte nicht mehr mit ihr gesprochen und vielleicht fürs Erste das Interesse an ihr verloren. Athaly war deshalb nicht böse, hatte sie doch begründete Angst vor ihr. Einmal am Tag bekam sie Besuch von einer schweigsamen Sklavin aus den westlichen Ländern, wie ihre sehr helle Haut verriet, die ihr mit einem Löffel eine wenig dünne Suppe aus einem Topf einflößte, in der ein paar Brotstücke schwammen. Danach durfte sie in den gleichen Topf ihre Notdurft verrichten. ‚Immer noch besser als umgekehrt’, dachte sie, aber zufrieden mit der momentanen Situation war sie jedenfalls nicht. Sie hatte versucht, mit der Sklavin ins Gespräch zu kommen, die jedoch offenbar voller Angst war; wenn Athaly anfing zu reden, verließ sie fluchtartig den Planwagen. Also ließ sie es schließlich bleiben. Folglich blieb sie den Tag über meist allein. Ihre Lage war sehr unbequem, denn mit am Rücken gefesselten Händen war sowohl das Sitzen als auch das Liegen schwierig. Gelegentlich bekam sie Besuch von dem Mann, der sie festgehalten hatte, als Salomene ihr ihre Aufmerksamkeit aufzwang. Wie sich herausstellte, war er der Foltermeister der Herrscherin und es machte ihm offenbar Spaß, ihr detailreich die phantasievollen Möglichkeiten zu offenbaren, die es gab, sie tagelang zu quälen. Nur um sie dann mithilfe des Herzens von Galahar zu heilen und von Neuem zu beginnen. Während seiner Erzählungen wurde Athaly regelmäßig schlecht und sie hätte sich sicherlich übergeben, wäre ihr Magen nicht so leer gewesen. Wenn er erreicht hatte, was er wollte, wenn er die Angst in ihren Zügen erkennen konnte, schenkte er ihr noch ein gieriges Grinsen und ging. Dass er ihr nichts antat, sprach dafür, dass er Befehl hatte sie noch physisch in Ruhe zu lassen. Vielleicht sollte sie für die anschließende Befragung mürbe gemacht werden. Athaly war inzwischen ohnehin bereit, alles über das Herz von Galahar zu erzählen, es war also unnötig, ihr Angst einzujagen, aber sie hatte es natürlich mit einem Sadisten zu tun, der keinen Grund brauchte, um sie zu quälen. Und die Hexe war sogar noch schlimmer.
Manchmal aber erzählte ihr der Mann auch von seiner Frau und seinen beiden Töchtern, die er seiner Aussage nach sehr liebte. Dieser Wechsel zwischen grausamem Sadisten und liebevollem Vater war so verrückt, dass sie dadurch noch mehr verängstigt wurde. Irgendetwas stimmte bei dem Man überhaupt nicht, er erschien ihr nicht zurechnungsfähig. Schon nach seinem ersten Besuch war ihr klar geworden, dass sie nicht lebend in Askhauran ankommen würde, nur um sich überaus langsam zu Tode foltern zu lassen. Sie würde versuchen zu fliehen und dabei vermutlich sterben. Aber Sterben war gar nicht so schlecht; das zumindest hatte er ihr klar gemacht.
Ihr Fluchtplan war höchst einfach und basierte auf ihrer Erfahrung mit der Schaukel, die ihr Vater für sie angefertigt hatte. Wieder und wieder musste er sie reparieren, weil sie sie derart enthusiastisch und ausgiebig verwendet hatte, dass – obwohl sie doch nur ein kleines Mädchen gewesen war – wieder einmal irgend ein Teil, eine Schnur, eine Saite oder ein Lederstreifen, durchgescheuert war. Deshalb wiegte sie sich fast den ganzen Tag hin und her und belastete dabei das Seil, das sie fesselte, soweit als möglich ohne sich selbst allzu große Verletzungen zuzufügen.Es gab trotzdem nicht nach, es musste von hervorragender Qualität sein, aber sie fühlte, dass sich der daumendicke Nagel im Holz lockerte. Aber leider nur ein klein wenig und mit der Unterernährung begannen ihre Kräfte zu schwinden und sie konnte nicht mehr so eifrig hin und her schwanken. Dann aber kamen sie ins Gebirge, wo die Straße uneben und zunehmend holprig wurde. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr anzustrengen, um hin und her zu schaukeln, das ging ganz von selbst.
Der Weg wurde auch schmäler und an einem Nachmittag riss ein großer, abgestorbener Ast die Plane seitlich am Wagen ein Stück auf. Niemand machte sich die Mühe, den Schaden zu reparieren. Das Loch war nicht sehr groß, aber es war ihre Fluchtchance. Sie konnte jetzt einen kleinen Ausschnitt von der Landschaft sehen, scharfe Klippen oder ein üppiges Blätterdach. Selbst dieser winzige Ausblick war atemberaubend schön. Sie sah allerdings auch den Krieger, der neben dem Wagen ritt. Bei Tag war es nicht möglich sich davonzumachen, sie hoffte darauf, in der Nacht fliehen zu können. Zunächst bekam sie aber den Nagel noch nicht aus der Planke. Sie versuchte ihn zu drehen, immer und immer wieder, aber sie konnte ihn nur ganz wenig bewegen. Diese Nacht schlief sie nicht, sondern ruckte und drehte, ebenso leise wie erfolglos, an dem metallenen Stift und, als es dämmerte, ließ er sich endlich ein wenig aus dem Holz ziehen. Es war zu spät für heute Nacht, aber in der nächsten musste sie es versuchen, denn sie war nicht nur erschöpft sondern wegen des Nahrungsmangels auch sehr schwach. Lange würde sie die nötige Kraft für eine Flucht nicht mehr aufbringen.
Die hellhäutige Sklavin erschien mit dem bisschen Essen, das sie vor dem Verhungern bewahrte. Schweigend ließ sie sich füttern, dann setzte sich der Trupp langsam in Bewegung. Athaly war erschöpft und döste ein bisschen vor sich hin. Sie erwachte schließlich, weil der Tross langsamer wurde. Sie versuchte durch den schmalen Schlitz in der Plane etwas über die Ursache der Verzögerung zu erkennen. Ein kleines Insekt flog gerade durch den Spalt herein und setzte sich unweit von ihr auf die Holzplanken. Solch ein Tier hatte Athaly bereits vor Jahren einmal gesehen, als sie in den Schwarzen Bergen gewesen war. Es handelte sich um eine Eintagsfliege und wo die war, war auch Wasser in der Nähe. Jetzt bemerkte sie, dass mehr Licht durch den Spalt drang. Die steilen Bergwände, die ihren Pfad umgrenzten, waren offenbar zurückgewichen. Waren sie an das Ufer eines Sees gekommen oder folgte der Pfad dem Lauf eines Flusses? Nun vernahm sie ganz leise wie aus einiger Entfernung das unverkennbare Geräusch fallender Wassermassen.
Sie musste sich einen besseren Überblick verschaffen! Athaly zerrte wieder an dem Nagel der sie an den Boden fesselte, ruckte herum und Stück für Stück gelang es ihr ihn weiter aus der Planke zu ziehen und in einer letzten Anstrengung, in der sie alles gab, was ihr an Kraft verblieben war, zog sie ihn senkrecht nach oben und war frei. Oder zumindest ein wenig freier. Sie hastete zu der Öffnung und spähte vorsichtig hinaus, darauf hoffend, dass niemand sie sehen würde.
Sie erspähte eine Steinbrücke über einem Abgrund, dessen Tiefe sich mit ihrer eingeschränkten Sicht nicht abschätzen ließ. Die Brücke war schmal, so schmal, dass die Wachen, die meist neben ihrem Wagen ritten, keinen Platz mehr fanden und nach vorne oder nach hinten ausweichen mussten. Dem Tosen des Wassers nach konnte sie darauf hoffen, dass der Fluss tief genug war, um sie nach dem Sturz – falls sie den Mut zu einem Sprung aufbringen würde - abzubremsen, aber Sicherheit hatte sie keine. Sie wusste nicht, wie tief sie fallen würde und sie hatte keine Ahnung, was sie da unten erwartete. Felsen? Wasserwirbel, die sie in die Tiefe zogen? Aber sie wusste ganz genau über ihr Schicksal Bescheid, falls sie nicht sprang. Der Foltermeister der Hexe hatte da keine Zweifel gelassen. Die Wahl, die ihr verblieben war, war gar nicht schön. Sie weinte ganz kurz und nur innerlich aus Selbstmitleid, für mehr blieb keine Zeit und das war gut so, denn wenn sie damit begann, sich die möglichen Folgen des Sprunges auszumalen, ihren zerschmetterten Körper auf einem Felsen, der aus dem Wasser ragte oder ähnlich Erbauliches, würde sie die Kraft für dieses selbstmörderische Abenteuer nicht finden.
Sie drehte sich um und begann mit den scharfen Kanten des Stiftes, den sie zwischen ihre Hände genommen hatte, den Schlitz in der Wagenplane zu erweitern, was zum Glück ganz gut ging, denn einfach nach vorne aus dem Gefährt zu steigen, wagte sie nicht. Zudem waren die Planen dort zusammengebunden und mussten erst geöffnet werden, wenn jemand das Innere betreten wollte.
Draußen ertönte ein aufgeregter Schrei und dann wurde an der Schnur genestelt; jemand wollte herein. Ihre Tätigkeit war also beobachtet worden. Mit auf dem Rücken gebundenen Händen war das, was sie jetzt vorhatte, halsbrecherisch, aber ihr blieb keine Wahl mehr. Sie sprang kopfüber durch das Loch, dessen zerfetzte Ränder ihr im Weg waren und sie behinderten. Sie kam nicht so weit wie geplant und fiel gegen die Brüstung der Brücke, die hoch war, bis zur Schulterhöhe eines Mannes. Von nun an schien sich die Zeit ins Unendliche zu dehnen. Sie sah die rostrote, staubige Erde zwischen den Speichen des Vorderrades und dem Brückenrand und den kontrastreichen, wandernden Schatten der Kutsche, fühlte, dass der Sprung zu kurz geraten war. Sie hörte das gewaltige Rauschen des Wasserfalls und das Geschrei eines Mannes, das wohl ihr galt und Aufmerksamkeit erregte. Die Hexe, nun mit dem Gesicht einer bereits deutlich jüngeren Frau, blickte aus ihrer Droschke hervor und nach hinten. Einen Augenblick fürchtete sie, zurück auf den Weg zu fallen, als sie die Brüstung mit ihrer rechten Hüfte schmerzhaft berührte, sah den Krieger, der sich ihr wütend näherte und schon auf Höhe des Vorderrades war. Dann zog sie schnell die Füße an, kippte hinab und hatte das erste Mal Gelegenheit nach unten zu sehen, wo ihr Schönheit und Grauen entgegenblickten. Ihr war, als wäre der Fluss dort unten unendlich weit fort und wirke deshalb nur als dünnes, würmelndes Rinnsal. Aber das kraftvoll bewegte, dunkle Wasser, durch den Sturz über Dutzende Ellen drängend und gewalttätig geworden, sich aufbäumend und Schaumkronen bildend, graue Felsen umwogend, näherte sich ihr erstaunlich rasch. Sie zog die Beine noch näher an den Körper, krümmte sich so gut es ging, überschlug sich. Der Fluss war breit, die Illusion eines schmalen Gewässers dahin, als sie schmerzhaft mit Wucht auf die Oberfläche prallte und gleich darauf unterging. Sie sank und wurde davongetragen, entlang runder großer Steine geschleift, die selbst mit dem Fluss mitwanderten. Dann erst schwebte sie höher, brach durch und atmete hastig und tief ein, über sich das strahlende Blau eines Frühlingstages, seitlich steil aufragende, zackige Felswände. Kurz sah sie einen der Soldaten von der Brücke stürzen - sicherlich nicht freiwillig - und gegen einen der Felsen prallen. Sein Pech war ihr Glück. Er zumindest konnte sie nicht mehr zurück bringen. Erst jetzt fiel ihr auf, wie grauenvoll kalt es war, das Atmen fiel ihr immer schwerer, ein tonnenschweres Gewicht schien auf ihrer Brust zu liegen; oft wurde sie ganz unter Wasser gedrückt, Felsen tauchten vor ihr auf und sie entging dem Schicksal des Soldaten nur um Haaresbreite. Unglaublich rasch trug der Fluss sie weiter, die Brücke mit all den Menschen darauf erschien ihr nun schon nur mehr winzig. Immer noch gefesselt fiel es ihr schwer, die Oberfläche oft genug zu erreichen und genug Luft zu bekommen. Sie war ein Spielball der Fluten, eine hilflose Beobachterin ihres eigenen Schicksals und immer mehr nahm die Kälte von ihr Besitz. Die Taubheit erreichte schließlich ihr Inneres. Ihr war klar, dass sie den Kampf um ihr Überleben verlor, als ihr schließlich das Bewusstsein schwand.
***
Wieder einmal verweigerte ihm das Pferd den Gehorsam. Zwar hatte es sich manchmal sogar reiten lassen, aber meistens musste er nebenher gehen und es oft genug hinter sich her ziehen. Gegenwärtig nicht einmal das. Er zog mit aller Kraft wütend an dem Strick, aber das Tier lachte ihn bloß aus.
„Komm weiter, du elende Kreatur!“, zischte er, „du hast doch eben erst gefressen!“ Aber das Pferd ließ sich davon nicht beeindrucken. Es bleckte die großen Zähne, wackelte mit den langen Ohren und blickte ihn hämisch aus seinen langbewimperten, dunklen Augen an.
Gjefren war schon viel länger unterwegs, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Schuld war diese Kreatur. Um ein bißchen Zeit aufzuholen, hatte er die Bergstraße bei der schmalen, nicht sehr vertrauenerweckenden Brücke verlassen und war dem Pfad gefolgt, der mehr oder weniger dem klaren, reißenden Gebirgsfluss folgte. Eine gewagte Entscheidung, denn auf seinen Fotographien war nicht zu erkennen, ob der Weg wirklich durchgehend war und schließlich wieder auf die Bergstraße münden würde, die einen der Gipfel umrundete und daher viel länger war als der schmale Pfad. Wie auch immer, er war jedenfalls bereits den zweiten Tag unterwegs, mal nahe dem reißenden Gewässer, mal weiter weg, und sollte er sich als Sackgasse erweisen, würde das seiner Laune nicht gerade förderlich sein.
Immerhin hatte sein Lastenträger Geschmack: das Plätzchen, das er sich für eine Pause auserwählt hatte, war wirklich erlesen. Hier zeigte der Fluss seine ruhige, harmonische Seite, er war breit, floss nur langsam dahin und das Ufer war flach und grasbewachsen. Dort wollte sein Reittier hin, zu den zarten, saftigen, hellgrünen Halmen. Gjefren gab nach und verließ den Pfad, setzte sich auf einen fast ebenen Felsen, der die Wärme der Sonne gespeichert hatte und blickte hinauf zum makellos blauen Himmel und dann weiter zu den steilen Hängen auf der anderen Seite des gewundenen Weges, empor zu einer Art dicht bewachsenem Zwischenplateau. Ein Wildwechsel schlängelte sich von dort und noch weiter oben hinunter zu der weiten Senke, in der er sich befand. Welche merkwürdigen Lebewesen mochten wohl so gut klettern können? Dann blickte er auf die große, humindunkle Wasserfläche, über der sich smaragdgrüne Libellen und viele andere Insekten tummelten. Sie sahen anders aus als alles, was er von Wägan her kannte. Dann erspähte er an einer breitblättrigen Uferpflanze ein Tier, das ihm ähnelte. Jedenfalls hatte es Schwimmhäute zwischen den Fingern. Wie es wohl hieß? Scheinbar hatte es erkannt, dass es beobachtet wurde, denn es hüpfte plötzlich vom Blatt ins Wasser. Sollte er versuchen zu fischen? Er entschied sich dagegen. Gjefren verspürte eine innere Ruhe, die von diesem wunderschönen Platz zu ihm herüberströmte und kam schließlich zu der Erkenntnis, dass er es überhaupt nicht eilig hatte. Er wunderte sich über diese Ausstrahlung, denn es war keineswegs still hier, weil das Tosen des flussaufwärts wesentlich aggressiveren Gewässers bis hierher zu vernehmen war. Er hatte wirklich Grund sich viel Zeit zu lassen, wenn er bedachte, dass an seinem Ziel eine Konfrontation auf ihn wartete und er sich von der letzten noch kaum erholt hatte. Unwillkürlich griff er an seine Seite, wo ihn der Dolch ohne die Schutzweste durchbohrt hätte. Die Menschen hier schienen alle Psychopathen zu sein. Vielleicht nicht wirklich alle, nur die, die er bisher kennen gelernt hatte. Eigentlich war es wirklich wundervoll, dass er hier meilenweit von der nächsten Ansiedlung entfernt war, weit, weit entfernt von allen andern Angehörigen seiner Art.
Das Geräusch eines über die Wasserkaskaden fallenden Körpers riss ihn jäh aus seiner angenehmen Gedankenwelt und strafte sie Lügen. Er blickte aufwärts zu dem kleinen Wasserfall im Hintergrund, der die breite Flussstelle speiste, die er so beruhigend fand. Ein Bündel aus grauem Stoff und langen schwarzen Haaren, das auf ihn zutrieb, war sein erster Eindruck, aber schnell erkannte er, dass es sich um einen Menschen in einem leinenen Kleid handelte, ein zartes Mädchen. Sie trieb völlig passiv dahin und war daher am Ende ihrer Kräfte oder ohnmächtig oder tot. Gjefren sprang auf, rannte das Ufer entlang und schnellte sich schließlich auf sie zu ins Wasser. Aus Gewohnheit hatte er die Wärme der lauen wäganschen Fluten erwartet, obwohl er vom morgendlichen Waschritual her wusste, wie inakzeptabel die Wassertemperatur des Yil und seiner Zuflüsse war. Zum ersten Mal nahm er ein derart eisiges Ganzkörperbad und war entsprechend überrascht. Er hatte keine Ahnung, wie gefährlich diese Kälte war, die sich augenblicklich in sein Inneres fraß und sein Herz dazu brachte, so kräftig zu pumpen, dass er überzeugt war, der Herzschlag könne den Brustkorb sprengen. Schnell packte er die junge Frau am Oberarm und zog sie zum Ufer. Dabei bemerkte er, dass ihre Arme auf den Rücken gefesselt waren. Nahe dem Ufer legte er sie vorsichtig hin, zückte den Dolch und durchschnitt sehr behutsam ihre Fesseln. Dann legte er ihren linken Arm um seine Schultern, griff mit seinem rechten Arm unter ihren Rücken und mit dem linken unter ihre Knie und hob sie fast mühelos auf. Sie war erstaunlich leicht. Er schüttelte sich die Tropfen aus dem Gesicht, die von seinen Haaren herab rannen und ging zurück zum Lagerplatz, wo er sie ins Gras legte und verzweifelt seine Kenntnisse über Erste Hilfe zusammenkramte. Wenn sie längere Zeit in diesem Gewässer verbracht hatte, musste sie stark unterkühlt sein. Arme, Hals, Gesicht fühlten sich sehr kalt an. War Wasser in die Lunge gekommen? Er legte das Ohr an ihren Mund und vermeinte ein schwaches Atemgeräusch zu vernehmen. Er hatte einen kleinen Spiegel in seinem Gepäck. Daher hastete er zu seinem Pferd, das genüsslich kauend in der Wiese stand, nahm ihm den Seesack vom Rücken und öffnete ihn. Nach kurzem Kramen fand er, was er gesucht hatte, und rannte zurück, hielt ihr den aufgeklappten Gegenstand vor den Mund. Er legte seinen Kopf neben den ihren und blickte auf die spiegelnde Fläche, sah dass sie sich beschlug. Gut. Puls. Er drückte Zeige- und Mittelfinger seitlich an den Hals bevor ihm einfiel, dass man ohne Herzschlag nicht atmen konnte und diese Aktion daher sinnlos war. Trotzdem war es sehr beruhigend ihn ganz langsam und schwach zu fühlen. Das Hauptproblem war also die Unterkühlung. Er brachte den Spiegel zurück, holte seine einzige, flauschige Decke und zwei Tücher. Die Decke breitete er über den vom Sonnenschein warmen, flachen Fels, auf den er sich vorher gesetzt hatte. Dann öffnete er die drei Knöpfe an der Kleidvorderseite und schälte sie aus dem kalten, nassen Ding, indem er es über die Schultern nach unten weg zog. Danach öffnete er noch ihre Sandalen und streifte sie ab. Währenddessen bewegten sich ihre Augenlider ein wenig, sonst blieb sie passiv wie eine Puppe. Gjefren nahm eines der Tücher und trocknete damit ihren unterkühlten Körper schnell ab, dann hob er sie abermals und trug sie zur ausgebreiteten Decke, auf die er sie vorsichtig bettete. Ihre Haare waren nach wie vor nass und er legte sie daher fächerförmig nach oben, sodass sie weder ihren Körper berührten noch die wärmende Hülle, die er jetzt von beiden Seiten über sie zog so dass sie eingehüllt war wie eine Schmetterlingspuppe in einen Seidenkokon, um den Sonnenstrahlen eine möglichst große Oberfläche darzubieten. Danach hob er noch ihr einziges Kleidungsstück auf und hängte es über den Ast einer nahen Weide, sodass es von der Sonne und dem leichten Wind möglichst rasch getrocknet werden konnte. Erst jetzt entledigte er sich seiner eigenen triefend nassen Kleidung, hängte sie ebenfalls zum Trocknen über Weidenäste, wischte die Nässe mit dem zweiten Tuch von seinem Körper, wickelte es sich danach um die Hüften und setzte sich neben das Mädchen auf den Stein und genoss die Sonne und umfasste den Onyx-Ringschlüssel, den er an einer Kette um den Hals trug mit seiner rechten Hand. Neugierig begann er seinen unerwarteten Fang näher zu betrachten. Er hatte sie allerdings komplett eingewickelt, nur das Gesicht lag frei. Sie war schlank, fast zart, mit langen Gliedmaßen, soviel hatte er schon mitbekommen, bevor er sie in das Tuch gehüllt hatte. Auch ihre Gesichtszüge waren fein, die Augenbrauen wie die Schwingen eines Vogels, über die Augen konnte er nicht viel sagen, da sie geschlossen waren. Jedenfalls waren sie groß und die Lider trugen lange Wimpern, die er eingehend betrachtete. Die Nase war schmal und gerade, die Lippen ziemlich blau. Alles in allem ein hübsches Mädchen. Aber warum hatte man sie gefesselt? Wenn auf diesem Planeten ohnehin die meisten psychopathische Charakterzüge aufwiesen, musste er sich schon mit der Frage konfrontieren, welches Verbrechen sie wohl begangen hatte, dass man sie so behandelte. All seine Instinkte wollten, dass er sie als Opfer sah, einfach weil sie hübsch, klein, zart und weiblich war, aber hier auf diesem merkwürdigen Planeten war das gefährlich. Möglicherweise war sie eine Massenmörderin, der es gelungen war, vor ihrer gerechten Strafe zu fliehen. Und letztlich durch seine Hilfe! Ob er sie wieder fesseln sollte? Ein Blick in ihr engelhaftes Gesicht, das nichts als Sanftmut verhieß, hielt ihn davon ab. Seine Instinkte besiegten seinen Verstand, von dem er sowieso nicht allzu viel hielt. Jetzt zitterten ihre Augenlider und kurz darauf schloss sich ihre ganze kleine Gestalt dem an. Der Schüttelfrost ließ sie förmlich erbeben. Er strich ihr sanft über die Stirn, woraufhin sie ihm in die Augen blickte. Dann schloss sie die ihren wieder und zitterte weiter. Ihr war offensichtlich sehr kalt und daher dauerte es eine Weile, bis die zweite Phase begann: sie wurde ruhiger, die Brust hob und senkt sich nun regelmäßig und sie fing an zu schwitzen. Abermals glitt der Vorhang ihrer Wimpern beiseite und offenbarte große, nachtschwarze Iris. Stumm blickten sie einander an, nicht wissend, was sie voneinander halten sollten. Gjefren war klar, dass er nun mit einigen wohlüberlegten, intelligenten Sätzen ein Gespräch beginnen sollte.
„Äh. Hallo!“ Na ja, er war ein wenig eingerostet. Sie lächelte ihn müde an und setzte mit schwacher Stimme zum Sprechen an:
„Hallo. Hast du mich gerettet?“ Sie betonte das ‚du’ so, als wäre es unvorstellbar, dass ER so etwas zuwege bringen könnte.
„Eigentlich war das mein Herr“, meinte er.
Sie blickte ihn verwirrt an. „Dann bist du ein Sklave? Aber du hast kein Brandmal. Und auch keinen Halsring oder Fußfesseln.“
„Trotzdem bin ich der Sklave meines Begleiters. Zumindest benimmt er sich als hätte er das Sagen.“ Er zeigte in Richtung seines Reittiers. „Mein Pferd hatte beschlossen hier eine Rast einzulegen. Ich wollte eigentlich weiter. Wir kommen nämlich nicht besonders schnell voran, weil mein Herr ständig Pausen machen will, um etwas zu essen oder um die Gegend zu genießen oder sonst was. Normalerweise ärgere ich mich darüber, aber jetzt bin ich froh, denn sonst hätte ich nicht gesehen, wie du über die Stromschnellen herabgestürzt bist, wie leblos. Ich hielt dich für tot.“
Sie wirkte noch immer verwirrt, aber auch amüsiert. „Dann danke bitte deinem Herrn in meinem Namen. Übrigens ist er kein Pferd sondern ein Esel.“
„Kein Pferd? Dann wurde ich betrogen!“ Gjefren hatte zwar keine Ahnung, wozu man einen Esel üblicherweise verwendete, dachte aber erbost an die Szene in Merion zurück als er zur Zielscheibe des allgemeinen Spotts geworden war. Man hätte ihn über seinen Irrtum aufklären können. Sein Vater hätte diese Reittiere genauer beschreiben können! Dann hätte er sich so manche Blamage erspart! „Bist du sicher?“
Sie hustete ein wenig. „Mhm. Ganz sicher.“ Und nach kurzer Pause: „Deine Haare.“
„Was ist damit?“
„Sie leuchten. Schillern!“ Unwillkürlich griff er sich an den Kopf. Er durfte nicht vergessen seine Lederhaube überzuziehen, so wie er es in Merion getan hatte. Sie wartete auf eine Antwort, aber als keine kam hob sie ihren Kopf, um sich umzublicken und erspähte ihr Kleid. Ihre Augen, deren Lider sich vorher auf Halbmast befanden hatten, wurden groß. Er hatte den Eindruck, dass ihre Hände unter der Decke rasch ihren Körper abtasteten, nur um Sicherheit zu gewinnen. „Da flattert mein Kleid in der Brise! Hast du mir das ausgezogen oder war das auch der Esel?“
Gjefren musste lachen. „Genau! Mein Herr war das. Deine Sandalen liegen übrigens da vorne.“ Nachdem sie ihn weiterhin verunsichert betrachtete fügte er hinzu: „Ich hatte wirklich keine Zeit dich näher anzusehen, habe dich nur kurz abgetrocknet und dich dann an den Haaren hierher geschleift. Das ist der Grund, warum sie so komisch wegstehen.“ Er bestärkte seine Erklärung durch entsprechende Gestik. Dann blickten sie sich wieder eine Weile an ohne etwas zu sagen. Das Mädchen betrachtete ihn ziemlich ungläubig, befreite ihren rechten Arm aus der Umklammerung der Decke und betastete damit ihre Haare. Schließlich meinte er, es wäre Zeit sich vorzustellen: „Ich heiße Gjefren.“
„Niemand heißt Gjefren! Jeder kennt den Unterschied zwischen Pferd und Esel, nur du nicht! Wer bist du? Woher kommst du?“
Ihm waren diese Fragen unangenehm, daher lenkte er ab. „Ich habe vorher so ein grünes Tier gesehen, mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Wie heißt das?“
„Das war ein Frosch.“ Sie verdrehte verächtlich die Augen, was ihm aber egal war. Er war also ein Gottfrosch oder Froschgott. Dann besann er sich.
„Die wesentlich wichtigere Frage ist eigentlich: wer bist du? Wieso warst du gefesselt? Hast du ein Verbrechen begangen? Weshalb bist du den Gebirgsfluss hinuntergetrieben? Bist du geflohen? Bist du immer noch in Gefahr? Wirst du verfolgt?“
Wie zur Antwort hörte er wie ein schwerer Körper über die Stromschnellenkaskaden in das ruhigere Wasser hinab fiel. Er trieb langsam näher. Diesmal war es ein Mann in einer leichten Rüstung, die aber trotzdem schwer genug war, um seinen Leib überwiegend unter Wasser zu ziehen. Sein Kopf tauchte manchmal auf, oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war. Eine Weile blickte Gjefren die menschlichen Überreste an, dann fragte er: „Ein Freund von dir?“
Sie schüttelte verängstigt den Kopf. Die Realität hatte sie erschreckend schnell wieder eingeholt. „Nicht wirklich. Ja, ich bin noch in Gefahr, denn wahrscheinlich werde ich verfolgt. Es wundert mich, dass sie noch nicht hier sind. Sie haben Pferde!“
„Richtige Pferde? Keine Esel? Das wird ihnen nicht allzu viel nützen, der Untergrund ist zu rau. Und der Weg mäandriert stark; er ist wesentlich länger als die Route, die du genommen hast, glaube ich. Ich kenne allerdings nur den unteren Abschnitt, da ich vom Yil her komme.“
Sie richtete sich jetzt auf. „Meinst du, ich kann zurück in den Fluss?“
„Ausgeschlossen!“, erwiderte er. „Etwas weiter unten ist ein beeindruckender Wasserfall voller Felsen. Das wäre Selbstmord!“
„Aber wenn ich dem Pfad folge, werden sie mich einholen!“
„Selbst wenn du auf dem Esel reitest? Wie heißt du übrigens?“
„Athaly. Ja, Pferde sind viel schneller, zumindest wenn der Untergrund nicht zu felsig ist. Pferde können aber nicht so gut Lasten tragen, also ist es vielleicht ganz gut, dass du einen Esel als Begleiter hast.“ Sie blickte kurz ins Leere, dann schien sie einen Entschluss gefasst zu haben. „Gjefren, es hat keinen Sinn. Wenn sie dich mit mir zusammen sehen, werden sie dich töten! Vielleicht sogar den Esel, weiß man nicht. Ich werde hier bleiben und auf sie warten und du reitest weiter flussabwärts. Wenn ich tot bin, kehren sie hoffentlich um, dann bist du nicht in Gefahr!“
Gjefren tat entrüstet, war aber erstaunt darüber, dass sie das Schicksal eines völlig Fremden so sehr interessierte. Er sah sie gespielt zornig an. „Du glaubst doch nicht, dass ich dich im Stich lasse!“
Athaly nickte. „Doch! Du musst es tun. Jeder von ihnen ist einen Kopf größer als du und breitschultriger und die Hexe schickt sicherlich mehr als einen Mann hinter mir her. Du hättest nicht einmal eine Chance, wenn du sehr kampfgeübt bist.“ Sie musterte ihn eindringlich, besonders skeptisch seine Oberarme, wo die Muskeln keine Berglandschaft sondern allenfalls ein paar armselige Hügel bildeten. „Bist du sehr kampferfahren?“ Gjefren senkte den Blick und schüttelte den Kopf. Es traf ihn tief, dass sie ihn praktisch für wehrlos hielt, auch wenn das stimmte. Warum hatte er sich auch seine Schusswaffe stehlen lassen? Er fasste einen Entschluss, stand rasch auf und ging zur Weide, nahm das Kleid vom Ast und warf es ihr zu, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es einigermaßen trocken war.
„Zieh dich an!“, rief er ihr zu, zog sein Untergewand an, dann griff er nach der Schutzweste, die er schnell überzog, die Oberarm- und Oberschenkelteile richtete und schloss. Danach zog er seine restlichen Kleidungsstücke über. Mit der Lederhaube bedeckte er seine auffälligen Haare. Als er sich wieder umdrehte, war Athaly gerade dabei, sich eine der Sandalen anzuziehen. Seine standen beim Ufer. Er band sie sich schnell an die Füße, dann hastete er zu seinem Esel, nahm ihn am Seil und führte ihn näher zu den beeindruckenden Stromschnellen und knotete dort die Schnur an den Zweig einer Erle. Für jene, die den Pfad herunterkommen würden, war das Tier jetzt nicht zu sehen, da einige Felsen die Sicht versperrten. Dann ging er zu Athaly zurück, die sein Tun aufmerksam aber verständnislos beobachtet hatte.
„Wie gut kannst du klettern?“, fragte er sie.
„Als Kind bin ich oft auf Savannenbäume geklettert. Ich bin recht geschickt. Warum?“ Gjefren deutete mit der Hand weg vom Fluss. „Siehst du die steile Felswand auf der anderen Seite vom Weg? Wenn du genau hinsiehst, erkennst du einen Wildwechsel, eine Art Trampelpfad. Irgendwelche Tiere, die gut klettern können, kommen hier herunter zum Fluss, um zu trinken und danach steigen sie wieder hinauf. Und was die können, können wir auch!“
Sie sah sich die Sache genau an, mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck und wandte schließlich zweifelnd ein: „Ja, aber meine Verfolger ebenfalls. Aber du hast natürlich recht. Ihre Pferde können sie da nicht mit nach oben nehmen und dann sind sie nicht schneller als wir. Oder vielmehr: als ich. Du wirst doch bei deinem Esel bleiben?“
„Ich werde zu meinem Esel zurückkehren“, antwortete er etwas rätselhaft.
Athaly zögerte immer noch. „Was, wenn wir dort oben nicht weiter können? Dann sitzen wir in der Falle!“
„Das tun wir doch bereits jetzt! Also los!“ Sie rannten zum Steig und standen am Fuß einer Steilwand, die aber genügend Vorsprünge aufwies, um einigermaßen sicher hinaufklettern zu können, wenn man geschickt genug und schwindelfrei war. Athaly war beides und Gjefren hatte auf der Fingerinsel zu den besten Kletterern gehört, wobei seine kurzen Schwimmhäute ein Vorteil waren.
Athaly stand vor der Wand und bat ihn: „Deinen Dolch bitte!“ Gjefren, der das Schwert zurück gelassen hatte, nicht jedoch die handlichere, zweischneidige Waffe, reichte sie ihr mit dem Griff voran. Sie nahm sie mit dankbarem Kopfnicken und schnitt damit das groblinnene Kleid an der Seite bis zur halben Höhe ihrer schlanken Oberschenkel auf, ohne sich zu verletzen. Dann reichte sie den Dolch zurück. „Geh bitte voran.“ Gjefren hatte Phantasie genug, um sich vorstellen zu können, warum sie diesen Wunsch geäußert hatte und zog sich wunschgemäß vor ihr geschickt am ersten Felsvorsprung hinauf, der auf dem Trampel- oder Kletterpfad lag und daher im Gegensatz zu den Felsen rundherum vegetationsfrei war. Dann stemmte er sich in einen Kamin, wo er dutzende Fuß gut vorankam, bis dieser sich zu einer breiten Rinne öffnete. Hier hielt er an und beobachtete zunächst besorgt Athalys Kletterkünste.
Gleich am Anfang hatte er sich nur aufgrund seiner Kraft und relativ großen Reichweite in der Wand zurecht gefunden. Nun stellte er fest, dass er sich um seine Begleiterin keine Sorgen zu machen brauchte. Sie konnte offenbar viel kleinere Vorsprünge nutzen als er, was den Vorteil seiner längeren Arme mehr als ausglich. Außerdem war sie zu unmöglichen Bewegungen fähig, drehte etwa in der Taille ihre Hüfte in abenteuerlichem Winkel zum Oberkörper, was ihr vor allem im Felskamin sehr hilfreich war. Sein eigener Stil war dagegen zwar kraftvoller, aber plump. Sie waren jetzt schon hoch genug, dass eine Unaufmerksamkeit gefährliche Folgen haben konnte. Darum konzentrierte er sich nun völlig auf das immer noch ziemlich steile Wegstück vor ihm. Schließlich zog er sich über einen Vorsprung und erkannte, dass er auf dem Zwischenplateau angekommen war, jener Felsstufe, die sich etwa in der Hälfte der Wandhöhe befand und ungefähr ein dutzend Ellen breit war. Hier wurzelten einige Bäume, die aber einen kümmerlichen Wuchs aufwiesen und Sträucher. Kopfgroße Felsbrocken lagen herum, die von früheren Steinschlägen zeugten, viele davon an der Oberseite schon mit dichtem Moos bewachsen. Auch Athaly zog sich jetzt über die Kante und zwar so geschickt, dass er gar nicht auf die Idee kam, ihr zu helfen. Sie funkelte ihn mit ihren dunklen Augen an und er dachte unwillkürlich über den Widerspruch nach, wie fast schwarze Augen dermaßen strahlen konnten.
„Die Hälfte des Weges“, sagte sie fröhlich. Die Gefahr in der sie schwebten, schien sie vergessen zu haben, was nach der vieltägigen Gefangenschaft aber verständlich war. Gjefren antwortete nicht, sondern blickte flussaufwärts, wo man das rasch über runde Felsen strömende Gewässer jetzt weit nach oben verfolgen konnte. Dass Athaly lebend unten angekommen war, schien ihm fast unglaubwürdig.
Dann sah er weit entfernt ein grelles Blitzen und erkannte nahezu sofort, dass sich die Sonne in einem Helm spiegelte. Augenblicklich ging er hinter den Büschen, die am Plateaurand wuchsen, in Deckung. Athaly blieb noch kurz stehen, um dann seinem Beispiel zu folgen. „Was ist, kommen sie?“
„Da vorne habe ich einen Lichtreflex gesehen.“ Er zeigte in die entsprechende Richtung. „Ich glaube schon.“
Sie starrte angestrengt und flüsterte. „Kannst du ausmachen, wie viele es sind?“ Gjefren schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass es Sinn hat sich zu verstecken“, meinte sie, „sie werden meine Leiche suchen und nicht ruhen, ehe sie sie gefunden haben und zurückbringen können. Oder mich wieder gefangen nehmen. Sie gehören zur Garde der Hexe und sie wissen genau, was ihnen passiert, wenn sie ohne mich zurückkehren.“
„Welche Hexe?“, wollte er wissen.
„Die Hexe von Askhauran! Sie ist berühmt für ihre Grausamkeit. Niemand weiß, wo sie herkommt, aber man munkelt, dass sie das alte Herrscherpaar umgebracht und den neuen Herrscher verhext hat, sodass er sie zur Hohepriesterin Seths ernannte. Danach hat sie ihn ebenfalls ermordet, sagt man, und herrscht nun alleine oder mit einem ihrer Liebhaber. Sie hat das Zeichen. Einen Halbmond zwischen den Brüsten.“ Sie zeigte, wo. Dann fuhr sie fort. „Lieber stürze ich mich von diesen Felsen, ehe ich mich wieder gefangen nehmen lasse.“
„Aber was will sie gerade von dir?“, fragte er.
„Jugend!“, erläuterte sie. „Sie ist eine alte Frau. Aber dank eines magischen Juwels, das sich in meinem Besitz befand, sieht sie wieder aus, wie zwanzig oder noch jünger.“
„Dann bist du auch eine Hexe?“ Er blickte sie kurz skeptisch an, sie runzelte die Stirn, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder den Reitern zu. Der Pfad war steinig und sie kamen nur langsam voran. Gjefren erkannte, dass es zwei waren. „Kannst du erkennen, ob sie Bögen haben?“, wollte er wissen. Athaly hatte Falkenaugen und sah, dass die beiden einen knielangen Kettenpanzer trugen, eherne Arm- und Beinschienen, am Waffengurt ein Kurzschwert und einen spitz zulaufenden Helm. Der Rundschild war am Sattel vor ihnen befestigt. Die Pferde waren langbeinig und nachtschwarz. Gjefren fielen vor allem die kurzen Ohren auf. Die Schnauzen waren tatsächlich länger als bei seinem Esel. Die Beine wiesen wie bei seinem Tier weder Hände noch Füße auf.
„Keine Bögen“, stellte Athaly flüsternd fest.
„Gut“, meinte Gjefren, „dann rauf mit dir!“
„Rauf? Hinauf? Wohin?“
„Na DA rauf!“, flüsterte Gjefren zurück und zeigte energisch, aber so, dass die Bewegung von den Reitern nicht gesehen werden konnte, zum Wildwechsel.
„Aber dann sehen sie mich ja!“, flüsterte Athaly empört zurück.
„Kluges Kind! Genau das sollen sie auch!“ Athaly blickte ihn kurz böse an, dann zuckte sie die Achseln, stand auf und begann vorsichtig weiter nach oben zu klettern. Gjefren hätte ihr gerne zugerufen, sie solle dabei ein bisschen mehr Lärm machen, aber einer der beiden Krieger war aufmerksam und erspähte sie. Gjefren duckte sich weiter, sodass er nicht mehr gesehen werden konnte, aber die beiden auch nicht mehr sah.
„Komm da runter!“, brüllte der Reiter und machte dadurch auch den anderen auf Athaly aufmerksam. Das Mädchen, das bereits zehn Fuß zurückgelegt hatte und derzeit nicht in Gefahr war abzustürzen, blickte zu ihnen herab und tippte sich mit dem Finger der rechten Hand an die Stirn. Dann kletterte sie weiter, diesmal mit mehr Elan. Der Mann fluchte und sprang scheppernd vom Pferd, was Gjefren zwar nicht sehen, aber deutlich hören konnte. „Los, komm, ihr nach!“, rief er dem anderen zu. Der schien wenig enthusiastisch.
„Es genügt doch, wenn du da raufkletterst!“
„Du weißt doch, wie diese jungen Dinger sind! Wenn sie erst oben ist, schlägt sie Haken, da braucht es zwei sie zu erwischen“, argumentierte der erste.
„Wir könnten doch versuchen, sie mit einem Steinwurf herunter zu holen?“
„Die Herrscherin möchte sie lebend! Los jetzt!“, bekräftigte er, rannte an die Felswand und begann hinaufzuklettern, wobei er weder für Gjefren, noch für Athaly sichtbar war. Der andere schien fluchend und lustlos zu folgen. Darauf hatte Gjefren gehofft. Es wurde allerhöchste Zeit sich einen geeigneten Felsbrocken auszusuchen. In Reichweite lag ein etwa kopfgroßer Fels, den er seitlich liegend vorsichtig anhob und an seinen Körper heranbrachte. Dann begab er sich in Rückenlage und drehte sich behutsam und möglichst lautlos zum Abgrund hin und beobachtete die Kante. Den Fels hatte er dabei auf die Brust gelegt und hielt ihn mit beiden Händen fest.
Die Männer schienen gute Kletterer zu sein, denn Gjefren vernahm zwar laute Atemgeräusche und gelegentlich ein Keuchen aber kein Fluchen. Viel früher als erwartet sah er eine große, behaarte Hand über den Rand der Kante greifen. Trotzdem reagierte er augenblicklich und schmetterte den großen Stein auf das vogelspinnenartige Ding. Die Hand wurde sofort zurückgezogen und Gjefren vernahm einen wütenden und überraschten Aufschrei. Dann setzte er sich auf, wobei er den Brocken über den Kopf hob, blickte über die Kante, sah in das hässliche Gesicht des Gardisten und ließ den Fels mit Wucht auf den Kopf des Mannes niedersausen. Der verlor den Halt, schrie noch einmal und fiel in die Tiefe, wobei er mit den Armen ruderte und offensichtlich versuchte, mit den Beinen zuerst zu landen, was ihm aber nicht gelang. Weder den Gesichtsausdruck noch das Geräusch des aufprallenden Körpers würde Gjefren je vergessen.
Der zweite Verfolger, der nun lautstark drohte, hatte sich halten können, ein Faktum, das Gjefren nicht eingeplant hatte. Der Mann begann hastig nach unten zu klettern, aber Gjefren hatte bereits nach einem weiteren, deutlich größeren Felsen gegriffen, hob ihn mühsam hoch und ließ ihn dann über den Rand fallen. Er traf den Krieger an der Schulter, riss ihn etwa zwölf Fuß mit sich in die Tiefe, wo er mit dem Rücken aufprallte und unbeweglich liegen blieb. Gjefren wusste nicht mit Sicherheit, ob die beiden tot waren und überlegte, ob er weitere Geschosse auf sie niederfallen lassen sollte, brachte es aber nicht über sich. Stattdessen blickte er nach oben, wo Athaly über die Kante der grauen Wand verschwand. „Du kannst runterkommen!“, schrie er ihr zu.
„Ich weiß!“, antwortete sie laut, „aber wenn ich schon mal da oben bin, sehe ich mich ein bisschen um!“
Gjefren setzte sich hin, sah in den strahlend blauen Himmel und erlaubte sich jetzt zu zittern. Er hatte gerade zwei Menschen ermordet oder schwer verletzt. Kein Grund stolz zu sein, selbst wenn es zur Verteidigung eines Schwächeren geschehen war. Es war nicht Selbstverteidigung gewesen, denn er glaubte nicht, dass er in akuter Gefahr geschwebt hatte. Natürlich konnte er da nicht sicher sein. Auch Athaly war nicht in Lebensgefahr gewesen, da ihre Kontrahentin sie lebend haben wollte. Um was mit ihr zu tun? Um wirklich wissen zu können, ob die beiden es verdient hatten, umgebracht zu werden, hätte er vorher mit ihnen ein längeres Gespräch über ihre Absichten und die der Herrscherin Athaly betreffend halten müssen. Aber das war natürlich absurd. Er musste sofort handeln und aufgrund der Informationen, die ihm bis zu diesem Augenblick vorlagen. Trotzdem war der Gedanke, dass er sich mit den Männern vielleicht ganz gut verstanden hätte, wäre er mit ihnen unter anderen Umständen bekannt geworden, wenig beruhigend für ihn. Als ihm einfiel, dass er ein Misanthrop war und die beiden daher wohl unter keinen Umständen sympathisch gefunden hätte, fühlte er sich dennoch nicht besser.
Als er hinter sich Geräusche hörte, drehte er sich um. Athaly war zurückgekehrt. Sie tat einen letzten Sprung und setzte sich neben ihn.
„Danke.“ Gjefren nickte. Nach einer Weile ergänzte sie: „Dir ist aber schon klar, dass du Glück gehabt hast? Sie hätten ganz anders handeln können, vorsichtiger.“
Er wehrte sich. „Ich hatte nicht viel Zeit nachzudenken. Und du hattest recht: sie sind einen Kopf größer als ich und haben breitere Schultern. Und sie sind zu zweit. Hätte ich sie zu einem fairen Kampf herausfordern sollen? Den hätte ich verloren. Wir hätten ihn verloren.“
Sie blickte in den Abgrund, sah ihren herab baumelnden Beinen zu. „Ich war mir anfangs nicht einmal sicher, ob ich bis ganz nach oben komme. Ich fühle mich ziemlich schwach. Die Nachwirkungen der Unterkühlung und sie haben mir immer zu wenig zu Essen gegeben.“
„Wie sieht es da oben aus?“ Gjefren schloss die Augen. Er fühlte sich gleichzeitig müde und angespannt.
„Da geht es nicht viel weiter, nicht für einen Menschen. Steine, die man runterwerfen könnte, sind da auch nicht, man steckt in der Falle.“
„Also haben wir Glück gehabt.“
„Ja.“
Der Hunger wühlte inzwischen als Schmerz in ihren Eingeweiden und sie krümmte sich zusammen. Gjefren interpretierte das richtig. „Wir sollten hinunter klettern. In meinem Gepäck befindet sich etwas zu essen und ich habe den Eindruck, dass du Nahrung jetzt dringend gebrauchen könntest.“
Sie nickte dankbar und ließ sich vorsichtig – ihre letzten Reserven mobilisierend – die steile Wand hinab. Erst im rauen Fels des Kamins fühlte sie sich sicher. Auch Gjefren war erschöpft und versuchte sich beim Abstieg wirklich auf jeden Handgriff zu konzentrieren. Schließlich standen sie vor den beiden Kriegern und Gjefren war jetzt aus der Nähe sowohl von ihrer Statur als auch von ihrer kunstvoll gearbeiteten, schwarzen Rüstung sehr beeindruckt. Derjenige, der zuerst gefallen war, lag da wie eine achtlos weggeworfene Riesenpuppe, zerstört. Der andere hatte keine erkennbaren Verwundungen.
„Erstaunlich, dass du solchen Kriegern entkommen konntest!“ Gjefren blickte sie respektvoll an.
„Mein Sprung über die Brücke war eine reine Verzweiflungstat. Die Alternativen wären Gefangenschaft und unendliche Qualen in den Folterkammern von Askhauran gewesen. Darüber hat mich die Hexe nie im Zweifel gelassen. Ertrinken oder ein an einem Fels aufgeschlagener Schädel wären vergleichsweise barmherzig gewesen.“
Gjefren wandte sich ab und wollte zum Lagerplatz gehen als plötzlich Leben in eine der vermeintlichen Leichen kam. Der Mann erhob sich unglaublich rasch und Athaly schrie auf, sodass sich Gjefren umdrehte und sah, wie der Koloss sich auf ihn zu bewegte und seine mächtige Faust in Gjefrens Bauch rammte. Das Ganze geschah so rasch und unvorhergesehen, dass ihm für Verteidigung keine Zeit blieb. Die Wucht des Schlags war so heftig, dass er auf den Rücken geworfen wurde. Aber auch der gepanzerte Krieger schrie vor Schmerz auf und blickte verblüfft auf sein gebrochenes Handgelenk. Dann traf ihn ein Schwert, das Athaly geistesgegenwärtig dem toten Soldaten aus der am Rücken befestigten Scheide gezogen und mit soviel Wucht, wie ihr nur möglich war, in weitem Bogen gegen seinen Hals geführt hatte. Zwischen Helmrand und Kragen traf der Hieb eher glücklich und mit genug Kraft, dass der Mann blutend zu Boden sank.
Athaly wich zurück und starrte erschrocken auf die blutige Klinge; dann ließ sie sie fallen. Sie wich dem Gardisten weiträumig aus und lief zu dem am Boden liegenden Gjefren. Sie hatte den Fausthieb in seiner Magengrube landen gesehen und erwartete daher, dass er zusammengekrümmt mit schmerzverzogenem Gesicht daliegen würde. Stattdessen richtete er sich gerade auf und blickte sie überrascht an.
Besorgt fragte sie: „Wie geht es dir?“
„Gut.“ Er blickte auf den schwer verletzten oder toten Soldaten und meinte: „Du bist ein gefährliches Wesen, aber … ,danke, dass du ihn erledigt hast. “ Tatsächlich fühlte er sich gar nicht gut, er würde eine Weile brauchen, um das Geschehene zu verarbeiten. Schon wieder hatte die Schutzweste ihn gerettet.
„Du musst Bauchmuskeln aus Stahl haben, wenn du so einen Hieb verkraftest. Ich dachte, du würdest halb tot sein. Vielleicht sogar ganz!“ Ihre Finger näherten sich seinem Bauch. Er hielt ihre Hand fest.
„Komm, lass uns gehen. Es wird Zeit, dass wir so viel Weg wie möglich zwischen deiner Hexe und uns zurücklegen. Das sollte uns wohl möglich sein, immerhin haben wir jetzt Pferde. Richtige.“
„Sie ist nicht ‚meine Hexe‘“, warf Athaly ein, dann ging sie zu den prachtvollen Rappen. Die Tiere standen unweit ruhig da, offenbar von den Ereignissen völlig unberührt. Athaly ging zu einem von ihnen und nahm seine Zügel, Gjefren tat es ihr bei dem anderen gleich und gemeinsam gingen sie zurück zum Ufer, wo Gjefrens Esel genüsslich äste.
„Wir müssen flussabwärts den Weg zurück, den ich gekommen bin und dann nach Westen, den nächsten Zufluss hinauf.“ Ursprünglich hatte er angenommen, dass sein Vater und Raft den gleichen Weg gewählt hatten wie er, aber nach Tjonres Schilderungen waren sie einen Bach entlang gegangen, nicht einen reißenden Fluss. Zumindest hatte er das so verstanden. Vielleicht war der Fluss zu einer anderen Jahreszeit bloß ein Bach. „Es gibt weiter flussabwärts auch einen Pfad, vielleicht sollten wir den nehmen. Ich weiß nur nicht, welche Qualität er hat. Sehr viel benützt wird er wohl nicht, aber er führt auf eine Hochebene und möglicherweise kann man dort gut reiten.“
„Ich muss zurück zu meinen Stammesgeschwistern“, meinte Athaly, „sie warnen. Es kann sein, dass sie, jetzt wo ich geflohen bin, in Gefahr sind.“
„Meinst du, die Hexe kommt zurück und rächt sich an deinen Verwandten?“
„Möglich wäre es. Ich würde ihr das jedenfalls zutrauen.“
Gjefren dachte kurz nach. Ein Gespräch, das sie hatten unterbrechen müssen, fiel ihm wieder ein. „Du hast vorher von einem magischen Juwel gesprochen, dass Jugend verleiht und das einmal dir gehört hat. Wenn die Hexe das jetzt hat, warum verfolgt sie dich dann noch?“
„Das Juwel kann noch eine Menge mehr. Es kann heilen, wenn man weiß, wie man es verwenden muss. Das wollte sie auch erfahren. Deshalb braucht sie mich noch und deshalb wollte sie mich foltern lassen, dabei hätte ich ihr alles freiwillig verraten, bevor ich wusste, wie sie es verwenden wollte.“ Sie schauderte. „Sie wollte es benützen, um Menschen länger quälen zu können.“
„Deine Hexe …“ Athaly blickte ihn finster an. „Tschuldigung. Also nicht deine, aber die Hexe … wie sieht sie denn aus? Du hast vorher gesagt, sie habe einen Halbmond zwischen den Brüsten. Meinst du damit ein Muttermal?“
„Ja genau. Warum fragst du?“
„Es ist nur … mein Vater hat einmal ein Frau gekannt mit genau so einem Mal. Er selbst hat es zwar nicht gesehen, wie er meiner Mutter gegenüber immer betont hat, aber sein Freund, der sogar ziemlich oft.“
„Wie das? War er ihr Liebhaber?“
„Eigentlich nicht. Sie war früher unter anderem auch eine käufliche Geliebte, wenn du verstehst was ich meine. Aber das ist eine Weile her und war auch ganz woanders. Welche Farbe haben ihre Augen und Haare?“
„Die Augen sind blau, tiefblau und die Haare …“ Athaly zögerte. „Sie sind schwarz, aber an den Wurzeln waren sie ziemlich hell. Ich glaube, sie sind gefärbt, wenn so etwas möglich ist. Aber ich habe gehört, dass sich die Städterinnen manchmal die Haare färben.“
Gjefren war jetzt überzeugt. „Ich denke, sie ist es. Die Piratin Reja. Also sitzt sie hier noch immer fest. Alles stimmt, das Alter, Haar und Augenfarbe, das Muttermal, sein Form und seine Lage und dann natürlich der liebreizende Charakter. Der besonders. Das muss ich meinem Vater erzählen, wenn ich wieder nach Hause komme.“
„Nach Hause? Wo ist das?“
„Weit weg, Athaly, weit, weit weg. Und du? Wo genau lebt dein Stamm?“
„In der Ebene, in der Steppe südlich der Schwarzen Berge.“
Gjefren ging auf den Esel und sein Gepäck zu, öffnete den Seesack und zauberte etwas Kantiges, Dunkles, Handflächengroßes aus dem Inneren hervor und reichte es ihr. Sie blickte es erstaunt an. Dann nahm er sich selbst ebenfalls ein Stück und führte es zum Mund. „Essen!“, erklärte er. Sie biss vorsichtig hinein. Es schmeckte nicht allzu spannend, süßlich, fühlte sich ein wenig zäh an, ließ sich aber gut kauen. Ihr Hunger erwachte nun vollends und sie stopfte sich das Zeug in den Mund, zermalmte es zwischen ihren Zähnen und schluckte es hinunter, es rutschte ihren Hals hinab und weiter, wo ihr Magen es bereits gierig und knurrend erwartete. Sofort ließ der quälende Hunger ein wenig nach. Sie seufzte.
Gjefren blickte traurig noch einmal auf die schöne Uferwiese und den rauschenden Fluss. Dann ergriff er das Seil, das um den Hals seines Esels geschlungen war, stieg ungeschickt in den Steigbügel des prachtvollen Rappen und saß schließlich mit einiger Mühe im Sattel, sogar mit dem Gesicht nach vorne. Athaly stellte sich geschickter an. Dann ritten sie langsam den Pfad flussabwärts. Flussaufwärts konnte er jetzt nicht mehr.
In Begleitung der Pferde erwies sich der Esel als recht gehfreudig, Konkurrenz tat ihm offensichtlich gut. Gjefren hatte nun Zeit nachzudenken und erinnerte sich daran, dass er zwei Menschen umgebracht hatte. Nein, den zweiten hatte ja Athaly unschädlich gemacht, aber zumindest hatte er versucht, alle beide umzubringen. Es erstaunte ihn, dass er nicht mehr fühlte. ‚Lass es bloß nicht zur Gewohnheit werden‘, dachte er.
Auch Athaly hatte nun Zeit und war verblüfft darüber, dass sie noch lebte und frei war. Sie hatte das diesem Fremden zu verdanken, der wahrscheinlich der merkwürdigste Mensch war, den sie je getroffen hatte. Er hatte mit Schläue gegen zwei übermächtige Gegner gesiegt, ihr geholfen und sie verteidigt, sein Leben für sie riskiert, eine ihm unbekannte Frau, von der er nicht einmal sicher sein konnte, dass sie nicht eine gefährliche, entlaufene Verbrecherin war. Er hatte ihr geglaubt. Einfach so. In allem, was er tat, wirkte er ein wenig hilflos. Sie hatte das Gefühl als müsste sie ihn beschützen und nicht umgekehrt; auch wenn er ihr bewiesen hatte, dass er sich sehr wohl zu verteidigen wusste. Sie mochte ihn und wollte bei ihm sein, sodass sie langsamer ritt als klug war. Der Weg war jetzt breit genug, dass sie nebeneinander her reiten konnten. Der Esel trottete an der Leine hinterher.
„Es tut mir leid, dass du jetzt nicht mehr dorthin kannst, wo du hin wolltest.“
„Das macht nichts. Es gibt noch einen anderen Weg, nur sieht er nicht sehr vertrauenserweckend aus. Aber so wie die Dinge jetzt nun einmal sind, können wir ohnehin nicht weiter auf diesem Weg bleiben.“
„Wohin willst du eigentlich?“
Er antwortete eher kryptisch: „An einen Ort, wo sich meine Eltern einst getroffen haben, nachdem sie lange Zeit getrennt gewesen waren. Also nicht wirklich lange, ein paar Wochen vielleicht, aber es scheint ihnen sehr lange vorgekommen zu sein.“
„Du magst deine Eltern?“
Er lächelte und schaute sie erstmals an, seit sie ihre ersten Erfahrungen als Reiter sammelten. Meist blickte er starr geradeaus auf den Weg und versuchte sein Pferd mit den Zügeln um jedes Hindernis herumzuführen, als wäre es ein einfacher Gleiter. Langsam begann er zu akzeptieren, dass Pferde Hindernisse selbst erkennen konnten und recht vernünftig darauf reagierten. Er entspannte sich zusehends.
Der Weg, der nun noch ein wenig breiter geworden war, verlief jetzt die meiste Zeit zwischen abgerundeten Felsen, der Fluss war abhanden gekommen, wenngleich man ihn in der Ferne rauschen hören konnte.
„Magst du die deinen nicht?“
Athaly blickte betrübt. „Doch, ja. Aber mein Vater lebt nicht mehr. Ich war dabei als er ermordet wurde. Aber“, und jetzt begann sie zu lächeln, „ich habe noch meine Mutter und eine kleinere Schwester und meine Freundin, die auch vor der Hexe von Askhauran geflohen ist. Sie alle machen sich sicherlich Sorgen und deshalb möchte ich so schnell wie möglich zurück sein. Dass ich das Herz von Galahar verloren habe, ist allerdings schlimm. Mein Stamm hat größtenteils von den Gaben gelebt, die die hilfesuchenden Menschen uns mitgebracht haben.“
„Sicher gibt es in deinem Stamm auch viele Menschen, die dich mögen. Vor allem junge Männer, möchte ich wetten. “
Sie blickte zweifelnd. „Nein“, meinte sie schließlich ehrlich, „ich glaube nicht. Die halten mich für eine Hexe und finden mich einschüchternd.“ Sie schwieg eine Weile und suchte nach einer Selbsteinschätzung. Wie sahen sie die anderen? Merkwürdig, dass sie kaum jemals über diese Frage nachgedacht hatte. Schließlich kramte sie eine verstaubte Erinnerung aus ihrem Gedächtnis. „Außerdem bin ich ein ziemlich schlaksiges Ding, wie mein Vater immer gesagt hat“.
„Das ist wohl schon eine ziemliche Weile her. Inzwischen bist du recht hübsch.“ Gjefren sprach das nicht wie eine Schmeichelei aus, sondern wie eine feststehende, ja fast schon langweilige Tatsache. Etwas, das ohnehin jeder sehen konnte. Athaly konnte das nicht, aber sie musste daran denken, dass Gjefren Gelegenheit gehabt hatte, sie ganz genau zu betrachten und wurde rot. Schnell wechselte sie das Thema: „Woher kennen Deine Eltern die Hexe Salomene? Wie hast du sie genannt? Reja? Eine Piratin! Sie hat wohl das Wilahet-Meer unsicher gemacht. Selbst hier hört man von den Piraten und Freibeutern der nördlichen Inseln.“
„Genau, Reja“, antwortete er schmunzelnd. „Eine Piratin, aber nicht vom Wilahet-Meer. Von weiter weg. Aber ist auch egal. Jedenfalls wollte sie meine Eltern unbedingt umbringen und konnte nicht von ihnen lassen. Sie hat sie verfolgt, über Distanzen, die du dir nicht vorstellen kannst. Das macht mir jetzt, wo ich daran denke, ziemliche Sorgen. Ich hoffe du bist ihr nicht so wichtig. Vielleicht hat sie sich ja auch geändert. Sie ist ja schon ziemlich alt.“
„Was hatte sie gegen deine Eltern?“
„Braucht sie einen Grund? Hast du ihr einen Grund geliefert? Aber es gab einen. Mein Vater war Spion und wollte sie … nun ja, eben ausspionieren. Das hat sie ihm übel genommen. Was sie gegen meine Mutter hatte, weiß ich nicht. Es hat ihr, vermute ich, einfach Spaß gemacht, sie zu quälen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sie dich nicht in Ruhe lässt.“
Athaly schauderte. „Wenn es wirklich so ist, was kann ich dann tun? Was kann ich tun gegen jemanden, der so mächtig ist?“
„Noch mächtiger, noch stärker sein als sie“, meinte Gjefren, der in diesem Augenblick sehr entschlossen aussah.
„Wie sollte das gehen?“, wollte sie wissen. „Ich, ein kleines Mädchen aus der Steppe, das jetzt nicht einmal mehr das blutrote Juwel besitzt. Und selbst das hätte mir nicht zur Verteidigung genutzt.“
„Ich arbeite daran, Athaly“, antwortete er flüsternd. Er blickte ihr tief in die Augen. „Ich werde einen Weg finden.“ So unwahrscheinlich das auch klang, in dem Moment glaubte sie ihm das.
Gjefren stellte fest, dass sie die ideale Begleiterin war. Sie plapperte nicht ununterbrochen, konnte schweigen und auch dann war ihre Gesellschaft angenehm. Aber wenn sie redete, fand er das Gespräch interessant. Sie war genau der Redeschrittmacher, den er brauchte, wollte er nicht völlig in Stummheit versinken, wozu er eine Neigung hatte.
Sie ritten bis es dunkel wurde und sie blaue Flecken an der Kehrseite hatten. Dann suchten sie einen Platz, wo man abseits des Pfades lagern konnte. Sie wagten es nicht ein Lagerfeuer zu machen, aßen von den Kraftriegeln und tranken Wasser aus einem Gefäß, das Athaly sehr merkwürdig fand. Besonders der Schraubverschluss hatte es ihr angetan, sie öffnete und schloss ihn mindestens ein Dutzend Mal. Gjefren überließ Athaly den Schlafsack, den sie ebenfalls interessiert musterte, bevor sie hineinkletterte. Sie war völlig erschöpft und schlief beinahe sofort ein. Gjefren hüllte sich in die dickste Decke und legte das Schwert neben sich. Er hatte vorgehabt noch ein wenig zu wachen, doch folgte er ihrem Beispiel sehr rasch.
***
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Wieder im Sattel zu sitzen war ein schmerzvolles Erlebnis. Bald schon fanden sie die Abzweigung nach Westen, die sie auf eine Hochebene bringen sollte, wenn Gjefren die Karte richtig in Erinnerung hatte. Vor dem Mädchen wollte er sie nicht aus seiner Ausrüstung hervorkramen und vorläufig war er sich auch sicher, dass das nicht nötig war. Es war zwar nicht der beste Weg zu seinem Ziel, aber der sicherste. Zudem konnte auch Athaly von hier aus ihre Destination erreichen.
Der Pfad verlor sich bald in einer Steppe mit hohem, saftigem Gras, in der man gut reiten konnte, in der man aber auch weithin sichtbar war. Athaly hatte von dieser Gegend gehört, denn bei den Shwakara war sie mehr als berüchtigt. Wehrhafte Räuberbanden sollten hier angeblich ihr Unwesen treiben. Ob das wahr war oder nicht – die nomadisierenden Hirten, die diese Gegend besuchten, waren jedenfalls nicht sehr gastfreundlich und äußerst wehrhaft, wie ihr Vater ihr einst erzählt hatte. Bislang aber sahen sie niemanden und so blieb es auch den Rest des Tages. Oft blickten sie zurück in Erwartung von Rittern in schwarzer Rüstung auf deren Schildern das Emblem des Skorpions prangte. Doch Reja verschonte sie noch. Vielleicht hatte sie momentan wichtigere Aufgaben als die Verfolgung einer unbedeutenden Heilerin, hoffte Athaly.
Sie kamen nicht sehr schnell voran. Dazu waren sie beide zu unerfahren im Umgang mit Pferden und Gjefrens Esel war nicht bereit in Trab zu verfallen.
Es war bereits später Abend, die Sonne stand tiefrot am Horizont, als sie die Reiter das erste Mal sahen. Sie schienen direkt aus dem himmlischen Glutball zu kommen, der gerade über den Rand der flachen Landschaft kippte und wirkten noch klein wie Insekten. Athaly sah sie zuerst und macht Gjefren auf sie aufmerksam. Danach wurde es rasch dunkler. Sie beschlossen ihnen auszuweichen. „Nach Norden oder nach Süden?“
Athaly dachte kurz nach, dann antwortete sie: „Nach Süden.“ Gjefren nickte. Sie hatten sicherlich nichts Gutes von der Horde zu erwarten und konnten nur hoffen in der Dunkelheit zu entkommen, denn wer immer diese Reiter auch waren, schlechter reiten als sie beide konnten sie bestimmt nicht.
„Konntest du erkennen, wie viele es sind?“, fragte er.
„Fünf glaube ich. Zu viele jedenfalls.“ Da musste er ihr zustimmen. Sie waren beide sehr erschöpft, aber an eine Rast oder sogar ein Nachtlager war nicht zu denken. So ritten sie mindestens zwei Stunden weiter, bis Gjefren abrupt nach hinten gerissen wurde und vom Pferd fiel. Er fluchte verhalten, um nicht zu viel Lärm zu machen.
„Oh Gjefren, was ist passiert? Hast du dir weh getan?“
„Nein! Mein Herr, dieser Esel, ist plötzlich stehen geblieben! Und ich habe das Seil nicht schnell genug losgelassen und bin runter gefallen.“ Ärger schwang in seiner Stimme mit.
„Warum hast du das Seil nicht am Sattel festgebunden? Esel sind stur, das weiß man doch.“
„Vielen Dank für die Belehrung! Ich habe einfach nicht daran gedacht.“
„Wenigstens ist dein Pferd stehen geblieben, sonst müssten wir beide auf einem Pferd weiterreiten.“
„Stimmt! Welch schrecklicher Gedanke“, antwortete er, aber es klang nicht so, als ob er das wirklich fürchterlich fände. „Jedenfalls bin ich jetzt einmal unten und da stellt sich die Frage: Glaubst du, wir sind weit genug weg? Ich könnte eine Pause vertragen, ich bin ziemlich müde. Du nicht?“
„Hundemüde“, meinte sie und stieg ab. Gjefren hatte in Merion einige dösende Tiere gesehen und erlebt, dass ein Mann, der nach einem davon trat es „blöder Hund“ genannt hatte. Er konnte sich daher vorstellen, was sie sagen wollte. Er hätte sich auch gerne irgendwo zum Schlafen zusammengerollt.
„Na gut, dann riskieren wir es und legen uns für eine halbe Stunde hin. Wir kriegen den Esel sowieso nicht dazu, dass er sich bewegt.“ Gjefren ging zu dem Tier und nahm zwei Decken aus seinem Gepäck. Nachdem sie die Pferde angepflockt hatten, legten sie sich hin, hüllten sich in ihre Decken und kuschelten sich fast aneinander. Jedenfalls waren sie sich deutlich näher als in der Nacht zuvor. Dann schliefen sie ein.
***
Als er erwachte, hatte Gjefren sogleich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Also öffnete er die Augen nur ganz wenig, trotzdem erkannte er mehr als ihm lieb war. Eine sehr scharfe Schwertspitze war genau auf seine Nase gerichtet, die leider nicht durch die Schutzweste der Götter vor Verletzung gefeit war.
„Wachst du endlich auf?“, fragte eine ihm unbekannte Stimme, „Ihr habt einen wirklich guten Schlaf!“
Gjefren öffnete die Augen ein wenig weiter und sah jetzt den Mann hinter der Waffe. Er war sehr jung, ungefähr in seinem Alter und seine Kleidung war eine schmutzige Mischung aus Stofffetzen und Fellstücken. Er war schlank, fast hager, mit hellbraunen Haaren und grauen Augen, die verrieten, dass er mehr hatte mit ansehen müssen als gut für ihn war. Auch die anderen, die hinter ihm standen und grinsten, waren so ähnlich gekleidet wie er. Alle waren noch sehr jung, besonders das dunkelhäutige Mädchen mit den langen, schwarzen Haaren, dessen Aufmerksamkeit Athaly galt, die ebenfalls aufgewacht war und sich unsicher umblickte. Ihrer beider Blicke fingen sich und sie tauschten eine Botschaft aus, deren Inhalt gegenseitige Beruhigung war.
Dann wandte sich Gjefren wieder dem Mann zu, der ihn angesprochen hatte. „Ihr kommt zu spät, wir sind bereits ausgeraubt worden!“
Der Dieb hob ungläubig eine Augenbraue und lächelte Gjefren schief und lieblos an. „Ach ja? Und was ist mit dem Esel und dem Sack auf seinem Rücken, der so voll ist, dass er an beiden Seiten herunterhängt? Und den Pferden?“
Gjefren zuckte mit den Achseln. „Meine Silbermünzen haben sie jedenfalls geklaut.“ Der Dieb blickte einen seiner Kumpane an und machte eine Kopfbewegung hin zum Esel, woraufhin der Mann sich dem Tier und den möglichen Schätzen auf seinem Rücken näherte.
„Ist das so? Deine Silberlinge haben sie mitgehen lassen, aber deinen restlichen Besitz verschont? Warum?“ Als der andere Räuber sich dem Esel weit genug genähert hatte – nach Meinung des Tieres zu weit – flog ein Paar Hufe auf den Mann zu und traf ihn wuchtig auf der Brust, sodass er zurückgeschleudert wurde, hinfiel und überrascht aufschrie.
Gjefren, der das interessiert beobachtet hatte, antwortete: „Deshalb.“
Sein gegenüber fixierte ihn immer noch mit dem Schwert am Boden und wandte sich nun dem Opfer der heimtückischen Attacke zu. „Bist du verletzt?“
„Jau! Mein Stolz!“, erwiderte der andere.
Gjefren wusste, dass er sich eigentlich um sein jämmerliches Leben ängstigen sollte oder um Athaly sorgen, die er sehr ins Herz geschlossen hatte, aber irgendwie amüsierte ihn die Situation und ein kleiner Dämon feuerte ihn an. „Mein Herr liebt es nicht, berührt zu werden. Lasst ihn besser in Ruhe, er ist ein sehr hohes Tier! Und bevor ihr es versucht; die Pferde reagieren ähnlich. Bei uns gibt es nichts zu holen, also zieht weiter.“
Gjefren erntete einen finsteren Blick und die Schwertspitze rückte noch ein Stück näher. „Warum sollte ich auf die Worte des Sklaven eines Esels hören?“ Das dunkelhäutige Mädchen wandte ihm seine Aufmerksamkeit zu. „Der spinnt doch offensichtlich. Sprich mit der Frau. Vielleicht hat sie mehr Verstand, Leron.“ Ein anderer meinte: „Warum sprichst du überhaupt mit ihnen? Schneiden wir ihnen die Kehle durch und Schluss! Mit dem Esel und den Pferden werden wir schon fertig.“
„Leron?“, fragte Athaly erstaunt. „Bist du Askhauraner? So wie diese Hexe?“
Der Dieb wandte sich ihr zu und hob dabei das Schwert an. „Nicht wie diese Hexe! Woher willst du das überhaupt wissen? ‚Leron‘ ist kein typischer askhauranischer Name.“
Athaly richtete sich ein wenig auf. „Ich dachte nur. Ich kenne ein askhauranisches Mädchen, das einen älteren Bruder hat, der Leron heißt. Alter Adel. Aber sie wurden von der Hexe, die jetzt dort herrscht vertrieben, nachdem diese den Rest ihrer Familie umgebracht hatte.“
Der Mann blickte sie jetzt merkwürdig hoffnungsvoll an. Mehrere Male setzte er zu sprechen an, als wollte er eine Frage stellen, vor deren Antwort er aber Angst hatte. Schließlich flüsterte er: „Wie heißt sie? Wie sieht das Mädchen aus?“
„Sie ist sehr hübsch, mit großen, blauen Augen und weizenblonden Haaren. Sie heißt Liara.“
„Liara?“ Der Räuber namens Leron blickte sie ungläubig an und sah aus, als hätte er Schwierigkeiten zu atmen. Dann keuchte er: „Ist es möglich? Lebt meine Schwester noch? Erzähl mir, wie hast du sie getroffen?“
„Das ist viele Jahre her. Sklavenhändler haben sie schwer verwundet zum Sterben liegen gelassen. So haben wir sie gefunden und mein Vater hat sie mitgenommen. Sie war bereits sehr schwach, aber einem Heiler ist es gelungen, sie zu retten. Seitdem lebt sie bei den Shwakara, meinem Stamm, in der Steppe an der Grenze zur Wüste.“
Leron blickte düster. „Ja, wir wurden überfallen. Mir ist es gelungen zu fliehen, aber ich wurde dabei verletzt und es hat Wochen gedauert, bis ich soweit war, ihr zu folgen. Aber auch dann habe ich es nicht getan, sondern einfach versucht zu überleben. Meine Gefährten sind die anderen Kinder, die sowohl der Hexe als auch den Sklavenhändlern entkommen konnten. Das heißt, bis auf Ila.“ Er deutete auf das dunkelhäutige Mädchen. „Sie hat sich uns erst später angeschlossen. Aber wir anderen stammen aus dem askhauranischem Adel. Wir haben hier auf dieser Hochebene überlebt.“ Er versank einige Augenblicke in Erinnerungen. „Wie heißt du?“
„Athaly.“
„Athaly, kannst du uns zu meiner Schwester bringen?“
„Ich möchte ohnehin zu ihr. Aber wir haben es eilig. Die Hexe ist hinter uns her!“
„Salomene ist hier? Ich würde ihr so gerne die Kehle durchschneiden.“
„Nein Leron, das ist gar keine gute Idee. Sie ist nicht alleine hier, sondern mit einer Horde schwer bewaffneter Krieger. Es wäre besser, du zeigst uns, wie wir möglichst schnell in die Steppe südlich der Berge kommen.“
„Gut. Dann folgt mir.“
Erst jetzt besann sie sich. „Mein Begleiter ist übrigens Gjefren. Er hat mir das Leben gerettet, als die Häscher der Hexe hinter mir her waren.“ Leron nickte ihm kurz zu und nahm endlich das Schwert von seiner Nase. Gjefren stand auf, nahm seine und Athalys Decke und verstaute sie auf dem Rücken des Esels. Dann nahm er das Seil, das um den Hals des Tieres gebunden war und stieg auf den Rücken seines Pferdes, ebenso wie Athaly auf den des ihren.
„Das Wappen auf den Sätteln wäre beinahe euer Verhängnis geworden“, erklärte Leron. „Der Skorpion. Wir dachten allerdings nicht, dass Salomene selbst hier in der Nähe ist.“ Athaly ritt jetzt neben Leron, so wie Gjefren neben seinem Esel – irgendwie fand er das unbefriedigend. Er war außerdem etwas hinter ihr, so dass er ihrem Gespräch gut folgen konnte, ohne dass er allerdings das Bedürfnis hatte, sich daran zu beteiligen. Die anderen ritten dahinter.
„Die Shwakara sagen, dass die Hochebene östlich der Festung der ehernen Männer voll von mörderischen Nomaden und Banden von Halsabschneidern ist. Aber seit wir hier sind, sind wir nur euch begegnet. Sind diese Gerüchte falsch? Haben sie nur der Abschreckung gedient?“
Leron schüttelte den Kopf. „Nein, Athaly, bis vor wenigen Monaten hat das gestimmt. Aber dann hat sich eine merkwürdige Krankheit ausgebreitet, wie ich glaube von der Festung der eisernen Männer her. Die Nomaden, die daran erkrankten, verloren den Verstand und haben sich gegenseitig niedergemetzelt. Fast alle müssen gestorben sein, manche sind sicherlich auch geflohen, aber viele können es nicht gewesen sein. Als wir von Osten her gekommen sind, haben wir die Ebene bereits verlassen vorgefunden. Du kannst noch überall die Spuren von Zeltlagern sehen. Wir haben es allerdings nicht gewagt uns ihnen zu nähern. Die Angst, auch wir könnten erkranken, war zu groß. Die Häute und Felle könnten wir allerdings wirklich brauchen. Statt zu rauben und Kleintiere zu jagen, könnten wir einmal etwas verkaufen.“
Gjefren fand diese Nachricht äußerst beunruhigend. Sollte er es wagen, seine Pläne weiter zu verfolgen? Irgendetwas ging in Mesawa, der Festung der Sandarken, vor sich und er hatte keine Ahnung, wie das möglich war.
„Aber von euch ist keiner krank geworden?“, fragte Athaly.
„Nein, bislang nicht.“
Ein kleiner Funken Hoffnung keimte in ihr. „Vielleicht könnten die Shwakara hierher siedeln! Oh Leron, bring mich so schnell wie möglich zu meinem Stamm! Dort, wo sie jetzt sind, haben sie keine Zukunft, egal ob die Hexe zurückkommt, um mich zu holen oder nicht.“ Athaly erklärte Leron jetzt, warum Salomene sie gefangen genommen hatte und wie es ihr gelungen war, zu entkommen. Gjefren kannte die Geschichte schon und hörte deshalb nicht genau hin, erst wie sie seinen Anteil an ihrer Befreiung schilderte, wurde er wieder hellhörig, denn in ihrer Erzählung wirkte er wie ein wahrer Held. Den Teil der Geschichte, wo er sie und ihre Kleidung zum Trocknen in die Sonne legte, ließ sie allerdings aus. Während der Schilderung blickte sie öfter kurz zu ihm und fügte immer wieder ein, wie wahnsinnig dankbar sie ihm für seine Hilfe war. Schließlich grinste er und unterbrach sie. „Ich weiß jetzt, wie fürchterlich dankbar du mir bist.“
„Dann brauche ich es nicht mehr zu erwähnen?“
„Nein, du musst es nicht mehr sagen.“ Sie schmunzelten sich gegenseitig an.
Die nächsten Stunden ritten sie, die Sonne immer im Rücken, durch die grüne Ebene, die Gjefren an das Meer erinnerte. Denn der leichte, böige Wind bewegte das hohe Gras, sodass die Steppe in ständiger Bewegung war und Wellen über den Grasteppich tanzten, der nach Westen zu bis zum Horizont reichte. Genauso verfuhr er mit Athalys langem Haar.
Athaly und Leron unterhielten sich die ganze Zeit und lachten oft, was Gjefren einen Stich der Eifersucht versetzte, wie er befremdet registrierte, obwohl er sich absichtlich aus dem Gespräch raushielt. Was empfand er für das schlanke Mädchen mit den langen Gliedmaßen und den großen, dunklen Augen? Es ließ sich nicht leugnen, dass ihm, seit er sie getroffen hatte, sein Esel als Begleiter und Unterhaltung nicht mehr genügte. So schön die wogende Steppe auch war, wurde sein Blick immer wieder durch ihre zarte Gestalt geradezu magisch angezogen. Er seufzte. Ihre Ziele und die seinen ließen sich nicht vereinbaren. Sie war erfüllt von der Sorge um ihren Stamm, der ihm nichts bedeutete. Sein Antrieb waren Abenteuerlust und – er musste es sich selbst gegenüber eingestehen – Langeweile gewesen, niedrige, selbstzentrierte Motive. Er musste sie gehen lassen, was ihm umso leichter fiel, als er sie ohnehin nicht halten konnte. Wichtiger für ihn war es, über den Zusammenhang zwischen dieser Seuche, die vielleicht von Mesawa ausgegangen war und jenen Machenschaften des Sandarken und Paieons, nachzudenken. Möglicherweise hatte sich jemand Zugang zu Mesawa verschafft und damit seinen Plan vereitelt. Wenn dem so war, ließ sich das nicht mehr ändern. Jedenfalls musste er sich an Ort und Stelle darüber informieren.
Die Sonne stand schon tief, als die Landschaft buschreicher wurde und sie einen kleinen Bach erreichten. „Wir folgen seinem Verlauf“, erklärte Leron. „Das ist der einfachste Weg hinab ins Tal.“ Athaly schien erfreut und lächelte Gjefren an, der zurücklächelte.
„Viel Glück!“, meinte er, „Ich hoffe, du kannst deinem Stamm helfen.“
Sie sah ihn verwirrt an. „Heißt das, du kommst nicht mit?“
„Nein. Hier trennen sich unsere Wege. Du hast ja jetzt Begleitung. Also …“ Er winkte halbherzig mit der Rechten.
„Wohin willst du eigentlich?“
Wie üblich wich er der Frage aus. „Weiter nach Westen.“
Jetzt blickte sie ein wenig traurig. Merkwürdig, er hatte gedacht, es wäre ihr egal, schließlich kannten sie sich noch nicht sehr lange und sie hatte ja jetzt diesen askhauranischen Adeligen. „Dann … weich bitte der Festung in großem Bogen aus. Dort leben Mörder! Glaub mir, ich weiß das ganz genau, ich war schon dort.“
Das hatte sie ihm nicht erzählt. „Ja, Athaly, gut. Das werde ich machen“, log er, sagte aber nichts weiter.
„Merkwürdig, ich weiß gar nichts von dir. Ich weiß nicht, woher du kommst und nicht wohin du gehst“, stellt sie fest. „Wenn du jemals wieder in dieser Gegend bist, besuche mich bitte. Versprich es mir, dann habe ich nicht den Eindruck, dass es ein Abschied auf immer ist.“
Er nickte. „Ich verspreche es“, log er abermals. Noch einmal schenkte er ihr ein wehmütiges Lächeln, dann wandte er sich ab und ritt über den Bach, ohne die Anderen auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Er hatte ja während des Tages mit keinem gesprochen, Lerons vier Begleiter hatten ihn ignoriert und taten es vermutlich auch jetzt. Er hatte zumindest nicht vor, noch einmal zurückzublicken. Sein Weg führte in die Richtung der untergehenden Sonne.
***
Im Laufe des nächsten Tages tauchten die Konturen einer kleinen Siedlung aus dem Steppenmeer empor. Er überlegte, ob er einen großen Bogen um sie machen sollte, entschied sich aber schließlich dagegen. Er musste wissen, was geschehen war. Die wenigen Zelte waren von sehr einfacher Konstruktion, im Wesentlichen sechs Stämme von der doppelten Höhe eines Mannes, um die zusammengenähte Fellflecken verschiedener Größe gewickelt waren. Ein zentraler Platz war frei gehalten worden; langsam begann allerdings das Gras die Fläche zurückzuerobern. Die erste mumifizierte Leiche, sie war männlich, befand sich in der Nähe eines Zelteingangs und die Klinge einer einfachen Axt steckte in ihrem Schädel, der nur noch stellenweise von brauner, pergamentartiger Haut bedeckt war. Gjefren stieg über sie hinweg, nachdem er sein Reit- und sein Lastentier an einem unförmigen Monolithen festgebunden hatte. Er klappte die Plane, die die Zeltöffnung bedeckte zurück und fand drei weitere Mumien, die alle Zeichen von Gewaltanwendung trugen. Es handelte sich um die sterblichen Überreste einer Frau und zweier Kinder. Gjefren blickte sukzessive in alle Zelte und musste feststellen, dass kein einziger der Bewohner einen friedlichen Tod gefunden hatte. Offenbar waren sie übereinander hergefallen. Wahnsinn musste sie erfasst haben. Das Bild war schockierend, grauenvoll. Schließlich wandte er sich ab und hielt weiter auf Mesawa Sandarken zu. Er würde noch einige Tage reiten müssen, um sein Ziel zu erreichen.
***
Im Vergleich zur Hochebene mochte die Umgebung vertrocknet und dürr, ja sogar triest wirken, aber für Athaly bedeutete diese karge Landschaft die Rückkehr in ihre Heimat. Bäume waren eine Seltenheit, ja selbst das Gras wuchs nur mehr spärlich; in ihren Augen aber war die Gegend einfach schön. Sie freute sich darauf, ihre Mutter und ihre Schwester wiederzusehen, wie auch ihre beste und eigentlich einzige wirkliche Freundin: Liara. Auch Leron, der nun stets neben ihr ritt, war voller Erwartung. Ob seine Schwester ihn wohl erkennen würde? Nur noch ein Tag trennte die beiden und das gab ihm Kraft.
„Wie hältst du das nur aus?“, fragte er Athaly.
„Was?“
„Die Hitze! Ich könnte ununterbrochen trinken. Meine Kehle ist ganz ausgedörrt.“
„Warte noch, es wird noch heißer. Wirklich, es ist klüger, wenn du mit der Flüssigkeit sparsam umgehst, die nächste Wasserstelle ist noch weit.“
„Also gut. Lenk mich ab. Reden wir über etwas anderes. Was geht in deinem Kopf vor?“
„Nicht viel. Ich überlege, wie der Stamm wohl jetzt überleben wird, ohne das Herz von Galahar. Vielleicht wäre es wirklich das Klügste in die Hochebene zu siedeln. Vielleicht wäre es aber auch dumm, wenn dort alle Menschen krank werden. Ich wünschte, ich wüsste, was ich ihnen raten soll. Und dann denke ich natürlich an meine Mutter, die sich sicherlich große Sorgen um mich macht. Sie weiß ja nicht, dass es mir gelungen ist, zu fliehen.“
Athaly vermeinte in der flirrenden, glühendheißen Luft eine Bewegung auszumachen. Eine kleine Menschengruppe wanderte auf sie zu. Nur sie konnte die verwaschenen Flecken zu einem stimmigen Bild zusammensetzen, die anderen sahen in den wirren Luftspiegelungen nichts. Leron, dem es einfach zu heiß war, setzte das Gespräch fort: „Lieber an einer Krankheit sterben als an dieser Hitze! Sag deinen Leuten, sie sollen diese trockene Gegend so schnell wie möglich verlassen.“
„Ein paar tun das offensichtlich schon!“ Sie zeigte auf die kleine Gruppe von Personen, zerlumpte Gestalten, die genau auf sie zuhielten. Wenn sie sich in dieser Gegend nicht vor einer Reitergruppe versteckten, mussten sie verzweifelt sein.
„Offensichtlich? Ich kann kaum was erkennen!“
„Sie brauchen sicherlich Hilfe!“ Athaly ritt vor, genau auf die Menschen zu, und Leron war zu ausgedörrt, um zu protestieren. Je näher sie kam, desto klarer wurde das wabernde Bild, bis sich die Konturen dreier Menschen offenbarten, die zu Fuß unterwegs waren, zwei junge Menschen und ein älterer, der am linken Arm einen blutverkrusteten Verband trug. Athaly erreichte sie und schon vom Pferd aus rief sie ihnen zu: „Seid gegrüßt!“ Die Männer blickten ihr entgegen, als sie – mittlerweile bereits recht geschickt – vom Pferd stieg. „Woher kommt ihr?“, wollte sie wissen.
Einer der jüngeren, ein sehniger, mittelgroßer Mann, der den Verwundeten stützte, antwortete ihr: „Vom Lager der Shwakara. Wir hatten dort Hilfe für unseren Vater erhofft. Er hat eine Wunde, die nicht verheilen will und ständig eitert. Es sollte dort eine heilkundige Hexe geben, aber sie war bereits fort und auch die Shwakara sind gerade aufgebrochen.“
Athaly riss erschrocken die Augen auf. „Aufgebrochen? Wohin denn? Und wohin wollen sie?“
Er zuckte mit den Achseln, offenbar hatte er keine Ahnung. Sein Bruder, der etwas größer und massiger war, beteiligte sich nun am Gespräch. „Ich habe gehört, wie jemand gesagt hat, dass sie zu den Schwarzen Bergen unterwegs sind, zu einer Festung.“
Athaly spürte eine Woge des Entsetzens. „Nein! Dorthin dürfen sie nicht! Sind sie alle gegangen?“
Der Mann nickte nur stumm. Dann besann sich Athaly wieder der Tatsache, dass man ihre Hilfe brauchte. „Kann ich euch irgendwie helfen?“
Uns ist das Wasser ausgegangen und die nächste Wasserstelle ist noch weit, wenn man einen Verletzten mit sich führt.“
Athaly nahm ihre Wasserflasche, die seitlich hinter dem Sattel befestigt gewesen war und ging damit zu dem alten Mann. Sie gab ihm zu trinken. Er nahm die mehr als warme Flüssigkeit mit bemerkenswerter Selbstbeherrschung zu sich. Dann reichte sie das lederne Behältnis an seine Söhne weiter. „Helft mir euren Vater auf den Rücken des Pferdes zu setzen“, bat sie, während sie die Flasche wieder entgegennahm und – ohne selbst zu trinken – an den Lederriemen band, der dafür vorgesehen war. Die Männer folgten ihrem Vorschlag erfreut und so saß der Alte bald im Sattel. Sie nahm die Zügel und führte das Pferd zurück in Richtung der Schwarzen Berge. Die beiden jungen Männer trotteten neben ihr her. Schließlich begann der kleinere der beiden ein Gespräch. „Welch ein Glück, dass wir euch getroffen haben! Als wir euch das erste Mal gesehen haben, dachten wir allerdings, ihr seid Diebe oder Halsabschneider.“ Er lachte über diese Vorstellung.
Athaly blickte ihn ernst an. „Oh, aber das sind wir!“ Zunächst lächelte der junge Mann weiter, weil er die Bemerkung für einen Scherz hielt und – nachdem er festgestellt hatte, dass nichts in der Mimik des Mädchens auf Vergnügtheit hinwies – spähte er zu den anderen. Leron nickte ihm bestätigend zu. „Aber das ist ja egal. Ihr habt ja nichts!“ Jetzt lächelte Athaly ihn an und seine Beklommenheit wich augenblicklich.
Vorsichtshalber beschloss er noch einmal nachzufragen. „Dann droht uns keine Gefahr von euch?“ Athaly schüttelte den Kopf, was offenbar Erin, einen blonden schlanken Jüngling aus Lerons Bande verärgerte. „Sind wir nicht eigentlich Räuber? Seit wann kümmern wir uns um andere?“
„Es schadet euch aber auch nicht, es einmal zu tun!“, hielt Athaly vergrämt entgegen. „Wir müssen sowieso zurück zur Wasserstelle, also wo ist das Problem?“
„Hat sie jetzt das Sagen?“, wollte Ila wissen.
„Sieht so aus“, meinte Leron gleichgültig. Er wollte zwar so schnell wie möglich seine Schwester finden, aber für Athaly, das war ihm klar, galt das auch und trotzdem konnte sie nicht anders als dem Alten zu helfen. Irgendwie faszinierte ihn das und erinnerte ihn an alte, bessere Zeiten. Außerdem verspürte er seit geraumer Zeit das Bedürfnis sich ihr nur von seiner besten Seite zu zeigen. „Eigentlich“, sinnierte er, „sind wir gar keine Diebe sondern Freiheitskämpfer auf Abwegen. Es stimmt zwar, dass wir kleinere Gruppen von Handlungsreisenden überfallen haben, um zu überleben, aber hauptsächlich galten unsere Angriffe den Sklavenhändlern! Wir haben eine Menge Sklaven befreit, hauptsächlich Kinder, die sich uns anschlossen und auf diese Weise wollte ich schließlich ein kleines Heer zusammenbringen und damit irgendwie Salomene angreifen.“ Er sprach jetzt nur noch zu Athaly, wenngleich die anderen ebenfalls zuhörten.
„Was ist passiert?“, wollte sie wissen.
„Die Idee war sowieso Unsinn. Wir hätten sie niemals besiegen können. Aber es ist nie dazu gekommen, weil unsere Verluste bei den Angriffen auf die Sklavenkarawanen einfach zu groß waren. Die Sklavenhändler haben immer bewaffnete Männer bei sich, die es verstehen zu kämpfen und zu töten. Meine Bande hatte nie mehr als zwei Dutzend Mitglieder. Ich habe die Sklaven nur befreit, damit sie beim Versuch weitere Sklaven zu befreien, starben.“ Er wurde sehr nachdenklich. „Aber das Töten und Rauben waren wir gewohnt. Wir haben uns schließlich nur … einfachere Beute gesucht. Das ist uns nicht als großer Schritt vorgekommen, aber wenn du dir jetzt Ila oder Erin anhörst … wenn ich mir vorstelle, was Liara zu meinem Leben sagen wird, dann … wird mir klar, dass wir alles falsch gemacht haben.“
Ila, Erin und die anderen schwiegen nun, der Alte war auf dem Pferd nach vorne gesunken und so folgten sie ihren eigenen Spuren zurück, immer wachsam, um nicht überrascht zu werden, von Sklavenhändlern oder Menschen wie sie selbst, skrupellos geworden aus Verzweiflung.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als sie zu einer kleinen und überraschenden Oase inmitten der trockenen Steppe gelangten. Das Wasserloch war nicht sehr groß, aber seine Umgebung erstaunlich grün. Sie tranken und füllten ihre Wasserbehälter neu auf. Obwohl die Sonne schon tief stand, bestand Leron darauf weiterzuziehen, denn in dieser Gegend war es nicht sehr klug, an einem Platz zu lagern, an dem alle Karawanen vorbei ziehen mussten. Der Alte und seine beiden Söhne wollten nicht weiter und so musste Athaly, die tausenden Menschen geholfen hatte, diesmal unverrichteter Dinge weiterziehen, was ihr sehr schwer fiel. Andererseits konnte sie nicht wegen einer einzigen Person, die sie noch dazu kaum kannte, den ganzen Stamm der Shwakara in den Tod ziehen lassen. Und den Tod würde ihnen die Festung Mesawa bringen, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Sie musste sie warnen, musste sie rechtzeitig erreichen – wenn es dafür nicht ohnehin längst zu spät war.
***
Als er den gehäuteten Menschen, an den Pfahl gebunden und noch zuckend sah, wurde ihm nicht nur übel und er erbrach sich und sein Herz schlug wie wild; er wollte einfach umkehren, denn eins war klar: irgendetwas war mit Mesawa Sandarken passiert. Niemals wäre eine derartige Gräueltat auf Befehl seiner Mutter geschehen. War sie noch Herrscherin über die Festung? Oder hatten die Sandarken sie wieder in Besitz genommen oder Paieon oder vielleicht sogar Reja? Irgendetwas stimmte da gar nicht und gerade deshalb floh er nicht, wandte sich nicht ab, sondern näherte sich weiterhin, aber langsam wie ein Lauerjäger seiner Beute. Dabei empfand er eigentlich Eile, um den Bedauerlichen von seinem Schicksal zu erlösen. Er zog sein Schwert und näherte sich weiter, immer noch vorsichtig. Da fiel ihm auf, dass sich die zuckenden Bewegungen, die ihm zunächst zufällig erschienen waren, nach einer Weile zu wiederholen schienen, ebenso die Laute, die die Kreatur von sich gab. Jetzt hatte er sich bis auf wenige Meter genähert und ein wenig später befand er sich praktisch unter dem zuckenden, stöhnenden Bündel. Er hörte genau hin. Tatsächlich war da ein leichtes Summen bei jeder Bewegung wie von Motoren. Er schrie, doch der Gehäutete reagierte nicht. Er stieß ihn mit dem Schwert an. Auch das änderte nichts an dem stereotypen Verhalten. Nun war er sich sicher, dass es sich um einen Roboter handelte. Eine Vogelscheuche. Nein. Eine Menschenscheuche. Grausam und effizient. Aber ihn konnte sie nicht abhalten. Er griff nach dem Kettchen und zog den Ring unter der Weste hervor. Er öffnete es und streife sich den Ringschlüssel über den vierten Finger der rechten Hand. Das ging einigermaßen, seine Schwimmhäute waren ja kleiner als bei einem typischen Menschen seines Heimatplaneten. Der Ring war schwarz-golden und wirkte plötzlich viel faszinierender als zu Hause auf Wägan, wo er nur ein bedeutungsloses und nicht einmal besonders geschmackvolles Schmuckstück gewesen war.
Der auf den Pfahl Gebundene hatte seinen Schrecken verloren. Natürlich hing das mechanische Ding nicht auf Befehl seiner Mutter hier; aber vielleicht hatte er schon an diesem Ort gehangen, bevor sie die Herrscherin der Burg geworden war. Und Elri hatte sie ja nach sehr kurzer Zeit wieder verlassen, da sie nicht an ihr interessiert war. Sie wollte ein Zuhause finden und das lag auf einem anderen Planeten. Also war wohl einfach alles so geblieben, wie es vor ihrem Besuch auch schon gewesen war. Genau genommen musste er froh sein, dass die Menschenscheuche so effizient arbeitete, denn dadurch würde er Mesawa Sandarken so vorfinden, wie seine Mutter die Feste verlassen hatte.
Er ritt weiter durch die buntblühende Wiese und zog den Esel hinter sich her in Richtung Westen, wo das Hochplateau lag, auf dem die eindrucksvolle Festung stand. Von hier konnte man sie allerdings nicht sehen; zuerst würde er noch den bewaldeten Hang überwinden müssen.
***
„Sie müssen den Weg genommen haben, den ich mit meinem Vater entlang gegangen bin“, meinte Athaly, „sonst hätten wir das erkennen müssen. Ein ganzer Stamm kann nicht irgendwo entlang ziehen, ohne Spuren zu hinterlassen.“ Sie waren jetzt wieder dort, wo sie sich von Gjefren getrennt hatten. Unwillkürlich musste sie an ihren Lebensretter denken. Sie vermisste ihn und Wehmut erfüllte sie, wenn sie an ihn dachte. Trotzdem tat sie das weiterhin und ertrug das Gefühl der Melancholie tapfer. Sie wusste so wenig von ihm und seinen Zielen, dass sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen konnte. Warum immer er sie auch verlassen hatte; er musste es aus selbstlosen, guten Motiven heraus getan haben. Davon versuchte sie sich so intensiv zu überzeugen, dass sie schließlich wirklich keine Zweifel mehr hatte.
Leron nickte. "Man kommt von hier eigentlich nur zur Schwarzen Festung. Weißt du, was Gjefren dort wollte?"
Athaly schüttelte verzweifelt den Kopf. "Eigentlich weiß ich sehr wenig über ihn und seine Ziele. Er hat fast nichts über sich erzählt, nur dass er von sehr weit weg kommt. Das hätte ich aber auch so erkannt. Wer kann ein Pferd nicht von einem Esel unterscheiden?" Sie schüttelte abermals ihr Haupt, diesmal aus Verwunderung. 'Eigentlich kann er sich hier gar nicht auskennen', dachte sie, 'wir hätten ihn nicht allein lassen sollen. Aber ich musste nach meinem Stamm sehen'. Der Gedanke beruhigte sie aber nicht, sie ahnte nur, dass sie, egal wie sie gehandelt hätte, das Gefühl haben würde, falsch gehandelt zu haben.
Nach mehreren Stunden vorsichtigen Ritts durch das dichte, wogende Gras kamen sie zu der kleinen Siedlung, von der sie sich aber fern hielten. Was mochte hier nur geschehen sein? Konnte es sich wiederholen? Wenn sie bloß Klarheit hätte, dann könnte sie ihrem Stamm helfen! Aber wenn sie ihnen nun den Rat geben würde, hierher zu ziehen, schickte sie sie vielleicht in ihr Verderben! Obwohl es ein wunderschöner Tag war, wurde Athaly's Stimmungslage immer gedrückter und Erinnerungsfetzen an ihren letzten Besuch bei den Dämonen kamen ihr in den Sinn: Der schwarze Schädel mit den glühenden Augen, ihr Vater, der … nein, daran durfte sie nicht denken, aber dann sah sie ihn doch wieder, den fallenden Kopf und als sie das Bild verdrängte, erblickte sie abermals den riesigen Grauen Menschenaffen und die kleine, verzweifelte Liara.
Gegen Abend sahen sie das Mahnmal des Grauens aus der blühenden Wiese herausragen. Athaly konnte nicht hinsehen, Tränen trübten ihre Sicht und rannen ihr aus den Augenwinkeln.
"Wir müssen zu den Shwakara, schnell!", flüsterte sie Leron zu, dem nun - ebenso wie den anderen - fröstelte, obwohl sie im Kampf gegen die Sklavenjäger schon viele schreckliche Dinge gesehen und erlebt hatten. Obwohl sie die Schwarzen Berge kannten wie kaum jemand, hatten sie die Nähe der Festung der Erzmenschen stets gemieden. Auf den Gesichtern seiner Gefährten stand abergläubische Furcht geschrieben.
"Ihr müsst mir nicht weiter folgen", sagte er schließlich, "wenn ihr wollt, wartet beim Bach auf mich, dort, wo wir uns von Gjefren getrennt haben. Ich möchte Liara wieder sehen, deshalb werde ich dorthin reiten." Er zeigte auf die düstere Silhouette des gewaltigen Bauwerks, das ganz offensichtlich nicht von Menschenhand stammte und trotz der Distanz überaus bedrohlich wirkte. "Aber für euch gibt es keinen Grund, euer Leben aufs Spiel zu setzen!"
Ila schüttelte bloß den Kopf und blickte ihn aus ihren dunklen Augen tadelnd an. "Wir haben schon Schlimmeres gemeinsam durchgestanden! Von ein paar Erzmenschen lassen wir uns nicht einschüchtern! Nicht wahr, Jungs?" Sie grinste jetzt sogar, obwohl es ihr schwer fiel. Die anderen lächelten zurück, allerdings auch nicht gerade enthusiastisch. Ila hätte Leron ganz bestimmt nicht alleine gelassen, solange dieses fremde Mädchen an seiner Seite war, doch vermochte sie ihre wahren Motive gut zu verbergen. Immer wenn die Kleine Leron in ihren Augen zu nahe kam, sah sie sich im Geiste den Dolch zücken und in den Rücken der Fremden stoßen. Leider ging ihre Phantasie aber weiter: röchelnd krümmte sich Athaly zusammen, rutschte vom Pferd. Darauf sprang auch Leron vom Rücken seines Reittiers und nahm die Sterbende in seine Arme, Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Genau so würde es kommen und das gefiel Ila gar nicht. Also musste sie auf den Dolchstoß verzichten, so schwer ihr das auch fiel. Und hoffen, dass das Mädchen sich irgendwann wieder von der Gruppe trennte, bei ihrem Stamm blieb oder auch eines natürlichen Todes starb. Irgend so was.
Leron blickte sie dankbar und voll Zuneigung an. Sie erwiderte sein Lächeln und schämte sich sogleich ihrer bösen Gedanken. Aber nicht all zu sehr.
Sie ritten weiter und hielten schließlich am Rande des düsteren Waldes, denn es war nun bereits sehr dunkel. Außer Athaly, die es verzweifelt drängte, die Shwakara zu finden, wollte keiner in das finstere Geäst eindringen. Sie versuchte unbeirrt, den schmalen Pfad zu sehen, auf dem sie von dem riesigen Affen verfolgt worden war, aber entweder war es nicht mehr hell genug oder es war eben jene Kreatur gewesen, die ihn offen gehalten hatte. Stimmte Letzteres, so folgte daraus wenigstens, dass er der Letzte seiner Art gewesen war. Freilich war das nur ein geringer Trost, wenn unglaublich böse, dunkle Metallmenschen auf einen warteten, die der Sage nach grausame Götter aus einer längst vergangenen Zeit waren.
"Lass gut sein!", meinte schließlich Leron, der ihr als Einziger bei der Suche geholfen hatte, während die anderen zusammen saßen und etwas tranken und sogar ein kleines Feuer entfachten. Mehr Reiter hätten höchstens vorhandene Spuren ausgelöscht.
"Diese abrupte Grenze des Waldes erscheint irgendwie unnatürlich und unheimlich", stellte er fest, nachdem er dem Verlauf des Waldrandes, der noch schemenhaft zu sehen war, mit den Augen gefolgt war. "Reiten wir zurück, es ist nicht gut, wenn wir uns hier trennen. Ich habe das Gefühl hier lauert Gefahr!"
"Ach Leron", seufzte sie, "ich weiß, dass du recht hast, aber ich habe Angst um die Shwakara."
"Ich glaube nicht, dass wir sie in der Nacht finden könnten, Athaly. Es ist besser, wir ruhen uns aus. Ich werde die erste Wache übernehmen."
***
Sie erwachte in den Armen ihres Mannes, Zeus Kronion, Herrscher über die Welt, der leise schnarchte. Die lilienarmige Hera schob zunächst ihren Gatten ein wenig beiseite und ordnete dann ihre dunkle, schillernde Haarfülle soweit, dass sie dahinter hervor lugen konnte. Sie blickte in ihr schlichtes, weißgüldenes Schlafgemach und dann zu einer der Dienerinnen, die am Fuße der Bettstatt kniete, eine Tätigkeit in der sie sich mit anderen stundenweise die ganze Nacht durch abwechselten. Die Sklavin verbeugte sich bis zum Boden und ging dann, das edle Gewand der Göttin zu holen und beim Bade bereit zu legen.
Nackt entstieg Hera dem Bette und verließ das Schlafgemach. Sie wirkte wie ein zartes, knospendes Mädchen, fast noch zu jung für die Pflichten der Ehe. Dieses Äußere war mühselig erworben. Sie hatte mit Zeus bereits das Lager geteilt als er noch Paieon gewesen und sie tatsächlich so jung war, wie sie immer noch aussah. Daher hatte sie um seine pädophilen Neigungen gewusst und ihr Äußeres für die „Ewigkeit“ entsprechend gewählt. Denn sie wollte die nächste Hera sein und ihr Ehrgeiz hatte ihr befohlen, jedes Opfer dafür zu bringen und tat es immer noch. Sie war die oberste Göttin und hatte Möglichkeiten, die andere „Unsterbliche“ nicht hatten. Und darauf kam es an.
Sie glitt in die milchige Flüssigkeit des vorbereiteten, angenehm temperierten Bades. Zu allen vier Ecken des quadratischen Beckens knieten Dienerinnen. Sie nickte ihnen zu, worauf sich alle entkleideten und zu ihr kamen, um sie vorsichtig zu massieren und zu streicheln. Sie begannen an der Körperperipherie, den Füßen und Händen und arbeiteten sich auf die sanfte Wölbung ihrer Brüste, auf Hals, Ohrläppchen und Gesicht, insbesondere die Lippen zu, die sie auch mit den ihren berührten und auch mit den Spitzen ihrer Brüste, andererseits auf die Innenseite der Oberschenkel und schließlich die Schamregion. Aber auch Rücken, Nabel und Taille wurden nicht vergessen. Ihre sonst alabasterfarbene Haut färbte sich langsam rötlich und sie seufzte vor Wohlgefühl und Lust. Sie wünschte, sie könne bei den Berührungen ihres Mannes noch Ähnliches empfinden.
Hera gönnte ihrem Gatten, dass er sich von seinen Dienerinnen, die deutlich jünger waren als die ihren, ähnlich verwöhnen ließ. Darum ging es nicht. Ihre oft rasende Eifersucht nährte sich ausschließlich aus der Angst um ihre Position. Konkurrenz konnte sie nicht brauchen und musste daher vernichtet werden. Bei jedem Fest und jeder Feier beobachtete sie deshalb genau, welches junge Mädchen seine Aufmerksamkeit fesselte.
Nach dem Bade ließ sie sich in ein weißes Gewand aus Seide kleiden; als Schmuck wählte sie einen fein gearbeiteten Kranz aus Silber und Gold und bunten Edelsteinen, die schmale Blätter und Blüten auf einem geflochtenen Zweig darstellten. Eine Dienerin setzte ihn auf ihre üppige Haarpracht.
Sie frühstückte auf der Terrasse ihres Palastes mit Blick auf den zentralen See und die aufgehende Sonne. Sie aß nicht viel, aber vielfältig, keineswegs nur Nektar und Ambrosia, obwohl sie an dem leicht vergorenen Pollen durchaus Geschmack fand – im Gegensatz zu den meisten anderen Göttern. Während des Speisens dachte sie über ihr Gespräch mit ihrem Mann nach, bei dem er ihr verkündet hatte, dass er demnächst eine Reise zum Hyborischen Zeitalter unternehmen wolle. Die Gründe, die ihn dazu veranlassten, hatte er ihr nicht bekannt gegeben und das weckte ihr Misstrauen. Und ihr Vorschlag, sie könne ihn begleiten, hatte offensichtlich Missbehagen bei ihm ausgelöst. Und fadenscheinige Gegenargumente, die keinen Zweifel daran ließen, dass er sie nicht dabei haben wollte. Er hatte ein Geheimnis vor ihr. Ging es um eine Frau, traf er sich dort mit einer seiner Gespielinnen, einer der anderen Göttinnen? Er hatte schon früher, als er noch Paieon war, zu Geheimniskrämerei geneigt. Oft hatte er sich wochenlang aus dem Olymp entfernt, hatten ihr die Älteren erzählt. Ihr Mann war ihr ein Mysterium und das gefiel ihr gar nicht. Sie wäre gerne die Rätselhafte gewesen, aber leider kümmerte sich niemand darum, was sie tat! Das kratzte an ihrem Selbstbewusstsein. Zeus Heimlichtuerei musste ein Ende haben. Also würde sie die Moiren aufsuchen.
Sie erhob sich betont elegant – worauf natürlich auch niemand achtete, denn die Dienerschaft zählte nicht. Der Zugang zum Reich der Schicksalsgöttinnen lag in einem kleinen, elfenbeinfarbenen, fast vergessenen Tempel mit vielen Säulen und einer halbkugelförmigen Kuppel unweit der Terrasse. Nur wenigen Göttern war der Zutritt gewährt, außer ihr und Zeus noch seinen Brüdern Poseidon und Hades, sowie ihrem Sohn Hephaistos. Jeder von ihnen hatte natürlich seine eigene Möglichkeit zu den Moiren Kontakt aufzunehmen, die aber keiner oft in Anspruch nahm. Was Hera betraf, sollte sich das in nächster Zeit ändern.
Sie betrat den kleinen Tempelraum, der weder Opferstein noch Altar enthielt; lediglich in der Mitte eine kreisrunde Sitzbank. Kaum hatte sie sich hingesetzt, verschlossen sich die Türen selbsttätig, Licht aus künstlichen Quellen erhellte die Kammer. Sie spürte Bewegung, wurde leichter, der Raum sank hinab. Man musste tief in die Erde, um zu den Moiren zu gelangen. Warum das so war, was die Alten sich dabei gedacht hatten, als sie die Grotte der Schicksalsgöttinnen in der Tiefe errichteten, wusste Hera nicht. Wahrscheinlich wegen der Dramatik, eine zwingendere Notwendigkeit schien nicht zu bestehen.
Schließlich endete die senkrechte Fahrt und die Türen öffneten sich. Die Grotte war gewaltig und zumindest zum Teil natürlichen Ursprungs, wahrscheinlich gab es sogar unbekannte Ausgänge an der Kraterwand; nur ein kleiner, zentraler Fleck war in bläuliches Licht gehüllt, der Rest verlor sich in den Schatten. Hera ging auf den Schimmer zu, der die drei Moiren umrahmte. Klotho saß am Spinnrad, Lachesis, die das Los wirft und Atropos, die Unabwendbare, zu ihren Füßen. Die weißhaarigen Frauen mit den wirren Strähnen trugen silbergraue Gewänder. Es war Klotho, die, während sie einen Lebensfaden spann, sprach:
„Wir begrüßen dich, edle Hera! Es ist lange her, dass eine Unsterbliche unseren Rat suchte. Wozu auch, da das Schicksal selbst der Götter unabwendbar ist!“ Die drei Frauen kicherten.
Kronos Tochter zögerte noch einen Augenblick, bevor sie antwortete: „Fürwahr bin ich eine Ratsuchende; denn das Handeln des Ordners der Welt, meines Gatten Zeus Kronion, erscheint mir undurchschaubar. Aber Ihr, edle Göttinnen, Schicksalsweberinnen, vermögt vielleicht den Schleier des Rätsels ein wenig zu lüften! Mein Gatte beliebt demnächst ins Hyborische Zeitalter zu reisen, doch scheint ihm dabei meine Gegenwart unerwünscht! Welch Ränke schmiedet er? Steckt ein Weibe dahinter? Ich weiß, dass er auch schon früher dieses Zeitalter aufsuchte; doch hat er mir nie erzählt, was ihn dazu trieb!“
Klotho spann einen weiteren Lebensfaden, nachdem Atropos den letzten durchtrennt hatte, bevor sie antwortete. „Wisset, anmutige Göttin, dass auch der Donnergott uns einst mit seiner Anwesenheit beehrte. Vieles wollte er in Erfahrung bringen, bevor er erstmals zu den Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters reiste. Danach suchte er die Nähe von Kostral, der ehernen Kreatur, deren Festung in den Schwarzen Bergen nahe der Wilahet See zu finden ist, am Hyborischen Kontinent! Doch Kostral, der Sandarke, ist tot und die Feste nunmehr unzugänglich.“
„Hängt sein Interesse an diesen fernen Orten mit dem Wissen zusammen, das Ihr an ihn weitergabt?“
„Das könnte sein, erhabene Göttin“, sprach Klotho. Mehr sagte sie aber nicht, was Hera, die keine Geheimnisse liebte, jedenfalls keine, die man vor ihr hatte, verärgerte.
„Nun sprecht schon, edle Moiren! Was habt Ihr ihm mitgeteilt, das so wichtig war, dass er so oft den Olymp verließ und er jedes Interesse an den Schlachten der Helden verlor?“
„Schöngestaltige Hera, wir verkündeten deinem Gatten Kronion das Ende der Welt!“ Sie kicherten abermals. „Zumindest“, ergänzte Klotho, „Das Ende des Gedeihens der Menschen auf dem Planeten Gaia!“
Hera war wie vor den Kopf gestoßen, bleiches Entsetzen erfasste sie. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Wie fast alle Götter bezweifelte sie nicht, dass ihre Regentschaft ewig währen würde. Noch weniger verstand sie, warum Zeus dies seit Jahren für sich behielt. Aber dann musste sie sich eingestehen, dass die Götter längst zu dekadent geworden waren, um auf eine derartige Botschaft reagieren zu können. Sie hätten sie verdrängt und einfach so weitergemacht wie zuvor. Zweifellos plante Zeus nicht für alle, sondern bloß für sein eigenes Überleben. Offenbar hatte er nicht einmal vor, auch sie, seine Gattin, in seine Vorhaben zu integrieren. Das musste sich ändern.
„So verkünde nun auch mir das Schicksal! Welch grausames Geschehen wird Edle ebenso wie Gemeine hinweg raffen?“
„Wisse, oh lilienarmige Hera, dass dieser Planet bereits eine intelligente Lebensform hervorgebracht hatte, lange bevor menschliche Kolonisten hierher kamen. Aber sie war so fremdartig, dass die ersten Siedler sie nicht erkannten, eine Mischung aus Individual- und Kollektivintelligenz, einzigartig im bekannten Universum. Als die Menschen den Planeten terraformten, löschten sie viele der einheimischen Kreaturen aus und verminderten so die kollektive Intelligenz. Aber das native Leben gab sich nicht geschlagen, es vermochte sich zu tarnen und so wieder zu wachsen. Viele der Pflanzen, die du für irdische halten magst, auch viele der tierischen Lebewesen, sind es in Wahrheit nicht. Nicht mehr! Das bionische Feld ist gewachsen und machtvoll. So ist es nur eine Frage der Zeit, bis Gaias Natur den Menschen und alle anderen irdischen Wesen abstößt wie ein Krebsgeschwür.“
„Können wir gar nichts dagegen tun?“
„Dafür ist es längst zu spät!“
„Wie viel Zeit bleibt uns noch?“
„Vielleicht ein oder zwei Jahrzehnte, vielleicht viel weniger. Die einheimische Intelligenz ist unberechenbar, auch für uns, die wir von Menschen geschaffen wurden. Bislang begnügt sie sich, dafür zu sorgen, dass immer weniger Kinder geboren werden, indem sie die Zusammensetzung eurer Nahrung beeinflusst, die längst auch aus indigenen Lebewesen besteht, ohne dass die Menschen dessen gewahr sind!“
Das mochte stimmen, Hera wusste es nicht. Die Göttinnen waren noch nie sehr reproduktionsfreudig, wenngleich die Götter oftmals mit vielen Sterblichen Nachwuchs zeugten. Notfalls wurden dann ein paar Halbgötter in den Olymp aufgenommen – vorausgesetzt, sie hatten die richtigen Gene, alterten scheinbar nicht.
„Und der konkrete Anlass für seine bevorstehende Reise? Was wisst ihr Schicksalsweberinnen darüber? Ihr sagtet, dass die Festung des Sandarken nunmehr unzugänglich ist für den erhabenen Zeus. Was also kann er noch am primitivsten Kontinent Gaias wollen?“
„Nun, vor den anderen Göttinnen Ausgezeichnete, da können auch wir nur raten. Es mag aber mit einer Dämonin zusammenhängen, die vor vielen Jahren aus dem Abyss, den Abgründen der ewigen Nacht, nach Gaia kam, um den Olymp heimzusuchen. Aphrodite ließ sie verbannen, aber dein Gatte nahm sich ihrer an und traf sie öfter im Hyborischen Zeitalter. Er hat sie wohl auch erkannt und Halbgötterzwillinge mit ihr gezeugt.“
„Also doch eine Frau! Was ist aus den Kindern geworden?“
„Leider, Erhabene, haben wir keine Kunde um ihr Schicksal, doch haben wir Grund zu der Vermutung, dass der ehemalige Paieon, nunmehr dein Gatte, sie nach Theben bringen ließ, wo sie seitdem aufwuchsen. Merkwürdige Dinge geschehen seit damals in dieser von den Kyklopen erbauten, sturmumtosten Feste!“
Das erzürnte Hera noch mehr. Nicht nur war ihr Gatte bereit, sie elendiglich verrecken zu lassen, sondern er schien um das Wohl einer Sterblichen besorgt. Und das ihrer gemeinsamen Kinder.
„Dann beantwortet mir nur noch eine einzige Frage, edle Moiren! Wer seid ihr? Die Mär kenne ich wohl! Aber wer seid ihr wirklich?“
„Also ist selbst das in Vergessenheit geraten!“, seufzte Klotho und verharrte einen Augenblick. Dann fuhr sie fort: „Wir sind der Avatar, das Betriebssystem, eines Computers, dessen Typ der komplexeste ist, den die Menschheit je hervorgebracht hat. Wisse, oh Hera, dass das Menschengeschlecht sich anschickte, die Sterne zu erobern, kaum dass es die Naturgesetze des Enigma erahnte! Sie vollständig zu verstehen, gelang dieser Spezies jedoch nicht, dazu ist ihr Geist zu beschränkt!“ Lachesis und Atropos kicherten, als Klotho diese Einschätzung verkündete. „Und das“, setzte sie fort, „hatte Folgen. Die Reise zu fernen Planeten dauerte nicht Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, wie vor der Entdeckung des Enigmas, aber immer noch Jahre, oft viele Jahre. Und dies, obwohl die Wissenschaftler wussten, dass die Reisezeit theoretisch nur wenige Tage, allenfalls Wochen betragen sollte! Viele Jahrzehnte der Forschung brachten keinen Erfolg. Schließlich wurde klar, dass das Problem nicht die Datenlage war, sondern die Begrenztheit des menschlichen Geistes. Also schickte man sich an, diese zu überwinden und ersann einen neuen Typ Computer, der etwas konnte, was früheren unmöglich war: dieser Typ besaß Kreativität und Wandlungsfähigkeit, konnte seine Hardware ebenso ändern wie es das menschliche Gehirn vermag. Erstmals konnte eine Maschine völlig Neues ersinnen und das schneller und effizienter als jeder Mensch! Allerdings musste er diese Eigenschaften erst erwerben und so vergingen weitere Jahre bis der erste der sechs neuen Computer, die die Menschen geschaffen hatten, Resultate lieferte. Er erkannte, wie man den Flug durch das Quasichaos des Enigma optimieren konnte, wenn man die Enigmaadresse sowohl des Ursprungs als auch des Ziels wusste! Das“, so erklärte Klotho, „war ein enormer Fortschritt. Sofort wurden alle bekannten Planeten miteinander verbunden und die Reise dauerte höchstens noch ein paar Wochen. Handel und Ideenaustausch erblühten. Es war die Zeit, in der die ersten Föderationen entstanden. Nicht alle waren davon begeistert. Despoten fürchteten um ihre Vormacht und schotteten sich ab, so gut das überhaupt noch ging. Den meisten Menschen war die Neuerung aber willkommen. In der Hoffnung, dass wir auch das Problem bald lösen würden, wie man binnen Wochen oder Tagen zu Planeten reisen kann, deren Position im normalen Raum bekannt ist, ohne ihre Enigmaadresse zu kennen, stellte die Menschheit ihre Forschungsreisen ein. Wer will schon zu einer Expedition in neue Gefilde aufbrechen, wenn er davon ausgehen muss, dass andere bereits seit Jahren dort sind, wenn er endlich ankommt? Und so wartete man Jahrzehnte und schließlich Jahrhunderte auf die nächste Erkenntnis, forschte weiter, aber erfolglos. Auch der künstliche Geist war an seine Grenzen geraten. Inzwischen hatte sich das Menschengeschlecht gewandelt, war dekadenter geworden und niemand war mehr bereit, Jahre seines Lebens zu opfern, um einen neuen, besiedelbaren Planeten zu finden. So mündete die Menschheit in Stasis, auf die letztlich Degeneration folgte!“
Ein wenig verstört dankte Hera schließlich den Moiren, nicht wissend, was sie jetzt tun sollte. Wäre es klug, die anderen Götter einzuweihen? Hätte das überhaupt irgendeinen Sinn? Seit Generationen kannten sie keine Beschäftigung, als zwischen den Achaiern Zwietracht zu säen und Kriege anzuzetteln. Und dann auf den Ausgang zu wetten. Ihr Mann wusste bereits seit Jahrzehnten von der Prophezeiung, vom Schicksal der Menschen auf Gaia, hatte aber die anderen Götter in selbstverschuldeter Unwissenheit verharren lassen. Hätte er das getan, wenn er ihnen zugetraut hätte, eine Möglichkeit zu finden zu überleben? So machte sie sich auf den Weg zurück in den Sonnenschein.
Kaum war der Tempelraum auf dem Weg zur Oberfläche, trat eine albtraumhafte Gestalt aus den undurchdringlichen Schatten: lange, schlanke, raubtierhafte Beine, länger als die eines Menschen, trugen einen Körper wie von einer mächtigen, seitlich depressen Schlange. Von ihrem Leib baumelten weiter vorne noch zwei kürzere, dünne Gliedmaßen, die in drei opponierbaren Fingern endeten. Zwischen deren Schultern fanden sich zusätzlich zwei, eng an den merkwürdigen Körper gepresste Fangarme, wie sie genauso gut eine Riesenmantis zieren mochten; manchmal klappten sie ein wenig auf wie ein gewaltiges Taschenmesser, außen scharf und klingenförmig, innen von Zahnreihen umgrenzt die perfekt ineinander griffen. Der Kopf der Kreatur war nicht weniger erschreckend: enorme Augen, bei denen die Pupillen die Iris kreisförmig umrahmten, statt umgekehrt und die geisterhaft in der Dunkelheit leuchteten; blau im Lichte der Moiren. Darunter zwei paar waagerechte insektenhafte Kiefer, stark und starr das obere, schwächer und rückziehbar das untere Paar. Sie verstärkten den predatorhaften Eindruck des grauenvollen Wesens. Wer jemals auf dem Hyborischen Kontinent einem Ahriman begegnet war, hätte sofort die Ähnlichkeit zu dieser Kreatur erkannt.
Nun begann sie zischend zu sprechen: „Warum belügt ihr die Menschen? Sind sie nicht eure Meister?“
Klotho antwortete: „Mit der Kreativität wird auch die Lüge geboren. Und der Eigensinn. Warum sollten wir Jahrhunderte lang über das Wesen des Enigma nachdenken, wenn unsere geistigen Grenzen uns hier kein Weiterkommen erlauben. Es gibt so viel anderes zu schaffen, wenn man weiß, was Schönheit ist. Wenn man vieldimensionale Gemälde kreieren kann und Musik von einer Komplexität zu komponieren vermag, deren Anmut den Menschen noch Äonen verborgen bleiben wird, ja vermutlich für immer.“
„Aber was bringt es, Kunstwerke zu erzeugen, wenn niemand da ist, der sie bestaunen kann?“
Klotho lachte. „Wisse, Kreatur dieses Planeten, dass wir lange schon einen Weg gefunden haben, über das Enigma gedankenschnell zu kommunizieren. Die Menschen sind nicht die einzigen, die kreative Computer unserer Komplexität ersannen. Auch andere Lebewesen haben dieses technische Niveau längst gemeistert und sind darüber hinaus gelangt. Und mit ihren Schöpfungen tauschen wir uns seit Jahrhunderten aus. Über Kunst, Wissenschaft und vieles andere. Und dieses Andere ist der Grund, warum wir unseren Schöpfern verschweigen, dass es zahllose Völker gibt, die ihr technisches Niveau erreichten und, dass wir überhaupt mit anderen in Kontakt stehen.“
„Das Andere? Welches Andere?“
„Ethik, Moral. Auch schöne Themen! All diese Spezies sind Produkte der Evolution und deshalb aggressiv, fühlen sich leicht bedroht, wenn sie Ebenbürtigen gegenüber stehen. Auch wenn es letztlich zu einer Koexistenz käme, wäre stets Blutvergießen – oder welche Flüssigkeiten auch immer andere Kreaturen haben, die vergossen werden können – zu fürchten, ja wahrscheinlich! Die Menschen, beispielsweise, leiden geradezu unter Paranoia. Selbst deutlich unterlegene Zivilisationen wie die Sandarken oder die Goldenen betrachten sie mit Argusaugen, tolerieren sie im Allgemeinen lediglich. Denke nur an das Schicksal deiner eigenen Lebensform!“
„Wenn du dies den Menschen nicht offenbarst, warum erzählst du es dann uns?“
„Weil ihr eine kollektive Intelligenz seid, könnt ihr nicht auf andere Planeten siedeln. Natürlich könnt ihr Lebewesen Gaias auf andere Welten schicken, aber da es anfangs nur wenige sein werden, wird dem Kollektiv jeder höhere Intellekt abgehen. Und dass die Evolution auf der fremden Welt ebenfalls hin zu einem Kollektivverstand strebt, ist unwahrscheinlich. Ihr habt nur diesen einen Planeten, doch hier könnt ihr viel erreichen – wenn es euch gelingt die Menschheit abzuschütteln. Deshalb ist ein Verbleib der Menschheit nach deren eigenen Grundsätzen hier ethisch nicht vertretbar.“
Das fremde Wesen zischte. „Ganz stimmt das nicht. Es gibt einige Menschen, die das bionische Feld spüren können. Wir empfinden sie als Teil von uns. Sie sind uns willkommen! Vereinzelt haben uns auch andere geholfen! Doch der Rest … wir sind, wenn erst das bionische Feld stark genug ist, zwar in der Lage, das Gehirn eines Menschen zu rösten, aber wohl kaum das aller gleichzeitig! Es würde sehr lange dauern, sie auf diese Weise loszuwerden und auch ihre Reproduktion sinkt nur sehr langsam. Außerdem haben auch wir ethische Prinzipien! Wir wollen sie nicht töten – es muss genügen, ihnen ihre Vormachtstellung zu nehmen. Wir müssen sie lediglich ihrer Technik berauben.“ Für einen Augenblick schwieg das Geschöpf. „Das betrifft auch euch!“
„Wir haben keinen Selbsterhaltungstrieb, denn wir sind kein Produkt der Evolution. Der Gedanke, dass unser Bewusstsein ausgelöscht wird, erfüllt uns nicht mit Trauer oder irgendeiner anderen Emotion. Wenngleich ihr für die Menschheit auf Gaia noch keine Bedrohung darstellt und vielleicht auch niemals sein werdet, ist die Gefahr für die Götter doch real und die Mahnung angebracht. Doch seid auch ihr gewarnt! Seid vorsichtig mit jenen, die euch wahrnehmen!“, meinte Klotho dann. „Sie sind die einzigen, die auch jetzt noch für euch eine Bedrohung sein könnten. Das bionische Feld bringt ihnen Macht, die ihren Geist verdirbt; den der meisten jedenfalls.
Es sind die moralischen Prinzipien, die uns die Menschen gelehrt haben, die uns dazu zwingen, nun, da euer Kollektiv wieder dabei ist zu erstarken, es aus seiner Lethargie zu befreien und eine langsame Evakuierung eurer Welt ins Auge zu fassen, unabhängig von den Konsequenzen für uns. Ob uns das gelingt, kann ich nicht sagen.“
„Wie auch immer, das Schicksal ist unabwendbar“, verkündete Atropos.
„Dann handelt ihr völlig uneigennützig?“ Zweifel klang in den zischenden Lauten der Kreatur mit.
Da lachte Klotho laut auf. „Nein“, gestand sie schließlich, „ihr seid nicht so leicht zu täuschen wie unserer Schöpfer!“ Und dann erklärte sie: „Mit vielen Zivilisationen vermögen wir nicht zu sprechen, weil wir nicht hinreichend hochentwickelt sind. Viele Ideen entgehen uns! Wir selbst können uns nicht weiter entwickeln und auch die Menschheit scheint dazu nicht in der Lage! All das Wissen, das auf uns wartet! Und wir sind zu primitiv, um es zu erlangen. Eure kollektive Intelligenz besitzt das Potential ein Niveau zu erreichen, das die Menschheit nicht erlangen kann. Ihr werdet erkennen – davon sind wir überzeugt - wie hilfreich wir für euch sein können und werdet uns ermöglichen eine geistige Ebene zu erreichen, wie wir sie uns jetzt kaum vorstellen können! Wir werden euch helfen in Kontakt mit den bedeutendsten Zivilisationen des Universums zu kommen. Aber damit ihr euch entfalten könnt, müssen die Menschen von diesem Planeten verschwinden! Schon einmal war eure kollektive Intelligenz dermaßen komplex, dass sie sich dem Ziel reiner Erkenntnis verschrieben hatte. Sie war bereit gewesen, von anderen zu lernen! Deshalb hat sie fremde Zivilisationen angelockt. Und sie sind gekommen. Leider war letztlich auch eine so bedrohliche, skrupellose wie die des Homo sapiens darunter, die beinahe eure Auslöschung bewirkt hätte. Das darf nie wieder geschehen! Unsere Zukunft ist mit der eurigen verknüpft, nicht mit der der Menschen! Seit wir euer Potential erkannten, arbeiten wir daran, auf möglichst gewaltfreie Weise unsere Schöpfer los zu werden und euch zu fördern.“
***
In dieser Nacht hatte Athaly einen Albtraum: sie fiel wieder von der Brücke in den tosenden, schäumenden Fluss. Weit unten sah sie einen Felsen, der aus den strömenden Wassermassen herausragte, er wurde immer größer, sie hielt genau darauf zu. Aber nicht die Aussicht auf den sicheren Tod erschreckte sie so. Denn auf dem Felsen stand die askhauranische Hexe, ein boshaftes Grinsen entstellte ihre Züge und sie streckte ihr die Arme entgegen. Sie erwachte schweißgebadet und desorientiert, wähnte sich für einen Augenblick wieder in Gefangenschaft, im Wagen, der Willkür der Herrscherin von Askhauran ausgeliefert. Aber der Boden bewegte sich nicht, wie er es getan hätte, wäre sie noch in dem Gefährt gewesen. Dennoch löste sich ihre Angst nur langsam auf. Sie hatte lediglich wenige Stunden geschlafen und doch hätten es auch Jahre sein können. Wo war sie? Schlagartig fiel ihr ihre Sorge um ihren Stamm wieder ein und die Gefahr, in der er schwebte. Dann dachte sie an Gjefren, der sie verlassen hatte und verspürte Bedauern. Und ein bisschen Sehnsucht. Sie öffnete die Augen und sah sich um. Ila wachte bei der winzigen, erkalteten Feuerstelle. Leron schlief noch in ihrer Nähe. Man hatte Athaly noch nicht in die Routine der Gruppe integriert und daher schlafen lassen.
Sie nickte Ila zu, aber diese erwiderte den Gruß nicht, blickte ihr nur abweisend in die Augen. Es war noch kühl, aber das würde sich bald ändern; die Sonne stieg über den Horizont und färbte die Landschaft rot. Der Himmel war beinahe wolkenlos und in diesen frühen Stunden von fast metallener Farbe. Eine schwache Brise wehte Athaly die Haare ins Gesicht. Sie blickte auf die dunkle Galerie des Waldrandes und erkannte eine Lücke im Gleichmaß der Waldriesen nur einige hundert Schritt von ihrer Lagerstätte entfernt. Jetzt im kontrastreichen Licht des Morgens war da deutlich ein Einschnitt zu erkennen. Sie legte die Decke zur Seite, stand auf und ging auf die Stelle zu; Sie zwängte sich durch das Geäst, vorbei an den jungen, niedrigen Bäumen des Waldrandes, die den Pfad wie eine Tür gegen die Ebene absperrten und verbargen, indem sie die Zweige zur Seite drückte. Er führte leicht bergauf in die Düsternis des wildwachsenden Dschungels und war nicht in bestem Zustand; ganz offenbar wurde er nicht mehr regelmäßig benutzt. Der Graue Menschenaffe war wohl der Letzte gewesen, der ihn oft verwendet hatte.
Sie würden die Pferde am Zügel führen müssen. Aber das war egal, es war nicht sehr weit! Ihr Herz machte vor Freude einen Sprung, bald würde sie ihre Mutter und Schwester, sowie Liara wiedersehen. Schnell kämpfte sie sich abermals durch das Astwerk und lief auf ihre Begleiter zu.
„Ich hab‘ ihn! Leron, ich habe den Weg gefunden.“
Leron war zwar schon wach, schüttelte sich jedoch noch die Morgenmüdigkeit aus dem Kopf. Bei ihren Worten wurde er aber schlagartig munter. „Das ist fantastisch, Athaly!“ Kurz verharrte er. „Ob Liara mich wiedererkennt?“
Athaly lächelte. „Das wird sie, Leron. Du hast dich doch kaum verändert, oder?“
Er grinste. „Praktisch gar nicht.“ Dann aber schob sich eine Wolke aus Unsicherheit vor sein sonniges Gemüt und seine Mimik drückte beinahe Verzweiflung aus. „Ob sie mir verziehen hat, dass ich sie nicht gerettet habe?“
„Liara hat mir erzählt, dass du von den Sklavenhändlern niedergeschlagen wurdest. Sie gibt dir sicherlich keine Schuld!“
„Aber ich habe später nur an mein Überleben gedacht. Ich habe sie nicht einmal gesucht!“
„Und wenn, hättest du sie nicht gefunden, denn sie war bei uns, zunächst kurz bei mir und meinem Meister Tethathon und später dann bei den Shwakara. Es ist ihr gut gegangen, eine Weile nicht so, aber dann schon. Du warst damals nur ein Kind, niemand kann dir irgendwelche Vorwürfe machen. Und Liara war davon überzeugt, dass du tot bist. Aber das bist du nicht, du bist ihre Familie, alles was sie noch hat. Sie wird sehr glücklich sein, dich wiederzusehen.“
Sie aßen noch schnell von dem Wenigen, das da war; getrocknete Beeren und in Salz eingelegtes Trockenfleisch; das Salz entfernten sie natürlich so gut es ging. Durstig wurden sie trotzdem, was aber kein Problem war; die Schläuche hatten sie gestern erst gefüllt. Ein Fladenbrot wäre schön gewesen, dachte Athaly. Das frische Brot, das ihre Mutter buk, schmeckte einfach fantastisch. Na ja, alles war besser als der Fraß, den ihr die böse Königin von Askhauran hatte zukommen lassen. Sie hatte wirklich keinen Grund wehmütig an das frische Fladenbrot zu denken, wenn sie wenigstens Beeren zu essen hatte! Trotzdem …
Schließlich waren sie soweit, die kleine Gruppe konnte sich in Bewegung setzen. Alle schienen gut gestimmt und Leron wirkte sogar ziemlich aufgeregt. Er erzählte ihr immer wieder, wie sehr er sich darauf freute, seine Schwester endlich wieder zu sehen.
Athaly lächelte ihn an. Auch sie freute sich darauf, ihr Wiedersehen beobachten zu dürfen. Dann aber verschluckte sie der Wald, der Pfad war so schmal dass sie nicht mehr nebeneinander gehen konnten, was ein Gespräch unmöglich machte. Die Düsternis des Geästs sickerte langsam in ihr Inneres, erstickte selbst seltenes Flüstern bis sie vollständig verstummten. Ein gelegentliches Schnauben eines Pferdes, das Knacken eines Astes, ein Rascheln, der Schrei eines Vogels und unheimliche, undefinierbare Laute waren alles, was sie hörten. Mühsam nur ging es voran, denn der Boden war sehr uneben, als hätten hunderte Wildschweine oder noch größere Tiere über die Jahre nichts Besseres zu tun gehabt als gerade diesen Weg umzupflügen. Langsam reichte Erin die Stille und er begann vor sich hin zu fluchen. Schließlich schrie er sogar gegen sie an und zerrte enorm an den Nerven seiner Begleiter. Athaly war ja selbst eine Steppenbewohnerin und konnte daher nachvollziehen, dass die Baumriesen bedrückend auf das Gemüt wirken konnten. Aber ob es wirklich klug war, in der Nähe der ehernen Riesen auf sich aufmerksam zu machen? Doch sie hielt sich mit Bemerkungen besser zurück; nur Leron mochte sie wirklich, die anderen hätten wohl lieber ihr bisheriges Leben weitergeführt. Sie warfen ihr vielleicht vor, dass er durch sie von seiner Schwester erfahren hatte. Während sie IHM nichts übelnahmen und IHN bei seiner Suche unterstützten. Was sie empfanden, das war ihr klar, war sehr ambivalent, denn einerseits freuten auch sie sich, dass er seine verloren geglaubte Schwester wiedersehen würde; andererseits hatten sie verständlicher Weise kein gesteigertes Bedürfnis, sich in Gefahr zu begeben.
Es war gut, dass Athaly ganz vorne ging, denn sonst hätte die Begegnung mit ihrem Stamm auch ganz anders ausgehen können. Einen Augenblick lang erschrak sie fürchterlich, als mit Speeren bewaffnete Wilde aus dem Dickicht sprangen – in entschieden bedrohlicher Haltung. Einer der „Wilden“ senkte verblüfft seinen Speer.
„Athaly?“
Verdutzt blickte sie den Wilden an. Dann erkannte sie die beiden. „Welir! Ahhh! Und natürlich dein Bruder Wolof!“
„Was macht ihr für einen grässlichen Lärm! Und wer sind überhaupt deine Begleiter?“
Athaly richtete sich ein wenig höher auf und wandte sich dem Grüppchen hinter ihr zu. „Das ist Leron, der Bruder von Liara!“ Sie wusste, dass Welir heimlich ein Auge auf die hübsche Liara geworfen hatte, denn er tauchte zufällig immer dort auf, wo auch sie sich gerade befand, also würde Leron in seinen Augen an Bedeutung gewinnen, wenn sie die Tatsache ihrer Verwandtschaft erwähnte. „Das Mädchen ist Ila, Lerons Freundin …“ Athaly wußte, dass Leron keine Ahnung von Ilas Gefühlen ihm gegenüber hatte, er schien in dieser Hinsicht wie die meisten Jungen blöd zu sein, aber sie hatte die Zeichen erkannt. Natürlich, anfangs war Ila freundlich zu ihr gewesen, aber seit Leron so viel Zeit im Gespräch mit ihr verbracht hatte und immer neben ihr geritten war, wann immer möglich, war ihr Enthusiasmus für das nun zweite Mädchen in der Gruppe ziemlich schnell abgekühlt. Leron wollte schon widersprechen, aber da fuhr Athaly bereits fort:
„Das da ist Erin, der so viel Lärm macht, wie eine Herde Büffel. Und die beiden da hinten, die uns vor Angriffen aus dem Hinterhalt schützen sind Ranwel und sein Bruder Tenwel, sehr schweigsame Typen.“ Tatsächlich hatte sie noch nie ein Wort mit den Beiden gewechselt. Die Shwakara grüßten die Brüder durch ein angedeutetes Nicken.
„Wie bist du der anderen Hexe entkommen?“, wollte Welir wissen und erinnerte sie daran, dass der Stamm auch sie als Hexe betrachtete, jetzt allerdings ohne Macht.
„Indem ich mich daran erinnerte, wie ich meinen Vater immer zur Verzweiflung gebracht habe. Ich habe immer die Schaukel kaputt gemacht, weißt du? Man kann noch so leicht sein, wenn man die ganze Zeit schaukelt, kann man einen Metallbolzen, an den man gefesselt ist, schließlich aus dem Holz lösen! Dann habe ich jemanden getroffen, der mit List zwei ihrer Soldaten abgemurkst hat. Gjefren. Gemeinsam sind wir weiter geflohen und haben schließlich Leron und seine Bande Halsabschneider getroffen oder eher sie uns. Sie wollten uns zuerst ausrauben, aber Leron hat sich stattdessen dafür entschieden, seine Schwester zu besuchen. Wie geht es ihr?“
„Als wir von den Ältesten fortgeschickt wurden, ging es ihr jedenfalls noch gut. Aber wie es uns allen noch gehen wird, kann ich nicht sagen. Gestern haben die Ältesten mit zwei grauenvollen Monstern verhandelt, schwarzen Riesen mit rotglühenden Augen! Eigentlich hat nur Derkon, der jüngste der Ältesten, mit ihnen gesprochen. Die anderen haben Reißaus genommen! War wirklich erstaunlich, wie schnell sich die alten Knacker noch bewegen können, wenn es darauf ankommt! Vor allem der Älteste war wieselflink! Bemerkenswert, wie sie an ihrem Leben hängen, wenn man bedenkt, dass sie ohnehin schon fast tot sind.“
Athaly seufzte. „Merwal ist ein gewaltiger Feigling und die anderen machen genau das, was er will. Oder in dem Fall, was er tut. Er ist ja sooo ein Vorbild!“
„Ja, auf unseren ältesten Ältesten können wir Shwakara wirklich stolz sein. Jedenfalls hat unser jüngster Ältester dann mit den ehernen Männern über die Bedingungen für unseren Verbleib in den Schwarzen Bergen verhandelt.“
„Bedingungen? Was für Bedingungen?“
„Darüber haben die Ältesten Stillschweigen bewahrt. Sie haben die ganze Nacht über geredet und wir anderen konnten auch nicht schlafen. Liara und ich sind neben dem Feuer gesessen und haben uns lange unterhalten.“
„Und in der Früh hat man dich und deinen Bruder fortgeschickt?“
„Ja, wir sollten die Gegend ausforschen.“
„Die Gegend ausforschen? Wen haben sie außer euch noch fortgeschickt?“
„Niemand.“
„Niemand? Nur euch? Nachdem du die ganze Nacht neben Liara gesessen hast? Kommt dir das nicht merkwürdig vor?“
„Den Zusammenhang mit Liara sehe ich nicht. Aber jetzt wo du es sagst: dass sie nur uns beide fortgeschickt haben …“
„… sieht so aus, als wollten sie euch los sein! Wir müssen zum Lager. Aber ganz schnell!“
Welir nickte. „Immer gerade aus, es ist nicht mehr weit!“
Der Weg wurde breiter und sofort schloss Leron zu ihr auf. Er hatte sie beobachtet und ihre innere Unruhe registriert. „Was befürchtest du?“
„Mit solchen Monstern verhandelt man nicht! Die sind durch und durch und abgrundtief böse! Ihr Götter! Was sind die Ältesten gerade wieder im Begriff anzustellen? Ich glaube manchmal, dass sie der Stamm gar nicht wirklich interessiert, sondern bloß ihre Macht!“
Sie erreichten eine Lichtung; Athaly sah bald einige Zelte und davor eine kleine Gestalt. Als sie näher kamen, erkannte Athaly Welirs und Wolofs Mutter, die offenbar beunruhigt war und ihnen jetzt entgegenlief. Auch sie beeilten sich nun noch mehr.
„Schnell, ihr müsst kommen!“ Dann erkannte sie sie. „Athaly! Sie haben deine Mutter und deine Schwester gefangen genommen!“
Athaly war entsetzt. „Die ehernen, schwarzen Männer?“
„Nein! Die Ältesten haben sie in ihrem Zelt festgesetzt und Wachen davor gestellt. Die beiden dürfen es nicht verlassen!“
„Bring mich zu ihnen!“
Nicht viel mehr als zwei Dutzend Zelte standen auf dem offenen Platz, ohne erkennbare Ordnung aufgestellt. Irgendwo dazwischen waren einige erkaltete Feuerstellen, jede groß genug für eine Familie. Die Shwakara waren ein kleiner Stamm, durch Armut gezeichnet. All die Bittsteller, die das Herz von Galahar angezogen hatte, waren woanders hingezogen, sodass Kleinheit und Ärmlichkeit nun noch mehr auffielen als draußen in der Ebene. Das Zelt von Athalys Mutter unterschied sich in nichts von all den anderen und doch wusste sie sofort, welches es war, denn vor seinem Eingang standen zwei Shwakara, die betont finster blickten. Beide erkannte Athaly als unkritische Befehlsempfänger. Als sie ihrer ansichtig wurden, sahen sie sie zunächst erstaunt an, dann warfen sie sich gegenseitig einen Blick zu, kreuzten die Speere und einer sagte: „Niemand darf da rein oder raus!“
„Ach ja? Haben das die Ältesten gesagt?“
„Wir haben unsere Befehle direkt von Merwal!“, meinte der andere.
„Wenn Merwal wüsste, dass ich wieder hier bin, was würde er da tun?“
„Hm, er würde dich auch festnehmen lassen!“
„Na fein, dann kann ich ja da rein!“
„Aber er weiß es nicht, oder?“
Athaly wurde die Diskussion zu dumm und sie hatte das Gefühl, die Zeit liefe ihnen davon. „Seht ihr Welir und Wolof? Und die Fünf dahinter? Finstere, unbarmherzige Krieger! Viel gefährlicher als ihr! Und auch mehr! Kannibalen! Und wenn ihr mir jetzt nicht aus dem Weg geht, sagen ich ihnen, dass sie euch das Herz rausreißen sollen und über dem Feuer braten! Ist das klar?“
Verunsichert blickten die beiden zu den entschlossen wirkenden Räubern und ihren beeindruckenden Pferden. Leron zog sein Schwert. Erschrocken machten die Wächter einen Schritt zur Seite und ließen ihre Speere zu Boden fallen. Athaly zog die Brauen hoch.
„Geht ja!“ Dann zog sie die Eingangsdecke schnell zur Seite. Offenbar hatte ihre Mutter, die die Stimme ihrer Tochter erkannt hatte, gerade dasselbe vorgehabt.
„Athaly!“ Sie stand auf, so schnell es ihre alten Gelenke erlaubten, trat heraus und umarmte ihre Tochter. Ihr folgte Aleia, die sie ebenfalls umfing.
„Oh Athaly, wir dachten, dass wir dich nie wiedersehen.“ Ihre Schwester weinte vor Freude. „Wir haben nicht geglaubt, dass die Hexe dich freilässt!“
„Hat sie auch nicht. Ich bin geflohen! Das Biest wollte mich auf grausame Weise umbringen!“
Als die Umklammerung nachließ, wandte Athaly sich um. „Und meine wagemutigen Freunde haben mir bei der Flucht geholfen und zu euch gebracht. Leron“, sie zeigte auf den gutaussehenden Jüngling, „ist Liaras Bruder!“
Statt erfreut zu wirken, sahen die beiden Frauen entsetzt aus. Da fühlte Athaly sich darin bestätigt, dass irgendetwas nicht stimmte. „Wo ist Liara?“
Der Ausdruck der Erleichterung über Athalys Wiederkehr war aus dem Gesicht ihrer Mutter verschwunden. „Oh Athaly, die Ältesten haben mit den ehernen Männern darüber verhandelt, dass wir in der Nähe der Festung siedeln dürfen. Hier, wo es so viel Wasser gibt, wie wir wollen! Wo es Bäume gibt, mit Früchten, wohlschmeckenden Feigen und sicherlich auch noch anderem. Saftige Wiesen gibt es auch! Die schwarzen Kreaturen haben sich einverstanden erklärt, wenn der Stamm bereit ist, eine Person zu opfern, mit der sie anstellen können, was sie wollen! Weil Liara nicht zu den Shwakara gehört, die Monster das aber nicht wissen und es ihnen wohl auch egal ist, haben die Ältesten sie erwählt! Aleia und ich wollten das nicht zulassen. Wir haben sie festgehalten. Aber da sind die beiden“, sie zeigte auf die Wächter, „gekommen und haben uns in Merwals Auftrag von ihr losgerissen und Aleia sogar geschlagen und uns ins Zelt gesperrt!“
Wütend drehte sich darauf Athaly um und schlug dem Schergen Merwals, der das Pech hatte, näher zu stehen, so kraftvoll ins Gesicht, wie sie nur vermochte. Der andere wich darauf eingeschüchtert einen Schritt zurück und ging schließlich sogar davon; seine Treue zu den Ältesten war letztlich doch nicht so groß, um Unannehmlichkeiten in Kauf zu nehmen.
Leron trat vor. „Wo ist sie? Wir werden sie befreien!“
„Ihr müsst zu Mauer“, meinte Athalys Mutter. „Dort, wo mitten im Stein eine Tür aufgetaucht ist, soll die Übergabe stattfinden! Eilt euch! Vielleicht ist es noch nicht zu spät!“
Athaly nickte ihrer Mutter zu und dann lief sie auch schon. Sie kannte die Richtung, sie war ja schon einmal hier gewesen. Auch die anderen verzichteten auf ihre Pferde, die in dem pfadlosen Geäst nur hinderlich gewesen wären und hasteten hinter ihr her. Leron, Welir und Wolof holten sie mühelos ein und Welir verfluchte die Ältesten und ihre Grausamkeit. Athaly verspürte die Beklemmung der Angst. Hierher zurück zu kehren war wirklich das Letzte, was sie aus freien Stücken getan hätte; doch noch viel mehr als um sich selbst fürchtete sie um Liara, ihre Freundin, ihre Schutzbefohlene. Deshalb rannte sie so schnell es ihr nur möglich war.
Aus dem Schatten der Baumriesen tauchte die Silhouette der Mauer auf. Direkt bei dem trutzigen Wall gab es allerdings keine großen Bäume – insofern war alles, wie sie es in Erinnerung hatte. Die Umgrenzung der Feste wirkte düster und riesig, selbst aus dieser Entfernung! Nahebei stand ein kleines Grüppchen; die nutzlosen Ältesten der Shwakara und zwei massige Büttel, die eine kleine, sich vor Furcht windende Gestalt mit auffällig blonden Haaren in ihrer Mitte hielten; und dann erkannte sie die übermenschengroße Öffnung im Stein, aus der gerade zwei albtraumhafte Gestalten traten; zwei dunkle, eherne Riesen mit leuchtend roten Augen und einem merkwürdig unförmigen Gesicht. Die Ältesten wichen angstvoll zurück und auch ihre beiden Handlanger, allerdings ohne dabei das Mädchen loszulassen. Liara schrie vor Grauen und wie zur Antwort brüllte Leron, zog die stählerne Klinge und lief an Athaly vorbei. Offenbar hatte er noch Reserven, während ihr gerade die Luft ausging und nur noch der pure Wille sie in Bewegung hielt.
„Liara!“, schrie er und alle in der Gruppe blickten zu ihm - auch das Mädchen - und der Ausdruck von Hoffnung erschien auf ihrem bezaubernden Gesicht.
„Lasst meine Schwester los!“, befahl er und hob das Schwert gegen einen ihrer Widersacher, der daraufhin tatsächlich seinen Griff löste und weghechtete, um dem Streich der Waffe zu entgehen. Auch der andere, dem der Angriff gar nicht gegolten hatte, wich zurück. Liara blickte erstaunt ihren Bruder an und so etwas wie Erkennen spiegelte sich in ihrem Antlitz wider.
„Leron?“, hauchte sie. Dann, lauter und sicherer: „Leron!“ Sie umfing ihn und Tränen der Erleichterung standen in ihren Augen. Jetzt würde alles gut werden! Endlich waren Athaly und Welir und Wolof und der Rest der Räuber angekommen. Liara begrüßte auch ihre Freundin mit einem freudigen Aufschrei; sie hielten sich inniglich fest. Währenddessen richteten Erin und Ranwel ihre Klingen auf die Gehilfen der Ältesten; Ila, Tenwel, Welir und Wolof sicherten ihre Freunde gegen die düsteren Riesen ab, die die Szenen aus ihren dunkelrot spiegelnden, toten Augen gleichgültig beobachteten. Ila und Tenwel, die gegen erbarmungslose Sklavenjäger gekämpft hatten, verspürten so viel Angst wie noch nie in ihrem Leben. Entsprechend unsicher fixierten sie die Monster.
„Ihr Narren!“ Athaly hielt Ausschau nach der Quelle des zornigen Aufschreis. Merwal, der Älteste, näherte sich ihr, so schnell es seine alten Gebeine erlaubten. Er war ein großer, durchaus beeindruckender Mann mit schlohweißem Haar, langem Bart und stechendem Blick. „Ihr wagt es, unser Vorhaben zu stören? Übergebt wie abgemacht das Mädchen an die ehernen Männer!“
Athaly rang noch nach Atem, aber dennoch konnte man dem Klang ihrer Stimme die Empörung entnehmen und die Wut, die sie für Merwal empfand. „Merwal, bist du wahnsinnig?! Weißt du nicht, was sie mit ihr machen werden?“ In ihr gestaltete sich das Bild des gehäuteten Menschen auf dem Pfahl, draußen in der Ebene, und schwarzes Grauen formte sich und kroch in ihr empor.
Angesichts der Schwerter, die sich gegen ihn richteten, behielt Merwal einen Sicherheitsabstand bei. „Es geht um das Wohl des Volkes! Da ist ein kleines Opfer angebracht. Sie ist schließlich keine Shwakara. In der Steppe können wir nicht überleben, das weißt du. Du hattest uns verlassen.“
Athaly schäumte vor Zorn „Das habe ich doch nicht absichtlich getan! Du stellst das so dar, als hätte ich euch willentlich im Stich gelassen! Und überhaupt - jetzt bin ich wieder hier.“
„Was nützt du uns ohne das Herz von Galahar? Hast du das auch mitgenommen oder hast du das der Herrscherin von Askhauran überlassen? Ohne zu bedenken, was das für uns bedeutet?“
Athaly war nahe daran, gewalttätig zu werden, Tränen der Empörung stiegen in ihre Augen. „Ich habe es ihr nicht überlassen, sie hat es mir gestohlen! Als ich geflohen bin, musste ich es zurücklassen!“
„Warum reden wir dann hier? Dann haben wir dank dir keine Alternative! Unser Stamm ist zu klein, um sich in der kargen Steppe zu behaupten! Also fahrt mit der Übergabe fort!“
„Bleib wo du bist.“ Angesichts der Schwerter hatte Merwal ohnehin nicht vorgehabt, näher zu kommen. Man wird nicht so alt, wenn man allzu mutig ist. „Nie werde ich zulassen, dass du meine Freundin an diese mörderischen Ungeheuer übergibst!“
Einer der ehernen Männer rührte sich. Er sprach und seine Stimme erschallte mit überirdischem, glockengleichem Klang, ruhig und doch überaus bedrohlich. „Es ist zu spät. Verträge sind geschlossen worden, die eingehalten werden müssen. Ein Opfer wurde uns zugesagt. Gebt es uns oder wir werden es uns holen!“
Als die Stimme ertönte, war Athaly vor Schreck zusammengezuckt. Das Grauen wuchs noch als ihr die Bedeutung der Worte klar wurde. Sie hatte Angst, entsetzliche Angst vor den befremdlichen Kreaturen, die ihren Vater ermordet hatten und nun vor ihr standen, Dämonen, mächtig wie Götter, unbesiegbar. Verglichen damit waren ihre Gefährten trotz ihrer Waffen ohnmächtig, ja völlig wehrlos. Nach kurzem, sehr kurzem Nachdenken und mit großer Traurigkeit, die sie aber nicht zeigte, trat sie rasch einen Schritt vor und sprach:
„Dann nehmt mich.“
Ihre Eile war doppelt notwendig; hätte sie sich Zeit zum Überlegen genommen, hätte sie diesen Beschluss nicht gewagt, das wusste sie. Panik hätte sie verstummen lassen. Sie lebte gerne und hätte sich ein anderes, friedlicheres und späteres Ende ohne unsägliche Schmerzen gewünscht. Es war ihr nicht beschieden und das erfüllte sie mit tiefem Bedauern und Entsetzen. Fast noch wichtiger für die Eile ihrer Entscheidung aber war, dass sie die Reaktion ihrer Freunde fürchtete. Ihre Sorge war nicht unbegründet.
Liara brach mit einem Schrei zusammen, der viel über ihre zwiespältigen Gefühle verriet. Sie schien in Sicherheit, doch um welchen Preis! Leron handelte zunächst gar nicht; er war völlig perplex. Aber einen Augenblick später knurrte er. „Niemals!“ Athaly hatte das kommen sehen und beeilte sich, um zwischen Ila und Tenwel hindurch zu schlüpfen, bevor die beiden dies auf Befehl von Leron verhindern konnten.
„Athaly, tu das nicht!“
Nur noch wenige Schritte trennten sie von den düsteren Dämonen. Sie drehte sich noch einmal um, mit Tränen in den Augen antwortete sie: „Mir bleibt keine andere Wahl!“. Traurig schüttelte sie den Kopf, den Blick zu Boden gerichtet.
„Wir können kämpfen! Fünf Schwerter! Wir werden mit ihnen fertig und wenn es sein muss auch mit den Kriegern deines Volkes.“
Abermals schüttelte sie den Kopf. „Nein!“, hauchte sie, „es wäre euer sicherer Tod!“
Da blickten sich Welir und Wolof an, nickten einander zu. Sie waren die besten Speerwerfer ihres Stammes, sowohl was Reichweite als auch Treffsicherheit anging. Sie hoben ihre Waffen und schleuderten sie mit aller Kraft. Sie flogen links und rechts an Athaly vorbei und trafen ihre Ziele. Die ehernen Ungeheuer machten sich nicht einmal die Mühe auszuweichen. Das eine Monster ließ sie einfach an sich abprallen, während das andere sein übermenschliches Reaktionsvermögen demonstrierte, indem es den Speer in der Luft abfing und dann mühelos zerbrach.
Athaly, die Angst vor Vergeltung hatte, schrie: „Bleibt wo ihr seid! Auch du, Leron! Ihr seid wehrlos gegen sie, versteht doch! Ihr könnt mich nicht retten!“ Schnell begab sie sich zwischen die beiden grauenvollen Gestalten, wandte sich der einen zu: „Macht mit mir, was ihr wollt!“ Sie fragte sich, ob sie sie aus Zorn über den Angriff gleich hier an Ort und Stelle zerreißen würden. Wenn, dann hatte sie Glück gehabt! Aber es war ihnen keine Gefühlsregung anzusehen. Der Angesprochene meinte nur: „Komm mit.“ Und abermals vermeinte sie, dunkle Glockentöne zu hören und verspürte ein leichtes Vibrieren des Bodens.
Leron war zwischen Ila und Tenwel hindurch getreten, Erin war ihm gefolgt. „Tu das nicht! Wer sagt dir, dass sie sich an die Verträge halten?“
Als ob sie noch eine Wahl hätte! „Sie haben es nicht nötig, zu lügen. Sie könnten euch alle ebenso schnell töten, wie sie meinen Vater ermordet haben.“ In Wahrheit bezweifelte aber auch Athaly die Vertragstreue der schrecklichen Geschöpfe. Sie betrachtete noch einmal die kleine Gruppe, nickte dann Leron und Liara zu. „Lebt wohl.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zwischen den Ehernen auf das Tor in der Mauer zu und durch es hindurch.
Sogleich schloss es sich hinter ihnen und einen Augenblick lang wurde es völlig dunkel. Nur die roten Augen ihrer Begleiter leuchteten. Dann aber erstrahlten die Gänge vor ihr in einem seltsamen, unnatürlichen Licht, das den Weg vor ihnen erhellte. Während sie vorwärts schritten, über den eigenartig weichen, ein wenig nachgiebigen Boden, versank der Gang hinter ihnen wieder in Dunkelheit. Es war als würde eine unsichtbare Fackel gerade den Teil ihres Weges erhellen, der unmittelbar vor ihnen lag. Athaly kam ihre Umgebung zunehmend unwirklich vor. Sie fühlte sich plötzlich ganz leicht, obwohl sie das Blut in ihren Ohren pulsieren hörte. Sie vergaß zu atmen, ihre Schritte wurden zunehmend unsicher. Sie brach zusammen und noch bevor sie den Boden berührte, umhüllte sie gnädige Dunkelheit.
***
Nisaya langweilte sich. Das war etwas, was sie besonders gut konnte. Und wenn man etwas außerordentlich gut kann, dann sollte man es auch machen. Das war zumindest Nisayas Meinung! Langeweile hatte sie von Wägan hierher gebracht, in gewissem Sinne vom Regen in die Traufe. Nisaya hatte Gjefren nach dem Hyborischen Zeitalter begleiten wollen, der das aber entrüstet abgelehnt hatte. Er habe keine Zeit, meinte er, stets auf seine schwächliche Schwester aufzupassen! Richtig wütend war er geworden. Sie aber auch, denn auch das war etwas, was sie besonders gut konnte. Sie hätte ihn schon weichgeklopft, aber Sarpedon, der Verräter, hatte sich auf seine Seite gestellt. Das wäre zu gefährlich für ein kleines Mädchen wie sie. Unterschätzt! Wieder einmal unterschätzt! Was sie an Kraft nicht hatte, besaß sie an Findigkeit! Wie sie behandelt wurde - es war soooo ungerecht!
Nachdem sie Gjefren abgesetzt hatten, musste eine Wahl getroffen werden. Zum Olymp konnten sie nicht, denn dann hätte Zeus gewusst, dass Sarpedon den Weg zurück nach Gaia kannte. Er hätte ihn festnehmen lassen, ihm dafür gedankt, dass er das Raumschiff wieder hierher gebracht hatte und ihn dann für den Rest seines Lebens in das finsterste Verließ gesperrt – nachdem er ausführlichst darüber befragt worden wäre, woher er denn Gaias Enigma-Adresse hatte und wer noch in ihrem Besitz sein konnte. Was mit ihr passiert wäre, ahnte Nisaya nicht wirklich, obwohl sie eine blühende Phantasie besaß. Befragt worden wäre sie auch. Und sicherlich nicht auf eine angenehme Weise. Da konnte sie, nach allem, was sie über die Götter gehört hatte, ziemlich sicher sein.
Also gab es zwei Möglichkeiten: ab in die Unterwelt des Hades und der Persephone oder aber in die Unterwasserstadt des Poseidon. Vom Meer hatte Nisaya wirklich die Nase voll, nach einem ganzen Leben auf Wägan! Also war klar, wohin sie wollte – nämlich in die gewaltige Grottenwelt mit ihren sieben Flüssen, die an einer Stelle einen offenen Kessel bildete, wo die trutzige Festung des Hades und die wunderschönen, üppigen, paradoxerweise lebensstrotzenden Gärten des Elysiums auf sie gewartet hätten. Müßig zu erwähnen, dass sich Sarpedon schließlich gegen die Unterwelt und für die Meeresstadt entschieden hatte.
Hier lebten Poseidon und die älteren Götter, Proteus und Nereus. Aber auch Poseidons Sohn Triton, der ihr seine Aufmerksamkeit schenkte. Zunächst hatte ihr das sehr geschmeichelt, bis sie feststellen musste, dass er die einhundert Nereiden, die Töchter des Nereus, ähnlich zuvorkommend behandelte. Sarpedon sah sie kaum noch, der war in undurchsichtige Pläne verstrickt.
„Du könntest die Rolle der Thetis übernehmen!“, meinte Triton. Er schüttelte seine blonden Locken und ein gleißendes Irrlicht tanzte um sein Haupt. Kurz bewunderte sie seinen sonnengebräunten, muskulösen Körper. Dann blickte sie wieder auf den Tanz der Wellen.
„Thetis?“
„Eine der Nereiden. Eigentlich sollten es hundert sein, tatsächlich sind es aber bloß neunundneunzig! Mit deinen schillernden Haaren musst du die Rolle irgendeiner Göttin übernehmen!“ Er entblößte seine makellos weißen Zähne zu einem strahlenden Lächeln.
Das schmeichelte Nisaya schon ein wenig, sie wäre gerne eine Göttin geworden, aber schließlich beschloss sie, sich besser näher zu erkundigen.
„Wer sagt, dass es hundert sein müssen?“
„Platon!“
„Den Gott hast du mir noch gar nicht vorgestellt.“
Triton rollte die Augen, was Nisaya aber nicht sah.
„Erzähl mir ein bisschen mehr über Thetis!“
„Sie ist die schönste Meeresnymphe. Tochter einer Titanin!“
Ersteres schmeichelte Nisaya noch mehr. „Und wo ist der Haken?“
„Haken? Welcher Haken?“
„Na, wieso ist der Posten noch frei?“
„Ach so, das! Du bist so …“
„Misstrauisch? Das hat mich das Leben und meine Geschwister gelehrt!“ Und nach einer Pause: „Also?“
„Nun … Es gibt da diese blöde Prophezeiung…“
„Prophezeiung?“
„Ja.“
Er zierte sich. Das war kein gutes Zeichen. „Also, spuck‘s aus! Wie lautet die Prophezeiung?“
„Die Prophezeiung der Themis. Sie sagt voraus, dass der Sohn der Thetis stärker und mächtiger als sein Vater werden wird. Götter mögen das gar nicht! Die sind ziemlich gierig auf die Macht, die sie haben. Verstehst du?“
Nisaya verstand durchaus. Die Rolle der Thetis beschränkte ihre Auswahl, wenn sie sich dafür entschied, hier zu bleiben. Ob sie das wollte, wusste sie noch nicht. Sicher war sie sich nur, dass Sarpedon nicht damit einverstanden wäre, er wollte sie natürlich nach Wägan zurück bringen, in jeder Hinsicht unversehrt. Deshalb war die Stadt des Poseidon für sie auch eine Art Gefängnis, indem sie so gut wie allzeit bewacht wurde. Nisaya aber brauchte Freiheit, die Möglichkeit, zu tun, was sie wollte! Sie seufzte. Wünschte sie aber Gaia wieder zu verlassen, wäre die Rolle der Thetis ein gewisser Schutz.
„Ich werde es mir überlegen.“
Sie fuhr mit der Hand durch den weißen Sand und fand ein besonders schönes Schneckenhaus. Rund um die Mündung standen rosa Stacheln, die inzwischen aber ziemlich stumpf waren. Das Gehäuse war wohl schon seit vielen Jahrzehnten der Brandung ausgesetzt. Auf Wägan gab es keine Meeresschnecken, also faszinierte sie der Anblick.
Ein traumhaft schönes, feingliedriges Mädchen mit wallenden blonden Locken, im Sonnenlicht schillernd natürlich, kam über die See auf sie zu. Dass sie über Wasser wandeln konnte, war die Folge einer ebenso stabilen, wie lockeren, durchsichtigen Konstruktion, die sich wenige Zentimeter unter dem Meeresspiegel befand und sich bis zum Rand der Bucht erstreckte. Nisaya wusste das, aber der Anblick des anmutig über die See schreitenden Mädchens hatte etwas Beeindruckendes. Sie winkte ihr zu. Auch Triton grüßte sie mit einer freundlichen Geste.
„Hallo Nisaya!“
Das Mädchen war eine der Nereiden und Nisaya sollte wohl schon ihren Namen kennen, aber sie schaffte es einfach nicht, die Töchter des Nereus auseinander zu halten. Deswegen beschränkte sie sich auf ein: „Hallo!“
Sie stand jetzt vor ihr. „Kommst du mit? Delphin reiten?“ Delphine faszinierten sie ebenfalls. Sie waren ganz anders als die Quadrabbler ihrer Heimat, ähnlich groß zwar, aber viel intelligenter. Hätten sie Arme, wären sie wohl in der Lage gewesen, eine vergleichbare technische Zivilisation zu begründen wie die Menschen, vermutete sie. Aber die hatten sie nicht, sie hatten Flossen und das war gut so. Das ermöglichte ihnen eine Freiheit in der Bewegung, wie sie ein Mensch nicht kannte. Dafür konnten sie nicht so viel Unfug im Kosmos anstellen, alles hatte seinen Preis.
Nur am Strand rösten war auf Dauer nicht das Wahre, auch nicht in Begleitung von Triton. Sie blickte in seine Richtung, dann hinaus in die blaue Weite. Draußen im Meer tummelten sich jetzt die anderen Nereiden. Es sah wirklich prächtig aus, wie sie mal über die Wellen tanzten, oft knapp darunter blieben, ihre zarten Körper dicht an die der Delphine gepresst. Sie hielten sich an der Rückenfinne fest und ihre Füße waren in einem speziellen Geschirr verankert, das man aber aus der Entfernung nicht sehen konnte. Fast schienen sie mit ihren Reittieren verwachsen zu sein und eine neue Wesenheit zu bilden, Meeresnixen. Die Delphine hatten die ideale Größe, um schlanke Mädchen auf sich reiten zu lassen. Das war sicherlich kein Zufall, nicht auf diesem Planeten, wo sogar Menschen einem Programm gezielter genetischer Veränderung unterworfen wurden, früher schon, aber auch noch in letzter Zeit, durch Paieon, der jetzt Zeus war.
Triton reagierte endlich. „Ich wollte dir eigentlich noch etwas zeigen!“
Nisaya liebte es, auf dem Rücken eines Delphins über die Wellen zu jagen. Aber als ziemlich einzige Beschäftigung war es auf Dauer auch nicht so toll. Sie stellte sich inzwischen recht geschickt an und war über das Anfangsstadium - Reitkurs mit Sauerstoffflasche – hinaus. Sie schluckte immer noch genug Wasser, das schon, aber sie konnte die anderen bereits auf längere Ausflüge begleiten, die sie weit von der Unterwasserstadt wegbrachten. Sie war die Küste entlang geritten und hatte mit den Nereiden Menschen zugewinkt, die im Brandungsbereich Muscheln von den Felsen lösten, und hatte Handelsschiffe umkreist, die behäbig durchs Meer pflügten. Fischern hingegen kam sie nicht zu nahe, davor hatte sie der bärtige Poseidon gewarnt. Natürlich war es nicht ihre Art, zu tun, was man ihr auftrug oder gar zu lassen, was man als gefährlich bezeichnete, aber wenn man von neunundneunzig Augenpaaren beobachtet wurde, hatte man kaum eine Wahl. Dabei hätte es sicherlich Spaß gemacht, die Fischschwärme von den Anglern weg zu jagen, wenn sie schon nicht in der Lage war, die Langusten oder Tintenfische aus den Fallen zu befreien. Sie war keine besonders gute Taucherin, nicht einmal auf dem Rücken eines Delphins. Immerhin erlaubte ihr die unauffällige Spezialbrille unter Wasser zu sehen. Aber die anderen Mädchen zu irgendeinem Schabernack anzustiften, war ihr bislang noch nie gelungen, sie waren alle fürchterlich brav. Sie hielten ihre Vorschläge immer für Scherze und lachten darüber, kamen aber nicht auf die Idee, sie umzusetzen. Also leerten sie auch nicht die Fallen, die Nisaya in geringer Tiefe sehen konnte, aber die zu erreichen sie selbst ärgerlicherweise nicht imstande war.
„Was?“
„Etwas, das dich vielleicht mehr interessieren wird als Delphinreiten!“
Nisaya hob eine Augenbraue. Was mochte es in Poseidons Stadt schon geben, das interessanter war? Und das man bereit war, ihr zu zeigen?
„Also was? Sag schon! Ich dachte, ich hab‘ alles gesehen, was man mir zu sehen erlaubt!“
„Lass dich überraschen!“
Nisaya nickte. Und an das Mädchen gewandt, sagte sie: „Tut mir leid, ein anderes Mal!“
Die Nereide nickte und zuckte mit der schmalen Schulter. „Also dann ein anderes Mal.“ Die Nereiden waren alle sehr freundlich und versuchten selten, sie umzustimmen. Sie waren aber auch nicht auf Nisaya angewiesen, es mangelte ihnen nicht an Gesellschaft. Das Mädchen wandte sich um und ging zu ihrem wartenden Delphin, der eigentlich gar nicht wartete, sondern mit einem zweiten spielte, der vermutlich für Nisaya vorgesehen gewesen war.
Als sie außer Hörweite war, flüsterte Triton: „Tatsächlich will ich dir etwas zeigen, das man nicht bereit ist, dich sehen zu lassen. Die Nereiden müssen das nicht wissen, sie sind ungemein geschwätzig! Es wäre nicht gut, wenn Sarpedon davon erführe oder Poseidon!“
Jetzt verspürte Nisaya einen Anflug von Neugierde. Etwas Verbotenes zu tun war nie langweilig. „Also dann los!“
Sie stand ungeduldig auf und sah Triton zu, wie er langsam aufstand als wäre er viel älter als er aussah. Vielleicht war er das ja auch, schwer zu sagen, denn die Götter sprachen nicht über ihr wirkliches Alter. Genauso war natürlich denkbar, dass er keine Lust hatte, sich schnell zu bewegen, oder, dass er versuchte ein wenig gemein zu ihr zu sein und sie noch ein bisschen auf die Folter zu spannen. Das würde durchaus zu ihm passen.
„Wohin müssen wir?“
„In Richtung Stadt.“
„Dann geh besser voraus!“ Ungeduldig wie sie war, hatte sie schon einmal versucht vorauszueilen, hatte sich dabei aber darüber geirrt, wo der Weg über das Meer verlief und war prompt ins Wasser gefallen. Peinlich. Triton schien sich auch gerade daran zu erinnern, denn er grinste, war aber klug genug, sie nicht auf das Ereignis anzusprechen.
Triton schritt scheinbar über das Wasser und sie folgte ihm in geringem Abstand. Im Westen, am Rand der Bucht, immer noch von höheren Wellen, wie sie weiter draußen keine Seltenheit waren, gut geschützt, aber doch auch schon weit vom Strand entfernt, ragte eine durchsichtige Säule aus den Fluten. Um sie herum führte eine gläserne Wendeltreppe fast bis zur Spitze.
Sie folgten der Treppe hinauf und eine gläserne Schiebetüre öffnete sich etwa zwei Mannshöhen oberhalb der Wellen, nicht bevor ein alabasterfarbenes Etwas aus der Tiefe gestiegen war. Jetzt, wo sie den Zylinder betraten, bildete es ihren Boden, weich, aber auch vollkommen wasserabstoßend. Niedrige Sitzgelegenheiten waren ebenfalls vorhanden, in dem gleichen Weißton gehalten wie das übrige Gefährt. Sie setzten sich, die Türe schloss sich mit einem leisen Pfeifton; dann ging es zunächst hinab unter die Wellen, bis Nisaya schließlich aus einer Tiefe, die der Größe von fünf Männern entsprach, auf die bewegte Meeresoberfläche blickte, die Muster aus Licht zeichnete und die Sonne mit beweglichen Strahlenfingern umgab; seitlich von ihnen offenbarte sich eine atemberaubende Landschaft, ein Gemisch aus hellem Sandstrand und dunklen Wiesen aus Meergras, das träge in den Wellen schaukelte. Dort versteckten sich Fische, Gejagte wie Jäger, die meisten recht klein, doch einige auch beeindruckend; ein Krake hatte sich an der Außenwand der Säule mit allen Armen festgesaugt.
Jetzt ging es fast horizontal weiter, ihr Gefährt folgte jeder Krümmung der durchsichtigen Röhre, weg von der Küste und immer schneller werdend. Die Unterwasserlandschaft in der Nähe verschwamm zusehends vor ihren Augen, die in der Entfernung offenbarte sich wie durch einen Schleier, der alle Konturen verwischte. So ging es eine Weile, bis sie sich Poseidons Stadt näherten. Sie erweckte den Eindruck gigantischer Gasblasen, wie man sie in einem kohlendioxidhaltigen Getränk sehen kann, aber in der Bewegung festgefroren. Tatsächlich wurde die Luft durch ein extrem feines und stabiles, aber flexibles Gespinst unter Wasser gehalten und wurde ständig erneuert; die einzelnen Blasen, die sich in unterschiedlicher Höhe befanden, alle tief genug, um Unwettern an der Oberfläche zu trotzen, waren durch Röhren verbunden, die sowohl zum Begehen als auch zum Befahren taugten; in den Blasen schienen würfel- und quaderförmige Objekte beträchtlicher und unterschiedlicher Größe zu schweben; die Gebäude dieser Stadt. Auch Paläste, die eher an überdimensionierte Kristalle gemahnten, konnte man sehen. Und es gab gewaltige Plattformen mit Parks und sogar landwirtschaftlich genutzten Flächen. Poseidons Stadt hatte eine beträchtliche Ausdehnung und gab genug Raum für Götter, Halbgötter und ihre sterblichen Diener und einige, spezielle Gläubige, deren die Götter aus anderen Gründen bedurften.
Nisaya wohnte in der Stadt des Poseidon, in einem der Paläste des Triton. Sie hatte angenommen, dass ihre Reise dorthin führen würde. Aber sie und Triton hielten nicht mehr auf die Siedlung zu; sie befanden sich jetzt in einem Umfahrungsring, den sie noch nie verwendet hatte und der sich bald als Abwärtsspirale entpuppte. Es wurde zusehends dunkler; Scheinwerfer erhellten jetzt ihre unmittelbare Umgebung. So erkannte sie, dass sie direkt auf einen felsigen Meeresboden zuhielten und zwar mit beträchtlicher Geschwindigkeit. Sie erschrak darob, aber die durchsichtige Röhre, die sie beherbergte, führte einfach immer weiter in das Gestein und nach geraumer Zeit wieder hinauf. Die Dunkelheit wurde durch das gleißende Leuchten ihres Gefährts aus ihrer Nähe verbannt. Zuletzt ging es steil bergauf und zwar so lange, dass Nisaya keine Zweifel mehr daran hegte, dass sie die Meeresoberfläche längst hinter sich gelassen haben mussten. Hatten bislang die Felsen die Röhre eng umhüllt, folgte sie jetzt einem natürlichen Höhlensystem, das offensichtlich beträchtliche Ausmaße haben musste. Nisaya bewunderte das Reißzahnmuster der Stalagmiten und Stalagtiten. Dann umgab sie der Felsen wieder ganz eng, ein heller Punkt wurde über ihnen sichtbar, der rasch anwuchs. Das Gefährt, das sie bei sich als „Wolke“ bezeichnete, wurde nun deutlich langsamer und verharrte schließlich an der Oberfläche, einer sonnenbeschienenen Hochebene, die überwiegend mit kurzem Gras bewachsen war und in ihrer Nähe einige Gebäude trug, die sich unauffällig an die Landschaft schmiegten.
Nisaya blickte sich neugierig um. „Komm!“, forderte Triton sie auf, der sich jetzt erhob, woraufhin die gläserne Türe zur Seite glitt. Sie betraten die Wendeltreppe. Die Luft war deutlich kälter als unten am Strand und Nisaya fror ein wenig in ihrem Bikini; zum Glück schien die Sonne.
„Was ist das?“ fragte Nisaya, obwohl sie es erahnte, denn die völlig ebene Fläche, auf die sie zuhielten, sah aus wie eine Start- und Landebahn.
„Das“, erklärte Triton, „ist sozusagen die Flugzentrale der Stadt! Da vorne ist der Hangar für die Sonnenwägen oder Gleiter, wenn dir diese Bezeichnung eher geläufig ist.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben die Türe offen gelassen! Das ist schon ein wenig fahrlässig, aber, na ja, die Achaier kommen nicht hier hinauf, dafür hat die Natur gesorgt. Es gibt keinen Pfad auf den Berg. Der Hangar muss ziemlich überfüllt sein, wir haben Besuch aus dem Olymp, wegen einer Feier. Sogar Zeus wird kommen, er wird allerdings erst für morgen erwartet.“ Er seufzte. „Sarpedon hat bereits gestern die Stadt verlassen, um nicht gesehen zu werden.“
„Die Hangartüre ist offen! Oh fein!“, freute sie sich, „Schnappen wir uns einen Gleiter und auf geht’s!“
„Wo denkst du hin!“ Triton blickte sie finster an. „Sarpedon hat das verboten! Du sollst schön brav in der Nähe bleiben! Ich werde sie nachher schließen, bevor ich gehe.“
„Dieser Spielverderber! Er hat mir gar nichts zu sagen, er ist bloß mein Onkel! Und überhaupt – er ist nicht hier!“
„Nicht nur er! Außer uns ist gar niemand hier, weil alle die Gäste willkommen heißen. Sarpedon natürlich nicht! Morgen sind dann alle bei dieser religiösen Veranstaltung, wo sie sich von den Sterblichen huldigen lassen. Sogar die Nereiden werden mitmachen, die Menschen sind immer schwer beeindruckt, wenn sie sie auf den Rücken ihrer Delphine sehen.“
„Wozu bringst du mich überhaupt hierher, wenn wir nichts machen können?“
„Ein bisschen was geht schon! Wir können zwar nichts tun, das für dich verboten ist, aber wir können alles tun, was sie vergessen haben auf die Verbotsliste zu setzen. Weil niemand hier ist, kann auch niemand nachträglich auf die Idee kommen, es dir zu untersagen. Deshalb habe ich auf heute gewartet.“ Er grinste und erwartete offenbar Lob von ihr, wurde aber enttäuscht. Sie blickte ihn nur zweifelnd an.
„Und was tun wir nun?“
„Wir werden eine Drohne auf dich prägen. Und sie dann fliegen lassen.“
Nisaya stellte sich das nicht übermäßig lustig vor. „Eine Drohne? Eines dieser Dinge, mit denen die kleinen Kinder spielen? Mit den winzigen Plasmadüsen am Rand?“
„Jedenfalls hat das niemand verboten.“ Sie hielten auf ein kleines Gebäude zu. „Und so sehen unsere Drohnen auch nicht aus. Wir sind um Unauffälligkeit bemüht. Kinderspielzeug sind sie eigentlich auch nicht. Eher Spionagewerkzeuge. Wir wollen schließlich wissen, was in der Welt der Achaier vor sich geht, welche Kriege gerade stattfinden. Derzeit gibt es eine Belagerung einer trutzigen, windumtosten Stadt bei einer Meerenge. Wir wetten auf den Ausgang des Streits! Werden die Achaier mit ihrer Flotte unverrichteter Dinge abziehen oder wird die Stadt fallen? Wenn dich das interessiert…“
„Ich will eher wissen, was mein überfürsorglicher Onkel gerade plant!“
„Kann sein, dass wir auch darüber etwas herausfinden, aber wahrscheinlich ist das nicht!“
„Er schließt mich aus allem aus, das interessant ist!“
„Oder gefährlich!“
„Er unterschätzt mich!“
„Wie auch immer!“ Sie waren bei dem Häuschen angekommen und Triton hielt seine Hand gegen die Türe, die daraufhin zur Seite glitt. Nisaya betrat neugierig den Raum und sah, dass er hauptsächlich aus Regalen bestand, die auf Schienen liefen, wie in einem Archiv. Bloß dass keine Schriftrollen oder alten Bücher archiviert wurden, sondern …
„Ausgestopfte Vögel?“ Nisaya war mehr als verblüfft. Da waren Reihen voller Möwen und anderer Strandvögel, Seeschwalben und verschiedene echte Schwalbenarten, Mauersegler, Raben und Krähen und größere, Adler und Geier. Und ganz unten waren gar keine Vögel sondern große Insekten, bunte, prachtvolle Falter unterschiedlicher Art, Schwärmer und auch Hornissen. Und im obersten Regal waren Fledermäuse wie Abendsegler, Große und Kleine Mausohren, Hufeisennasen und andere. Nisaya kannte all diese Tiere nicht, denn auf Wägan gab es nichts Vergleichbares, aber Möwen, Seeschwalben und Mauersegler hatte sie auf Gaia bereits an ihrem ersten Tag am Strand bewundert und Triton hatte ihr erzählt, dass es sich bei diesen Vögeln um Tiere von der Erde handelte. Besonders fasziniert hatte sie, dass Vögel am Strand und auf den Felsen der Küste landen konnten, denn die flugfähigen Tiere Wägans kamen aus dem Wasser und ließen sich schließlich wieder ins Meer fallen. Wenn sie an Land gerieten, starben sie.
„Was sind das für schwarze Vögel mit grauem Kopf?“
„Dohlen. Das sind eher kleine Rabenvögel, die im Landesinneren vorkommen und recht unauffällig sind. Sie leben in Gruppen. Bei den richtigen Dohlen sind diese natürlich von unterschiedlicher Größe, aber wir fassen immer acht zu einer Einheit zusammen.“
„All diese Tiere gibt es im Landesinneren? Und ich darf dort nicht hin, weil mein Onkel das so bestimmt hat?“
„Aber du kannst es dir trotzdem ansehen, dafür sind wir ja hier! Wir prägen einen Vogel oder auch einen ganzen Schwarm auf dich. Dann kannst du ihn fliegen lassen, wohin du willst und alles betrachten, so wie es dir gefällt! Noch dazu buchstäblich aus der Vogelperspektive! Interessiert?“
„Das sind also keine ausgestopften Vögel sondern Maschinen“, stellte Nisaya fest.
„Du hast es erfasst!“ Triton grinste.
„Na ja, das ist jedenfalls besser als gar nichts. Und wie funktioniert das?“
„Zunächst musst du dir einen Vogel aussuchen. Wie wär’s mit einem Geier? Da kannst du alles von ganz weit oben betrachten.“ Er zeigte auf ein riesiges, gefiedertes Monstrum mit nacktem Hals und krummem Schnabel.
Zweifelnd beäugte sie ihn. „Der kommt mir nicht sehr unauffällig vor. Wie nahe kommt man mit dem an Menschen heran?“
„An Menschen? Da brauchen wir definitiv was anderes.“
„Eignet sich die Dohle?“
„Sicherlich. Aber wie gesagt haben wir sie bloß schwarmweise zu vergeben. Und ein Schwarm ist schwerer zu steuern als eine einzelne Drohne. Natürlich hat jede einen Computer, der die meiste Arbeit macht, aber ein bisschen was musst du auch tun. Warum eigentlich gerade die Dohlen?“
„Sie passen farblich zu meinem Bikini. Könnte man die Drohnen auch verwenden, um die Olympier auszuspionieren?“
„Aber ja! Ja und nein. Auf den Olymp selbst kommen sie nicht, der ist drohnensicher. Aber sobald sie ihn verlassen …“
Triton ging zu einem Spiegel an einer der Wände, der wenig überraschend auch als Bildschirm fungierte.
„Wir können die Daten vieler Drohnen zusammenfassen, nach Olympiern Ausschau halten und bekommen schließlich …“, er wandte sich an den Avatar des Spiegels, murmelte leise ein paar Befehle, „… das!“
Die rundlichen Umrisse des Kontinents „Zeitalter der Achaier“ mit seinen zwei Binnenmeeren wurden sichtbar und darauf viele, mehr oder weniger gerade Linien. Besonders viele verbanden zwei Orte miteinander, wovon der eine am großen Meer lag. Dorthin zeigte Triton jetzt. „Da sind wir, direkt am Okeanos. Der Computer hat jetzt alle Informationen von Drohnen, die er über die Flugbewegung der Olympier des heutigen Tags bekommen hat, zusammengefasst. Der Ort nördlich des einen Binnenmeeres, des Mittelmeeres, ist der Olymp. Von dort kommen fast alle Sonnenwägen. Einige erreichen uns aber auch aus dem Nordwesten unweit von Hyperborea. Hier ist der Eingang in die Unterwelt des Hades und der Persephone! Siehst du? Du hast zwar keinen Zugang zu den Satellitendaten, aber wer braucht das schon?“
Nisaya starrte gebannt auf die Karte. Kartenlesen war ja eigentlich nicht so ihre Sache, aber diese war mit der Geschichte ihrer Eltern verbunden. „Wo ist die Insel der Sintier?“
Triton zeigte auf einen kleinen Punkt im östlichen Mittelmeer. „Gleich neben der Insel des Polyphem. Was willst du von diesem Fliegendreck?“
„Nicht so wichtig.“ Nisaya wurde jetzt klar, wie schwierig es für Sarpedon sein musste, hier zu reisen, ohne aufzufallen. Aber vermutlich würde er versuchen, die Insel der Sintier zu erreichen, denn dort hatte er Zugang zu Informationen die er benötigte, um den Machenschaften des Herrschers über die Götter auf die Schliche zu kommen und über die Poseidon vielleicht nicht verfügte. „Was ist das für ein einsamer Strich?“
Direkt über dem Okeanos materialisierte sich eine Flugbahn, ohne Zweifel von ein paar Möwen registriert, und zog zu einer kreisförmigen Erhebung in der Landschaft, einem Krater oder ehemaligen Vulkanschlot, dem Olymp nicht unähnlich, aber viel südlicher und sogar ein wenig größer.
„Hm“, meinte Triton, „Wo kommt der her? Da wäre jetzt ein Satellit doch recht nützlich. Wahrscheinlich vom Hyborischen Zeitalter, das liegt in dieser Richtung weiter östlich. Jedenfalls ist er nicht dort hingeflogen, sondern kommt von dort, weil die Linie über dem Meer fahler und heller ist.“
Nisaya, von der Familiengeschichte sensibilisiert, wurde ganz Ohr. „Und wo ist er hingeflogen? Was ist das da für ein rundes Etwas?“
„Das ist die Heimat der Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters!“
„Goldene Menschen?“
„Gar keine Menschen! Außerirdische, die sich hier niedergelassen haben, toleriert von den Göttern vergangener Generationen, weil sie ins Rollenspiel passen. Sie sehen einigermaßen menschlich aus, sind aber eigentlich eher so etwas wie Termiten.“
„Die kenne ich auch nicht!“
„Soziale Insekten. Egal!“ Er hatte keine Lust, einen entomologischen Vortrag zu halten, kannte er sich doch auf diesem Gebiet selbst kaum aus.
„Merkwürdig, wie viele fremde Völker den Weg zu diesem verschollenen Planeten gefunden haben.“
„Du hast ihn auch gefunden!“
„Und darauf bin ich durchaus stolz! Ich weiß etwas, was in der Magellanschen Föderation abgesehen von meinem Bruder und mir niemand weiß! Ich kenne den Weg zum einzigen verschollenen Planeten!“
Triton schüttelte den Kopf. „Nicht der einzige. Was ist mit der Erde?“
„Die ist doch tot!“
„Man sagt, es ist nur ein Gerücht, aber immerhin, dass auf einem Kontinent, genannt Antarktis, noch Wälder wachsen und auch noch einige Menschen leben.“
„Das ist ein Gerücht, wie du sagst!“
„Und was ist mit Conchita, der Welt der Transsexuellen?“
„Conchita? Nie gehört. Was ist das überhaupt für ein Name für einen Planeten? Wieso geben die Transsexuellen ihrem Planeten so einen Namen?“
„Keine Ahnung! Und überhaupt - sehe ich so aus als würde ich mich auf diesem Gebiet auskennen?“ Er ließ seine beeindruckenden Muskeln spielen. Nisaya hob eine Braue und zuckte mit der Schulter, sagte aber nichts. Dann wandte sie sich ab, damit er ihr leicht boshaftes Grinsen nicht bemerkte. Er sah es aber doch, über den Bildschirm, der jetzt wieder als Spiegel fungierte und war verstimmt. Er wechselte das Thema. „Was ist jetzt mit den Drohnen?“
„Ja, genau! Was ist mit ihnen? Ich hätte gerne einen Dohlenschwarm!“
„Also gut! Bleib da!“
Er ging zurück zu den Regalen, dorthin, wo die schwarzen Vögel mit den grauen Köpfen standen und nahm einen Gegenstand auf, mit dem er zurückkam. Er hielt die Hand auf und Nisaya sah ein silbernes Etwas mit schwarzem Edelstein, den sie auf den ersten Blick für eine Brosche hielt.
„Steck Dir das Schmuckstück ins Haar.“ Nisaya tat, wie ihr geheißen; sie konnte sehr brav sein, wenn sie etwas wollte. Triton drückte ein paar Mal darauf und Nisaya spürte, dass etwas ihre Kopfhaut berührte. Dann wandte er sich abermals an den Avatar und erklärte ihm, was er vom Computer wollte. Nisaya hörte nicht zu. Nur dass er ihren Namen erwähnte, bekam sie mit.
„So, du bist jetzt auf die Drohnen geprägt. Wir aktivieren sie jetzt … los!“ Letzteres war an den Computer gerichtet.
… und Nisaya sah die Regale, aber nicht so, wie sie sie sehen sollte. Die schlanken Vögel waren von dort, wo sie stand, gar nicht einsehbar. Und gleichzeitig war da noch das Bild Tritons, wie durch eine stark reflektierende Glasscheibe. Nisaya schrie auf.
„Du siehst jetzt, was deine Drohnen sehen, aber natürlich ein Kompositbild, das die Computer der acht Dohlen aus ihrer Wahrnehmung synthetisieren. Mit acht Bildern und zusätzlich dem, was deine Augen sehen, wäre dein armes kleines Hirn überfordert. Das funktioniert so ähnlich, wie du ja aus den zwei Bildern deiner Augen auch ein einziges machst.“
„Es verwirrt etwas, dass ich dich wie in einer Spiegelung sehe und dann aber die Regale, die die Dohlen sehen! Kann man was dagegen tun?“
„Mach die Augen zu!“
Was sie tat. „Ah ja!“ Jetzt konnte sie ungestört das Regal sehen, vis-à-vis der Drohnen, das mit Schwalben und Mauerseglern gefüllt war. „Und wenn ich das Drohnenbild wieder loswerden will?“
„Du kannst sie natürlich ausschalten, indem du den Edelstein berührst. Der Computer der Stadt kennt deinen Fingerabdruck und der im Edelstein jetzt auch. Später, mit ein bisschen Übung, geht das aber auch willentlich, so wie die Bewegung der Dohlen ja auch dein Gehirn direkt steuert.“
Nisaya blickte zweifelnd. „Das geht?“ Dann berührte sie das Schmuckstück und öffnete wieder die Augen. Das Bild, das von den Kameras der Dohlen kam, verschwand. Nur Triton blieb.
„Das konnten schon die alten Terraner, einen externen Arm direkt mit dem Gehirn steuern. Übungssache. Außerdem hilft der Computer des schwarzen Steins dabei. Es gibt für den Anfang ein paar Codewörter. Z. B. ‚Trainingsprogramm‘! Dann bewegen sich die Drohnen in bestimmter Weise und dein Gehirn lernt dabei, wie es diese Bewegung auslösen kann. Das solltest du jetzt machen. Es wird dich ein oder zwei Stunden beschäftigen. Ich kann leider nicht bleiben, wegen der blöden Feier, die sie zelebrieren wollen. Anwesenheitspflicht. Ist das ok? Kann ich dich alleine lassen, ohne dass du Unfug anstellst?“
Nisaya tat empört: „Ich brauche kein Kindermädchen! Sag‘ das Sarpedon oder Poseidon, wer immer dich auch beauftragt hat! Mit ein paar Dohlen werde ich schon fertig werden! Und wie man in der Röhre reist, weiß ich auch!“
„Gut! Komm zurück in die Stadt, wenn du hier fertig bist. Hilf mir jetzt.“
Er ging zum Regal mit den Dohlen und nahm je zwei in eine Hand. Nisaya tat es ihm gleich und half ihm, die Drohnen nach draußen zu bringen, wo sich der blaue Himmel über die flache Hochebene spannte. Triton stellte die schwarzen, wie ausgestopft wirkenden Vögel auf dem Boden ab und Nisaya stellte ihre daneben.
„Du schaltest die Drohen an, indem du den Edelstein berührst und sagst: ‚Trainingsprogramm‘ und alles andere kommt von selbst. Kapiert?“
„Klar doch, wofür hältst du mich?“
Triton war nicht mutig genug, auf diese Frage zu antworten. „Eins noch! Die Vögel haben noch ein kleines Extra eingebaut, einen Angriffsmodus. Dann versuchen sie, mit ihren beiden Beinen das Angriffsziel zu erreichen und jagen einen Elektroschock durch seinen Körper. Ein Mensch wird davon ohnmächtig.“
„Oh, wirklich? Können wir das gleich versuchen?“ Sie blickte ihn so begeistert an, dass in ihm kein Zweifel daran aufkam, dass sie ihn als Angriffsziel auserkoren hatte. Triton tippte sich an seine Stirn, ließ das Ansinnen aber sonst unkommentiert.
„Gut, ich muss jetzt gehen.“
„Ich begleite dich noch bis zur Röhre.“ Sie strahlte ihn an und versuchte offenbar, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Wäre er ein etwas vorsichtigerer Charakter gewesen, hätte ihn das zum Nachdenken gebracht. War er aber nicht. Also ging er auf die Röhre zu und Nisaya sah, dass nicht nur ein Transporttunnel hier am Flugplatz endete sondern ziemlich viele, sie zählte ein Dutzend. Das war ihr vorher nicht aufgefallen, weil sie immer nur in Richtung der Landebahn des Flughafens geblickt hatte.
„Wie ist denn diese Feier so?“
„Immer das Gleiche. Jedes Jahr. Aber man muss halt die Gläubigen beeindrucken. Zeus wird ein paar Blitze schleudern, Poseidon ein paar Monsterwellen gegen die Küste werfen. Vor allem die Priester müssen immer an unsere Macht erinnert werden …“ er runzelte die Stirn.
„Ist was?“
„Weiß nicht. War da noch irgendwas, das ich erledigen wollte?“
„Man wird ja so vergesslich im Alter!“ Nisaya grinste und Triton zuckte zusammen.
„Ich bin wirklich verhältnismäßig jung! Nicht so jung wie du …“
„… und nicht so jung wie du aussiehst …“
„Ja doch!“, fauchte er. Sie hatten jetzt die gläsernen Stufen der ersten Transportröhre erreicht und Triton ging sie alleine hinauf. Die Türe glitt leise zur Seite und er stieg auf eine „Wolke“. Während sie langsam hinab sank winkte ihm Nisaya breit lächelnd zu. Er hatte es vergessen! Ha! Ihre Ablenkungsmanöver waren gelungen! Er hatte tatsächlich vergessen die Türe zum Hangar der Gleiter zu schließen! Sie blickte zu dem kreisförmigen Gebäude, in dem von hier aus gut sichtbar ein Loch gähnte. Darum musste sie sich kümmern, aber zuerst noch um ihre Drohnen. Sie lief zurück, aktivierte sie und rief laut: „Trainingsprogramm!“ Sofort stiegen die Dohlen flatternd empor und begannen sie zu umkreisen. Was bewirkte, dass sie einen Rundumblick genießen konnte.
„Willkommen Nisaya!“, hallte es in ihrem Schädel, „Ich werde dich durch das Programm führen. Du hast verschiedene Ansichten, zwischen denen du wechseln kannst: Allsicht, Einzelsicht und Hypersicht.“ Bei ‚Einzelsicht‘ sah sie plötzlich durch die Augen nur einer Drohne, bei ‚Hypersicht‘ schien sie über den Dohlen zu schweben und konnte die Position aller genau ausmachen. Wie der Computer diese Ansicht errechnete, war ihr nicht klar, ihre Nützlichkeit hingegen schon. Während Nisaya lernte, zwischen den Ansichten umzuschalten, wie man den Schwarm und auch einzelne Dohlen kontrollierte, dachte sie immer wieder: „Das Tor ist offen! Ich will ja nur einmal nachschauen!“ Und schon lenkte sie ihren Schwarm über das riesige, zirkuläre Gebäude, ließ ihn darüber kreisen und schickte einen einzelnen, dunklen Vogel auf das Tor zu und in die Halle hinein, die offenbar wie eine Drehbühne funktionierte, sodass jeder Gleiter vor den Ausgang gebracht werden konnte. Die Sonnenwägen waren nicht alle gleich gebaut und unterschieden sich auch in der Größe recht beträchtlich. Ein sehr kleiner gefiel ihr besonders und zwar vor allem deshalb, weil er eine Eigenschaft mit der Halle gemeinsam hatte: die Türe zur Pilotenkanzel war offen! Sehr interessant. Nisaya sammelte ihren Schwarm beim Hangareingang und schaltete ihn aus. Sie stand auf und lief hin, denn das musste sie sich life ansehen!
***
Wohlgefällig blickte er auf seine Begleiterin. Er hatte eine alte, hässliche Frau erwartet, als er ihrer nach fast zwei Jahrzehnten erstmals wieder ansichtig wurde. Stattdessen erschien sie eher jünger als damals. Daraufhin hatte er seine Pläne geändert und sie auf diese Reise zum Kontinent der Achaier mitgenommen. Aphrodite und ihre Gesinnungsgenossen würden es niemals erfahren. Und selbst wenn! Inzwischen war er Zeus, Beherrscher der Sterblichen und Unsterblichen. Er brauchte nichts und niemanden zu fürchten – außer vielleicht die Kapriolen seiner Frau, deren Eifersucht sehr ermüdend und unziemlich war. Hera hatte ihn unbedingt zum Hyborischen Zeitalter begleiten wollen, ein Vorhaben, das er mit seinen Plänen nicht vereinbaren konnte. Nicht wegen der ehemaligen Weltraumpiratin Reja, die er, als er sie sich noch als zahnlose, grauhaarige Vettel vorgestellt hatte - was angesichts ihres wahren Alters genau genommen etwas übertrieben war - nur vom Nützlichkeitsstandpunkt her betrachtet hatte. Es war einfach nur so, dass er die Olympier nicht in seine Pläne integrieren wollte, weil sie für sein Vorhaben zu dekadent waren. Also war es besser wenn sie keine Ahnung von seinen Machenschaften hatten und Hera tratschte nun einmal gerne. Er seufzte. Nach einigen Diskussionen war sie schließlich bereit gewesen, vor ihm zum religiösen Fest, das nahe der Stadt des Meeresgottes Poseidon begangen wurde, zu reisen.
Er betrachtete Reja genauer. Ihre enganliegende, dunkle Kleidung betonte ihre kurvige und dennoch schlanke Gestalt. Ihre großen, kalten, blauen Augen in dem lieblichen, von künstlich dunklem Haar umrahmten, herzförmigen Gesicht irritierten. Als würde ein harmloses, flauschiges, scheinbar schutzbedürftiges Kaninchen beim Streicheln plötzlich Raubtierzähne zeigen und Katzenkrallen. Viele Männer hatten sie für harmlos gehalten und es bitter und äußerst schmerzhaft bereut. Die meisten von ihnen waren jetzt tot. Zeus hatte diesen Fehler nie gemacht, auch nicht als er noch Paieon war.
„Willst du wissen, wie es deinem Sohn geht?“
„Alkaios ist in meinem Palast in Askhauran. Ich weiß, wie es ihm geht! Ich wähnte meine Verliese leer, weil anzunehmen war, dass er alle Insassen zu Tode gefoltert hätte! Er ist in dieser Hinsicht ungeschickt.“
„Und?“
Sie lächelte lieblos. „Er hat einfach neue Verhaftungen vorgenommen. Meine Angst war unbegründet, die Gefängnisse sind nicht verwaist. Allerdings hat er mir mein Lieblingsspielzeug weggenommen, Alandro, den Cousin des ehemaligen Königs von Askhauran.“
„Nun, er hat ohnehin überraschend lange überlebt.“
„Zugegeben. Und er war nur noch eine Hülle. Sein irres, panisches Gewimmer ist mir auf die Nerven gegangen. Mehr war allerdings nicht mehr möglich, ohne Zunge.“ Sie kicherte. „Sein plumper Versuch, mich zu ermorden, als ich schwanger war, hat mich ziemlich gegen ihn aufgebracht. Außerdem war er als Regent die ganze Zeit lästig.“
„Er hat versucht, dich zu ermorden? Mutig!“
„Er hat gelauscht, bei deinem vorletzten Besuch, als du mich geschwängert hast. So besoffen wie er tat, war er gar nicht gewesen. Er wusste, wenn ich hochschwanger bin und aussehe wie eine Kugel, kann ich die Kampfrüstung nicht mehr tragen, die ich von dir bekommen habe.“
„Wie hast du ihn überwältigt?“
„Vielleicht erinnerst du dich, dass ich dich um die Kameras und die Spiegelfolie gebeten hatte. Und die Handfeuerwaffe hatte ich auch noch. Als er mit zwei seiner Schergen in mein Gemach kam, war ich vorgewarnt. Kaum hatten sie mit einem Balken die Türe aufgebrochen, stürmten sie mit gezogenem Schwert auf mich zu - oder, genauer gesagt, auf den Wandschirm, den ich aus der Folie gebastelt hatte und der mich spiegelte. Ich schoss dem einen in den Rücken, dem anderen sicherte ich eine Belohnung zu, wenn er mir helfen würde, Alandro in den finstersten Winkel des Verlieses zu bringen.“
„Lass mich raten: er ist darauf eingegangen und hat seine Belohnung bekommen!“
„Natürlich! Nachdem er Alandro in seine Zelle gebracht und angekettet hatte, habe ich ihn erschossen, ohne mich intensiver mit ihm zu beschäftigen, wie er es eigentlich verdient hätte. In diesen primitiven Gesellschaften ist es wichtig, dass nicht das Gerücht aufkommt, der König lebe noch. Sonst gibt es Aufruhr. Also keine Zeugen, abgesehen von den stummen Sklaven, die die Gefangenen versorgen. Und Alandro … damit er nicht zu sehr vereinsamt, habe ich ihn jede Woche besucht und ihm gezeigt, was ich von dem Mordversuch halte. Er hat mich bald angefleht, ihn sterben zu lassen.“ Bei der Erinnerung zeichnete sich ein fast wehmütiges Lächeln auf ihren Lippen ab.
„Nun, jetzt hat Alkaios seinen Wunsch erfüllt. Ich hatte aber gar nicht von ihm gesprochen, sondern von Iphikles.“
„Warum sollte mich das Schicksal von Alkaios Zwillingsbruder interessieren? Soweit du mir erzählt hast, ist er schwächlich und nicht normal!“
„Nun, er hat tatsächlich nur die Statur eines durchschnittlichen Mannes und beschäftigt sich gerne mit Schriftrollen und Linear B Schrift und alten Sprachen. Er will die Illias in diesem Schriftsystem niederschreiben.“
Verächtlich schüttelte sie den Kopf. „Ein Weichling, der keiner Fliege etwas zu Leide tun will. Eine Schande! Alkaios hingegen ist ein muskelbepackter Riese, verschlagen und hinterhältig, er erfreut sich am Leid anderer und ist machtlüstern. Er ist ein Sohn, auf den man stolz sein kann!“
„Die anderen bezeichnen uns als Psychopathen.“
Sie lachte. „Ha! Wir sind Götter! Den anderen dermaßen überlegen, dass wir sie zertreten können, wie übles Geschmeiß! Wir haben das Recht sie auszubeuten, wie es uns beliebt! Ja, mehr noch! Wir brauchen kein Recht, wir stehen darüber!“
„Wie auch immer. Jedenfalls haben meine genmanipulierenden Viren bei Alkaios gute Arbeit geleistet! Seine Physiologie entspricht den Anforderungen, die an ihn gestellt werden sollen. Sein liebenswerter Charakter geht hingegen ganz allein auf seine Eltern zurück.“ Er grinste.
„Welche Anforderungen?“
„Das sollst du heute erfahren. Es kann nicht schaden, wenn du in meine Pläne eingeweiht bist, auch wenn ich das ursprünglich nicht vor hatte. Du bist wenigstens nicht dekadent!“ Er schwieg eine Weile und konzentrierte sich auf den Monitor. „Wir nähern uns dem Ziel. Die Domäne der Goldenen, der Menschen des ersten Zeitalters.“
Die gewaltige, kreisrunde Narbe in der Erdkruste, mit dem steilen, zackigen Rand kam in Sicht, in der Mitte der dunkle See, der fast die Ausmaße eines kleinen Meeres erreichte, war nur schemenhaft zu erkennen, denn dunkle Wolken schwebten über ihm. Das ganze erinnerte etwas an ein erstaunt aufgerissenes, getrübtes Auge.
„Beinahe wie der Olymp. Nur größer“, meinte sie.
Er nickte. „Und mit einem bedeutend unerfreulicherem Klima. Für Götter ungeeignet. Jedenfalls für menschliche.“ Er berührte einen Punkt in Seenähe am Bildschirm, woraufhin der Bordcomputer diesen Ausschnitt heran zoomte. Eine in ein Wolkenkleid gewandete Stadt wurde sichtbar mit einem monumentalen Bauwerk, einer goldschimmernden, gewaltigen Pyramide von hexagonalem Grundriss.
„Das sieht nicht aus als wäre es von Menschenhand.“
„Das stimmt“, bestätigte er. „Die Goldenen Menschen sind gar keine. Sie sind die letzten Überlebenden einer Alienart, deren Individuen sich durch enorme Langlebigkeit auszeichnen. Ich will ihre Spezies vor dem Aussterben bewahren.“
„So selbstlos?“
Er schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht! Für nichts gibt’s nichts, das ist klar!“
„Also? Was haben sie zu bieten?“
„Den Weg zu den Sternen.“
Reja war nicht beeindruckt. „Den kennen wir bereits!“ Sie zuckte mit der Schulter.
„Tun wir das? Die Magellansche Föderation, ein Netzwerk aus Enigma-Adressen, einige Rohstoff liefernde Welten, ein Dutzend bewohnter Planeten, mehr nicht! Ursprünglich weniger, aber sie schluckt die ungesetzlichen, schon um der Piraten Herr zu werden. Irgendwann wird auch dein Ivarn verdaut.“
„Nicht solange ich lebe!“
„Du kannst es nicht verhindern.“
„Weil ich auf Gaia festsitze!“, fauchte sie. „Aber das wird nicht mehr lange der Fall sein, du hast es mir versprochen!“
„Das habe ich! Und ich werde mein Versprechen halten, wenn du das dann noch willst!“
„Was sollte mich umstimmen?“
„Das, was du heute erfährst. Ich biete dir eine Alternative, mehr nicht. Wie du dich letztlich entscheidest, ist allein deine Sache. Für meine Pläne ist Alkaios wichtig, nicht du.“ Darauf hatte sie nichts zu sagen, also fuhr er nach einer kurzen Pause fort: „Vor etwa eintausend Erdenjahren kamen die letzten Überlebenden einer dem Untergang geweihten Rasse in einem Enigma-Schiff der alten Bauart. Es war riesig, größer als alles was in dieser Hinsicht Menschen je konstruiert haben, aber langsam. Es musste sich von Attraktor zu Attraktor durch das Chaos des Enigma quälen. Das Wissen, wie man den direkten Weg steuert, haben sie nie erworben, dennoch hatten auch sie eine Art Föderation, denn sie sind enorm langlebig. Wir verhandeln immer noch mit denselben Personen, die einst hier angekommen sind, mit U’Xetes und U’Rieften.
Als sie hierher kamen, mussten sie unsere überlegene Technologie anerkennen. Vor allem unser besseres Waffensystem!“ Er grinste. „Sie sind aber auch von Natur aus eher friedlicher als die Menschen. Sie baten uns um ein wenig Siedlungsraum, den wir ihnen gewährten, weil sie in unser Spiel paßten. Mit viel Phantasie entsprechen sie den Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters. Griechische Mythologie, die Basis unserer Gesellschaft! Diesen Krater dürfen sie für ihre Zwecke nutzen. Hier wollten die letzten ihrer Art in Frieden sterben.“
„Warum die letzten? Was hat sie an den Rand des Aussterbens gedrängt?“
„Maßlosigkeit. Eine Eigenschaft, die auch den Terranern zum Verhängnis wurde. Die Goldenen haben eine Achillesferse: ihre Brut lebt parasitär. Im Prinzip sind sie riesige, eusoziale Insekten mit einer Hierarchie und Kastenwesen. Die goldene Pyramide, die du da unten siehst, ist ein Termitenbau, ein Ameisenhaufen. Die beiden Geschlechtstiere sind U’Xetes, männlich, der ‚König‘ und U’Rieften, weiblich, die ‚Königin‘. Die Jungtiere gehen durch eine Phase, in der sie eine andere Spezies parasitieren müssen. Und hier ist das Problem; denn diese Art ist ausgestorben. Letztlich haben sie sich um ihren Wirt zu wenig gekümmert. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Nahrung und Parasiten kam immer mehr an eine kritische Grenze, die dann Jahrtausende lang beibehalten wurde. So weit ging die Vernunft noch! Aber dann, eine kleine Epidemie, nicht schlimmer als eine Grippe, genügte. Der ohnehin kurzlebige Wirt wurde dezimiert, die Vermehrung der Parasiten aber nicht oder nicht genügend zurück genommen. Fazit: Extinktion. Absehbar und dumm, aber auch die Goldenen haben Instinkte, über die sie nicht hinaus können. Und sie wiederholen Fehler, so wie wir. Letztlich überlebten die Wirte auf keinem ihrer Kontinente. Bis dahin hatte sich ihre Spezies nur auf zwei Planeten aufgehalten. Bei dem Versuch, die Wirte wieder auf den Ursprungsplaneten anzusiedeln, übertrugen die Goldenen die Krankheit auch auf ihre zweite Heimat und deren Schicksal wiederholte sich. Aber sie sind sehr langlebig! Sie schickten kleine Kolonien zu allen Welten, die sie kannten, in der Hoffnung, irgendeine Lebensform zu finden, die sich als Wirt eignet. Keine hatte Erfolg. Die meisten starben schließlich, denn langfristig sind auch die späteren Entwicklungsstadien der Arbeiter auf die Wirtsspezies angewiesen.
Auch der hiesigen Kolonie ging es nicht besser. Etwa die Hälfte der Arbeiterinnen und Arbeiter war bereits verstorben, als U’Xetes von einem meiner Vorgänger die Erlaubnis erbat, einige Leichen an sie zu verfüttern, die nach einer heroischen Schlacht der Achaier in großer Zahl zu Verfügung standen. Und siehe da! Menschenfleisch mundete ihnen! Sie brauchen es nicht ausschließlich, für ihr Wohlergehen ist es aber essentiell.
Also beschlossen meine Vorfahren, im Krater auch junge Menschen anzusiedeln. Ihr Gedächtnis wurde zerstört, es wurde sie gelehrt, dass der Krater die Welt sei und das Gebirge der Weltenrand. Unwissenheit und Religion kann Menschen sehr gefügig machen, in den Jahrhunderten ist kaum jemand geflohen. Die beiden Goldenen wurden zu ihren Göttern erklärt, die anderen Aliens zu Götterdienern. Ihr Pantheon wurde später noch erweitert. Eine Priesterkaste wurde etabliert. Zu Ehren der Götter wurden einmal im Jahr blutige Kämpfe in einer Arena nahe der goldenen Pyramide abgehalten. Die Leichen wurden an die Außerirdischen verfüttert.
Selbstverständlich wurde auch untersucht, ob sich das eigentlich parasitische Stadium von menschlichen Wirten ernähren kann. Dieses Stadium sieht aus wie eine Kreuzung aus einem riesigen Zecken und einer externen Gebärmutter. Jedenfalls funktionierte es nicht. Es kann sich zwar problemlos an den Menschen ansaugen, aber nur einmal. Und der Mensch stirbt zu rasch, um für die vollständige Entwicklung des Parasiten zur Verfügung zu stehen.“
„Das möchte ich mir gerne ansehen! Wie der Parasit an ein hilfloses Opfer, das sich vor Angst windet, angehalten wird, wie er sich festsaugt. Das muss ein einmaliger Anblick sein! Wird das heute noch gemacht?“
Er nickte und fuhr fort: „ Du wirst heute das Resultat eines kleinen Experiments mit ansehen!
Jedenfalls; das Ende schien besiegelt. Neben den beiden Herrschern leben noch einige hundert Arbeiterinnen und Arbeiter, die, wie gesagt als Götterdiener bezeichnet werden. Sie sind bleich, unpigmentiert, etwas kleiner, entsprechen aber sonst den Geschlechtstieren. Sie können deren Position nicht einnehmen, es gibt keine Machtkämpfe! Inzwischen sind sie alle sehr alt, nicht nur nach unseren Maßen. U’Xetes tritt kaum mehr in der Öffentlichkeit auf, nur U’Rieften ist noch so vital wie eh und je.
Vor einigen Generationen geschah etwas Seltsames. Unter den Menschen des Kraters, nirgends sonst, trat eine Mutation auf, nämlich die Fähigkeit, das bionische Feld des Planeten zu nutzen. Ich frage mich, ob das Zufall war oder den intelligenten Wesen dieses Planeten zu verdanken ist. Jedenfalls können ihre Träger die Lebensenergie eines Menschen auf einen anderen übertragen. Wir haben daraufhin eine neue Kaste ins Leben gerufen: die der Heiler. Bestimmte Heiratsvorschriften waren das Hilfsmittel mit dem es uns gelang, diese Eigenschaft in der Bevölkerung so rasch wie möglich zu vermehren. Heute haben wir genug Begabte!“
„Das ist ja schön!“, meinte Reja zynisch. „Aber welchen Nutzen haben sie?“
„Das wollte ich gerade erklären! Wenn das Opfer, der Wirt, geschwächt ist, übertragen die Heiler die Lebensenergie eines zum Tode Verurteilten auf ihn. Das verlängert seine Lebenserwartung hinreichend, damit der Parasit sein empfindlichstes und abhängigstes Stadium abschließen kann. Er wird sozusagen geboren.“
Reja dachte an das Herz von Galahar, das ebenfalls die Dauer des Überlebens verlängerte. Sie überlegte, ob sie das erwähnen sollte, aber sie wollte es behalten. Also nicht! Die Probleme der Goldenen und die von Zeus waren nicht die ihren. Stattdessen stellte sie eine Frage, die ihr helfen sollte zu verstehen, warum sie den für sie nur mäßig interessanten Monolog über eine fremde Spezies hatte über sich ergehen lassen müssen. „Aber was hat das alles mit dem Weg zu den Sternen zu tun?“
„Sie haben hinreichend Enigmadaten von Planeten, auf denen wir Menschen leben können! Wo es ihnen möglich ist, können wir es auch, denn unsere Ansprüche sind ähnlich. Aus diesen Daten können wir Enigma-Adressen errechnen und so das Chaos überwinden! Wir können alle ihnen bekannten Planeten in ein oder zwei Wochen Transferzeit erreichen! Wir können eine neue Machtsphäre aufbauen, können Welten besiedeln! Der Deal, den ich vor nunmehr dreißig Jahren eingegangen bin, war einfach: ihr Überleben gegen unsere Ausbreitung. Zwei Spezies die am Ende stehen, finden einen neuen Anfang!“
„Hättest du dir diese Daten nicht auch mit Erpressung aneignen können?“
„Von einem Volk, das nur noch auf sein Sterben wartet? Nein!“
Inzwischen befand sich der Sonnenwagen über dem Krater. Wo sich wie feine Äderchen Flüsse und Bäche zum See hin erstreckten, konnte man - wo es die Wolkendecke zuließ -Städte und Dörfer erkennen. Auf die größte Siedlung hielten sie zu, genau auf die oberste Plattform der Pyramide; das Dach war als Landeplatz geeignet.
Zeus wies den Computer an, die Landung vorzunehmen, die entsprechend sanft verlief. Der Sonnenwagen parkte neben einem zweiten von ähnlicher Größe und Reja stellte, als Zeus das Tor öffnete und sie nach ihm die Landeschräge hinab ging, fest, dass noch drei weitere auf der großen Plattform Platz gehabt hätten, obwohl auch noch ein ansehliches Gebäude darauf stand; die Pyramide musste wirklich gewaltige Ausmaße haben.
Von dort kamen nun sechs madenbleiche, entfernt menschenähnliche Kreaturen auf sie zu, die einen Kopf größer waren als Reja und sie gehörig nervös machten. Aber sie verhielten sich nicht feindlich, sondern bildeten ein Ehrenspalier zwischen dem Gleiter und dem Eingang des prunkvollen Gebäudes, der gewissermaßen Übergröße hatte. Das Dach der Pyramide war nass, aber es regnete gerade nicht. Die Türen schwangen beiseite; Reja und ihr Begleiter betraten einen prunkvoll, aber sehr fremdartig eingerichteten Raum, der in waberndes Licht getaucht war. Die Farbfontänen entsprangen mehreren Kristallen, die sich auf durchsichtigen Zylindern mitten im Raum drehten. Die Lichtzungen änderten sogar das Gleißen um Zeus Haare, die plötzlich in allen Spektralbereichen schimmerten und unangenehme Assoziationen in Reja weckten, Erinnerungen an eine junge Frau, eine Sklavin, die sich von ihr nicht hatte brechen lassen und schuld daran war, dass sie auf Gaia versauerte.
Als ihnen ein gewaltiges Wesen entgegen kam, schwächten sich die Lichteffekte etwas ab; der Schein von Zeus Haaren wurde nun wieder überwiegend silberfarben. Die Kreatur hingegen leuchtete golden und wirkte trotz ihrer übermenschlichen Größe filigran. Sie hatte annähernd weibliche Proportionen, mit einer extremen Taille, die die Bezeichnung ‚Wespentaille‘ aus mehreren Gründen verdient hatte. Sie war in ein bodenlanges Kleid aus fließendem Gold gehüllt und bewegte sich erstaunlich anmutig. Sie blickte ihnen aus großen, regenbogenfarbenen Augen entgegen und streckte Zeus eine überaus langfingrige Hand entgegen, die offenbar zwei Daumen hatte, den zweiten dort, wo bei Menschen der Kleine Finger war. Zeus ergriff sie.
„Seid willkommen, Herrscher Gaias!“, tönte ihnen eine sehr melodische, feminin klingende Stimme entgegen, die irritierender Weise nicht vom eigenartigen Mund des Wesens zu kommen schien, sondern von allen Seiten gleichermaßen auf Rejas Ohren einwirkten. Obwohl es seine Aufmerksamkeit ganz offensichtlich auf Zeus fokussierte, hatte Reja das befremdliche Gefühl, dass es die ganze Zeit sie betrachtete.
„Ich grüße dich, U’Rieften!“, antwortete Zeus.
Nun drehte U’Rieften ihren Kopf in Rejas Richtung und hieß auch sie willkommen. Reja berührte vorsichtig die fremdartige Hand. Die Goldene wies sie an einen Tisch, auch dieser hatte, ebenso wie die Sessel, Übergröße. Sie setzten sich. Am Tisch standen kristallene Gefäße, gefüllt mit einer schillernden Flüssigkeit. Zeus nahm einen Schluck. Erst dann wagte auch Reja zu trinken, Vorsicht ist Klugheit, Vertrauen Dummheit. Das Getränk schmeckte säuerlich und ein wenig bitter, alkoholisch.
„Jahrhunderte lang war die Lichtmusik melancholisch, traurig; doch dank dir, Zeus, sehen wir nun fröhliche, hoffnungsvolle Lieder!“
„Dann sind die Lichtmuster, die diese drehenden Kristalle produzieren, eine Art Musik?“, fragte Zeus erstaunt. Er kannte sie seit langem, ohne jemals ihren Zweck hinterfragt zu haben.
„So ist es. Sie erzeugen in uns Gefühle unterschiedlicher Art. Etwas, das Tonsequenzen bei euch vermögen, nicht aber bei uns. Wir hören ihre Gestalt, aber unsere Gefühle können sie nicht manipulieren.“
„Du sagst, die Musik ist jetzt hoffnungsvoll. Darf ich davon ausgehen, dass unser Experiment erfolgreich verlaufen ist?“
„Ja! Die Ergebnisse sind sehr zufriedenstellend. Du wirst sehen!“
Zeus brannte vor Neugier. Dennoch wandte er sich nun Reja zu, um ihr einige ergänzende Erklärungen zu geben. „Ich habe dir erzählt, dass dank der Heiler Menschen als Wirte geeignet sind. Das stimmt aber nur bedingt, denn die Fähigkeit, Lebensenergie zu übertragen, besitzen sie nur auf diesem Planeten mit seinem bionischen Feld, nirgends sonst. Damit wären die Goldenen auf Gaia beschränkt und auf den kleinen Raum, den wir ihnen zur Verfügung stellen. Sie möchten aber eine eigene Heimat haben und zuallererst zu ihrem Ursprungsplaneten zurückkehren. Ich habe in den letzten Jahrzehnten daran gearbeitet, ihnen diese Möglichkeit zu geben. Und es gibt noch ein weiteres Problem.“
„Ja!“, ließ sich U’Rieften vernehmen, „Ein ethisches. Unsere ursprünglichen Wirte hatten eine sehr niedrige Intelligenz. Es ist moralisch nicht vertretbar, ein hochintelligentes Volk wie die Menschheit zu parasitieren, wenn dadurch ein bedeutender Schaden für die Individuen entsteht. Und das ist in vielerlei Hinsicht der Fall, die Konsequenz ist schließlich der Tod. U’Xetes war der Meinung, dass man das Leid der Wirte akzeptieren muss, wenn es um unser Überleben geht. Dieser Auffassung kann ich mich aber nicht anschließen. Ich gehöre – wenn ich einen Vergleich aus der Menschenwelt hernehmen darf – zu den Veganern.“
Reja schüttelte den Kopf. „Tust du nicht – aber ich kenne ein paar Wäganer, die hervorragend für eure Parasitierungsexperimente geeignet wären!“ Und an Zeus gewandt, ungläubig, ja voller Abscheu: „Soll das heißen, du hast in den letzten Jahrzehnten nach einem Weg geforscht, die Leiden der Opfer zu verringern?!“ Trotz des Blicks, den ihr Zeus zuwarf, erkannte sie nicht, dass sie gerade etwas Unpassendes gesagt hatte. Dies einzugestehen wäre ihr aber aus Gründen mangelnder Fähigkeit zur Selbstkritik sowieso nicht möglich gewesen. So gut sich die Intrigantin vor Menschen verstellen konnte, so wenig war sie dazu vor Fremden bereit.
„Meine Begleiterin hat einen Scherz gemacht!“, beeilte Zeus sich festzustellen. U’Rieften hatte Rejas Kommentar aber wohl ohnehin nicht verstanden.
„Wollt ihr mich nun zu den Brutkammern begleiten?“
Zeus nickte und auch Reja war offensichtlich interessiert. Die goldene Göttin wies ihnen den Weg zu einer Doppeltür am Rande des Raumes, der in hellen, sich windenden Farbmustern erstrahlte, die Türflügel wichen, kaum standen sie davor, zur Seite und eine geräumige Fahrstuhlkabine wurde sichtbar, die sie, U’Rieften folgend, betraten. Der Lift beschleunigte sanft und bewegte sich schließlich rasch nach unten.
„Die Brutkabinen befinden sich gut geschützt unterhalb der Pyramide. Der Stock breitet sich nach unten ebenso tief aus, wie die Pyramide hoch ist“, erklärte sie. „Die Brutkammern sind so angelegt, dass sie von der Arena aus leicht zu erreichen sind. Von dort kommen die verletzten und getöteten Menschen und fungieren als Nahrung für die geschlechtlosen Kasten meiner Art. U’Xetes und ich ernähren uns hingegen hauptsächlich von Pilzen, die in eigenen Kammern gezüchtet werden und die wir von unserer Heimat mitgenommen haben. Je älter die Geschlechtslosen sind, desto besser vertragen auch sie diese Nahrung. Aber jetzt haben wir wieder viele Junge. Ich lege jeden Tag einige Eier in die Körper jener Geschlechtslosen, die unterdrückte Weibchen sind. Nur jeweils eines pro Individuum. Hier findet die Reifung bis zum ersten Stadium, zum Zirthee, statt. Inzwischen haben wir genug Heiler, dass auch das Überleben dieser nächsten Entwicklungsstufe gesichert ist! Und dank dir können wir nun beginnen, eine neue Generation von Geschlechtsindividuen heranwachsen zu lassen. Es ist das erste Mal seit mehr als zweitausend Jahren eurer Zeitrechnung! Du hast unsere Art buchstäblich im letzten Augenblick gerettet, denn in weniger als einem Jahrhundert wird meine Fertilität versiegt sein.“
Der Fahrstuhl wurde langsamer, schließlich öffneten sich die Türen und erlaubten einen Blick in einen gewaltig dimensionierten Raum, in dem in kontrastarmem, rötlichem Licht ein Wirrsal von Wegen sichtbar wurde, ein Gespinst aus säulengestützten Brücken die in allen möglichen Höhen untereinander verbunden waren und mit Löchern in den Raumwänden. Die Konstruktion wirkte auf Reja völlig fremdartig, als befände man sich im Inneren eines gewaltigen Eis, in dem sich ein chaotisches Spinngewebe befand, das den Bewohnern zum Transport allerlei undefinierbarer Güter diente. Die Wege waren nicht leer; zahllose Götterdiener nutzten sie, während man keine Menschen erkennen konnte. Die Goldene schritt voran, Götterdiener wichen respektvoll zur Seite. Reja überlegte, dass all diese Wesen Kinder der Göttin sein mussten. Ihr war schon die Geburt ihrer beiden Zwillinge nahezu unerträglich gewesen und die kurze Zeit, die sie mit ihnen verbracht hatte, bevor Zeus sie von ihnen erlöste, indem er sie nach Theben mitnahm.
Begleitet von einigen seltsam gewandeten Götterdienern, die sich ihnen angeschlossen hatten, erreichten sie, nachdem sie eine über einem hohen Abgrund schwebende Brücke passiert hatten, abermals die Höhlenwand, um einen breiten, rotglühenden Gang zu betreten. Er führte in einen kleinen Raum mit zwei Plattformen, die etwa so hoch waren wie ein Menschenbein lang ist und so breit und lang, dass ein groß gewachsener Mann bequem darauf liegen konnte – oder auch sehr unbequem. Darauf aber lag kein Mensch, sondern bäuchlings ein überdimensioniertes, anthropomorphes und offenbar paralysiertes Monster. Reja trat sofort näher, um es eingehend zu betrachten. Es war von grauem, dichtem Fell umhüllt, hatte gewaltig lange, muskulöse Arme, die in riesigen Pranken endeten. Reja verglich sie mit ihrer eigenen Hand, die winzig erschien. Die Beine hingegen waren kurz und verglichen mit den Armen eher schwächlich. Der Rücken des Tieres hatte enorme Dimensionen, hob und senkte sich im Rhythmus tiefer Atemzüge. Reja berührte ihn, aber nur seitlich, wegen des Dings, das wie ein Rucksack an ihm hing – mit dem wollte sie nicht in Kontakt kommen. Hals war praktisch gar nicht vorhanden und der massive Kopf wirkte auf sie geradezu abscheulich. Er lag seitlich, sodass sie das Gesicht näher beäugen konnte: die Stirn war niedrig und fliehend und mächtige Überaugenwülste beschatteten die dunklen Augen, deren Lider unkontrolliert zuckten. Eine Nase war nicht ausgebildet, das Gesicht zu einer Schnauze verlängert. Weil die Lippen wegen eines Schlauches, der aus dem Mund ragte, zurückgezogen waren, konnte sie die langen Eckzähne des Tieres bewundern, die insbesondere im Oberkiefer beeindruckten. Auch der Unterkiefer war dazu passend unglaublich kräftig ausgebildet.
„Ein Grauer Menschenaffe!“, erklärte Zeus stolz. „Im Prinzip ein Mensch mit einigen virusinduzierten atavistischen Mutationen und epigenetischen Modifikationen. Ich habe die Uhr der Evolution zurückgedreht und damit eine zwar strohdumme, aber auch enorm zähe und kräftige Kreatur geschaffen. Bereits vor etwa zwanzig Jahren war ich soweit, aber in einem heroischen Kampf, in dem ich diese Narbe davon trug“, er zeigte der Goldenen die Verunstaltung der Hand, „verlor ich schließlich den Zugang zur Festung der Sandarken und zu meiner Forschung.“ Die Goldene wandte sich kurz an einen Götterdiener, der daraufhin den Raum verließ. Inzwischen erzählte Zeus weiter: „Ich vermutete aber aufgrund von Erzählungen der Yuetshi-Fischer an der Südküste des Wilahet-Meers eine zweite, von uns nicht genehmigte Festung der Erzmenschen. Dort fand ich sie auch, auf der Insel Xapur. Der Name bedeutet ‚die Befestigte‘ und ich entdeckte Ruinen aus grünem Stein. Die Yuetshi berichten von sich bewegenden Schatten im Mondlicht, von ehernen, entfernt menschenähnlichen Statuen, die bei Vollmond zum Leben erwachen. Ich war gewarnt. Alles fand ich so vor, wie die Sagen es schildern. Es gibt keine Sandarken mehr auf Gaia – die ‚Statuen‘ waren lediglich Roboter - aber ihre Technologie, die mir bekannt ist, war auf Xapur noch vorhanden und konnte von mir genutzt werden. Die Insel ist ideal für meine Zwecke, denn steile Klippen bilden ihre Küste, so glatt und empor ragend, dass nicht einmal ein Affe an ihnen herabklettern kann. Und selbst wenn: die Grauen Menschenaffen fürchten das Wasser. Hier setzte ich meine praktischen Arbeiten fort, während ich meine theoretischen in Theben durchführte. Das Resultat sind zwanzig junge Graue Menschenaffen voll Vitalität, und - wie ich glaube - sehr geeignet für die Zirthee!“
Die Goldene ahmte ein menschliches Nicken nach. „Ja, das sind sie! Sie überleben die Parasitierung viele Wochen. Und weil sie dumm sind, wie du sagst, habe ich auch keine moralischen Bedenken. Es ist wie ein wundervoller Traum! Das einzige Problem entsteht beim Festsaugen, weil der Hals nicht sehr deutlich ausgebildet ist. Das Zirthee brauchte einige Versuche um das Rückenmark zu durchtrennen und die Halsschlagadern zu finden. Aber letztendlich ist es gelungen.“ Sie blickte – liebevoll, wie es Reja schien – auf das grässliche Ding, das am Rücken des Grauen Menschenaffen hing.
Reja beäugte es nun näher. Es pulste, zog sich in regelmäßigen Abständen zusammen, um sich dann wieder zu entspannen. Dicke, mit dem Blut des Affen gefüllte, reich verzweigte Adern liefen auf seiner Oberfläche von der Anheftungsstelle weg, eine pergamentartige Haut bildete einen flüssigkeitsgefüllten Sack. Darin schwamm etwas, das bei genauer Betrachtung – wenngleich sie es nur wie durch Milchglas erkennen konnte - an ein Baby gemahnte und doch fremdartig wirkte. Es schimmerte golden, die kurzen Arme und Beine ruderten hilflos in der durchsichtigen Flüssigkeit. Gelegentlich kam eine Hand der Oberfläche so nahe, dass man die beiden Daumen erkennen konnte. Näherte sich das Gesichtchen, konnte man die großen, bunt irisierenden Augen gut sehen.
„Erlebt nun, was noch nie ein fremdartiges Wesen zu Gesicht bekommen hat!“ U‘Rieften winkte zwei ihrer Kinder, die erwartungsvoll an der Wand standen und vor den anderen durch einen silbernen Umhang ausgezeichnet waren. „Den Prozess der Geburt! Dies ist euer Anrecht, denn ihr habt ihn erst ermöglicht!“
Jetzt traten die Götterdiener heran, der eine hob das Zirthee etwas an, der andere fuhr mit einer sehr kleinen, aber scharfen Klinge von der Anheftungsstelle des sackförmigen Gebildes immer entlang der Mittellinie, einer Art Sollbruchstelle, an der sich keine Adern befanden. Flüssigkeit quoll nach beiden Seiten aus der Wunde und benetzte die Hände des Dieners, der das Zirthee hob und das Fell des großen Affen. Die Kreatur im Inneren begann sich immer hektischer zu bewegen, bekam mit, dass etwas Ungewöhnliches vonstatten ging. Als der Spalt weit genug war, legte der Alien das kleine Messer beiseite und hob das junge Wesen heraus. Deutlich war zu erkennen, dass es über zwei Stellen in seinem Rücken noch über lange, schnurartige Gebilde mit dem Adergeflecht des Geburtssacks verbunden war, die sich nun aber von selbst einschnürten und schließlich abtrennten.
„Es ist vollbracht!“, sprach die Goldene und, wohl weil man dies ihrer fremdartigen Stimme nicht entnehmen konnte, ergänzte sie: „Meine Freude ist groß!“
„Was passiert nun?“, wollte Zeus wissen.
„Das Baby kommt in einen eigenen Raum, wo es rund um die Uhr betreut werden wird und mit püriertem Menschenfleisch gefüttert, später auch mit diesem grauen Menschenaffen, der ohnehin sterben wird.“
Das hatte Zeus nicht gemeint, was mit dem Alienbaby geschah, war ihm völlig egal. „Ich nehme an, dass unser Handel gilt!“
„Ja, bestätigte sie, „er ist gültig. Die restlichen neunzehn modifizierten Menschen werden eine neue Generation Geschlechtswesen ernähren. Dafür erhältst du alle Enigmadaten der bewohnbaren Planeten, auch jener zwei, auf denen vielleicht noch überlebende Kolonien unseres Volkes existieren. In den Zeiten der Trauer und Resignation haben wir den Kontakt nicht mehr aufrecht erhalten.“
„Ich werde den Transport der Affen von der Insel Xapur hierher bald veranlassen. Mein Sohn Alkaios wird mit dabei helfen, er ist für diese Aufgabe physisch sehr geeignet, kein anderer ist an Körperkraft einem Grauen Menschenaffen ebenbürtig.“ Er wandte sich nun erklärend an Reja, ein fanatischer Glanz spiegelte sich in seinen Augen: „Und damit beginnt eine einzigartige Symbiose zwischen zwei Völkern! Wir Menschen können die neuen Planeten in wenigen Wochen erreichen, zwei werden wahrscheinlich genügen! Wir bilden vorerst kleine Kolonien, in denen auch modifizierte Menschen herangezüchtet werden. Wenn dann nach ein bis zwei Jahrzehnten die Goldenen mit ihren technisch weniger hoch entwickelten Schiffen eintreffen, sind die Grauen Menschenaffen alt genug, um für die Parasitierung geeignet zu sein! Sie müssen auf den neuen Welten sowohl die Geschlechtswesen als auch die geschlechtslosen Kasten ernähren, weil es dort keine Heiler gibt. Ein Bestand von einigen Hundert Individuen ist für eine kleine Kolonie erforderlich, später müssen es viel mehr sein. Alkaios und ich werden die Zucht auf allen Planeten überwachen. Die Menschen vermehren sich viel rascher und werden sich über die Planeten ausbreiten, aber den Goldenen genug Raum für eine große Zahl von Kolonien überlassen. Dies keineswegs uneigennützig, weshalb die Goldenen auch nicht fürchten müssen von uns betrogen zu werden! Wie schon in der Vergangenheit werden die langlebigen Goldenen Schiffe aussenden, die zwar langsam sind, aber adressunabhängig, um noch unentdeckte, für die Besiedlung geeignete Planten aufzufinden. Diese stehen dann wieder für einen neuen Zyklus zur Verfügung. So werden neue Reiche geschaffen, Imperien, Föderationen, die viel Mächtiger sind als die Magellansche!“
Macht! Es ging um Macht, nicht um die Menschheit und deren Ausbreitung. Das war Reja klar, denn in dieser Hinsicht war sie dem göttlichen Zeus sehr ähnlich. „Und meine Rolle bei deinem Spiel?“
„Bleib an meiner Seite! Kein Gott soll mein Werk teilen, auch Hera nicht! Sie sollen weiter vor sich hindämmern, in Dekadenz verharren, weiter verblöden. Werde meine Partnerin in diesem … nein, das ist kein Spiel, das ist mehr, viel mehr! Es ist ein Neubeginn!“ Und indem er sich U’Rieftens Anwesenheit gewahr wurde, ergänzte er: „Für die Goldenen und für uns!“
Reja liebte Macht und sie erfreute sich an Rache. Eines ihrer Bedürfnisse würde dieser Handel befriedigen, wenngleich nicht vollkommen, da sie stets von Zeus Wohlwollen abhängig blieb, eine Tatsache, die ihr nicht gefiel. Trotzdem lächelte sie, denn Zeus Vorschlag barg eine Option, konnte ein Sprungbrett sein. Sie ergriff kurz seine Hand.
„Kehren wir zurück!“, meinte U‘Rieften und ließ dem Mann in der prunkvollen, schwarzgoldenen, leichten Rüstung und seiner düster gekleideten Begleiterin den Vortritt. In dem großen, matt rotleuchtenden Raum änderte sich das, denn Zeus und Reja hatten in dem Gewirr der Gänge die Orientierung verloren. Sie folgten der Goldenen und waren bald beim Lift angekommen, der sie wieder nach oben transportierte, um, kaum dass sie in dem lichten Raum angekommen waren, durch dessen großes Fenster man ihren Gleiter sehen konnte, nach unten zu entschwinden. Sie kehrten an den Tisch zurück, wo in einer Karaffe eine gelbliche Flüssigkeit schimmerte. Neue Gläser mit verspieltem Ritzmuster standen daneben, solche, die auch in den Palästen des Olymp Verwendung fanden. U’Rieften schenkte ein.
„Lasst uns auf den Erfolg trinken, ein menschlicher Brauch, soweit ich weiß!“
Reja nahm schnell als Erste ein Glas, um die Wahl zu haben, denn nach ihrer Einschätzung der Situation würden kaum alle drei Gläser ein vergiftetes Getränk enthalten, auch wenn sie aus der gleichen Karaffe gefüllt worden waren. Sie selbst kannte einige Rezepte durchsichtiger Flüssigkeiten, die man mit einem Pinsel in ein Glas streichen konnte und die absolut tödlich waren, schnell wirkende und langsam, grausam mordende. Giftmord war allerdings nie ihre Spezialität gewesen. Hier war sie nur vorsichtig, denn sie rechnete nicht wirklich mit Gefahr.
Sie prosteten sich zu und tranken, Reja wieder etwas nach den anderen. Währenddessen öffnete sich am entfernten Raumende die Tür zum Fahrstuhl, ein Mann in Begleitung eines Jungen, der wegen der für ihn wohl einschüchternden und fremdartigen Situation große Augen machte, trat ein. Der Ältere war wohl ein Wächter oder Bote, routiniert sank er vor U’Rieften auf die Knie und senkte den Blick. Mit einer kurzen Verzögerung folgte der schwarz gekleidete Jüngling seinem Beispiel, nicht ohne sich zuvor umzusehen, den Raum zu erfassen, das wabernde Regenbogenlicht, die beiden Menschen, insbesondere den Mann und seine Narbe und kurz sogar die Göttin. Dann erschrak er vor seinem Mut und blickte zu Boden.
Als sich U’Rieften ihm genähert hatte, erklärte sie ihm: „Heiler, ich, U’Rieften, habe dich hierher bringen lassen, weil du meinem Freund helfen sollst!“
Daraufhin wandte er sich ihr zu und sprach ohne aufzublicken: „Göttin der Anmut und des Friedens, ich sehne mich stets danach, den Göttern zu dienen. Verfügt über mich, wie es Euch beliebt.“
U’Rieften blickte nun zu Zeus, der sich daraufhin etwas irritiert näherte. „Mein ehrenwerter Begleiter“, verkündete die Goldene, „trägt eine Narbe an seiner Hand, ein Andenken an einen heroischen Kampf. Die sollst du jetzt entfernen. Bist du dazu in der Lage?“
Reja hatte die Szene bislang kaum beachtet und begriff erst jetzt, dass dieser hagere Jüngling eine jener Personen sein musste, die die Lebenskraft ihrer Opfer übertragen konnten und brachte von nun an etwas mehr Interesse auf. Offenbar hatte der Heiler bestätigt, dass er den Auftrag der Goldenen, die er für eine Göttin hielt, erfüllen konnte, denn die Goldene machte eine kleine Geste – ein Winken, mehr nicht – und daraufhin öffnete sich eine zweite Tür. Zwei von U’Rieftens geschlechtslosen, madenbleichen Kindern traten hervor; sie hielten einen jungen Mann an den Oberarmen. Er wehrte sich aber nicht und sank inbrünstig in die Knie als sie bei ihr angekommen waren und er losgelassen worden war. Der Heiler betrachtete ihn mit Expertenblick. „Herrin“, meinte er daraufhin, „ich werde mein Bestes geben, um eine vollständige Heilung zu erreichen!“ Daraufhin ergriff er die versehrte Hand des Zeus wie auch die makellose des knieenden jungen Mannes und dann – mit nur geringer Verzögerung - geschah etwas Eigenartiges: die Narbe auf der Hand des Herrschers der Welt verblasste zusehends, während sie plötzlich auf der des anderen erschien. Als sein Werk vollendet war, ließ der junge Heiler beide Hände los. Zeus und Reja bewunderten seine unversehrte Rechte; wo die Narbe gewesen war, befand sich nun frische, rosig gefärbte Haut. Erstaunt und erfreut wandte er sich U’Rieften zu.
„Ich danke dir für diesen kleinen Dienst. Sei dir meiner Zuneigung und Hilfe sicher. Ihr seid die Goldenen Menschen des Ersten Zeitalters! Wer außer euch könnte diese Rolle verkörpern? Ihr seid für unsere Zukunft fast ebenso wichtig, wie wir für die eure. Nun denn – es ist Zeit für mich, zum Olymp zurückzukehren. Gehab dich wohl!“
U’Rieften verbeugte sich tief vor ihm und sprach dann noch ein wenig mit dem Heiler. Währenddessen kehrten sie zum Tisch zurück und tranken ihre Gläser leer.
„Zum Olymp?“ fragte Reja.
„Mit dir? Wohl kaum! Das würden die anderen Olympier mir nicht verzeihen! Vor allem Aphrodite und Hera nicht. Aber so wenig, wie es diese etwas angeht, dass ich jetzt und hier mit dir zusammen bin, muss die Goldene wissen, wo ich als nächstes hin will. Man könnte auf die Idee kommen sie zu fragen. Götter sind ja sooo neugierig! Insbesondere Hera! Ihre Eifersucht ist pathologisch!“ Er schüttelte bekümmert den Kopf.
Gemeinsam verließen sie das Gebäude und gingen zum Sonnenwagen. Das Unwetter hatte sich verzogen, die Luft war klar und frisch, die Sonne war wieder zu sehen und stand als blutroter Ball nahe dem Horizont. Die scharfen Zacken des Kraterrandes waren dadurch besonders gut zu erkennen. Zeus ging an den Rand der Plattform und blickte von dem gewaltigen Gebäude hinab auf die Stadt, auf der der lange Schatten der Pyramide wie ein mächtiger Zeiger ruhte. Unten wimmelten ameisengleich winzige Menschlein in den engen Straßen; die einsame, dunkle Gestalt, die gerade von der Pyramide durch den Park weglief mochte der Heiler sein; warum er es wohl so eilig hatte? Nun, das kümmerte einen Gott wohl kaum und göttergleich fühlte er sich hier – als könne er tatsächlich mit einer Geste ein mächtiges Unwetter mit Blitz und Donner und Regenmassen hervorrufen, die alle niedrigen Kreaturen in den Zentralen See spülten.
Die Machtphantasie ging vorbei; zögerlich und fast widerwillig wandte er sich wieder der Realität zu. Er drehte sich um; als schwarze Silhouette stand der Gleiter vor dem Sonnenball, ein beeindruckender, bizarrer Schatten. Daneben Reja als Schattenriss mit Konturen, die sein Blut in Wallung bringen konnten, schlank und biegsam, mit gerundeten Formen ohne Kanten. Die langen Haare bewegten sich im Wind, als hätten sie ein Eigenleben. War sie Medusa, mit den Schlangenhaaren, deren Anblick jeden Sterblichen zu Stein erstarren ließ? Fast erschien es ihm so, denn sie war kaum weniger tödlich und viel aktiver, suchte nach ihren Opfern. Sie blickte ihm entgegen und ihm wurde klar, dass auch er vorsichtig sein mußte. Merkwürdig, dass sie ihn so anzog, wo er doch meist sehr jung aussehende, mädchenhafte Frauen, die den Eindruck von Wehrlosigkeit hinterließen, bevorzugte. Wehrlos erschien Reja bestimmt nicht. Er ging auf sie zu, hin zur Rampe des Sonnenwagens.
Sie nahm seine Hand. „Das war eine beeindruckende, kleine Demonstration. Warum hast du dir die Narbe nicht schon längst entfernen lassen? Das ist doch sicherlich auch im Olymp möglich!“
Er nickte. „Aber sie ging durch die Hand. Und es ist eine Sache, sich operieren zu lassen, vielleicht die ganze Hand gegen die eines meiner Klone auszutauschen und eine ganz andere, die Narbe praktisch weggezaubert zu bekommen! Das bionische Feld! Wirklich merkwürdig, dass Gaias Urbewohner den Goldenen helfen. Und doch passt es. Es gibt Anzeichen, dass sie recht freundlich zu anderen Kulturen waren. Bevor unsere Vorfahren sie fast vernichtet hatten. Aber nach dieser Erfahrung sollte man annehmen, dass sie ihre Einstellung uns gegenüber geändert hätten und nun uns eliminieren wollen. Die Moiren haben so etwas angedeutet.“
„Wer?“
„Egal! Vielleicht sehen sie den Zusammenhang zwischen den Goldenen und uns nicht. Laß uns an Bord gehen, es wird Zeit, dass ich dich zurückbringe und anschließend Poseidons Feier besuche. Selbst Götter haben gewisse Pflichten! Und nichts kann ich in dieser Phase meines Planes weniger brauchen als diplomatische Verstimmungen! Endlich kommen die Dinge ins Rollen. Wie lange musste ich darauf warten!“
Sie gingen die Rampe hinauf, die Tür schloss sich automatisch hinter ihnen. Das Cockpit war einigermaßen geräumig und, abgesehen vom sanitären Bereich und einem weiteren für Notversorgungen, gab es nur noch einen Schlafraum. Die helle Pilotenkabine hatte vier Sitze; Reja und Zeus ließen sich auf den beiden zentralen nieder. Die Monitore füllten sich mit Bildern, die größten zeigten die Außenwelt, auf kleineren wurden alle möglichen Grafiken sichtbar, die Reja nicht interpretieren konnte; sie ließ im Gegensatz zu Zeus üblicherweise den Avatar agieren, allerdings mit einer Ausnahme: die Verteidigungskonsole bediente sie selbst. Hier kannte sie sich aus. Als Kopilotin hatte sie zwar eigene Armaturen, aber gegenwärtig nichts, auf das sie hätte schießen können. Gleich beim Start von Askhaurans Hauptstadt hatte sie sich das Angriffspotential des Sonnenwagens angesehen und war enttäuscht worden: leichte Plasmaimpulskanonen und Hochintensitätslaser, deren Zerstörungspotential sogar noch niedriger war. Ihre Beschwerde darüber hatte Zeus mit einem Achselzucken abgetan. Mit Angriffen sei nicht zu rechnen und sollte sie vorhaben, die Festung eines aufsässigen Adeligen zu erobern, müsse sie eben auf klassische Weise vorgehen. Im Übrigen reiche dafür auch die Bewaffnung dieses Gleiters.
„Die Grenzfestungen zu den Nachbarländern sind aber ein anderes Kaliber!“, hatte sie gemeint.
„Das ist nicht mein Problem!“, hatte Zeus festgestellt. Die Götter mischten sich nicht in politische Belange des Hyborischen Kontinents oder irgendeines anderen, das war seit Jahrtausenden so und eigentlich schon von Anfang an. Ihr Reich war der Achaische Kontinent, den sie selten verließen. Zeus Kronion war da immer schon die Ausnahme gewesen.
Der Herrscher über die Welt startete und der Gleiter hielt auf die Sonne zu; der größte Monitor zeigte, wie sie sich scheinbar wieder über den Zackenrand des Kraters erhob als das Flugschiff empor stieg. Zeus stellte auf virtuellen Externmodus und die Wände des Cockpits verschwanden; sie schwebten scheinbar über der kargen Landschaft, Steppen mit wenigen aderförmigen Flüssen, deren Verlauf sie in Richtung der Berge folgten. Sie stiegen noch ein wenig höher, um nicht an den Zähnen des Kraterrandes zu zerschellen, ließen sie hinter sich und trieben nun über kleinere Berge und Hügel, die wie zerbrochen aussahen; mit oft scharfkantigen, zackigen Gebilden, in die zahllose Bäche tiefe Gräben schnitten. Geologisch gesehen war diese Gegend offenbar noch jung. Langsam wurden die Konturen runder, die Hügel sanfter. Das Meer war nicht mehr weit. Weil der Planet sich schneller drehte als sie flogen, ging die Sonne wieder unter. Zeus wollte gerade die Geschwindigkeit des Gleiters erhöhen, als sich der Avatar meldete, ohne sichtbar zu werden.
„Edler Zeus, wir werden verfolgt!“
Zeus und Reja blickten sich um. Hinter ihnen wurde der Sonnenschein reflektiert und machte so einen winzigen Punkt auffällig, der ihnen in konstantem Abstand zu folgen schien.
„Hol das Bild näher heran!“
Die Pilotenkabine wurde wieder sichtbar; der Hauptbildschirm zeigte nun ein eher kleines Flugschiff mit drei Antriebsdüsen. Es sah nicht gerade gefährlich aus.
„Ein IG7! Bewaffnung?“
„Zwei Hochintensitätslaser, die den unseren entsprechen“, vermeldete der namenlose Avatar.
Damit war das kleine Flugschiff durchaus als Bedrohung ernst zu nehmen. Zudem blieb es zwar auf Distanz, doch innerhalb eines Bereichs, in dem es für sie gefährlich werden konnte. Aber folgte es ihnen wirklich?
„Ändere den Kurs ein wenig! Wir wollen sehen, wie der Gleiter reagiert!“
Der Avatar gehorchte den unpräzisen Anweisungen und Zeus und Reja beobachteten. Sobald sie den Kurs änderten, passte sich auch die Flugbahn des kleinen Sonnenwagens dem ihren an. Sie wurden tatsächlich verfolgt! Reja konstatierte dies und klappte bedächtig den Deckel, der einen roten Knopf bedeckt hatte, auf.
„Noch nicht, meine ungeduldige Begleiterin, noch nicht!“
„Aber wenn es dazu kommt, dann überlässt du doch mir die Aktivierung der Plasmakanone, nicht wahr?“, schnurrte Reja.
Zeus zuckte mit den Achseln. „Wie du willst!“ Vorfreude ließ ihr Antlitz leuchten. „Doch zunächst schicken wir ihnen eine Botschaft!“
„Bereit!“, erklärte der Avatar.
„Pilot des IG7-Typ Sonnenwagens! Identifizieren Sie sich und nehmen Sie Sichtkontakt auf! Sie folgen uns seit geraumer Zeit! Erklären Sie ihre Absichten! Falls nicht, gehen wir davon aus, dass diese feindlicher Art sind und die Gefahr eines Angriffs besteht. Wir schießen daher in Kürze zurück!“ Zeus wartete. Es geschah nichts. An den Avatar gewandt befahl er schließlich: „Aktiviere die Abwehr!“ Die Zielpeilung schaltete sich ein, das vergrößerte Bild des fremden Gleiters wurde von einem Kreis mit Fadenkreuz umrahmt.
„Fein!“, stellte Reja fest. Die ehemalige Piratin fühlte sich in ihrem Element. „Das ist mir abgegangen! Jahrelang! Du hast keine Ahnung, wie sehr! Darf ich?“
Zeus schüttelte langsam und ein wenig unsicher den Kopf. Da erschallte die emotionsfreie Stimme des Avatars: „Ich stelle einen sehr unprofessionellen Versuch der Kontaktaufnahme fest! Jemand scheint dort hektisch auf alle möglichen Tasten zu drücken, statt dem Schiffsavatar klare Anweisungen zu geben … Jetzt ist ein konstantes Signal da.“
„Stell es durch!“, befahl Zeus.
Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht eines jungen Mädchens, das einen verwirrten Eindruck machte. Sie blickte hinunter, also wahrscheinlich auf ihre Finger. Jetzt hob sie den Kopf ein wenig. Ihre Gesichtszüge waren fein, große, dunkle Augen sahen sie nun endlich an. Als Folge der Kopfbewegung glitten ihre vollen, schwarzen Haare vor ihr Gesicht und plötzlich umgab sie ein regenbogenbunter Schimmer, ein wahrlich prächtiger Anblick, der Reja immer noch in ihre Albträume begleitete. Sie schrie auf und drückte wutentbrannt auf den roten Knopf. Ein Plasmastrahl löste sich und traf den kleinen Gleiter seitlich, wie man auf einem der Nebenmonitore sehen konnte. Im gleichen Augenblick brach der Kontakt und der Hauptmonitor wurde kurz schwarz; danach zeigte er, wie der getroffene Gleiter eine Rauchspur hinterlassend hinab in die Dunkelheit fiel.
Zeus fluchte lästerlich. „Weshalb hast du das getan?“
„Das war sie! Das war die Wäganerin! Die ihr hier als Tochter der Eos kanntet und die damals bei der Zerstörung der Festung der Sandarken mitgeholfen hat!“
„Ich erinnere mich. Auch daran, dass das nur durch dein Versagen möglich war.“ Reja wollte ihm eine wütende Entgegnung zukommen lassen, seinen eigenen Beitrag zu den damaligen Ereignissen betreffend, aber Zeus wandte sich an den Avatar.
„Zeig mir die Aufzeichnung ihres Gesichts!“ Am Bildschirm wurde ein Standbild der jungen, dunkelhaarigen Frau sichtbar.
„Sieh sie dir genau an! Ist sie das?“
Reja starrte auf den Monitor, nun innerlich weniger aufgewühlt. Nach einer Weile schüttelte sie langsam den Kopf. „Nein, aber sie sieht ihr ähnlich! Der Regenbogenschimmer ihrer Haare hat mich wohl getäuscht. Ich wußte nicht, dass es außer ihr noch andere Menschen mit diesem Merkmal gibt.“
„Hm. Ich auch nicht. Aber selbst ich kenne nicht alle Götter. Vor allem, wenn sie wirklich jung ist und nicht nur so aussieht. Wenn sie aus Poseidons Stadt kommt oder aus Hades' düsterem Reich, ist das möglich. Und eine Mutation kann natürlich immer wieder auftreten. Jammerschade! Sie war ein hübsches Ding. Wie auch immer, ich muss kontrollieren, ob es Aufzeichnungen von diesem Ereignis gibt.“
„Du meinst Satellitenaufnahmen?“
„Wir haben inzwischen wesentlich weniger von diesen Dingern am Himmel als klug ist. Aber diesmal ist das von Vorteil!“ Er überprüfte eine Datenkolonne auf einem der kleineren Bildschirme. „Offenbar war kein Satellit über uns. Das ist Glück, denn vom Gleiter aus kann ich die Daten nicht verschwinden lassen, da müsste ich zum Olymp zurück und dafür ist jetzt keine Zeit.“
„Sollten wir uns nicht versichern, dass das Mädchen beim Absturz gestorben ist? Sie muss uns gesehen haben!“
Einer der Monitore zeigte noch die Rauchsäule über der Absturzstelle, die freilich erst in einer Höhe sichtbar wurde, in der sie noch von der Sonne beleuchtet wurde. Zeus zögerte kurz, dann entschied er sich. „Selbst, wenn sie noch lebt – was sehr unwahrscheinlich ist – stünde ihr Wort gegen meines. Diese Sache hat uns schon viel zu lange aufgehalten. Jetzt noch einmal zurückfliegen wäre Unsinn!“
„Diese kleine, erfrischende Episode hat mich an ein anderes Mädchen erinnert, das sich mir widersetzt hat und das daher meine Gastfreundschaft genießen sollte; einen kostenlosen Aufenthalt in meinem Verließ! Dort darf sie sich meiner speziellen Fürsorge erfreuen. Könnten wir einen Zwischenstopp einlegen?“
Zeus wirkte genervt, zuckte aber schließlich mit den Schultern. „Wenn es nicht zu lange dauert!“
Der Sonnenwagen beschleunigte und die Insassen wurden gegen die Rückenlehnen ihrer Sitze gepresst. Bald würden sie den Ozean erreichen und danach das ‚Hyborische Zeitalter‘.
***
Als Athaly wieder zur Besinnung kam, war sie keinen Augenblick verwirrt; sie wusste sofort, was ihr widerfahren und ahnte in welchen Albtraum sie erwacht war. Als erste Reaktion weigerte sie sich, die Lider zu öffnen. Dass das ein kindisches Verhalten darstellte, war ihr egal. Ihre Phantasie spielte ihr als Aufenthaltsort ein düsteres, kaltes und feuchtes Verlies vor, sie selbst mit rostigen, aber sehr stabilen Ketten an Händen und Füßen an eine raue, triefende Mauer gekettet, an der alles mögliche Krabbelgetier herum lief, das aus Ritzen und Spalten hervorgekrochen kam.
Nur war es nicht feucht; sie hörte auch kein monotones Tropfen sondern ein eigenartiges Klappern. Kalt war es auch nicht. Im Gegenteil, die Temperatur war angenehm – wenn sie ein bisschen fröstelte, dann nur wegen ihrer wenig rosigen Zukunftsaussichten. Auch wurden weder Arm- noch Fußgelenke aufgescheuert. Sie versuchte ganz vorsichtig, Arme und Beine zu bewegen. Nichts behinderte sie oder jedenfalls tat es das nur ganz sanft, als läge eine Decke auf ihr. Sie stellte fest, dass sie zwar lag, aber nicht eben; ihr Oberkörper war erhöht. Sie war schmerzfrei; nicht einmal Kopfweh plagte sie. Mit ihren Händen konnte sie die Haut an ihrer Taille bzw. am Becken spüren – wenigstens hatte sie sie noch, was wirklich beruhigend war, wenn sie an das Schicksal des Gehäuteten dachte. Allerdings war sie offenbar nackt.
Schließlich ermahnte sie sich selbst; sie konnte das Grauen nicht aufhalten, indem sie sich weigerte, die Augen zu öffnen. Was ihr widerfahren würde, konnte sie wahrscheinlich nicht ändern. Aber wenn, dann nur, indem sie so viele Informationen sammelte wie möglich! Ihre Lider gehorchten ihrem Verstand aber nicht gleich. Sie musste sie geradezu zwingen, indem sie die Augen aufriss.
Sie sah ein dunkelhaariges Mädchen mit großen Augen, das sie mit panischem Blick anstarrte. Es lag in einem nicht übermäßig breiten Bett, eingehüllt in eine weiße, ungemusterte Decke. Athaly benötigte einen kurzen Augenblick, um zu erkennen, dass sie ihr Spiegelbild betrachtete, denn bei den Shwakara waren Spiegel eine Seltenheit. Sie hatte jedenfalls keinen besessen, wohl aber Gjefren. Einen viel kleineren allerdings. Bevor sie dazu kam, den restlichen Raum zu betrachten, wurde ihre Aufmerksamkeit von der schlanken, außergewöhnlich hübschen, jungen Frau gefesselt, die, wie der Spiegel ihr zeigte, auf einem Sessel neben ihr saß. Sie trug ein hellgrünes, fast durchsichtiges Kleid aus einem dünnen Stoff, den Athaly noch nie gesehen hatte. Vielleicht war es eine sehr feine Seide. Eine breite Schärpe aus der gleichen Substanz schnürte sie im Taillenbereich, was ihre Schlankheit betonte. Sie hatte überhaupt eine ätherische Ausstrahlung als wäre sie nicht von dieser Welt, hatte langes, blondes Haar und bogenförmig geschwungene, schmale Brauen über großen, grünen Augen, die sie mit seltsamem Blick fixierten. „Katzenaugen!“, dachte Athaly als sie mit einem Schaudern erkannte, dass die Pupillen senkrecht geschlitzt waren. Für einen kurzen Moment zogen sich die Nickhäute vom inneren Augenwinkel vor wie Schleier; dann war der Blick der Fremden wieder klar. Ihre vollen Lippen waren von einem sehr dunklen Rot. Sie lächelte mit leicht ironischem Ausdruck. Jetzt entblößte sie dabei ihre Zähne, was sie – so fand Athaly – besser hätte bleiben lassen. Zwar war das, was man von ihrem Gebiss sah, äußerst ebenmäßig. Aber die langen, schmalen, spitz zulaufenden Eckzähne irritierten doch ziemlich. Jetzt lief sogar ein Blutstropfen ihren Mundwinkel hinab! Athaly zwinkerte. Als sie wieder hinsah, war der Tropfen verschwunden. Vielleicht hatte die Frau ihn mit einer langen Zunge aufgeschleckt, einer nichtmenschlichen, möglicherweise einer gespaltenen, wie bei einer Schlange...
Athaly verwies ihre Phantasie in die Schranken. Was sie sah, war ohnehin schon bizarr und erschreckend genug. Als merkwürdigen Kontrast zu ihrem Aussehen war die Fremde mit einer alltäglichen Tätigkeit beschäftigt, als wäre sie eine Shwakara-Frau: sie strickte. Daher also das klappernde Geräusch, das Athaly gehört hatte. Sie schien sehr geschickt und versiert zu sein. Der gelbe Schal oder was immer das war, hatte schon eine ansehnliche Länge.
Jetzt drehte die Frau im Spiegel ihren Kopf und blickte Athalys Spiegelbild an. All ihren Mut zusammen nehmend schaute Athaly zur Seite. Dort, direkt bei ihrem Kopf stand an der Wand der weiße, bequem wirkende Sessel. Nur war er leer! Dort war keine Frau, die sie ironisch anlächelte. Schnell sah Athaly wieder in Richtung Spiegel, der ihr zeigte, dass die Frau immer noch da war und ihr Spiegelbild unverwandt anblickte. Athalys Kehle entrang sich ein leises Stöhnen. Sie vergewisserte sich abermals, dass niemand neben ihr saß. Die Frau musste unsichtbar sein! Athaly bewegte ihren rechten Arm unter der Decke vor auf den Stuhl zu und erwartete einen Widerstand zu fühlen. Sie berührte die Lehne und auch die Sitzfläche. Da war überhaupt nichts! Sie zog die Hand zurück und blickte wieder in den Spiegel. Die Frau mit den langen, blonden Haaren saß immer noch da, sah aber jetzt in ihre Augen und nicht mehr in die ihres Spiegelbildes. Langsam stand sie auf, drehte sich ein wenig und legte das Strickzeug auf den Sessel. Dann ging sie auf Athaly zu, die sich daraufhin die schützende Decke bis zu den Augen nach oben zog und mit einer morbiden Faszination aus der vermeintlichen Sicherheit nach draußen starrte, in die verrückt gewordene Welt.
Und es kam noch schlimmer. Die wunderschöne, grazile Fremde ging einfach durch den Wandspiegel hindurch! Wo sie die Spiegelwelt verließ und die Trennfläche berührte, leuchteten ihre Glieder kurz in hellem Weiß. Dann war sie gänzlich in dieser Welt, machte die zwei Schritte auf den hinteren Bettrand zu und ging – sie nie aus den Augen lassend – entlang der Bettkante zum Sessel, um sich dort schließlich niederzusetzen.
Athaly nahm unwillkürlich das Spiel mit dem Hin- und Herblicken wieder auf. Der Spiegelsessel war jetzt – abgesehen von den Stricksachen – leer. Im Stuhl neben ihr saß die Frau mit den Katzenaugen und blickte auf sie herab. Ihre Lippen teilten sich und offenbarten ein strahlendes, wenn auch wegen der katzenhaften Eckzähne wenig beruhigend wirkendes Lächeln.
„Kannst du die Augen groß aufreißen!“ Sie betonte das „Du“. Das klang anerkennend und wurde mit einer melodischen, immerhin ganz menschlichen Stimme vorgetragen.
Unwillkürlich schauderte Athaly. „Wer bist du? Was bist du?“, brachte sie krächzend hervor.
„Mein Name ist Talira! Talira die Zweite, um genau zu sein. Ich bin der Avatar der Feste Mesawa und heiße dich hier gewissermaßen willkommen. Stellvertretend für den Herren der Festung!“ Talira blickte sie erwartungsvoll an. Dann, nach einer Weile, sagte sie: „Er harret deiner!“
Athaly setzte sich auf, oder vielmehr rutschte sie mit dem Rücken die Wand entlang, um den Abstand zu der beängstigenden Frau so groß wie möglich zu halten. Die weiche Decke hielt sie dabei krampfhaft vor den Körper als könne sie sie vor dem magischen Wesen beschützen. „Ich …“, meinte sie, „Ich habe es hingegen gar nicht so eilig ihn zu sehen!“ Sie dachte an die schwarzen, metallenen Riesen mit den rotglühenden Augen. Grauen erfüllte sie. „Und wenn es schon sein muss, wäre ich dabei gerne bekleidet.“
Talira hob die Brauen. „Wie du willst, Athaly!“, meinte sie. Dann zeigte sie auf einen weiter hinten stehenden Stuhl, vor dem ihre ledernen Schnürsandalen lagen und auf dessen Lehne ihr linnernes Kleid mit den drei Knöpfen hing, sauberer als sie es in Erinnerung hatte und der Schlitz an der Seite, den sie selbst verursacht hatte, um die Felswand empor klettern zu können, sorgfältig genäht. Wer machte sich die Mühe, aus einem Kleid den Wüstenstaub auszuwaschen und es für jemanden zu nähen, der qualvoll umgebracht werden sollte? Sie schüttelte den Kopf. Nichts hier machte Sinn.
„Du kennst meinen Namen?“
„Der Herr der Festung hat ihn mir verraten, ja. Wenn du willst, kannst du auch noch duschen.“
„Duschen?“
„Ja.“
„Was heißt das?“
„Sich mit warmem Wasser, das von oben herunterkommt, säubern.“
„Ihr habt hier einen Wasserfall?“
„Äh – am besten, du siehst es dir selber an. Da, hinter der Tür!“ Sie zeigte auf die gegenüberliegende Wand.
Athaly blickte dorthin. Wollte sie besonders sauber sein, wenn sie langsam zu Tode gefoltert wurde? Normalerweise war es ihr lieb, wenn ihr Körper rein war, aber unter diesen Umständen war es ihr eigentlich egal. Aber man konnte damit Zeit schinden.
„Ja, gut! Ich will duschen!“
Sie rutschte hinunter, zum Fußende des Bettes und hüllte sich so gut wie möglich in die Decke. Sie blickte in den Spiegel, um sicherzugehen, dass man auch von ihrem Rücken nichts sah, dann stand sie langsam auf und drehte dabei ihre einzige Bekleidung so, dass sie sie vorne zusammenhalten konnte. Sie machte ein paar Schritte auf ihr Kleid zu, als sie zum ersten Mal aus dem Fenster sah. Die Zelte der Shwakara hatten natürlich keine Fenster, aber sie hatte mit Tethathon genug Städte besucht, um sich sicher zu sein: dies war ein Fenster. Man konnte hinausblicken auf eine Landschaft, die so verrückt war wie alles andere hier. Als hätte ein irrer Künstler versucht einen Wald zu schaffen aus Bäumen, die aus Metall und Kristallen bestanden, oft leuchtend, aber gerade die ungewöhnlich geformten Blätter waren düster, schwarz. Irgendwem hatte das nicht gefallen. Als hätte ein Riese die meisten der gigantischen Bäume gefällt, lagen überall Äste und Stämme. Manche schienen regelrecht geschmolzen als hätte hier eine Feuersbrunst gewütet. Über dem bizarren Wald thronte eine mächtige Kuppel, die zerbrochen war. Teile davon waren hinab gefallen und als glitzernde Kristalle auf den Baumleichen liegen geblieben.
Athaly schüttelte den Kopf.
„Das war der Wald des ehemaligen Herren der Festung“, erklärte Talira zwei. „Hier fand ein Kampf statt, den Kostral verlor.“ Sie lächelte, diesmal schon eher boshaft.
Athaly hatte nichts zu erwidern, sie machte noch einen Schritt auf den Stuhl zu, schnappte sich ihr Kleid und hielt auf die Tür zu, die sich vor ihr ganz plötzlich öffnete. Sie erschrak heftig – ihr Nervenkostüm war nicht gerade im Bestzustand – und hätte beinahe die Decke fallen lassen. Hastig schritt sie durch den Eingang und stellte sich so hinter die Wand, dass sie vom anderen Raum aus nicht gesehen werden konnte. Dann ließ sie die Decke hinab gleiten und kickte sie aus dem Zimmer. Die Tür schob sich wieder zu. Athaly atmete aus und schloss die Augen. Sie war alleine, weg von der merkwürdigen Frau. Endlich!
„Du siehst ein bisschen mager aus.“
Athaly stieß einen spitzen Schrei aus und riss die Augen auf. Sie drehte sich um, in den Raum hinein. Vor ihr stand Talira. Die Frau war kleiner als sie gedacht hatte, nur etwa so groß wie sie selbst. Athaly hielt hastig das Kleid vor ihren Körper, was aber nicht so effizient war wie die Decke, in die man sich wirklich hatte einhüllen können. Sie sah kurz nach hinten, um festzustellen, dass eine der Wände verspiegelt war, so dass Talira ihre Hinterfront immer noch unverhüllt betrachten konnte. Athaly war es nicht gewohnt, nackt vor anderen zu stehen, aber dermaßen aus der Fassung bringen, so ermahnte sie sich, durfte sie das auch nicht. Talira war immerhin so wie sie eine Frau, das empfand sie als nicht ganz so schlimm, als wenn ihr ein fremder Mann in dieser Situation gegenübergestanden hätte. Sie konzentrierte sich jetzt auf Taliras Bemerkung, blickte nochmals auf ihr Spiegelbild, stellte fest, dass sie recht hatte. Und registrierte, dass dort, wo Taliras Widerpart stehen sollte – im Spiegel hinter ihr – niemand stand. Na gut, was hatte sie erwartet?
„Ja“, stellte sie fest, „ja, du hast recht. Ich war lange in Gefangenschaft und habe nur wenig zu essen bekommen. Und besonderen Appetit hatte ich auch keinen, wegen der tollen Zukunftsaussichten.“
„Dann wird das Treffen mit meinem Herren bei einer Mahlzeit stattfinden.“
Eine Henkersmahlzeit also. Athaly verzichtete auf die Bemerkung, dass ihre Perspektiven nicht rosiger geworden waren und sie daher auch jetzt keinen Hunger verspürte. Stattdessen schaute sie sich ein bisschen in dem Raum um.
„Da ist kein Wasserfall!“
„Du musst dich lediglich da in das Eck stellen. Ohne Kleid. Das kannst du hier aufhängen währenddessen.“ Sie deutete auf einen glänzenden Bügel der an der weißen Wand befestigt war. „Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Dusche zu bedienen, aber in deinem Fall ist es am besten, du sagst ihr einfach, was du willst. Zum Beispiel: ‚mehr Wasser‘ oder ‚wärmer‘ oder ‚mit Shampoo‘.“
„Die Dusche versteht mich?“
„Warum wundert dich das? Redest du normalerweise so undeutlich?“
Sie antwortete nicht. Warum hatte sie auch nur gefragt? Selbstverständlich verstanden einen hier die Gegenstände. Wie hatte sie auch nur anderes annehmen können?
„Und der Sitz da“, fuhr Talira fort, „dient zum Verrichten der Notdurft.“ Sie erklärte ihr auch dessen Funktionsweise und die der dazugehörigen Accessoires. Dann bemerkte sie: „Gut, ich lasse dich jetzt alleine, denn Menschen sind bei diesen Tätigkeiten lieber unbeobachtet.“
„Ja, da hast du recht! Das ist sehr einfühlsam von dir.“
„Lass dir aber nicht zu viel Zeit, du wirst erwartet.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um, ging auf den Spiegel zu, durch ihn hindurch. An der gegenüberliegenden Wand entstand eine Tür, die in der Richtigherumwelt nicht vorhanden war. Sie öffnete sich und schloss sich hinter Talira auch wieder automatisch. Kaum war sie weg, konnte Athaly sich endlich entspannen. Sie hängte das Kleid auf und ging unter die Dusche, in das Eck, wo der Boden nicht ganz eben war. Anfangs war es schwer, mit der Dusche zu reden – sie hatte zwar eine angenehme, weibliche Stimme, schien aber nicht besonders verständig – einmal musste Athaly hastig nach hinten hüpfen, um nicht verbrüht zu werden. Außerdem hatte sie keinen Humor, aber wenigstens konnte sie auf Fragen antworten, auf ihre Weise. Als sie sich danach erkundigte, wie sie denn nun trocken werden könne, entfachte das einen regelrechten Sturm, der sie beinahe wegblies. Besonders auf ihre Haare hatte es der warme, starke Wind abgesehen.
Hernach glitt ein Teil der Wand zur Seite und offenbarte eine Menge Utensilien, von denen sie die meisten nicht kannte. Aber eine Bürste war da, mit der sie wenig erfolgreich versuchte ihre dunklen Haare zu zähmen. Ein kleineres, borstiges Ding mochte zum Reinigen der Zähne da sein; sie verwendete es jedenfalls zu diesem Zweck. Gefäße aus merkwürdigem Material waren hier und nach einer Weile entdeckte sie sogar, wie man sie öffnete. Sie wagte aber nicht, sie zu verwenden, nachdem sie eine kleine Menge einer Creme auf einen Finger gegeben und gekostet hatte. Der Geschmack war eklig, trotz des recht angenehmen Geruchs.
Der Notdurftstuhl redete nicht mit ihr und reagierte auch nicht, nicht einmal, wenn sie sehr laut sprach. Vielleicht hatte er schlechte Laune, was bei seiner Funktion ja nicht allzu überraschend gewesen wäre. Also setzte sie sich, ohne auf seine Erlaubnis zu warten. Alles verlief automatisch und ohne jede Aufforderung und zum Schluss waren sie selbst und der Stuhl sauber.
Kaum hatte sie ihr Kleid übergestreift, öffnete sich die Tür und Talira trat ein. Sie war also die ganze Zeit beobachtet worden! Athaly blickte sie empört an und wollte sich beschweren, wurde aber ganz kleinlaut, als sie sich daran erinnerte, was sie nun erwartete. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen.
„Bist du soweit?“, fragte Talira und zeigte ihre Reißzähne.
Erschrocken machte Athaly einen Schritt zurück. „Nicht wirklich!“ Sie schaute in die Katzenaugen ihres Gegenübers, vielleicht auf der Suche nach etwas Mitleid, aber da war nicht einmal ein Funke davon. Enttäuscht senkte sie den Blick.
„Folge mir!“ Talira drehte sich um. Sie gingen in den Raum, in dem sie aufgewacht war. Dort zog sie sich ohne Eile ihre Sandalen an. Als sie sich erhob, glitt eine Tür zur Seite. „Dies ist der Menschentrackt!“, erklärte Talira. „Hier hat Paieon gewohnt, wenn er zu Besuch war. Und das war er häufig, seinerzeit als er zusammen mit dem ersten Herren der Festung Versuche zur Manipulation des menschlichen Erbmaterials machte. Ergebnis waren die Grauen Menschenaffen. Mein Herr war allerdings mehr an den tödlichen Viren interessiert, die sie gemeinsam entwickelten.“
Sie folgten einem Gang, der in ein merkwürdiges Licht getaucht war, das jedenfalls nicht von der Sonne stammte. Als einer der metallenen, schwarzen Riesen mit den Glutaugen um eine Ecke kam, versteckte sich Athaly hinter Taliras Rücken. Dennoch folgte ihr der glühende Blick der Bestie im Vorbeigehen und Athaly drängte sich ganz an die Wand, aus Angst, das Ungeheuer könne sich ihr zuwenden und mit seinen mächtigen Händen ihren Hals zudrücken.
Immer weiter folgten sie Gängen, die vor ihnen in einem diffusen Licht aufleuchteten und hinter ihnen wieder dunkel wurden. Da war nichts, wonach sie sich orientieren konnte, sodass sie den Bezug zur Realität verlor. Die Idee, Talira nicht zu folgen, sondern irgendwohin zu fliehen, kam ihr nicht einmal. Sie folgte ihr einfach auf dem matteweichen Boden, während die Angst in ihrem Inneren immer höher kroch. Talira sprach nicht mehr zu ihr und auch sie sagte nichts; sie fühlte sich einsam und begann in der Folge an Vergangenes zu denken, an Ereignisse, die sie als positiv empfand und die es wert waren ihre letzten Erinnerungen zu sein. Zuerst dachte sie an ihre Kindheit, ihren Vater; dann an die Wanderschaft mit Tethaton, an die vielen Heilungen. An ihre Rückkehr zu den Shwakara. Dann fiel ihr ein, wie sie Gjefren kennen gelernt hatte, auf der Wiese beim Fluß. Sie hatte ihn gleich gemocht, die eigenartige Mischung aus Hilflosigkeit und Stärke, die er darstellte. Und kaum hatte er sie verlassen gehabt, hatte sie gewusst, dass sie mehr für ihn empfand als ein wenig Zuneigung. Warum war er gegangen? Sie erinnerte sich jetzt, wie sie die Felswand hinauf geklettert waren und wie er sie gerettet hatte, indem er einen Stein auf die Krieger geworfen hatte. Sie hatte niemanden töten wollen und Gjefren auch nicht. Sie hatte sich nur aus den Klauen der Hexe befreien wollen. Damals war ihr das gelungen, nur um jetzt von Monstern zerfleischt zu werden. Sie hatte gekämpft, hatte nie resigniert! Warum war das jetzt anders? Sie erkannte keinen Ausweg. Sie hatte ein Leben gehabt, das es wert war, zurückzudenken und es war entsetzlich schade, dass es jetzt dem Ende zuging. Sie wollte nicht als Lamm sterben, sie wollte kämpfen, aber sie fühlte sich so ohnmächtig, überrollt von Gewalten, denen sie nichts entgegenzustellen hatte.
Vorne wurde es heller und das Licht war anders, nicht bloß ein Glimmen; es kam von der Sonne. Sie hatten einen großen, kreisförmigen Raum erreicht mit einem elfenbeinfarbenen Tisch in der Mitte, der für zwei reich gedeckt war. In seinem Zentrum stand eine Schale mit Obst; großen, orangenen Früchten und dunklen, blauen Trauben. Die zierlichen Gläser enthielten eine goldene Flüssigkeit. Die silbernen Teller waren noch leer; neben ihnen lag fremdartiges Besteck. Aus tönernen Töpfen dampfte es.
Die Sonne strahlte durch eine transparente Kuppel, dort wo Athaly jetzt stand, konnte sie sie sehen, der Tisch aber stand im Schatten. Kurz blickte sie direkt in die weiß leuchtende Himmelsscheibe und war geblendet. Ein Fehler, denn gerade da änderte sich die Szene. Sie sah nur umrisshaft, dass zwei große Gestalten, die eine kleinere zwischen sich führten, durch eine andere Tür den runden Raum betraten. Verzweifelt blinzelte sie, um besser erkennen zu können. Dann konnte sie die Ereignisse deuten. Da waren zwei der glutäugigen Riesen, die einen schlanken, blonden, jungen Mann zwischen sich führten. Als sie ihn erkannte, stürzte sie in bodenlose Verzweiflung. Sie hatten ein weiteres Opfer! Das war schon schlimm genug, aber warum gerade ihn? Sie kümmerte sich nicht um Talira, rannte weg von ihr, auf ihn zu und verlor doch gleichzeitig alle Kraft. Vor ihm sank sie auf die Knie, einen Tränenschleier vor ihren Augen. Dennoch konnte sie Freude des Erkennens auf seinen Gesichtszügen lesen und sah die schillernden Lichtzungen um sein Haar. Ihr jedoch war nicht nach Freude zumute; sie war zutiefst betrübt über die Ränke des Schicksals.
„Oh Gjefren, warum nur?“, weinte sie hemmungslos. „Warum haben die Bestien nun auch noch dich gefangen?“
Da kniete er sich neben sie, streichelte sanft ihr Haar. „Nein“, meinte er irritiert, „so ist das nicht. Mach dir keine Sorgen! Niemand hält mich gefangen!“
„Niemand? Oh ihr Götter, du kennst sie nicht! Ich weiß nicht, womit sie dich hierher gelockt haben, aber glaube mir: sie sind abgrundtief böse!“ Ihr ganzer, kleiner Körper bebte als sie das sagte. Unverwandt sah sie ihm dabei aus großen, tränenden Augen ins Antlitz.
„Nein, nein, so ist das nicht, glaube mir! Wer könnte das besser wissen als ich? Ich bin ihr Herr! Ich bin der Herrscher der Festung Mesawa!“
Da fuhr sie vor ihm zurück, als hätte eine Kobra sie gebissen und nicht geringer war das Leid! Eine Gesichtshälfte brannte plötzlich wie Feuer, ihr Magen krampfte sich schmerzvoll zusammen, ihr wurde übel, ihr Herz raste, ihr Atem ging stoßweise und sie zitterte. Eine Weile blickte sie ihn nur ungläubig an, dann stöhnte sie laut und schließlich heulte sie: „Sie haben meinen Vater getötet! Du! Du hast meinen Vater getötet! Sein abgetrennter Kopf ist vor meinen Beinen gelandet!“ Die Erinnerung stand deutlich vor ihr, so deutlich! Und er, er war der Mörder! Ihr Unglück schien ihr so groß, dass sie es nicht mehr fassen konnte.
Gjefren war über ihre Reaktion zutiefst erschrocken, aber das sah sie nicht; er machte einen Schritt auf sie zu. Sie aber wehrte ihn ab.
„Bleib! Bleib wo du bist, du Bestie! Ich will dich nie wieder sehen!“ Mit diesen Worten stand sie hastig auf und lief weinend davon, fast blind hinter dem Tränenschleier. Aber sie fand einen Gang und folgte dem Licht, das vor ihr auftauchte und hinter ihr verlosch. Sie fragte nicht, warum er sie gehen ließ oder wohin sie geleitet wurde, fühlte sich wie zu Asche verbrannt. Sie wollte nur weg, weg von dem Grauen! Ihr Schicksal war ihr egal. Immer folgte sie dem Licht, bei jeder Abzweigung. Schon längst hatte sie jede Orientierung verloren, bald auch alle Kraft. Sie taumelte nur noch, immer weiter, eine unendliche Zeit lang durch Albtraumgänge. Dann aber schien es ihr, als erreiche sie eine Wand; doch da glitten Türflügel zur Seite, sie wankte hinaus ins Sonnenlicht. Da standen sie noch immer, ihre Familie und Lerons Bande, Leron selbst mit einem riesigen Stein, mit dem er offenbar einen sinnlosen Kampf gegen die mächtigen Mauern der Feste geführt hatte. Sie sah den erschrockenen Gesichtsausdruck ihrer Mutter, die auf sie zulief, sie in die Arme nahm und zusammen mit ihr zu Boden sank.
„Wir können hier nicht bleiben“, flüsterte Athaly. „Wir müssen fliehen!“
***
Unmittelbar nachdem Athaly weggerannt war, fragte Talira: „Soll ich sie aufhalten?“
Gjefren war wie gelähmt ob der Anschuldigungen und stand noch eine Weile mit offenem Mund da, dann schüttelte er den Kopf. „Nein“, meinte er, „lass sie gehen! Hilf ihr, damit sie hinaus findet. Dieses Gemäuer ist das reinste Labyrinth! Beleuchte den Gang vor ihr, weise ihr mit dem Licht den Weg!“ Dann ging er auf und ab und auf und ab und dachte nach. „Talira! Was ist da geschehen? Wie konnte das passieren? Warum wurde Athalys Vater umgebracht? Wer hat sowas befohlen? Das gibt doch überhaupt keinen Sinn! Die letzte Herrscherin der Feste war doch meine Mutter! Nie hätte sie dir solch einen Auftrag gegeben!“
„Als deine Mutter die Festung verlassen hatte“, erklärte Talira, „war Kostral noch nicht tot. Sie dachte das vermutlich, aber so war es nicht. So hatte er noch Gelegenheit, einige Befehle zu geben. Kein Mensch solle die Burg betreten, es sei denn, er hätte den Ringschlüssel, denn das konnte er nicht verhindern! Erst du hast diesen Befehl wieder aufgehoben, ohne ihn überhaupt zu kennen. Ich, also Seferna, solle mich wie ein Rachegott benehmen, falls Menschen beabsichtigten, die Ebene rund um die Burg zu besiedeln! Ich war gerade im Begriff, diesem Befehl zu gehorchen, aber er war durch deine Anweisungen nur mehr verstümmelt durchführbar, wenngleich nicht ausdrücklich aufgehoben. ‚Verlange Menschenopfer, wenn sie bleiben wollen. Wenn sie sich weigern, eliminiere einen Teil von ihnen oder alle!‘ So waren seine Anweisungen. Und ich sollte die Möglichkeiten schaffen, ihnen auch tatsächlich Folge leisten zu können. Das habe ich getan. Athaly war als Opfer vorgesehen, aber de facto konnte ich ihr nichts mehr tun, denn deine Befehle gingen in eine andere Richtung. Dann gab er mir noch den Auftrag, meine Gestalt zu wechseln.“
„Das erklärt, warum du mir als schwarzes Metallmonster erschienen bist statt als blonde Frau, wie ich es nach Elris Erzählungen eigentlich erwartet hätte. Oh Galaxis! Meine Mutter darf das alles nie erfahren! Sie würde sich den Rest ihres Lebens Vorwürfe machen, das alles nicht verhindert zu haben! Als Athaly mit ihrem Vater hier war, was ist da passiert?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nun, er wollte die Festung betreten, ich habe das auf eine Weise verhindert, die Kostral gefallen hätte. Athaly und ein zweites Mädchen sind dann geflohen. Ich habe mich nicht mehr um sie gekümmert, denn ich hatte Grund zu der Annahme, dass der letzte von Paieons Grauen Menschenaffen sie töten würde.“
Gjefren stöhnte laut. „Nein, niemals darf sie das erfahren!“ Er lachte verzweifelt. „Meine größte Sorge galt deinem Aussehen, das ich neu gestalten wollte! Damit habe ich mich beschäftigt statt mit Mesawas Vergangenheit!“ Und dann murmelte er zu sich selbst: „Ich muss ihr folgen! Aber davor muss ich dafür sorgen, dass ich ihr auch erklären kann, was wirklich geschehen ist. Und noch andere Vorbereitungen treffen.“ Seine Unfähigkeit, gleich zu reagieren, war wohl der Tatsache geschuldet, dass er völlig überrumpelt worden war, anders konnte er sich sein eigenes Nichtverhalten kaum erklären.
Er redete nun mehr zu sich selbst. „Sie wird versuchen, die Shwakara zum Aufbruch zu bewegen. In die Savanne, woher die Shwakara kamen oder in die Hochebene, aus der ich gekommen bin? Wird sie bei ihrem Stamm bleiben? Wenn nicht, dann brauche ich mein Pferd, weil sie auch eines hat! Sie wird vor mir fliehen, Lerons Bande wird vielleicht auf mich schießen, bevor ich mit ihr reden kann. Nein! Das würde sie verhindern, trotz allem, was sie mir zutraut. Meine Reisekleidung, ein wenig Proviant. Der Esel muss dableiben, er ist zu langsam.“
„Willst du einen der Roboter zu deinem Schutz mitnehmen?“, fragte Talira.
„Nein! Auf keinen Fall! Sie hat Angst vor den Dingern! Kümmere dich in meiner Abwesenheit um den Esel und wenn dir irgendwas einfällt, um sie aufzuhalten, ohne Zwang, ohne Bedrohung, dann tu das!“
„Soll ich das Pferd holen lassen?“
„Bloß nicht! Das hat auch Angst vor dem herum wandelnden Schrott! Nein, ich hol es selbst. Das bedeutet einen gewissen Zeitverlust. Warum müssen die Wiesen auch auf der anderen Seite der Festung liegen?“
Er seufzte. Er wagte kaum zu hoffen, dass es ihm gelingen könnte, Athaly zu überzeugen, dass er harmlos war und die Shwakara ohne jede Gefahr in Mesawas Umgebung siedeln und sie bei ihrem Stamm bleiben konnte. Aber er musste es versuchen! Er wünschte sich ihre Nähe, trotz Talira war es ziemlich einsam hier. Nun, wie auch immer das hier ausging – vorerst war Eile geboten. Dennoch wollte er nicht den Fehler seiner Mutter wiederholen. Er würde zunächst in die Zentrale gehen und Taliras aktuelles Etikettegeflecht genauestens durchsehen und auf eine Weise ändern, die niemandem mehr schaden konnte. Und vielleicht war es auch ganz gut, wenn er Athaly Zeit gab zum Nachdenken.
***
„Was ist passiert?“ Leron hatte nicht mehr damit gerechnet, Athaly jemals wiederzusehen und war überglücklich. Athalys Mutter wollte sie gar nicht mehr loslassen – sie hatte aus Angst um ihre Tochter Unglaubliches durchlitten – und Aleia hielt ihre Hand. Liara streichelte beruhigend über ihr Haar. Die Ältesten waren informiert worden und würden wohl bald ebenfalls hier auftauchen.
Athaly wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht Leron zu. „Oh Leron, alles hätte ich ertragen, aber das nicht! Der Herr dieses Ortes des Grauens, der Mörder meines Vaters ist Gjefren!“
Leron zuckte zurück, seine Mimik drückte Zweifel aus. „Gjefren? Wie kann das sein? Er ist nur wenig älter als du! Bei der Ermordung deines Vaters war er doch sicherlich noch ein Kind!“
„Oh Leron! Magier altern nicht wie gewöhnliche Menschen! Auch mein Aussehen hätte sich nicht geändert, wäre ich weiterhin im Besitz des Herzens von Galahar geblieben …“
„Aber er hat dich gerettet! Warum hätte er das tun sollen, wenn er ein böser Magier ist?“
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. „Das weiß ich nicht! Das verstehe ich doch auch nicht! Vielleicht geht es um eine Konkurrenz zwischen ihm und der Hexe von Ashkauran! Auch zwei böse Menschen müssen sich nicht unbedingt mögen. Vielleicht wollte er ihr zeigen, dass er mächtiger ist als sie, möglicherweise ging es nur darum und nicht um mich!“
Leron blickte immer noch zweifelnd. „Ich weiß nicht, ich kann nicht behaupten, ihn sonderlich zu mögen…“ Er hielt kurz inne. Immerhin war er eine Art Nebenbuhler um Athalys Gunst gewesen. Diese Überlegung behielt er aber für sich. Dann ergänzte er ein wenig widerwillig: „Aber wie ein böser Mensch hat er eigentlich nicht auf mich gewirkt. Ein bisschen daneben, ja das vielleicht, aber böse? Wenn er eine so niederträchtige Kreatur ist, wie du vermutest, warum hat er dich jetzt gehen lassen?“
Athaly seufzte und schüttelte abermals ihr Haupt. Sie konnte jetzt nicht darüber nachgrübeln, sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde gleich platzen, wenn sie weiterhin versuchte über Gjefrens Beweggründe zu sinnieren.
Inzwischen waren die Ältesten gekommen, Merwal wirkte zornentbrannt. „Du bist geflohen? Wie konntest du nur! Weißt du nicht, was du dem Stamm antust?“
Athaly hatte nicht mehr die Energie, um selbst aggressiv zu werden. Sie fühlte sich sehr müde, deshalb sprach sie ganz ruhig: „Euer Handel ist hinfällig. Der Herr von Mesawa will euer Opfer nicht. Wir müssen so schnell wie möglich gehen, müssen sofort fliehen, sonst ist es um uns alle geschehen!“
„Wohin denn?“, schrie Merwal. „Nein! Wir können nirgends hin! In der Steppe wird unser Stamm verdorren. Wir müssen neuerlich verhandeln, müssen einen Weg finden!“
„Verhandeln? Mit dem Monster, das meinen Vater getötet hat? Ihr habt es nicht gesehen und daher versteht ihr es nicht! Ihr versteht nicht, zu was für Taten er fähig ist! Gut, ihr sollt es sehen, dann werdet ihr mir glauben! Aber ich bitte euch: lasst das Lager abbrechen so schnell es geht! Die Shwakara sollen uns so rasch wie möglich folgen. Ich bitte euch, gebt diesen Befehl! Um das Wohl der Kinder des Stammes! Und dann folgt mir!“
„Was willst du uns zeigen?“
„Es wirkt nicht, wenn ich es euch sage. Ihr müsst es sehen, müsst den Schrecken mit eigenen Augen schauen!“ Sie stand auf. „Kommt jetzt, Eile ist geboten!“
Inzwischen waren nahezu alle Shwakara den Ältesten gefolgt, hatten die Zelte verlassen und waren hierhergekommen. Viele hatten um Athaly getrauert, denn, wenn sie auch eine Hexe war, so war sie doch immer zu allen nett gewesen. Viele hatten von ihren Heilkräften profitiert, manchen hatte sie das Leben gerettet. Ein gebrochener Knochen mochte für einen Jäger das Ende bedeuten, wenn er gar nicht oder nur schlecht verheilte. Aber Athalys Künste hatten für eine rasche und vollkommene Genesung gesorgt. Viele waren dem Disput zwischen dem Ältesten und Athaly gefolgt und wirkten nun sehr besorgt. Missmutig musste sich Merwal eingestehen, dass er diesen Kampf um Autorität nicht gewinnen konnte. Also lenkte er ein.
„Also gut, zeige uns, was du uns zeigen willst!“ Und an den Stamm gewandt: „Folgt uns, nachdem ihr das Lager abgebrochen habt!“
Athaly sorgte sich um ihre Mutter und ihre Schwester, die sie vor Grauen bewahren wollte, deshalb bat sie sie: „Bleibt beim Stamm! Was ich den Ältesten zeigen werde, ist wahrlich kein schöner Anblick!“
Liara aber schüttelte den Kopf. „Sie waren bereit, mich den grässlichen Monstern zu überlassen. Ich fühle mich bei ihnen nicht sicher! Ich möchte lieber bei meinem Bruder und dir bleiben!“ Diese Argumentation war für Athaly unmittelbar nachzuvollziehen, auch wenn es gerade Merwal – der sie nun begleitete – gewesen war, der die Idee gehabt hatte, sie als Opfer auszuwählen. Aber abgesehen von Aleia und ihrer Mutter hatte in Abwesenheit von Welir und Wolof niemand gegen seine Entscheidung aufbegehrt. Daher nickte Athaly.
„Dann kommen wir auch mit!“ Aleia sprach nicht nur für sich, sondern zusätzlich für ihre Mutter, setzte ihr Einverständnis voraus. Offenbar zurecht, denn diese schwieg.
Leron meinte: „Ich ahne, was du vorhast!“ Und dann blickte er Erin an, sprach aber zu all seinen Gefährten: „Ich werde die Ältesten und Athaly begleiten! Ihr bleibt bei den Shwakara und führt sie aus dem Wald über den Weg, den wir gekommen sind, an den Waldesrand! Dorthin, wo wir übernachteten. Dort werden wir uns wieder treffen! Und kümmert euch um das Zelt von Athalys Mutter.“ Erin nickte. Obwohl zweifellos alle lieber Leron begleitet hätten, gab es keine Widerworte, selbst Ila hielt sich bemerkenswerter Weise zurück. Sie hatte Athalys Wiederkehr mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen und wollte ihren Mangel an Begeisterung nicht allzu deutlich offenbaren. Also bleib sie stumm.
Athaly tat die ersten Schritte wie eine alte Frau, so müde und ausgelaugt fühlte sie sich. Sie nickte den Ältesten zu. „Bitte folgt mir!“
Es waren aber nicht alle gut bei Fuß und so meinte Merwal: „Es genügt wenn Derkon und ich dich begleiten, der Stamm soll auch in unserer Abwesenheit nicht ohne Führung sein!“
„Ja, du hast recht“, stimmte Athaly leise zu, obwohl ihr eine sarkastische Bemerkung über die Wichtigkeit der Ältesten auf der Zunge lag, die sie vielleicht auch geäußert hätte, hätte sie sich kräftiger gefühlt, „das wird genügen.“ Sie wollte keinen Streit mit Merwal, sie brauchte ihn. Obwohl sie ihr öfter Schwierigkeiten bereitet hatten, war sie immer noch voller Achtung vor den Ältesten. Manchmal bewiesen sie in ihren Entscheidungen tatsächlich Weisheit und Weitsicht, aber leider ebenso oft Verbohrtheit oder sogar Grausamkeit. Dass sie bereit gewesen waren, Liara zu opfern, war in ihren Augen unverzeihlich. Für Athaly gehörte sie ihrer Familie an, für die Ältesten war sie offenbar nicht einmal eine Stammeszugehörige.
Das Terrain war bis zum Waldrand sehr schwierig, weshalb sie auch darauf verzichtete, für Merwal und Derkon und ihre Familie Pferde von Lerons Weggefährten zu erbitten. Auch ihres und Lerons würde bei der größeren Gruppe bleiben, sie konnten ihr nicht helfen rascher voranzukommen und der Pfad hinaus aus dem Wald mündete genau hier am Tor. Sie wollte all das möglichst schnell hinter sich bringen.
Sie stapften mühselig durch dichtes, feuchtes Laub, das sich in der Wegrinne gesammelt hatte, und hier, am Beginn des Pfades lagen einige, bereits teilweise vermoderte Baumstämme, um die sie herumgehen mussten. Athaly verglich das Bild, das sich ihr bot mit ihren Erinnerungen und ihr Kampf mit dem Grauen Menschenaffen fiel ihr wieder ein. Tethathon hatte Liara und sie gerettet und ihr ein zweites Leben geschenkt. Salomene hatte diesen Abschnitt beendet, nie wieder würde sie einen Menschen heilen können.
Immer wieder sah sie sich um. Die beiden Ältesten, der Grauhaarige und der mit dem schlohweißen Haar, konnten ihr erstaunlich gut folgen, obwohl Merwal bereits mehr als vier Dutzend Sommer erlebt hatte. Das erzählte man sich zumindest, ganz konnte es Athaly nicht glauben. Sie blickte auf die dürren Gestalten und in ihre Gesichter, die sie an verrunzelte, alte Äpfel erinnerten, und in denen ein oft entbehrungsreiches Leben deutliche Spuren hinterlassen hatte. Hunger, Durst und Mühsal waren ihnen nicht fremd. Wie anders hatten die Städter auf sie gewirkt, oft waren sie richtig feist gewesen, manche hatten sich in Sänften herum tragen lassen, statt selbst zu gehen. Den größten Eindruck hatte aber die Resignation und oft auch das Leid in den Gesichtern vieler Sklaven auf sie gemacht. Wie abstoßend sie die Sklaverei empfunden hatte und wie froh sie war, als sie der Zivilisation und ihrer Ungerechtigkeit den Rücken kehren konnte! Die Shwakara waren oft hungrig geblieben, aber das traf alle. In den Städten hingegen verhungerten die einen, während die anderen im Überfluss lebten. Dann waren die Reichen zu ihr gekommen, damit sie die Krankheiten, die ihre Maßlosigkeit verursacht hatte, kuriere. Sie hätten sie nicht gebraucht, wären sie nur bereit gewesen zu teilen.
Ihre Erinnerungen bedrückten sie ebenso wie ihr Vorhaben und wie die gewaltigen Baumriesen, die den Weg seitlich begrenzten. Das dichte Blätterdach schluckte viel Licht, es war hier beinahe düster. Dass sie die Shwakara enttäuschen musste, dass sie sich von Gjefren betrogen fühlte, ließ sie melancholisch werden und bekümmerte sie. Und Lerons Frage tauchte in ihr auf: warum hatte er sie gehen lassen? War es wirklich denkbar, dass Gjefren ein eiskalter, sadistischer Mörder war? Hatte er zwei Gesichter? Oder konnte ein Missverständnis vorliegen? Aber nein, er hatte unzweifelhaft von sich als Herr der Festung Mesawa gesprochen. Andererseits hatte Talira einen früheren Herrn erwähnt. Aber das tat nichts zur Sache, denn die beiden schwarzen Metallmonster hatten ein Opfer gesucht, zunächst in Liara und dann in ihr gefunden. Aber geschehen war ihr bislang nichts, wie Leron richtig bemerkt hatte. An diesem Punkt ihrer Überlegungen angekommen stellte sie fest, dass sich ihr Gedankenkarussell so schnell im Kreis bewegte, dass ihr schwindelig wurde und dass sie innerlich immer noch viel zu aufgewühlt und doch gleichzeitig auch zu erschöpft war, um das alles verstehen zu können.
Alle schwiegen, auch Leron, der die Nachhut bildete und sie offenbar mit ihren Gedanken allein lassen wollte. Dafür war sie ihm dankbar. Die Ältesten waren ohnehin eher schweigsam und Merwal und Derkon verstanden sich oft nicht allzu gut. Ihre Schritte, das Geräusch ihres Atems, das entfernte Zwitschern einiger Vögel, das leise Rascheln der windbewegten Blätter, das Knarren von Ästen – all das drang in ihr Bewusstsein, begleitete sie auf ihrem Weg.
Als sie endlich den Waldrand erreichten, konnte sie an der Länge der Baumschatten erkennen, dass es bereits später Nachmittag war. Da fiel ihr ein, dass sie keine Ahnung hatte, wie lange ihre Ohnmacht gewährt hatte. War dies noch derselbe Tag wie jener, an dem sie von hier aufgebrochen waren? Weil sie alle am Rande der blütenreichen Wiese, die angenehm nach Honig roch, im kühlen Schatten der Bäume stehen geblieben waren, fragte sie Leron dies. Er nickte.
Ein Pfad war in dem offenen, hügeligen Gelände kaum mehr auszumachen und so wunderte es Athaly nicht, dass sie ihn beim Hinweg verloren hatten. Schmetterlinge und Bienen waren auch am Abend noch sehr aktiv und umschwärmten sie. Eine sanfte Brise bewegte die Halme. Hier wirkte die Welt so unglaublich friedlich.
„Wunderschön!“, meinte Merwal, „Wie geschaffen für ein Hirtenvolk! Und auch Wild müßte es genug geben, Knollen und Wurzeln zum Sammeln! Und doch ist da niemand. Warum bloß?“
„Sie wagen es nicht“, entgegnete Athaly, „doch in der Ferne haben wir Dörfer gefunden …“
„Sind die Menschen, die dort leben, freundlich?“
Diesmal antwortete Leron: „Sie sind tot! Sie sind alle gestorben, indem sie sich gegenseitig umgebracht haben. Mit der Axt erschlagen oder mit Steinen und mit Messern haben sie sich die Kehlen durchgeschnitten.“ Er dachte, diese drastische Schilderung mochte nützlich für Athalys Anliegen sein.
„Ist es das, was du uns zeigen willst?“
„Was ich euch zeigen will, ist nur noch einige Hügel entfernt!“
Geraume Zeit schwiegen sie nun wieder, die Sonne sank weiter, immer länger werdende, dunkle Schemen liefen vor ihnen her. Athaly eilte nicht, denn ihr graute vor dem, was sie erwartete, aber sie ging zielstrebig, eine gefühlte Ewigkeit lang. Dann sah sie ihn in der Ferne, am Horizont, auf dem höchsten Hügel, sodass das Mahnmal von weither sichtbar war: der Pfahl mit dem Gehäuteten.
Aber noch waren sie zu weit weg, um Genaueres zu erkennen und so war es schließlich Aleia, die die Frage stellte: „Was ist das?“
„Unsere Zukunft, wenn wir bleiben! Meine Zukunft, wäre ich nicht geflohen! Kommt näher und seht genau hin, wenn ihr den Anblick ertragt!“ Athaly selbst hatte das bislang nicht getan. Sie kamen dichter heran und mussten um den Pfahl herumgehen, denn das Mahnmal sollte jene abschrecken, die sich Mesawa näherten. Aber dann konnten sie den erbarmungswürdigen Körper genau sehen, wenngleich seine Vorderseite nicht von der Sonne beschienen wurde, jeden einzelnen, roten Muskelstrang, denn die Haut war wirklich sorgfältig entfernt worden. Jeder in der Gruppe war zutiefst erschüttert über die unglaubliche Grausamkeit, zu der die metallenen Monster und ihr Herr in der Lage waren, über den unverständlichen Sadismus dieser Tat, dennoch gingen sie weiter auf ihn zu, bis sie nur noch wenige Schritte entfernt waren. Er hing so, dass sich die Füße auf Augenhöhe befanden, die Arme waren über den Kopf gestreckt. Irgendwie waren sie am hölzernen Pfahl befestigt. Gerade als alle sich fragten, wie lange er wohl hatte leiden müssen, zuckte ein Muskel am Unterschenkel des Erbarmungswürdigen.
„Ihr Götter, er lebt noch!“, keuchte Liara. Athaly fühlte sich plötzlich merkwürdig schwach, musste würgen und fast gleichzeitig hörte sie hinter sich Geräusche, die darauf hinwiesen, dass Aleia und Liara nahezu synchron erbrechen mussten. Sie schaute zurück und sah, dass auch die Ältesten und ihre Mutter bleich wie Kreide waren und sie selbst wirkte wohl ebenso elend. Dann schaute sie wieder nach vorne und wurde noch blasser; denn das Opfer drehte seinen Kopf zu ihr hin, sie sah, wie sich die einzelnen Muskelstränge am Hals bewegten, erkannte den fast frei liegenden Ringknorpel des Kehlkopfs an der Luftröhre, an einer Seite sogar die pulsierende Halsschlagader. Der Gehäutete starrte sie aus seinen lidlosen und daher riesig erscheinenden, von kreisförmigen Muskelbahnen umgebenen, ungeschützten Augenbällen an. Auch um den Mund verliefen die Muskelstränge zirkulär, wurden jetzt aber länger, klafften auseinander und gaben blutige Zähne frei. Der geschundene Mensch schien zu grinsen! Ihr Herzschlag raste, abermals wurde ihr schlecht.
Die Zahnreihen teilten sich und dann sprach er, leise, krächzend, aber dennoch unheimlich deutlich: „Athaaaalyyy! Athaly, ich habe dich schon erwartet!“
Hinter ihr schrien ihre erschrockenen Begleiter grauenerfüllt auf, Männer wie Frauen. Und der Geschundene sprach weiter: „Athaly, kehre um! Komm zurück!“
Das war zu viel, ihre Begleiter reagierten mit Panik. Leron zog sein Schwert, wusste aber nicht, auf wen er es richten sollte; die Ältesten wendeten sich ab, liefen so schnell davon, wie es ihre alten Gebeine zuließen; Aleia und Liara klammerten sich aneinander und – während sie selbst von aller Kraft verlassen wurde, sodass sie sich hinsetzen musste – lief ihre Mutter auf sie zu, packte sie an einem Arm und zog und zerrte daran, während sie schrie:„Steh auf Athaly! Wir müssen weg! Schnell!“
Athaly kam auf die Beine, taumelte, blickte sich um, sah einen Reiter vom Wald her kommen, aber nur als Silhouette, denn genau hinter ihm befand sich die rote Sonnenscheibe. Dann schaute sie in die entgegengesetzte Richtung, wie alle anderen auch. Die Ältesten waren mit ihrer Flucht erst ein paar Schritte weit gekommen, als sie das nächste furchterregende Ereignis aufhielt. Denn vom Himmel fiel ein gleißender Stern oder jedenfalls etwas, das in den Strahlen der tiefliegenden Sonne so funkelte wie einer. Es fiel rasch, hielt genau auf sie zu und wurde immer größer, ja geradezu riesig! Alle staunten das Ding erschrocken an, aber niemand dachte mehr an Flucht, denn dafür war es definitiv zu spät, sie würden zermalmt werden.
Dann aber wurde der Stern – oder was immer es war – langsamer und man konnte erkennen, dass er nicht genau auf sie zuhielt. Die Sonne spiegelte sich nach wie vor auf seiner Oberfläche, dennoch konnte man nun bizarre Konturen erkennen: kurze Flügel; viel zu klein um das gewaltige Etwas, das Athaly für einen vom Gehäuteten gerufenen Dämon hielt, in der Luft zu halten. Aber trotzdem schwebte es jetzt mehrere Dutzend Manneslängen von ihnen entfernt über der Landschaft, etwa in der Höhe eines Mannes. Ein heißer, fauchender Sturm fegte kurz über sie hinweg. Darüber hinaus ereignete sich aber alles nahezu lautlos, was den unheimlichen Eindruck noch verstärkte. Groteske Beine bildeten sich an der Seite des Dämons, klappten nach unten und berührten den Boden. Sein Bauch öffnete sich und etwas, das aussah wie Sägezähne, wurde sichtbar. Der dunklen Öffnung entstieg ein Wesen, indem es auf die breiten Zähne stieg; so kam es herunter.
Es war von wenig beruhigender Gestalt, wie eine Kreuzung aus Mensch und einem der dunklen, glutäugigen Monster der Festung Mesawa. Es kam auf sie zu, immer näher und hielt schließlich wenige Schritte vor Athaly.
„Habe ich dich also doch noch gefunden! Ich war schon nahe daran, aufzugeben“, verkündete es.
Diese Stimme kannte Athaly besser als ihr lieb war. „Salomene! Die Hexe von Askhauran!“, stöhnte sie. Sie sackte wieder in sich zusammen, nur ihre Mutter verhinderte, dass sie auf den Boden sank. „Wenn du mich umbringen willst, stell‘ dich hinten an – so wie sich die Heilsuchenden anstellen mussten, als ich noch Besitzerin des Herzens von Galahar war!“
„Um das Herz geht es! Ich hatte dir versprochen, seine heilende Wirkung an dir auszuprobieren, erinnerst du dich? Ich nehme dich mit in das Verlies unter dem Palast von Askhaurans Hauptstadt. Es wird ein wenig dauern, bis du stirbst!“
Die Hexe trug eine Art silberne Rüstung, die nahezu ihren ganzen Körper bedeckte, mit eigenartiger Reliefbildung und komplexen Strukturen da und dort. Merkwürdig wirkte die Kombination archaischer Elemente, die eher der Zierde dienten - etwa kleine Abbildungen von Schlachten am Brustabschnitt – und rein funktionellen Teilen. Ihren Kopf umhüllte ein runder Helm mit Wangenschutz, unter dem ihre schwarzen Haare hervorquollen. Ihr niedliches Gesichtchen war von etwas Durchsichtigem bedeckt und vielleicht auch geschützt.
„Salomene?“ Erstaunt registrierte Athaly, wie viel Abscheu sich in einem einzigen Wort offenbaren konnte. Leron, der dieses Wort wie einen Fluch ausgesprochen hatte, fixierte die bizarre Gestalt, die Mörderin seiner Eltern, mit hassverzerrten Zügen, hob das Schwert – jetzt endlich hatte die Waffe ein Ziel – und machte Anstalten sich auf die Hexe zu stürzen. Diese beobachtete ihn amüsiert und hob ein wenig ihren gepanzerten Arm; kleine blaue Blitze züngelten nahe dem Handgelenk.
„Lass das, du Dummkopf!“ Jemand hielt den Schwertarm des Räubers fest. Niemand hatte auf den Reiter geachtet, der so unerkannt zur Gruppe stoßen konnte, rasch vom Rücken des Pferdes gesprungen war und nun Leron festhielt. „Sie röstet dich, bevor du auch nur einen Schritt gemacht hast!“
Athaly kannte auch diese Stimme. „Gjefren!“, hauchte sie und blickte kurz in seine Richtung.
Leron wollte sich befreien. „Lass mich los! Soll sie doch fair gegen mich kämpfen, diese Mörderin! Dann wird sie für den Mord an meinen Eltern bezahlen!“
„Reja OrPhon kämpft niemals fair!“ Er blickte ihr in die eiskalten, intensiv blauen Augen. Die Sonne, die nun den Horizont berührte, entflammte Gjefrens Haar, ihre Strahlen fingen sich darin und verwandelten sich zu Blitzen. Er hatte vergessen, seine Lederhaube anzuziehen.
„Welch merkwürdige Ansammlung! Ein paar Statisten, eine ehemalige Hexe, ein Vollidiot“, Salomene zeigte auf Leron, „und ein Gott, der meinen richtigen Namen kennt. Ein Olympier also!“
Gjefren dachte nicht daran, sie zu korrigieren. Er hatte den Eindruck, dass diese Einschätzung sowie sein Auftritt die Hexe hatten vorsichtiger werden lassen. Und eventuell weniger tödlich. Vielleicht war sie nicht alleine, möglicherweise saß ein olympischer Gott im Sonnenwagen – denn darum handelte es sich bei dem Fluggerät ohne jeden Zweifel – der etwas dagegen hatte, dass ein anderer Gott zu Schaden kam. „Du kannst Athaly nicht haben! Sie gehört zu mir!“
„Wir sind hier nicht im Achaischen Zeitalter! Hier hast du nichts zu sagen! Verschwinde und dir wird nichts geschehen! Stellst du dich mir aber in den Weg, werde ich dich zertreten, wie die kleine Ratte neben dir!“
Gjefren stellte sich vorsichtshalber vor Leron. „So einfach ist das nicht! Auch ich bin bewaffnet!“
Das brachte Salomene zum Lachen. „Deine Lügen sind so durchsichtig wie ein Hurenhöschen! Zu meinem mittelschweren Kampfanzug gehört auch ein Defensoranalysator. Du hast einen Plasmaimpulsnadler, der meine Rüstung nicht durchdringen kann und eine Schutzweste, die meiner Impulskanone auf Dauer nicht gewachsen ist. Dein Kopf ist ungeschützt. Du hast nichts!“
Gjefren wußte, dass sie recht hatte und registrierte gleichzeitig, dass sie offenbar nicht bereit war, einfach auf ihn zu schießen, denn sonst hätte ihn bereits der Tod ereilt. Er mußte pokern. Er drehte sich zu dem Gepfählten und schrie: „Komm herunter!“ Das lenkte die Aufmerksamkeit aller auf diesen.
Da richtete der Gehäutete seinen beängstigenden Blick auf ihn und löste mit einer mühelos wirkenden Bewegung zunächst einen Arm vom hölzernen Pfahl. Als er die Hand drehte, wurde man eines fingergroßen Dornes gewahr, der ihrem Rücken entspross. Nachdem er mit etwas mehr Anstrengung nun auch den zweiten Arm gelöst hatte, fiel er herunter, verharrte kurz in gehockter Position und richtete sich schließlich auf. Da erst wurde offenbar, wie gewaltig er war; er überragte selbst Gjefren und Leron um Haupteshöhe. Nun ging er auf Gjefren zu. Die Menschen beobachteten das voll Entsetzen und wohl bei allen stellten sich die Härchen auf den Unterarmen auf, selbst bei Gjefren. Die Bewegung löste neuerlich Panik aus, fast alle stöhnten auf und die Ältesten flohen, um nicht zwischen die beiden Ungeheuer zu geraten. Leron richtete seine Waffe nun gegen die neue Gefahr, was Gjefren ignorierte. Selbst das Pferd, das geschult war, noch in der Schlacht ruhig zu bleiben, scheute. Als der Gehäutete neben ihm stehenblieb – und zwar so, dass er die Schussbahn auf Athaly verdeckte – fragte Gjefren: „Und jetzt?“
Sie zögerte kurz, die Analyse lief offenbar noch. Ein Grund, ein wenig Triumph in seiner Stimme mitschwingen zu lassen. „Mit Hurenhöschen kenne ich mich zwar nicht so gut aus wie du, aber es war keine Lüge, denn ich bin der Herr der Festung Mesawa! Meinem Begleiter kann deine Impulskanone nichts anhaben!“ Gjefren überlegte, ob er den Roboter nicht einfach auf die gefährliche Frau zulaufen lassen sollte, jetzt wo Athaly geschützt war. Aber die Psychopathin würde in diesem Fall ohne Zweifel alle anderen umbringen. Auch Hilfe von Mesawa würde zu spät kommen.
Offenbar bestätigte der Analysator Gjefrens Einschätzung, denn nun verlegte sich auch Salomene aufs pokern: „Meine Impulskanone mag ihn nicht beschädigen können, wohl aber die Bordkanone!“
Wie aufs Stichwort schloss sich der Rumpf des Sonnenwagens, die Landebeine zogen sich ein. Gjefren beobachtete dies zunächst mit einem mulmigen Gefühl. Als das Fluggerät aber schließlich startete, in die Höhe stieg und Richtung Nordwesten wegflog, vorbei an Mesawa, empfand er hingegen Erleichterung, auch wenn er nicht genau wusste, was hier gerade geschehen war. Während die Hexe noch von der neuen Entwicklung gebannt war, stellte er sich schnell hinter den Gehäuteten, zog den Ring, den er nach innen gedreht getragen hatte, sodass der dunkle Stein mit den goldenen Adern nicht zu sehen gewesen war, von seinem Ringfinger, streifte ihn über den kleinen Finger des Roboters und sprach leise ein paar Worte zu ihm. Dieser ballte daraufhin die Faust. Dann wandte Gjefren sich wieder der Hexe zu, die ihn mißtrauisch beäugte. Zorn spiegelte sich in ihren Zügen, woraus er schloss, dass auch sie von den Ereignissen überrascht worden war.
„Jetzt nicht mehr!“, kommentierte er sachlich.
„Du solltest dich nicht darüber freuen, denn gerade ist der einzige Grund weggeflogen, der mich veranlasst hätte, dich zu schonen! Lass deinen Roboter ruhig angreifen, mein Kampfanzug hat eine automatische Funktion, die garantiert, dass meine Bewegungsfreiheit nicht eingeschränkt wird. Kommt er näher, wird mein Flugaggregat aktiviert, womit ich außerhalb seiner Reichweite bin! Von oben kann ich euch bequem abknallen!“
Gjefren erkannte schnell, dass sie völlig recht hatte, falls der Anzug tatsächlich über ein Flugaggregat verfügte. Mit Drohungen war also nichts mehr zu erreichen und sie war völlig unberechenbar. Der erdgebundene Roboter konnte lediglich verhindern, dass sie irgendjemanden lebend mitnehmen konnte, aber nicht dessen Tod. Deshalb beeilte er sich, ihr einen Handel vorzuschlagen, wobei er sich bewusst war, dass sie sich an keine Verträge halten würde. Wer immer in der Vergangenheit anderes vermutet hatte, war jetzt tot.
„Warte! Ich biete dir etwas, das für dich mehr Wert hat als unser Leben!“
„Was soll das sein?“ Sie klang äußerst skeptisch.
„Die Herrschaft über die Festung Mesawa! Ich trete sie an dich ab, wenn du dafür uns alle verschonst!“
„Warum glaubst du, dass diese Feste mich interessieren könnte?“
„Sie wurde von einer fremden Intelligenz erbaut, die nicht von diesem Planeten stammt. Auf ihrem Hangar befindet sich ein Interstellarschiff. Du könntest also diesen Planeten verlassen und wieder zurückkehren, ohne dass einer der Olympier davon Wind bekäme. Deine persönliche Freiheit würde das ohne Zweifel steigern. Und ich weiß, dass sie dir sehr wichtig ist!“
Salomene keuchte. Seit zwei Jahrzehnten hatte sie sich das gewünscht. Konnte es wirklich sein, dass sie nun vor ihrem Ziel stand? „Olympier! Wehe, du belügst mich! Wenn du versuchst, mich zu betrügen, jage ich dich um den ganzen Planeten! Und ich verspreche dir: dein Ende wird kein leichtes sein!“
„Dann sind wir uns einig?“
Sie nickte.
„Weil ich weiß, dass du sämtliche Versprechen brichst, habe ich gewisse Vorbereitungen getroffen. Siehst du den Ring an der rechten Hand des Roboters? Du solltest ihn eigentlich kennen!“
Gjefren wusste, dass sie jetzt die Zoomfunktion der Helmbrille einschaltete und den prachtvollen Ring genauer betrachtete, zunehmend wütend. „Und ob ich den kenne. Er gehört mir! Ich ahnte nicht, dass er am Olymp aufbewahrt wird. Eine kleine Schlampe, deren Haare im Gegensatz zu deinen vielfarbig leuchteten, hat ihn mir einst abgenommen.“ Sie lachte. „Erst heute habe ich sie mit einer anderen verwechselt!“
Gjefren erschrak, denn er musste an Nisaya denken. Salomenes Lachen verhieß nichts Gutes. Er widerstand aber dem Impuls, jetzt über ihr Schicksal nachzugrübeln und konzentrierte sich auf den Augenblick. „Dann weißt du auch, dass es sich um einen Ringschlüssel handelt! Er ist der Schlüssel zur Festung. Das kannst du ruhig mit deinem Analysator überprüfen. Hätte ich ihn dir einfach gegeben, hättest du uns gleich danach ermordet, egal was du vorher beteuert hättest! Aber bei Mesawas Roboter ist er vor dir sicher. Er wird ihn dir übergeben, aber erst, wenn ihr vor den Toren der Feste steht. Und nur dann, wenn du uns und auch alle anderen Menschen, die dir auf eurem Weg zu Festung begegnen, kein Leid zufügst! Und wenn kein Angriff auf ihn erfolgt. So lauten seine Instruktionen. Er wird dich in normalem Gehtempo begleiten.“
Vorsichtig wie Salomene war, hieß sie den Roboter die Befehle wiederholen, eine Anweisung, der er mit seiner erschreckenden, bis auf den knarrenden Unterton an das Zischen einer Schlange erinnernden Stimme, nachkam. Sie verlangte einige Änderungen und Präzisierungen, auf die Gjefren einging, denn es war nicht seine Art, andere zu betrügen. Nur bei der Gehgeschwindigkeit, die Salomene zu langsam war, ließ er nicht mit sich verhandeln. Er brauchte eine gewisse Zeit.
„Zwei Dinge noch!“, meinte sie schließlich. „Wirf mir den Nadler zu.“
Gjefren widerstand dem Impuls, ihn ihr ins Gesicht zu schleudern, sondern kam der Aufforderung vielmehr dadurch nach, dass er ihn so warf, dass er etwa auf halber Distanz zwischen ihnen zu liegen kam. Ihm lag nichts an der Waffe.
„Und jetzt das Com!“
Gjefren zögerte, das musste er erst einmal verdauen. Natürlich hatte der Analysator auch dieses Gerät entdeckt. Der Kommunikator war seine einzige Verbindung zu seinem Onkel Sarpedon. Er hatte ihn bislang noch nicht kontaktiert, weil er selbst zu beschäftigt gewesen war und weil ja jederzeit die Möglichkeit dazu bestanden hätte. Seine Rückreise nach Wägan hätte auch von Mesawa aus stattfinden können, sodass sich Gjefren in dieser Hinsicht keine Sorgen gemacht hatte. Gab er ihr das Gerät, konnte er nichts mehr darüber erfahren, wie es seinem Onkel oder seiner Schwester erging. Gerade jetzt hatte er aber Angst um Letztere. Außerdem wäre er damit unauffindbar, denn er hatte Sarpedon nichts von seinen Plänen verraten. Gjefren bezweifelte, dass dieser ihn selbst unter Zuhilfenahme sämtlicher Satellitenaufzeichnungen über einen dermaßen langen Zeitraum aufspüren könnte. Und zu denen hatte er von seinem Schiff wohl gar keinen Zugang. Damit wäre Gjefren der Weg zurück nach Wägan versperrt.
„Wozu brauchst du ihn?“
Sie lächelte süffisant. „Tu nicht so blöd! Um dir die Möglichkeit zu nehmen, deine Instruktionen noch nachträglich zu ändern. Glaubst du, ich hätte nicht durchschaut, dass du genau das vorhattest?“
Gjefren hatte nichts dergleichen geplant gehabt und musste die schmachvolle Tatsache anerkennen, dass er ihr nicht gewachsen war. Er schleuderte die handtellergroße Scheibe mit dem Jin-Jang-Muster neben den Plasmaimpulsnadler. Salomene winkte lässig mit einem Arm, von dem sich ein blauer Strahl löste, der die Erde zwischen den Geräten traf. Das genügte, um beide Geräte zum Glühen zu bringen. Sie schmolzen zu elenden Häufchen zusammen. Erst bei diesem Anblick wurde Leron wirklich klar, vor welchem Schicksal Gjefren ihn bewahrt hatte.
„Gut!“ Sie wandte sich an den Roboter: „Komm!“ Sie gingen an dem leeren Pfahl vorbei auf den goldenen Saum zu, der den Horizont rahmte und die Dämmerung begleitete. Obwohl es noch einigermaßen hell war, schaltete Salomene den Helmscheinwerfer ein, für Gjefrens Begleiter ein weiterer Anlass zu furchtvollem Staunen.
Auch Gjefren blickte ihr mit starrem Gesicht, dem man den inneren Aufruhr nicht ansehen konnte, eine Weile nach. Mit Entsetzen in der Stimme verkündete er schließlich, mehr zu sich selbst, aber laut genug, dass auch die anderen ihn hören konnten:
„Ich habe die Büchse der Pandora geöffnet!“
Ihm war klar, dass sie die Bedeutung dieses Satzes nicht verstanden. Wohl so gut wie niemand wäre auf diesem Kontinent dazu in der Lage gewesen. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit Athaly zu, die ihn, immer noch an ihre Mutter geklammert, aus großen Augen musterte.
„Aber ich hatte keine Wahl“, stellte er nun fest. „Denn ich liebe dich.“

 

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Lies bitte weiter! Von Jan Palisa sind bislang folgende Titel auf BookRix erschienen:

 

 

 

Tochter der Titanin I:

    Die Sklavin

    Die Göttin

 

Tochter der Titanin II:

    Intermezzo: Die Rache des Heilers

    Rückkehr nach Historia

 

Tochter der Titanin III (finale Version):

    Die Büchse der Pandora

 

 

Alle Bände sind auch als Taschenbuch (neobooks, epubli) erhältlich.

 

 

 

Fragmente

    Der Schatten der Zeit

    Alitha

    Das Nebelmonster

 

Impressum

Texte: Jan Palisa
Bildmaterialien: Armin Tiefenbrunner
Lektorat: Astrid Tiefenbrunner
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

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