Aesha blickte ohne besonderen Enthusiasmus auf das linnerne, graue Kleid, dem sie mit einem groben Faden und einer Nadel zu Leibe rückte. Warum musste gerade ihr Gewand so filigran sein, so leicht zerreißen? Sie seufzte. Eigentlich war das ja die Arbeit von Dienerinnen, aber hübsche Blumenmuster auf Tücher zu sticken lag ihr noch weniger und nach Auffassung ihrer Mutter musste sie sich sinnvoll beschäftigen. Sie brachte die nötige Geduld nicht auf, im Gegensatz zu ihrer gestrengen, aber auch liebevollen Gebärerin, die ihr gegenüber saß und gerade einen mit Honig gesüßten Kirschblütentee zum Munde führte. Konträr auch zu ihrer kleinen Schwester, die sich für all diese Mädchen- und Frauensachen viel besser eignete und die sogar Seide tragen konnte, ohne dass ihre Kleidung am nächsten Tag zerfetzt war. Oder schmutzig. Sindela war ein Wunder, war sanftmütig und anpassungsfähig und … normal. Einfach alles, was sie nicht war. Ihre Schwester zählte gerade dreizehn Lenze und war schon im Begriff zur Frau zu werden, wie die zarten Kurven ihres schönen Körpers verrieten. Sindela fühlte, dass sie gemustert wurde, blickte zu ihr und lächelte. Natürlich. Aesha versuchte, zurück zu lächeln, tat ihr Bestes, aber ihre Stimmung war ihr im Weg. Sie wurde immer unruhiger. Die ganze Zeit im kühlen Saal sitzen, während draußen die Sonne schien und es endlich wirklich warm wurde, das tat ihr nicht gut. Es war lang genug kalt gewesen, zumindest empfand ihr schlanker Körper es so. Mutter lächelte nun ebenfalls. Sie stellte die porzellanene Tasse zurück auf den kleinen Tisch. Aesha blickte sehnsüchtig zum offenen Fenster. Es war nicht groß genug, um viel Licht hereinzulassen, aber für eine Burg wäre ein größeres auch nicht gerade zweckmäßig gewesen. Ihre Aufmerksamkeit driftete ab. Freilich stach sie sich deswegen. Und das nicht zum ersten Male. Sie fluchte unterdrückt und ihrer Meinung nach leise und wurde rot als ihr gewahr wurde, dass sie dennoch gehört worden war. Einige der Burgfrauen und -fräuleins blickten befremdet und auch ihre Mutter sah sie mit leichtem Tadel an. Ihre Schwester aber lächelte freundlich, wie fast immer.
Der etwas zur Dicklichkeit neigende, mit einem gemütlichen Wesen ausgestattete Priester unterbrach kurz seine Vorlesung über die Zeit der Götter, um die ihre Mutter und Burgherrin ihn gebeten hatte, damit die jüngeren Damen diese wichtige Literatur kennen lernten. Er war der einzige Mann im Raum, denn zu dieser Tageszeit waren Ritter und Knappen am Übungsplatz im Hofe versammelt und droschen mit Schwertern und Lanzen aufeinander ein. Und – viel wichtiger, hier an der Grenze – übten Speerwerfen und Bogenschießen. Ihr Vater war auch dort. Der Priester fing wieder an zu lesen als wäre nichts geschehen, was ja eigentlich auch der Fall war. Weit kam er allerdings nicht, denn ein besonders neugieriges Mädchen in Sindelas Alter unterbrach ihn.
„Stimmt es, dass die Götter fliegen konnten? Und dass sie goldenes Haar hatten und himmelfarbene Augen?“
Der den Göttern geweihte legte das schwere Buch auf seinen Schoß und blieb kurz stumm, sodass man von draußen den Lärm der Kampfübungen vernehmen konnte: das Klirren der Schwerter und die dumpfen Laute, wenn eine Klinge einen Schild traf. Dazu Geschrei und götterlästerliches Gefluche. Ihr Vater war wohl wieder mit den Leistungen einiger seiner Ritter unzufrieden. Warum durfte er fluchen und sie nicht?
„Das waren zwei Fragen. Ja, sie konnten fliegen, lautet die eine Antwort“, erklärte er. „Und was das Aussehen betrifft, so stimmt es, dass einige goldene Haare und blaue Augen hatten, aber andere wiederum nicht. Manche hatten schwarze Haare wie wir und auch so dunkle Augen.“
„Und Am-Echar, der Gott der Zeit und Beschützer unseres Reiches?“
„Die Überlieferungen sagen, er hatte helles Haar und ebensolche Augen, deshalb färben wir Priester unsere Haare am Tag der Wintersonnenwende gelb. Hm. Diejenigen, die noch welche haben, meine ich. Ich trage eine Perücke.“
Das Mädchen lachte und auch einige der Burgdamen.
„Ich gebe zu, das ist schwer vorzustellen, weil wir Menschen nun einmal schwarzes Haupthaar haben. Wenn wir welches haben.“ Wieder Gelächter. Aber die Schriften sind da eindeutig.“
Obwohl sie einige der Überlieferungen in den Büchern über die Göttlichen durchaus spannend fand, wenngleich nicht sehr glaubwürdig, interessierte Aesha das Aussehen der Götter nicht besonders. Ob sie überhaupt jemals existiert hatten? Und falls, ob sie wirklich aus ihrer Zeit heraus, die vor und auch gleichzeitig neben der ihrigen fließen sollte, auf das Schicksal der Menschen einwirken konnten, erschien ihr mehr als fragwürdig. Aber das war Häresie und so war es nur klug, dass sie diese Gedanken für sich behielt. Außerdem würden solche Ideen den Eindruck verstärken, dass sie merkwürdig und nicht ganz normal war. Fiel sie doch schon mit ihrem Äußeren aus dem Rahmen, sollte sie sich wenigstens bemühen, den Eindruck zu erwecken, es stimme sonst alles mit ihr. Aber wie sie nur zu gut wusste, war der Versuch vergebens. Sie war ein Sonderling.
Die Vorstellungen der Kleriker waren jedenfalls phantasievoll, das musste sie zugeben und anerkennen. So wie es bei einem Fluss in der Aue oft geschah, sollte sich durch einen Kampf der Götter um die Vormacht die Zeit selbst aufgespalten haben und floss seitdem in zwei Strömen parallel dahin, einem größeren, den der Götter, und einem kleineren, ein Bächlein gewissermaßen, das den Menschen zur Verfügung stand. In ferner oder auch näherer Zukunft sollten die beiden Zweige wieder zueinander finden, zweifellos für die Menschen ein folgenschweres Ereignis. Alle, bis auf die Auserwählten sollten vergehen und die übrig gebliebenen den Göttern nahezu gleich gestellt werden. Aber soweit war es noch nicht. Derzeit befand sich quasi eine Insel zwischen den Flussarmen, die von Menschen nicht betreten werden konnte, von den Göttern hingegen sehr wohl. Einige sollten diese Möglichkeit tatsächlich nutzen, so zum Beispiel Am-Echar, der höchste Gott im Pantheon von Hava-Ala, dem Reich, dessen Grenze die Hochfeste schützte. Natürlich nicht die ganze Grenze, aber doch den Bergpass, der das Reich mit Astora verband und daher auch mit seiner kriegerischen Bevölkerung.
Aesha befreite sich aus ihrer Gedankenwelt und nahm ihre Umgebung wieder wahr. Der Teekrug und Mutters Tasse waren leer. Gut. Sie sah sich kurz um und stellte zufrieden fest, dass sich keine Dienerin im Saale befand.
„Soll ich dir einen neuen Tee bringen lassen?“
Ihre Mutter lachte. „Du willst wohl hinaus. Na gut. Nimm deine Schwester mit, aber geh den Rittern nicht auf die Nerven.“
„Hab ich noch nie.“ Sie ignorierte das höhnische Gelächter im Raum. „Vielleicht kann ich Vater eine Amphore Wein bringen, er wird sicherlich Durst haben nach den Übungen.“ Sie stand auf und krümmte aus Gewohnheit sofort ihren Körper so gut es nur ging, um kleiner zu wirken. Sie war hochwüchsig, sehr sogar. Selbst ihr Vater, der abgesehen von ihr der größte Mensch war, den sie kannte, war ein wenig kleiner als sie. Wenn sie die Damen darüber zischeln hörte, litt sie. „So ein schönes Mädchen, aber leider soooo groß. Männer mögen es nicht, wenn sie zu ihrer Frau hinauf schauen müssen. Sie wird es schwer haben.“ Ähnliche Bemerkungen hatte sie schon viele gehört. Und langsam – nein, schnell - kam sie in ein Alter, wo die Attraktivität dem anderen Geschlecht gegenüber relevant wurde; sie hatte schon sechzehn Lenze erlebt. Ihr Vater hatte einmal erwähnt, dass Aesha so außergewöhnlich hübsch sei, dass ihre ungewöhnliche Körpergröße wohl keine Rolle spiele. Er war sich ihrer Anwesenheit im Raum nicht bewusst gewesen, also hatte er sie nicht nur trösten wollen. An diese seine Bemerkung erinnerte sie sich gerne.
Sindela legte das Stickzeug auf den Tisch und stand ebenfalls auf. Sie war von der durchschnittlichen Größe einer Frau, Aesha sonst aber sehr ähnlich. Ihr Körper war grazil, lang- und feingliedrig, das Gesicht mit den zarten Zügen wurde umrahmt von vollem, schwarzem, welligem, langem Haar. Sie hatte große, mandelförmige, dunkle Augen, eine nicht zu vorwitzige Nase und einen schön geschwungenen Mund, der, zusammen mit den Augen, für den Ausdruck der Sanftmut und Freundlichkeit verantwortlich war. In dieser Hinsicht wichen die Schwestern ein wenig voneinander ab. Freundlichkeit strahlte auch Aesha aus, aber darüber hinaus auch etwas spitzbübisches, das einen leichten Hang zum Sarkasmus ahnen ließ. Nicht zu unrecht. Diese Neigung war wohl eine Folge der körperlichen Unvollkommenheit der älteren Schwester. So zumindest empfand sie selbst ihre außergewöhnliche Körpergröße. Die beiden Mädchen hatten die haselnussfarbene Haut der Bewohner von Hava-Ala. Astoraner waren überwiegend deutlich heller.
Sie verließen den Saal und damit jegliche Aufsicht. Sogleich begannen sie zu laufen wie zwei endlich freigelassene Füllen, huschten den Gang entlang in Richtung Küche, wo sie eine der Mägde trafen, ein nettes Mädchen, mit dem sie häufig plauderten. Aber nicht heute, Aesha beauftragte sie lediglich damit, ihrer Mutter neuen Tee zu bringen, dann wollte sie so schnell wie möglich hinaus ins Freie. Was natürlich, auf einer ummauerten Burg, ein relativer Begriff war, aber das Areal, das sie nun betraten, war zumindest recht groß. Der erste Sonnenstrahl küsste sie auf die Nasenspitze und schon wandelte sich ihre Stimmung wie magisch, wurde leicht. Jetzt konnte sie lächeln, ganz von selbst, ohne sich dazu zwingen zu müssen. Sie kniff die Augen zu, denn es war sehr hell hier draußen. Daran musste sie sich erst gewöhnen. Jetzt blickte sie hinab auf den Übungsplatz, der zwei Dutzend Männern Raum genug bot. Derzeit war der Kampf mit Schwert und Schild mit leichter Rüstung dran, es schepperte und klirrte überall. Sindela grinste und hielt sich die Ohren zu. Aesha blickte zu ihrem Vater. Alle Männer waren kräftig; er aber war besonders breitschultrig, wies einen mächtigen Brustkorb und muskulöse Oberarme auf. Seine Statur beeinflusste seinen Kampfstil. Oft rammte er seinen Schild gegen seinen Gegner und drückte ihn mit seiner überlegenen Masse und Kraft weg, bis er fiel. Der Trick funktionierte fast immer, nur nicht bei ihrem Onkel, einem kleineren Mann von schlanker Statur. Da er sein Leben lang mit seinem Bruder trainiert hatte, wusste er, wann eine stierartige Attacke zu erwarten war und wich einfach aus. Darin war er so geschickt, dass er wohl der Beste der Kämpfer war. Gerade eben stellte er das wieder unter Beweis, drehte sich und ließ ihren Vater ins Leere laufen, der ihm dadurch seinen Rücken präsentierte. Ihr Vater konnte den Schwertstreich gerade noch kontern.
Die eigentliche Burg lag höher als der Übungsplatz und so mussten sie eine Steintreppe hinab laufen. Noch ein wenig tiefer waren die Stallungen gelegen, direkt neben dem großen Tor der Umfriedung. Die Mauern, die das Burgareal umgrenzten, waren von beeindruckender Höhe und Dicke, weshalb die Festung als uneinnehmbar galt. Ein Angriff war ohnehin nur von einer Seite möglich, nämlich der des Eingangstores. Überall sonst hätte man hohe, steile Felsen erklimmen müssen, bevor man überhaupt zur Mauer kam.
Sindela zeigte zu den Stallungen und fragte: „Gehen wir zu den Pferden?“ Sie liebte Tiere und hielt sich gerne bei ihnen auf, bei den Pferden, Schafen und Ziegen.
Aesha schüttelte den Kopf. „Ich habe doch versprochen, eine Amphore Wein zu holen.“
„Im Lager bei der Küche befinden sich doch noch genug davon.“
Das stimmte, wie Aesha wusste. „Aber ich würde gerne auf einen Kirschbaum hinauf klettern. Schwierig genug. Dass Kleid ist zu eng. Wenn du willst, kannst du ja schon Mal zu den Pferden, während ich die Amphore hole und ich komme dann nach.“
Sindela schüttelte den Kopf und folgte ihr. Damit hatte sie gerechnet, denn das geschah meistens. „Wir gehen dann später zu den Ställen“, versprach sie. Sie wusste, dass Sindela nicht so gerne kletterte wie sie und schätzte daher ihre Bereitschaft um so mehr. Ihre Schwester hatte immer Angst um ihr Kleid, eine Furcht, die sie nicht kannte. Ihr Gewand war daher häufig geflickt.
Um zu den Kirschbäumen zu kommen, mussten sie auf „die andere Seite“. Also gingen sie ganz am Rand den Übungsplatz entlang, vorsichtig, um nicht zu stören und vor allem auch, um nicht unbeabsichtigt einen Schwerthieb abzubekommen. Männer im Kampfmodus waren nicht gerade sehr fürsorglich. Der eine oder andere taumelte immer in ihre Nähe. Sie huschten dann schnell davon, ließen den Übungsplatz hinter sich und folgten einer schmalen Steintreppe, die sie flugs hinunter eilten. Es ging ein ganz schönes Stück bergab, denn sie näherten sich nun dem Pass, an dem der Berg wie durchschnitten wirkte. Er war so schmal, dass nicht mehr als zwei Männer auf Pferden nebeneinander reiten konnten und die Felswände auf beiden Seiten waren steil und sieben Manneslängen hoch. Die Mädchen standen am Rand und blickten hinab. Der Pass verband Hava-Ala und Astora und trennte sie auch. Denn genau dort, wo sich die beiden Burgfräulein jetzt befanden, waren zwei hohe Mauern errichtet worden, die die Schneise querten, voneinander getrennt durch die Länge von zwei sechsspännigen Wägen. Massive, im Augenblick geschlossene Flügeltore durchbrachen die Wälle, sodass sowohl die Möglichkeit gegeben war, Händler und Pilger passieren zu lassen als auch feindliche Heere abzuhalten. Nicht dass es auch nur ein einziges versucht hätte, seit die Anlage konstruiert worden war! Davor allerdings waren Überfälle marodierender Banden fast schon an der Tagesordnung gewesen. Auf der Höhe der Mauern befanden sich außen Schießscharten und innen ein Weg zum patrouillieren. Auf beiden Wällen hatte stets wenigstens ein Ritter dienst, selbst während der Übungszeit. Kam tatsächlich jemand, wurde Alarm gegeben. Dann waren es mehrere Bogenschützen, deren Pfeile auf die Ankömmlinge gerichtet wurden. Aber das war nicht alles. Entlang der astoranischen Pass-Seite standen in der Höhe beeindruckende Felsschleudern, die allerdings nicht viel Kraft entwickeln mussten, denn weit brauchten die Geschoße nicht zu fliegen und hinunter ging es ganz von alleine. Manchmal stellte sich Aesha vor, wie sie sich in den riesigen, hölzernen Löffel setzte und dann davongeschleudert wurde. Bei ihrem geringen Gewicht müsste es eigentlich möglich sein, den ganzen Abgrund zu überfliegen und auf der anderen Seite zu landen. Den Mut, das auszuprobieren hatte sie natürlich nie gefunden. Außerdem war es eine ziemlich dumme Idee. Um nämlich auf die andere Flanke zu gelangen, musste sie bloß am Ritter vorbei auf der Mauerbrüstung entlang wandern.
Der Pfad vor ihr verzweigte sich. Sie entschied sich für die rechte, die astoranische Seite, hauptsächlich deshalb, weil sie das letzte Mal links gegangen war. Sie betrat die Brüstung. Der Pfad war nicht sehr breit, nach rechts war die Mauer noch höher und wies Schießscharten auf, nach links schützte ein hölzernes Geländer vor dem Absturz in den Bereich zwischen den Mauern, der dazu da war, Händlerwägen und Pilger zu kontrolliert. Bei einer Karawane dauerte das eine Weile. Auch Reitertrupps und Boten mussten hier verweilen. Aber jetzt war weit und breit niemand zu sehen. Wegen ihrer Größe konnte Aesha gut nach unten blicken, hin zum Reich Astora. Es ging wirklich tief hinab, aber sie war zum Glück schwindelfrei; Sindela nicht, deshalb war es gut, dass sie sich beim Hinabsehen ein wenig schwerer tat, aber auch sie musste sich nicht auf die Zehenspitzen stellen. Sie begrüßten den Ritter, der ihnen aus einem bärtigen Gesicht zulächelte. Aesha warf einen Blick zurück, sah die beeindruckende Reihe der Schleudern und der vorbereiteten Steinlawinen: bloß ein Stock musste weggeschlagen werden und schon rollten kopfgroße Felsbrocken los, wurden den Hang hinab noch etwas beschleunigt, um dann die Wände hinunter zu fallen, mit tödlicher Wirkung. Oft fielen sie bis zur Passmitte. Sie hatte gelegentlich bei den Versuchen zugesehen, bei denen allerdings immer nur einzelne, runde Felsen hinabgerollt wurden; man musste sie ja anschließend wieder mit einem Flaschenzug nach oben transportieren.
Auf der anderen Seite ging es wieder eine Treppe bergauf und eine schmale Schneise führte in eine weite, allseits von hellgrauen Felswänden eingeschlossene Hochebene. Aus der Vogelperspektive, meinte Aesha, müsste sie wie eine Pfanne wirken. Das umgebende Gestein war rau und karstig und vollkommen unwegsam. Aber am Pfannenboden hatte sich im Laufe von Jahrtausenden humusreiche Erde angesammelt und hier stand das Kirschwäldchen in voller Blüte. Manche Bäume wirkten knorrig und waren offenbar schon sehr alt. Weil es warm war, umschwärmten Bienen und Hummeln und auch verschiedene Schmetterlinge die blendendweißen Blüten. Die Luft war erfüllt vom Summen der kleinen Insekten und vom Frühlingsgeruch. Der Boden fühlte sich weich an unter ihren Sandalen, denn das Gras war schon so hoch, dass man die Ziegenherde bald hierher führen würde. Sindela und sie konnten das tun, dann würden sie etwas Nützliches vollbringen und sich außerdem einen schönen Tag machen. Außerhalb der Burgmauern erlaubte man ihnen die Hütetätigkeit nicht, das war angeblich zu gefährlich, Die Festung hatte einen Hirten der, gemeinsam mit seinem freundlichen Hund, diese Aufgabe übernahm. Aesha lief auf einen betagten Baum in seinem hellen Blütengewand zu, dessen Äste weit nach unten reichten und noch frei von Blätterbürde waren, aber man konnte schon erkennen, dass sie bereits bald ein Schmuck aus frischem Grün zieren würde.
„Sollen wir da rauf klettern?“
„Ach weißt du“, meinte Sindela, „mein Kleid ist ziemlich eng, das wird nicht gut funktionieren.“
Aesha sah an sich selbst herab. Auch Sie hatte eine Art wollige Röhre mit Ärmeln an, die durch eine breite Schärpe bei der Taille eingeschnürt war. Sie schränkte die Beinfreiheit empfindlich ein und war beim Klettern zweifellos hinderlich. Daran hätte sie denken sollen. Sie hätten sich umziehen sollen, aber Aesha hatte bloß den Wänden entkommen wollen und es fürchterlich eilig gehabt.
„Außerdem“, ergänzte Sindela, „ist es ein sehr schönes Kleid.“
Aesha seufzte. Nach welchen Kriterien ihre Schwester manchmal Entscheidungen traf! Durch das Wäldchen führte ein gewundener Weg, der bloß am niedergetretenen Gras zu erkennen war. Ging man ihn entlang, musste man sich nicht bücken, um Zweigen auszuweichen. Die Mädchen folgten ihm und blieben schließlich vor einem hohen Höhleneingang stehen. Da drinnen war es noch viel dunkler als in der Burg, aber es war eine ganz andere Dunkelheit, eine, die die Phantasie anregte, ihre zumindest, und es gab interessante Sachen da drinnen, zum Beispiel eine Fledermauskolonie. Wo die war, wusste sie nicht, aber wenn man am Abend vor der Höhle stand, konnte man, wenn es bloß warm genug war, die Nachtjäger hinausfliegen sehen. Zu einer bestimmten Tageszeit waren es wirklich viele, die aus dem Eingang heraus kamen. Manchmal lag eine der größeren, ungiftigen Schlangen, die hier vorkamen und sich meistens in den Felsspalten versteckten, auf einem Sims am Rand des Eingangs, etwa in der Höhe ihres Kopfes und versuchte, eines der geflügelten Wesen zu erhaschen. Einmal hatte Aesha erlebt, dass die Schlange Erfolg hatte. Jetzt musste sie an diese Szene denken und das brachte sie auf eine Idee.
„Was, wenn wir uns den linken Höhlengang anschauen?“
„Der führt doch nicht zu den Amphoren.“
„Das weiß ich doch! Aber vielleicht ist dort die Fledermauskolonie!“
„Dort geht aber nie jemand hin, das ist doch sicherlich sehr gefährlich.“
„Gefährlich! Pff! Hast du Angst, dir fällt die Höhlendecke auf den Kopf? Interessierst du dich gar nicht für die Flattertiere? Hast du dich jemals gefragt, wie sie in der völligen Dunkelheit, die in der Höhle herrscht, sehen können?“
„Sie sind mir unheimlich. Was, wenn sie doch nicht so gut sehen und mir ins Gesicht fliegen?“ Sindela schauderte. „Und dann diese unheimlichen Klicklaute, die sie von sich geben.“
„Du hörst sie auch? Der Priester meinte, ich bilde sie mir nur ein, aber wenn sie um den Turm fliegen und nach Insekten haschen, vernehme ich sie ganz deutlich.“
Sindela nickte. „Wir bilden uns das eben gemeinsam ein. Zur gleichen Zeit.“ Und nach einer kurzen Pause ergänzte sie: „Merkwürdig, dass er das nicht hört.“
Links neben dem Eingang der Grotte stand ein wassergefüllter Trog, der zum Ausdämpfen der Fackeln diente. Bereits innerhalb der Höhle aber in Eingangsnähe, befand sich auf der linken Wand eine Fackelhalterung, die bestückt war. Auf einem Sims daneben lag ein Pergamentbeutel, ein Stück Metall und ein Feuerstein. Aesha nahm die Utensilien und die Fackel und ging damit zurück ins Sonnenlicht. Sie legte alles auf den Boden, schlug das Pergament auseinander, entnahm daraus ein wenig eines gelben Pulvers, das sie auf die Fackel streute. Dann ergriff sie geübt Metall und Feuerstein und schlug sie aneinander, sodass Funken sprühten. Einer traf das Pulver, das sofort heftig entflammte und dabei die Fackel entzündete. Sie ergriff sie, während Sindela das Zündzeug wegräumte. Sie gingen weiter in die Grotte hinein und Aesha betrachtete fasziniert das Flackern von Schatten und Licht an den Wänden, das die unruhige Flamme verursachte. Bald spaltete sich der Weg, rechts ging es zum Amphorenlager, in dem ihre Schwester und sie schon oft gewesen waren und auch gespielt hatten. Ganz hinten gab es ein schmales Versteck, das sie irgendwann entdeckt und dessen Eingang so unauffällig war, dass die Erwachsenen ihn übersehen hatten. Zumindest glaubt sie das. Dort konnte man sich verstecken, wenn man gesucht wurde und noch nicht nach Hause wollte. Man hatte sie noch nie gefunden.
Der linke Höhlenpfad war für sie tabu gewesen und daran hatten sie sich bislang gehalten. Aber nunmehr waren sie eigentlich erwachsen, insbesondere sie, und schrecklich neugierig. Der Alltag als Burgfräulein war nicht übermäßig spannend und hier harrte ein kleines Abenteuer auf sie. Sie wunderte sich, dass sie nicht früher auf die Idee gekommen war, die Warnungen ihrer Kindheit in den Wind zu schlagen. Beherzt folgten sie dem linken, ziemlich schmalen Pfad, Sindela so nahe hinter sich, dass sie sie berührte.
„Hier ist sicherlich noch nie jemand gewesen!“, meinte ihre Schwester.
Vor ihr erspähte sie etwas Kleines, Blinkendes. Sie hob es auf und betrachtete es. Dann hielt sie es ihrer Schwester hin.
„Eine Kupfermünze!“, staunte diese.
„Und ganz ohne Patina! Wenn sie ihren Schimmer noch nicht verloren hat, kann sie noch nicht lange hier liegen. Von wegen: Hier ist sicherlich noch nie jemand gewesen“, höhnte sie. Sie hielt die Fackel in Bodennähe. „Und was haben wir denn da? Sind das nicht Stiefelabdrücke? Ziemlich große noch dazu.“ Sie verglich sie mit ihrem Fuß.
„Wer mag hier entlanggehen und wozu?“
Die Frage war rhetorisch gemeint gewesen, aber Aesha antwortete trotzdem. „Gelegentlich bekommt Vater Besuch von einem bärtigen Mann, der kommt und geht zu einer Zeit, zu der das Burgtor bereits geschlossen ist! Wie kommt er hinein, wie hinaus? Du weißt, wen ich meine?“
Segila seufzte. „Die meisten Männer hier sind bärtig. Nein, woher soll ich das wissen? Wenn das Burgtor geschlossen wird, werde ich schlafen geschickt. Und du auch, übrigens!“
„Nur das ich mich nicht darum kümmere. Nicht immer jedenfalls. Also es gibt da diesen Mann, der nicht von hier ist, der in der Dämmerung kommt und vor Tagesanbruch wieder weg ist. Jedenfalls ist er unauffindbar. Und dazwischen redet er mit unserem Vater.“
„Worüber?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Sag bloß, du hast noch keinen Weg gefunden, ihn auszuspionieren. Keine Nische in der Wand, in der du dich verstecken kannst?“
„Ausspionieren! Du bist ein Genie! Es muss sich um einen Spion handeln. Da bin ich doch gleich sehr neugierig, wo dieser Höhlenschlund hingeht.“
Sindela schauderte. „Ich nicht. Ich bin gar nicht neugierig. Du hättest das Wort 'Schlund' nicht verwenden sollen, es weckt unangenehme Vorstellungen.“
„Hasenfuß! Uns kann nichts passieren. Los komm!“
Sie folgten dem Weg, geleitet vom Schein der Fackel. Zunächst wurde er immer schmäler, war schließlich nur noch ein Spalt im Felsen und die Decke kam näher. Aesha fürchtete bereits, dass er bald enden würde; auch wurden die Wände zunehmend feucht und glitschig und es ging immer ein bisschen bergab. Sie erwartete jederzeit, dass Sindela den Vorschlag machen würde, umzudrehen. Aesha hatte die Schritte gezählt und war schon auf über hundert, als der schmale Gang sie ausspuckte und sie einen großen, domartigen Raum betraten. Nicht nur die Ausmaße waren beeindruckend, es gab hier unglaublich schöne Steinsäulen, an denen das Wasser hinabrann und die daher im Fackelschein schillerten. Daneben gab es auch Riesenzähne, konische Gebilde aus Stein, wie die Mädchen sie noch nie gesehen hatten und die ihnen ein erstauntes 'oh' entlockten. Sie hingen von der Decke oder wölbten sich vom Boden empor, waren größer als sie beide und erinnerten von der Farbe her an Elfenbein. Es war eine Tropfstein-Märchenlandschaft auf die sie hier in der Dunkelheit gestoßen waren. Ein merkwürdiges, leises Geräusch erfüllte den Raum.
„Wir sind im Maul eines Drachens“, sagte Sindela, wirkte dabei aber nicht verängstigt. Jetzt hatte auch bei ihr die Neugierde gesiegt. „Du hattest gar nicht so unrecht mit dem 'Schlund'“.
„Das ist“, staunte Aesha, „überraschend. Und überwältigend.“ Sie grinste und betrachtete begeistert die Details der Höhlenkuppel. In den Schatten bewegte sich etwas. Sie ging langsam vorwärts, damit das Licht in die Ritzen vordringen und die Dunkelheit vertreiben konnte. Und dann erkannte sie es. „Sieh nur“, flüsterte sie, „hunderte Fledermäuse, dicht an dicht. Wir stören sie.“
Da Sindela Angst vor Flattertieren hatte, blickte sie nur kurz hin und dann gleich wieder hinab. Das war gut so. „Bleib stehen!“ rief sie bestimmt. Sie hielt die Hand vor Aeshas flachen Bauch, um sie am Weitergehen zu hindern. Aesha war gerade in einer eigenartigen Stimmung, die man mit dem Wort „Ehrfurcht“ vielleicht am besten beschreiben könnte, Sindelas Schrei störte ihre Andacht und Faszination, was sie beinahe ärgerlich hätte werden lassen, aber immerhin blickte sie nach unten und erkannte, worauf ihre Schwester sie hatte aufmerksam machen wollen. Nur noch wenige Schritte trennten sie von einem gähnenden Abgrund. Hier brach der felsige Boden plötzlich ab wie mit der Hacke geschnitten. Die Kante erstreckte sich von einer Höhlenwand zur gegenüber liegenden und teilte die Kuppel in zwei annähernd gleich große Bereiche.
„Oh!“, machte Aesha. „Du hast mir das Leben gerettet, schätze ich.“ Sie legte die wenigen Schritte zurück und blickte hinab. Hätte ihre Schwester sie nicht gewarnt, wäre sie mehrere Manneslängen hinuntergestürzt. Sindela wagte offenbar nicht, ihr zu folgen. „Komm näher“, lockte Aesha, „das musst du dir ansehen.“
„Ich trau mich nicht!“
„Dann leg dich auf den Boden und robbe vor bis dein Kopf über die Abbruchkante schaut.“
„Das geht nicht! Dann wird mein Kleid schmutzig!“
Aesha rollte die Augenbälle. „Dann beschreibe ich dir eben, was ich sehe. Also: Da unten – und der Abgrund ist sehr tief - fließt ein Bach, kein großer, aber er ist die Ursache dieses leisen Rauschens, das die Höhle erfüllt. Kannst du es hören?“ Sindela nickte. „Gut. Er fließt auf der gegenüberliegenden Seite. Wäre ich weiter gegangen, wäre ich also auf Fels gefallen, nicht in Wasser.“ Das jüngere Mädchen schauderte. „Er entspringt“, fuhr Aesha fort, „dem Felsen und verlässt den Felsdom wieder auf der anderen Seite. Ich bin mir nicht sicher, aber dringt dort Licht in die Höhle?“ Sie zögerte einen Moment, dann entschied sie. „Nimmst du bitte die Fackel und gehst ganz weit nach hinten? Ich kann das sonst nicht erkennen.“
Sindela tat wie ihr geheißen, sie wollte sowieso weg von dem unheimlichen Abgrund.
Aesha indessen schaute angestrengt auf die Stelle, wo das Wasser verschwand. „Ich glaube, da ist was. Aber es ist nur ein ganz schwacher Schimmer. Ich muss da runter“, sagte sie energisch.
Sindela ging wieder zu ihr, hielt allerdings einen Sicherheitsabstand zur Felskante und behielt die Fackel. „Wie sollte das gehen? Du sagst, der Abgrund ist ziemlich tief. Du müsstest fliegen können. Ich wette, hier war überhaupt noch nie jemand, trotz der Münze.“
„Das ist“, meinte die ältere Schwester, „ein Argument, sogar ein ziemlich gutes. Aber ...“, sie machte eine Kunstpause, „es wird entkräftet durch meine letzte Entdeckung.“ Sie nahm die Fackel von Sindela und mit einem Sinn für Dramatik senkte sie den Arm in einer kreisförmigen Bewegung. Damit geriet ein Bündel in den Lichtfokus, bestehend aus Seilen und Holzstäben. „Eine Strickleiter, siehst du? Ha! Von wegen, 'da war noch niemand'! Und mit der komme ich da runter. Halt wieder die Fackel.“
Sindela nahm die Licht- und Wärmequelle von ihrer Schwester entgegen, protestierte aber: „Das ist viel zu gefährlich! Bitte, bleib oben!“
Aesha aber war bereits eifrig dabei, das Knäuel zu entwirren. Schon rollte die Leiter in die Tiefe, ein Ende blieb oben. „Die Strickleiter ist mit einem Metallring über der Kante befestigt, siehst du? Da ist gar nichts gefährlich, Angsthase.“ Sie hob ihr Kleid ein wenig, sodass sie ein Bein nach unten schwingen konnte. Ihr Fuß ertastete eine Sprosse.
Sindela war nicht überzeugt. „Was, wenn das Seil reißt?“ Sie klang ängstlich und blickte ihre Schwester aus großen Augen an.
„Was, wenn die Decke dieses Felsdoms herunterfällt und uns unter sich begräbt?“
Sindela blicke erschrocken nach oben, daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Währenddessen tat Aesha sehr vorsichtig ihren ersten Schritt hinab in die Tiefe. Auf Leitern war sie schon geklettert, aber das hier war anders, schwieriger. Dort, wo ihre Arme waren, bewegte sich die Strickleiter von der Felswand weg, sodass sie in eine überhängende Position kam, was wirklich etwas unheimlich war. Ihre Arme waren nicht besonders stark, ihre Hände schon etwas mehr. Nur entwickelten sie gerade ein prickelnd-stechendes Gefühl der Unsicherheit und ihre Phantasie zeigte ihr das Bild ihres fallenden Körpers. Sie atmete tief durch und verscheuchte die unwillkommene Vorstellung. Ein Schritt nach dem anderen! Sie ging eine Sprosse tiefer und erst als sie einen sehr sicheren Stand darauf hatte, wagte sie es auch, eine Hand loszulassen und nach unten zu greifen. Das ging eine Weile ganz gut, sodass sie den Mut aufbrachte, nach unten zu blicken. Sie sah aber nichts, es war zu dunkel. Sie überlegte einen Moment, ob sie Sindela bitten solle, die Fackel über die Kante zu halten, entschied sich dann aber dagegen. Sie wollte ihre Schwester nicht in einen Gewissenskonflikt hinein maneuvrieren, der darin bestand, zwischen ihrer und Aeshas Sicherheit zu wählen. Irgendwann – es waren ohne Zweifel bloß ein paar Minuten vergangen, wenn überhaupt – berührte sie schließlich den felsigen Boden und atmete auf. Der Untergrund war nicht einmal glitschig, sie fühlte sich durchaus sicher. Sie blickte sich um. Zu sehen war der von der Fackel erhellte obere Teil der gegenüber liegenden Wand und die Bachmündung. Auch das Wasser des Rinnsals glitzerte ein wenig, sie konnte den Verlauf ahnen und hielt auf das Ufer zu. Sie bewegte sich sehr langsam. Ihre Schwester wollte wissen, ob sie schon unten angekommen sei und sie bejahte. Schließlich musste sie stehen bleiben, wollte sie keine nassen Zehen bekommen. Von hier war die Öffnung im Felsen sehr deutlich zu erkennen. Sie war höher als ein Mann und breiter als das Bachbett, man konnte trockenen Fußes entlanggehen. Zur Zeit der Schneeschmelze mochte das anders sein. Aus irgendeinem Grund war der Verlauf des Gewässers gewunden, sie hatte keinen Blick auf die Außenwelt, was ihre Neugierde gar nicht befriedigte.
„Da ist ein Höhlenausgang, aber ich kann von hier aus nichts genaueres sehen. Ich gehe nach draußen.“
„Aber pass' bitte auf, auch dort kann ein Abgrund sein.“ An ihrer Stimme merkte man, dass Sindela der Gedanke nicht gefiel.
Aesha nickte. „Stimmt!“ Sie ging auf den fahlen Schimmer zu. Noch immer war es so dunkel, dass sie es vorzog, den Arm nach vorne zu halten, um keine böse Überraschung in Form einer Felswand zu erleben. Eine Beule an der Stirn würde unliebsame Fragen nach sich ziehen. Ganz nah am Bach folgte sie dessen Verlauf in Fließrichtung, berührte mit ihren Fingern bald kühlen Fels und tastete sich weiter. Plötzlich ging es nach rechts und ein paar Schritte weiter wechselte dann abermals abrupt die Richtung, diesmal ging es scharf nach links. Wer immer von Außen kam, stellte sie fest, eine Leiter von der Höhe des Abgrundes konnte er nicht mitnehmen, auch nicht eine wesentlich kürzere. Der Spion – oder wer immer hier entlang kam – war also auf Hilfe angewiesen, wollte er das Burgareal betreten. Das war einerseits beruhigend, hieß es doch, dass sie vor unliebsamen Überraschungen sicher waren, doch andererseits stellte sich damit die Frage, wie der Spion seine Ankunft ankündigte. Es musste so etwas wie ein Signal geben, das von der Burg aus sichtbar war. Ein Feuer?
Mit jedem weiteren Schritt wurde es nun heller und schließlich konnte sie nach draußen sehen, ein Stück makellos blauer Himmel war sichtbar, sonst nichts. Sie trat in den Ausgang und jetzt hatte sie einen guten Blick auf das Nachbarland, auf einen bergigen Teil von Astora. Da war zwar kein Abgrund, aber der Bach floss doch recht steil bergab und der Pfad, der neben ihm verlief, war kaum sichtbar, wurde also nicht oft verwendet. Die Landschaft wirkte grau und schroff, nicht überall hatte sich Vegetation festsetzen können, dazu war der Untergrund zu mager. Der Einschnitt in den Berg, auf den sie hinabblickte, musste irgendwo weiter weg in die Passstraße münden, wirkte aber sicherlich so wenig einladend, dass wohl kaum jemand auf die Idee verfiel, ihn näher zu untersuchen. Das war einerseits gut so. Andererseits aber war hier nichts, das Sindelas Interesse wecken konnte. Schade. Da hatte sie ein Stück Freiheit entdeckt und konnte nun nichts damit anfangen.
***
Er saß in einer Mensa, die den gleichen Charme hatte, wie fast alle Mensen dieser Welt, alleine bei einem Tisch, der groß genug war für sechs Personen. Es war einiges los, was ihm gar nicht recht war, er liebte die Ruhe. Vor ihm standen auf einem Tablett eine Portion Wiener Schnitzel mit Pommes und ein gemischter Salat. Und ein Glas Mineralwasser. Er führte gerade ein paar Gurkenscheiben zum Mund, die aber nicht seine Aufmerksamkeit fesselten. Dies taten stattdessen ein paar Blatt Papier, die rechts von seinem Mahl lagen. Er legte die Gabel hin und griff zu einem löschbaren Rollerball-Stift, um noch ein paar Zeichen auf die oberste Seite zu schreiben. Das war wirklich faszinierend! Wieso hatte er das nicht früher gesehen? Doris würde staunen, wenn er ihr diese Ergebnisse seiner Kalkulationen zeigte. Nun ja, würde sie nicht, sie war nicht der Typ dafür. Aber höfliches Interesse würde er schon ernten. Er vertiefte sich wieder in die verblüffende Welt der Physik und vergaß sein Essen. War das der Durchbruch? Nur ganz am Rande bekam er mit, dass sich jemand näherte und hoffte inständig, die Person würde weitergehen. Was sie aber nicht tat, leider, leider, sie blieb stehen und erdreistete sich nun sogar, ihn anzusprechen:
„Wolf.“
„Hm?“ Offenbar hatte er, um antworten zu können, etwas tiefer eingeatmet, denn sofort musste er husten. Er blickte auf und sah einen älteren Kollegen, Mitte fünfzig vielleicht, der sich nun unaufgefordert zu ihm an den Tisch setzte und sein Tablett vor sich hin stellte. Er war etwas beleibter und größer als Wolf, der eigentlich Wolfram Echsner hieß, hatte ein breiteres Gesicht mit klugem Ausdruck und buschige Brauen über Augen mit dunkler Iris. Das Haar war schon grau und schütter, jedenfalls dort, wo es ihm noch geblieben war. Er griff zur Bierflasche und zum Öffner. Das erwartete Plopp-Geräusch ertönte.
„Wie geht es der Lunge?“
'Bedauerlicherweise zu gut, um noch abschreckend zu wirken', dachte Wolf. Laut sagte er aber: „Immer noch mäßig, aber schon besser. Ich muss nicht mehr ununterbrochen husten.“
„Weiß man schon, woran du erkrankt bist? Ansteckend scheint es ja nicht zu sein. Asthma vielleicht?“
„In meinem Alter? Wäre doch untypisch, jetzt noch Asthma zu kriegen, oder? Nein, es wird schon irgendeine Infektion sein, aber ich bin nicht mehr zum Arzt gegangen, es wird ja besser.“ Er runzelte die Stirn als er überlegte, wie er den unerwünschten Smalltalk am Leben erhalten konnte, wie es die Höflichkeit gebot. Eigentlich war Alexander durchaus nett, aber gerade in der letzten Woche war Wolf in seinen Überlegungen ungewöhnlich gut weiter gekommen – vielleicht weil er krankheitsbedingt keinen Sport betreiben konnte und auch sonst nichts tun – und brauchte nun nur noch ein bisschen Zeit zum Denken.
„Du warst doch bei diesem Workshop?“
„Eine Teilnahme wurde doch sicherlich auch dir angeraten.“
„Das ständige Husten hätte die Leute gestört.“
„So gesehen schade, dass du nicht teilgenommen hast.“
„War es so schlimm?“
„Frauen in der Forschung. Nicht gerade das spannendste Thema, meinst du nicht?“ Alexander seufzte. „Verglichen zum Beispiel mit der Neutrino-Antimaterie-Geschichte.“
„Du bist ein Emanzipationsbefürworter?“ Alex gehörte zu einer anderen Generation, da war das nicht so klar. Eigentlich auch nicht in seiner.
„Wenn einem die eigene Mutter erklärt, dass man nicht existieren würde, hätte es zu 'ihrer Zeit' schon die Emanzipation gegeben, wie kann ich sie dann befürworten?“ Wolf blickte ihn interessiert an und so fuhr Alex fort: „Sie ist sehr musikalisch, Klavier, Orgel, Singen, und hätte gerne Musik studiert. Stattdessen hat sie gleich nach der Schule auf Wunsch ihres Vaters im Finanzamt angefangen, was sie sehr gelangweilt hat. Sie hat sich sozusagen in die Schwangerschaft gerettet. Sie war erst einundzwanzig als ich als Zweitgeborener auf die Welt kam.“
„Na ja, Musik ist sicherlich interessanter als Hausarbeit und Windeln wechseln.“
„Sicherlich! Aber es beträfe nicht nur mich. Sieh dich um! Eine emanzipierte Frau – also wenn du Migrantinnen erster Generation weg rechnest – bekommt durchschnittlich so ungefähr ein Kind, das heißt, eine halbe Tochter, was populationsdynamisch wesentlicher ist. Hätte es zur Zeit meiner Mutter schon die Emanzipation gegeben, würden zwei Drittel der älteren Leute, die du hier siehst, gar nicht existieren. Und von deiner Generation wäre überhaupt nur ein Neuntel da!“
Wolf, der Menschenansammlungen nicht mochte und sich eine fast leere Mensa vorstellte, tat sich schwer, das Tragische an der Sache zu sehen. „Du rechnest mit eineinhalb Töchtern pro Frau.“
„Wie es zur 'Zeit meiner Mutter' halt war.“
„Aber zu Deiner Generation nicht mehr. Also würden von den Jüngeren mehr existieren als nur ein Neuntel. Dir ist schon klar – natürlich ist es das –, dass diese Vermehrungsrate langfristig auch zu einer Katastrophe führen würde. Sieh zum Beispiel nach Israel, wo die Frauen auch heute noch im Mittel drei Kinder bekommen. Sag bloß, dass das keine Probleme verursachen würde. Stichwort: Siedlungspolitik.“ Er aß ein Stück paniertes Fleisch und fuhr dann fort: „Wir haben ja Überbevölkerung und eine weltweite Gleichberechtigung der Frauen wäre der unblutigste Weg, da wieder raus zu kommen. Aber langfristig gesehen, das gebe ich zu, wäre es erforderlich, dass die Menschheit global gesehen zu einer Reproduktionsrate von ziemlich genau eins kommt, sonst gibt es Schwierigkeiten. Ein halb ist jedenfalls zu wenig, da kommt es ohne Migration zu Generationsproblemen und eineinhalb zu viel, da verschwinden die Ressourcen und der Planet wird zugemüllt. “
Alex seufzte. „Ich weiß. Jedenfalls bewundere ich meine Frau dafür, dass sie sich gegen den sozialen Trend gestellt hat, der bei uns herrscht. Sie war immer der Meinung, Kindererziehung sei ein Fulltimejob. Allerdings hat sie erst nach ihrem Studium unsere Kinder bekommen.“
Wolf erinnerte sich daran, dass Alex mehrere Kinder hatte, vier oder vielleicht sogar fünf. Sie spielten in seinem Leben eine bedeutende Rolle. Die meisten von ihnen waren wohl schon erwachsen. „Sieh es positiv“, meinte er, „das Ganze ist ein Experiment. Du hast mir gerade vor Augen geführt, dass zur Zeit ein enormer Selektionsdruck auf jene Gene wirkt, die die Vermehrungsbereitschaft beeinflussen, weil sich eben nur mehr diejenigen Frauen vermehren, denen das wirklich etwas bedeutet. Also werden sich die entsprechenden Genvarianten in den nächsten Generationen in der Bevölkerung ansammeln. Oder es kommt zu einem Umdenken und Kinder kriegen und Aufziehen wird zu einer gesellschaftlich anerkannten Tätigkeit. Dann werden alle Mütter Beamtinnen und hoffentlich gut bezahlt. Oder es wird wieder alles so wie es war, auch möglich.“
„Meine Frau, die Biologie studiert hat“, ergänzte Alex, „meint sogar, dass sich die Menschen jetzt vielleicht in die Richtung zur Eusozialität hin entwickeln. Das bedeutet, dass sich zwei verschiedene Frauenkasten herausbilden, Arbeiterinnen, die zum Beispiel Physikerinnen werden und Königinnen, die die Kinder bekommen und vielleicht auch betreuen. So ähnlich wie bei Termiten und Nacktmullen. Denen sehen wir ja mit unserer nackten Haut und unseren runzligen Gesichtern schon recht ähnlich.“
„Darüber könnte man streiten“, meinte Wolf, der jung genug war, um kein faltenreiches Gesicht zu haben. „Aber jedenfalls wäre das ein gutes Thema für einen Sozio-Fiction-Roman. Wenn es so etwas gibt. Die Frage ist allerdings ob das überhaupt möglich wäre, so viele Kinder wie ein Nacktmullweibchen kann eine Frau nicht bekommen.“
„Schade ist nur“, sinnierte Alex, „dass man nicht in die Zukunft reisen kann, um etwas über den Ausgang des Experiments zu erfahren. 'Die Zeit wirft ihren Schatten voraus', sagt man, aber wie der aussieht, erfährt man immer erst im Nachhinein.“ Wolf lächelte ihn bloß an und da erinnerte Alex sich. „Arbeitest du nicht an so was, wie einer Theorie zu einer Zeitmaschine?“
„Ich versuche, in einem winzig kleinen Raumbereich die Zeit um einen ebenso winzigen Betrag langsamer gehen zu lassen. Eine Zeitmaschine im eigentlichen Sinn ist das nicht.“
„Was kritzelst du da vor dich hin?“
Wolf war noch gar nicht aufgefallen, dass er kleine Kuben zeichnete. Er blickte auf sie, erkannte, was er da machte, dann antwortete er: „Das Bell'sche Theorem ist eigentlich ganz einfach und doch verstehen es viele Leute nicht. Deswegen habe ich über eine graphische Repräsentation nachgedacht.“ Er zeigte sie Alex, drei Quader in einem Würfel in den drei Raumrichtungen und zwei den dritten überschneidend. Alex blieb unbeeindruckt. „Warum bist du eigentlich zu diesem Workshop gegangen? Interesse für das Thema war es eher nicht, nach allem, das du mir erzählt hast.“
„Wie gesagt, man hat mir den Besuch nahe gelegt. Das ist wichtig, wenn man einen Verwaltungsposten haben will.“
„Einen Verwaltungsposten? Du strebst einen Verwaltungsposten an? Was ist mit der Forschung?“
Alex zuckte mit den Schultern. „Ausgepowert. Ich bin zu alt, um als Theoretiker noch was zu reißen. Ich kann unterrichten und das werde ich auch weiterhin, aber es ist sinnvoller, wenn ich die Forschung verwalte als darauf zu hoffen, dass die große Theorie bei mir im Oberstübchen anklopft. Das tut sie in morschen Köpfen nämlich nicht mehr.“
Wolf tat sich schwer, das nachzuvollziehen, da Naturwissenschaft alles für ihn war. „Aber ist das dann besser als der Finanzamtsjob deiner Mutter? Außerdem hast du doch eine sehr interessante Theorie geliefert. Ich weiß das bestimmt, ich habe sie schließlich gelesen. Im Grenzbereich zwischen Biologie und Physik angesiedelt. Du hast Darwins Selektionstheorie als Teilbereich der Thermodynamik beschrieben und die Informationsänderung durch Selektion quantifiziert.“
„Fishers 'genetical theory of natural selection' eigentlich. Hat die Physiker nicht interessiert. Obwohl es im Bereich der Lasertheorie durchaus Anwendungsmöglichkeiten gäbe.“
„Und die Biologen?“
„Die haben sie nicht kapiert. Meine Frau, die wie erwähnt Biologie studiert hat und die mich eigentlich auch inspiriert hat zu dieser Arbeit, hatte mich diesbezüglich vorgewarnt.“
„Schade. Wie war der Workshop eigentlich so?“
„Na ja, es sollte eigentlich um Fairness gehen, aber es waren zu viele Feministinnen dabei, die das nicht interessiert. Dass ich als Lehrender eine Frau wegen ihres Geschlechts nicht benachteiligen darf, ist eh klar, das steht doch schon in der Verfassung des kleinen Landes aus dem ich stamme und die ist ziemlich alt. Aber Fairness muss man von allen verlangen, auch von den Frauen.“ Er trank einen Schluck Bier und fuhr dann fort: „Ein Beispiel: Tim Hunt.“
„Tim Hunt? Das ist doch ein Nobelpreisträger. Medizin. Richtig?“
„Genau. Und der hat auf die Frage, wie das so ist, mit Frauen in der Forschung, geantwortet: 'Man verliebt sich in sie, sie verlieben sich in einen und wenn man sie kritisiert, fangen sie an zu weinen.' Er hat das als Scherz gemeint gehabt, die Leute bei der Veranstaltung haben jedenfalls gelacht, wollte aber wohl auch seine Erfahrungen los werden.“
Wolf blickte verwirrt. „Okay. Und wo ist die Pointe?“
„Die Pointe ist, dass das von einer Journalistin zum Thema gemacht wurde; das mit dem Scherz hat sie aber nicht erwähnt. Tim Hunt hat die Anstellung bei seiner Universität verloren und die Mitgliedschaft bei der Royal Society. Er ist übrigens bei weitem kein Einzelfall.“
„Das erinnert an das Schicksal David Bohms während der McCarthy-Ära.“
„Nur dass der nach Brasilien gegangen ist, Hunt hingegen nach Japan. Nun dreh die Rollen um. Angenommen eine Wissenschaftlerin hätte auf die Frage 'Männer in der Forschung' geantwortet: 'Man verliebt sich in sie, sie verlieben sich in einen und wenn man sie kritisiert, werden sie aggressiv'. Die Frage ist: hätte sie ebenfalls ihren Posten und die Mitgliedschaft bei der Royal Society verloren oder nicht? Lautet die Antwort: ja, ist alles in Ordnung, wenn nein, dann liegt ein Fall von Machtmissbrauch vor. Ein anderes Beispiel: Eine Staatssekretärin tritt zurück und äußert, die Nachfolge soll von einer Frau angetreten werden. Okay. Niemand regt sich auf. Nun vertausche abermals die Rollen: Ein Staatssekretär tritt zurück und meint öffentlich, der Nachfolger solle ein Mann sein. Kannst du dir vorstellen, was dann los wäre?“ Wolf konnte. „Jedenfalls schließen sich gleich behandelt werden wollen und auf einen Sonderstatus pochen einander aus“, ergänzte Alexander.
„Und das hast du zum Thema gemacht?“
Alex schüttelte den Kopf. „Ich hänge an meinem Job. Wie gesagt: zu viele Feministinnen.“
Wolf überlegte kurz. „Die meisten Frauen, die ich kenne, scheinen mir schon fair zu sein...“
„Du lebst noch nicht sehr lange.“
„Der Dalai Lama, der schon lange lebt, ist aber sogar der Meinung, dass Frauen die besseren Menschen sind.“
„Was nur beweist, dass er kein Scheidungsanwalt ist.“
„Und Doris? Zählst du sie auch zu den Emanzen?“
„Da verweigere ich besser die Aussage.“ Es gab eine kurze Gesprächspause, in der beide aßen. Währenddessen wandte Wolf Alexanders Prinzip an und stellte sich vor, er wäre der einzige Physiker unter lauter Physikerinnen, wie es ja umgekehrt vor einer Generation durchaus vorgekommen war. Hätte das seine Arbeit beeinflusst? Er wusste es nicht.
Nach einer Weile meinte Alexander: „Deine Doris hat sich bei dem Seminar jedenfalls sehr wohl gefühlt, kann ich dir sagen. Buchstäblich wie ein Fisch im Wasser.“
„Ich glaube nicht, dass du sie als 'meine Doris' bezeichnen kannst, sie gehört nur sich selbst. Aber sie möchte im Leben sicherlich weiterkommen, den Eindruck habe ich auch. Und das war für mich ja auch recht hilfreich. Sie hatte die Connections zum Militär. Ohne sie gäbe es die beiden Forschungsanlagen, an denen ich nach Beweisen für meine Theorien suchen kann, nicht.“
„Das Militär als Geldgeber! Ist das besser als ein Verwaltungsjob? Bist du dann überhaupt Herr über deine Forschungsresultate?“
„Ich kann publizieren was ich will. Doris hat sich darum gekümmert.“
Alex blickte sehr, sehr skeptisch. „Wie bist du eigentlich an sie geraten?“
„Ich hatte einen mathematischen Beweis veröffentlicht, eine ziemlich umfangreiche Geschichte, fast zwanzig A4-Seiten. Und dann kam eines Tages dieses Email von einer Unbekannten, in dem sie mir gezeigt hat, dass die Sache auch viel platzsparender gegangen wäre. Ihre Version hat bloß ein bisschen mehr als eine Seite in Anspruch genommen. Ich war ziemlich beeindruckt. Wir haben uns dann getroffen und so ist alles weitere gekommen.“
„Wenn man von der Sonne spricht … rate mal, wer gerade bei der Selbstbedienung steht. Sie wird wohl gleich hierher kommen. Ich möchte eurem Wiedersehen nicht im Weg stehen. Eines noch: Hast du heute Nachmittag, so um fünf Uhr, Zeit?“
Wolf nickte.
„Erinnerst du dich noch an den Sandstrand, wo wir gemeinsam Windsurfen waren? Ich habe dir einen Zugang entlang eines schmalen Bachbetts gezeigt, den nur wenige kennen. Die meisten kommen vom Parkplatz im Norden und gehen dann nicht so weit. Deshalb ist der Strand dort meistens menschenleer.“
„Klar erinnere ich mich.“
„Geh dorthin. Um siebzehn Uhr.“
„Und wieso?“
„Du würdest mir nicht glauben, wenn du es nicht selbst siehst. Also. Ich empfehle mich. Schönen Tag noch. Ach ja! Und erzähle ihr nichts davon.“
Er stand auf, nahm sein Tablett und trottete zu einem anderen Tisch. Wolfram wusste nicht, wie er diesen Hinweis interpretierten sollte, akzeptierte aber, dass es irgendwie wichtig war. Alex war kein Spaßvogel, der sich bloß grundlos kryptisch gab. Etwas mehr Begründung wäre allerdings nicht schlecht gewesen.
In sein Gesichtsfeld trat eine schlanke, blonde Frau mit sportlicher Figur und nordisch-kühler Ausstrahlung. Sie stellte ihr Tablett ihm gegenüber auf den Tisch und beugte sich dann, ebenso wie er, nach vor. Sie gaben sich einen Kuss. Dann setzten sie sich. Wolf freute sich, sie nach einer Woche wieder zu sehen und schämte sich ein wenig dafür, dass er noch lieber alleine geblieben wäre mit seinen Gedanken.
„War das nicht Alex?“, fragte sie. „Was wollte er denn?“
„Mir klar machen, dass eine stabile Gesellschaft nur möglich ist, wenn sie auf Fairness und einer Reproduktionsrate von eins fußt“, entgegnete er. „Wie war der Workshop?“
„Erstaunlich, wie häufig Diskriminierung von Frauen in der akademischen Welt immer noch vorkommt.“ Sie schüttelte den Kopf, was die zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haare fliegen ließ und blickte ihn nun aus ihren großen Augen direkt an. „Wie geht es deiner Gesundheit?“
„Besser. Deutlich besser. Die Lunge kratzt nicht mehr bei jedem Atemzug ...“
„Sondern nur noch bei jedem zweiten“, beendete sie den Satz für ihn.
„Ja genau.“ Er grinste. „Nein, im Ernst, es geht viel besser. Ich habe meine Ruhe, wenn ich oberflächlich atme. Sport ist nicht drin, aber ich kann mich wieder konzentrieren und nachdenken.“
Doris versenkte ihre Gabel in einem Berg aus Grünzeug und fischte etwas heraus, das wie ein Löwenzahnblatt aussah, führte es zum Mund, verharrte aber dann. „Du hast eine neue Theorie?“
„Das wäre zu viel gesagt, aber ich habe einen neuen Weg gesehen, der sich vielfältig verzweigt und weitere Möglichkeiten öffnet.“ Er blickte sie begeistert an. „Vielleicht fällt dir wieder etwas ein, wie du meine mathematischen Ausführungen kürzen kannst. Ich sehe das Ergebnis, aber die Art und Weise, wie ich dazu komme, ist ziemlich holprig.“ Doris und er hatten in letzter Zeit öfters gemeinsam publiziert. Er sah kurz auf seinen Teller, der nun beinahe leer war. Doris kaute gerade und spießte mit der Gabel aggressiv ein Stück Ziegenkäse auf. Sie schien mit einer Antwort zu zögern, also ergänzte er: „Du kannst natürlich auch unabhängig von mir Arbeiten veröffentlichen, wenn dir das lieber ist. Dir ein eigenes Forschungsgebiet suchen.“
Sie schluckte. „Das kann ich eben nicht, das ist mein Problem.“
„Wieso nicht?“, wunderte er sich.
„Als ich als Teenager mitbekommen habe, dass ich alles verstehe, dass ich mit relativ geringer Mühe jede mathematische Abhandlung nachvollziehen kann, habe ich eine rosige Zukunft vor mir gesehen, schließlich war ich ja fürchterlich intelligent, nicht?“
„Das bist du ohne jeden Zweifel.“
„Was ich nicht begriffen habe, damals, ist, dass man auch ein erhebliches Ausmaß an Kreativität besitzen muss. So wie du.“
Wolf wunderte sich. „Man kann keinen mathematischen Beweis führen oder auch nur verkürzen ohne Kreativität.“
„Mag sein, aber ich bin keine Mathematikerin, so herausragend bin ich in dem Fach doch nicht. Also habe ich mich entschieden, Physikerin zu werden. Und da ist einfach nichts. So gut wie nichts jedenfalls. Wer ein guter Mathematiker ist, muss noch lange kein guter Physiker sein. Wo nimmst du eigentlich deine ganzen Ideen her?“
„Ich weiß nicht, aber die Quelle ist nichts Tolles, im Gegenteil. Denk an Einsteins 'Club Olympia', wo er mit seinen Freunden Physik betrieben hat. Der war dezidiert für die Armen im Geiste. Und so sehe ich mich eigentlich auch. Ich denke zum Beispiel darüber nach, wo die Grenze zwischen klassischer Physik und Quantenphysik liegt. Gilt die eine im Makro- und die andere im Mikrokosmos? Nein, offenbar nicht, das hat schon Penrose sehr richtig erkannt, dass die eine nicht einfach in die andere übergeht, wenn du immer kleinere Objekte beobachtest.“
Doris überlegte kurz. „Immerhin kann eine elektromagnetische Welle ja auch eine Wellenlänge von einem Meter haben. Wie groß ist dann das Photon? Okay, lassen wir das. Und wo liegt die Grenze dann?“
Er lächelte. „In der Gegenwart, oder Jetzt-Front, wie ich sie nenne. Die klassische Physik beschreibt das, was schon gewesen ist. Alle Entscheidungen sind schon getroffen, es gibt keine nichtdeterministischen Ereignisse, alles ist quasi wie auskristallisiert. Es gibt keine Zeitachse, du kannst nach vorne genauso rechnen wie nach hinten. Und die Quantenphysik beschreibt das Meer der Möglichkeiten. Auch da gibt es keinen Zeitpfeil. Getrennt werden die beiden Bereiche durch eine unendlich dünne Haut, die Gegenwart, die alleine sich weiter bewegt.“
„Woher weißt du, dass sie unendlich dünn ist?“
„Galileo Galilei hat den Arbeitsbereich der Naturwissenschaften mit den Worten umschrieben: 'Messen, was messbar ist und was nicht messbar ist, messbar machen'. Es gibt aber reale Dinge, die sich zumindest bislang nicht messbar machen lassen.“
„Und dazu gehört die Gegenwart?“
„Offenbar ja. Die Begründer der Kopenhagener Deutung der Quantenphysik haben intuitiv verstanden, dass irgendwas fehlt, um die Quantenphysik begreifbar zu machen, haben sich aber für das Falsche entschieden, nämlich für das Bewusstsein. Einstein hat das kritisiert. Er glaube nicht, dass der Mond nicht existiert, wenn keiner hinschaut, hat er gesagt. Das war natürlich überspitzt formuliert, aber die Kritik war mehr als berechtigt.“
„Wieso soll das Bewusstsein nicht messbar sein?“
„Es gibt heute Computerprogramme, mit denen du dich so gut unterhalten kannst, dass du glaubst, du kommunizierst mit einem Menschen. Man kann vermuten, dass sich jedes Verhalten ohne Bewusstsein durchführen lässt. Dass es so etwas überhaupt gibt, weißt du ausschließlich durch Eigenbeobachtung. Ob ich ein Bewusstsein habe oder der struppige Hund da hinten, der eigentlich gar nicht in der Mensa sein dürfte oder die Ameise, die dort in der Ecke herum kriecht, das kannst du in keiner Weise feststellen. Du kannst es auch nicht widerlegen, zum Leidwesen mancher Philosophen.“
„Okay. Und aus der Nichtmessbarkeit der Gegenwart schließt du, dass sie zwar existiert, aber unendlich dünn ist. Woher weißt du, dass sie existiert?“
„Aus der einzigen Quelle, die ich habe, aus der Eigenbeobachtung. Die nehme ich im Gegensatz zu anderen Physikern sehr ernst. Irgendwie ist die Gegenwart schon auch in die Quantentheorie integriert, aber als mehr oder minder mystischer Appendix. 'Dekohärenz' ist ein schönes, dazu passendes Wort oder die Formulierung: 'Kollaps der Wellenfunktion'. Sie sind nicht wirklich Teil der Theorie, aber man benötigt sie. Du beschreibst die mögliche Zukunft und irgendwann holt die Jetzt-Front sie ein.“
„Gilt das nicht eigentlich auch für die Statistik?“
„Oh ja! Du kennst doch das Galton-Brett? So eine Art Fakir-Bett, das senkrecht steht?“ Doris nickte. Er fuhr fort: „Allerdings steht das spitze Ende der Nägel nach innen, aber das ist eigentlich egal. Fällt eine Eisenkugel auf einen Nagel, kann sie nach links oder nach rechts abgelenkt werden und in der nächsten Nagelreihe wieder und so weiter bis sie unten angekommen ist. Das Resultat folgt daher einer Binomialverteilung. Das weißt du, solange der Versuch in der Zukunft liegt. Wenn du nicht hinsiehst, bis die Kugel unten angekommen ist, kannst du sagen, dass in eben diesem Moment die Binomialverteilung kollabiert und die Kugel tatsächlich eine bestimmte Position einnimmt. Wenn du statt der Wellenfunktion die Binomialverteilung nimmst, klingt das Ganze viel weniger mystisch.“
„Na ja, aber so einfach kann die Sache doch nicht sein, schließlich fällt die Kugel ja nicht sowohl nach links als auch nach rechts!“, warf Doris ein.
„Unter gewissen Umständen offenbar doch. Aber du hast natürlich recht, es gibt einen Unterschied und der besteht darin, dass du dich im Fall des Galton-Bretts entscheiden kannst, ob du hinsiehst oder nicht. Beim Doppelspaltexperiment kannst du nicht hinsehen, sofern du die Versuchsbedingungen so einstellst, dass das nicht möglich ist. Damit wählst du ein Subset aus dem Meer der Möglichkeiten und entscheidest, was passiert, wenn die Jetzt-Front den Versuch einholt. In der Quantentheorie gibt es dann die Überlagerung, die Superposition, und die Verschränkung, das Entanglement, das es in der Statistik natürlich nicht gibt.“
„Okay, aber wo kommen die her, wie erklärst du die?“
Langsam merkte man, dass das Thema Wolf wirklich begeisterte. „Gute Frage, sehr gute Frage. Beginnen wir mit Schrödinger's Katze.“
„Du kannst voraussetzen, dass ich die kenne.“
„Natürlich. Ich bin ein katzenfreundlicher Mensch und deshalb wäre es mit lieber, wenn du dir vorstellst, dass die Möglichkeiten, die in Superposition verharren, solange niemand hinblickt, nicht Leben und Tod der Katze sind, sondern hungrig und satt. Es öffnet sich der Zugang zum Futternapf, wenn das radioaktive Atom zerfällt. So ist es mir lieber.“
„Tut das irgendwas zur Sache?“
„Nein, gar nicht.“ Doris rollte nach diesem Geständnis mit den Augen. „Was? Ich mag Katzen!“ Wolf erklärte weiter: „Jedenfalls hat schon Zeilinger gewusst, dass, wenn man nur das Katzensystem gut genug isoliert, man das Vieh durchaus auch durch einen Menschen ersetzen könnte. Das macht es auch noch wichtiger, die Schrödingersche Grausamkeit aus dem Versuch zu entfernen, findest du nicht? Zeilinger hat in einem seiner Bücher gemeint, dass wir aber keine Ahnung haben, was dieser Mensch dann erlebt. Und genau das ist nicht korrekt.“
„Also du weißt was er erlebt.“
„Ich glaube es zumindest zu wissen. Es gibt da eine Art Relativitätsprinzip, kein galileisches wie in der Relativitätstheorie, aber immerhin. Ein Prinzip der austauschbaren Position. Der Beobachter von außerhalb wird sagen: 'Der Mensch im Katzensystem, unser Versuchskaninchen', – um noch eine dritte Spezies ins Spiel zu bringen – 'verharrt im Zustand der Superposition, bis ich ihn beobachte, in meiner Welt gilt hingegen die klassische Physik mit der kausalen Aufeinanderfolge der Ereignisse.'“
„Ja genau, das ist doch wohl unbestritten.“
„Ja. Der Versuchsmensch wird aber ganz erstaunt feststellen: 'Es ist alles umgekehrt als wir bislang gedacht haben! Hier im isolierten Katzensystem gelten die Gesetze der klassischen Physik und draußen gilt die quantenmechanische Überlagerung aller möglichen Zustände, bis ich die Außenwelt beobachte. Bis dahin gibt es dort keine Kausalität und alles verharrt im Zustand der Superposition und erst dann kommt es zur Dekohärenz und alles passiert sozusagen instantan, also in diesem Augenblick.' Die Sichtweise hängt daher davon ab, wo du dich befindest.“
„Geht sich das denn aus?“
„Physikalisch sind nur Ereignisse möglich, bei denen sich das ausgeht, das konnte ich schon beweisen.“
„Okay, mir ist klar, wie du die klassische Sichtweise, bei der Kausalität vorherrscht, beschreibst. Aber wie willst du die Welt beschreiben, wenn offenbar keine Kausalität existiert?“
„Darüber habe ich nachdenken müssen, bis mir eingefallen ist, dass man die ganze Physik auch durch Variationsprinzipien beschreiben kann. Da gibt es keine Kausalität. Und es ist keine Selbstverständlichkeit, dass man das kann, aus der Mathematik folgt das nicht. Es ist so, weil unsere Welt merkwürdig ist.“
„Ich bin vielleicht schwer von Begriff. Erläuterst du mir das näher?“
„Bist du nicht. Man kann etwa mit der geometrischen Optik oder mit der Wellenoptik den Weg beschreiben, den das Licht von der Lampe bis zu irgendeinem Objekt geht, sagen wir, wenn es sich durch Medien mit unterschiedlichem Brechungsindex bewegt. Man kann aber auch das Fermatsche Prinzip anwenden, das besagt, dass Licht stets den Weg wählt, bei dem es die kürzeste Zeit braucht, um anzukommen. Feynman hat da ein schönes Beispiel gebracht, sehr anschaulich: Im Wasser, sagen wir, einem See, schreit ein hübsches Mädchen: 'zu Hülf!'. Offenbar kann sie nicht schwimmen oder der Verschluss ihres BHs ist kaputt geworden...“
„So beschreibt er das?“
„Ähnlich. Wird man direkt auf sie zulaufen, ins Wasser springen und sie retten? Natürlich wird man das. Weil man aber schneller laufen kann als schwimmen, ist das gar nicht klug. Es ist besser, man legt, verglichen mit dem direkten Weg, mehr Strecke an Land zurück und weniger im Wasser. Licht bewegt sich in einem Medium mit höherem Brechungsindex langsamer und es tut genau das, was der Möchtegernretter auch machen sollte. Es findet sogar den optimalen Weg, um möglichst schnell beim Ziel zu sein. Das Fermatsche Prinzip ist nur ein Beispiel. Oder auch das Prinzip der kleinsten Wirkung. Solche Prinzipien gibt es viele und sie haben gemeinsam, dass sie ohne: 'aus der Tatsache, dass es vorher so war, folgt, dass es jetzt so ist' auskommen. Alle sind irgendwie verblüffend. Woher kennt das Licht den optimalen Weg zu seinem Ziel?“
„Die Welt, die du beschreibst, kommt mir sehr eigenartig vor.“
„Ist sie aber nicht. Mein Bild vom Universum ist ganz einfach. Stell dir einen Kristall vor, den Kristall der getroffenen Entscheidungen, der im Meer der Möglichkeiten schwimmt und dort vor sich hin wächst. Seine Oberfläche, an der quasi ein Phasenübergang stattfindet, ist die Gegenwart, drinnen ist die Vergangenheit, rundum die Zukunft. Die Oberfläche ist natürlich in Wirklichkeit dreidimensional, nicht zweidimensional.“
„Kann ein solches Universum nur expandieren oder auch kontrahieren und kollabieren?“
„Schwer vorstellbar. Da müsste es sich gewissermaßen umstülpen, außen der Kristall sein und innen das Meer der Möglichkeiten. Das Ganze ist natürlich nur ein Bild, aber trotzdem würde ich sagen, dass das nicht möglich ist. Das Universum wird immer weiter expandieren. Es sei denn, der Kristall löst sich gewissermaßen wieder auf, was einer Umkehr des Zeitpfeils entsprechen würde.“
„Kollidiert deine Vorstellung von Zeit nicht mit der Speziellen Relativitätstheorie?“
„Umso bitterer für diese! Nein, im Ernst. Sie ist dahingehend immer schon kritisiert worden, nur wurden die Kritiker zu Spinnern erklärt.“
„Sind sie das nicht auch? Sind das nicht alles Nerds? Willst du sagen, du gehörst dazu?“
„Aber ja! Ich bezweifle alles, wusstest du das nicht? Nix ist fix, für mich jedenfalls nicht. Einer der amüsantesten Kritikpunkte betrifft das Zwillingsparadoxon. Wenn man sich schneller bewegt, vergeht die Zeit langsamer, die Strecke in Bewegungsrichtung verkürzt sich und die Masse nimmt zu. Wenn der Zwilling von seiner Reise zurückkommt ist er jünger als der andere, der am Ausgangspunkt zurück geblieben ist, nicht wahr?“ Sie nickte. „Die verlachten Zweifler“, fuhr er fort, „fragen nun: warum ist er nicht auch gestaucht oder schwerer, wenn er zurückkommt? Das ist meine Lieblingskritik. Schön finde ich auch noch folgendes: Einstein beschreibt zunächst die Folgen der Relativbewegung und führt dann aus, dass für einen Menschen am Äquator die Zeit langsamer vergeht als für einen am Pol. Ich glaube, auf Seite 905 der 'Annalen', aber egal. Und die Zweifler fragen nun: und wo ist die Relativbewegung zwischen den beiden?“
„Zurück zum ersten Beispiel. Warum ist er eigentlich wirklich nicht gestaucht?“
„Im Prinzip wussten schon die alten Ägypter, dass die Zeit anders ist. Sie hatten einen Gott, Nehe, der periodischen Wiederkehr und eine Göttin der Dauer, Djet. Die Relativitätstheorie sagt etwas über Maßstäbe aus, im Falle der Zeit über den Gang der Uhr, beziehungsweise über Nehe, die periodische Wiederkehr. Alle Maßstäbe der beiden Zwillinge stimmen wieder überein, wenn die beiden sich treffen. Die Uhren ticken gleich, die Streckenmaße stimmen überein und auch die Massenmaße, schönes Wort übrigens. Nur für Djet, sozusagen, gilt das nicht. Wenn Einstein sagt, die Zeit sei eine Illusion, wenn auch eine sehr hartnäckige, irrt er. Die Zeit ist real und vielschichtig. Seine Uhr ist, was er nie klar ausgedrückt hat, eine Kombination aus zwei Dingen: einem Zeitmaßstab, also einem periodischen Prozess ohne Gedächtnis, wie es zum Beispiel ein Pendel ist, einerseits und andererseits einem Zählwerk.“
„Dem Integral über die Zeit, das wie weit zurück reicht?“, fragte Doris.
„Prinzipiell bis zum Anfang, aber beim Zwilling wohl nur bis zu seiner Geburt und gelöscht wird dieses Gedächtnis wenn er stirbt.“
„Und wieso existiert das bei der Zeit, aber nicht beim Raum?“
„Das hängt mit der Eigenheit der Zeit zusammen, stetig in eine Richtung zu laufen. Könnte man in der Zeit herum hupfen wie im Raum, gäbe es das nicht, wie ich beweisen kann. Das Zwillingsparadoxon ist gewissermaßen auch ein Beleg dafür, dass der Zeitpfeil fundamental ist und nicht eine thermodynamische Nebenerscheinung, die nur existiert, weil sich alles vom Zustand höherer Ordnung in Richtung Chaos bewegt. Übrigens kehrt sich das bei Lichtgeschwindigkeit um. Da vergeht für den Reisenden keine Zeit mehr, aber das Zählwerk existiert immer noch, sonst würde Feynmans Pfadintegralmethode nicht funktionieren. Und weil das Fermat-Prinzip den Weg von Licht in eine fixe Bahn zwingt, integriert das Zählwerk jetzt tatsächlich den zurückgelegten Weg und nicht die Zeit. Übrigens eine Erkenntnis, die eine ganze Welt öffnet.“
„Hm, zurück zum Paradoxon. Du glaubst doch auch, dass einer der Zwillinge jünger sein wird, hoffe ich zumindest. Und die Kritiker tun das nicht.“
„Schon, darauf basiert ja das Experiment, das wir in den beiden Stationen durchführen. Ich will lokale Zeitdilatation erzeugen, allerdings ohne dass ein Bereich gegenüber einem anderen bewegt wird. Gibt es das Zwillingsparadoxon nicht, gibt es auch keinen Enigma-Effekt, wie ich das Ganze nenne. Allerdings – mit allen Schlussfolgerungen aus der Relativitätstheorie bin ich nicht einverstanden.“
„Mit welchen nicht?“
„Nun, es kann gewissermaßen doch ein ruhendes Koordinatensystem geben. Galilei hat festgestellt, dass man in einem Inertialsystem durch kein physikalisches Experiment feststellen kann, ob man sich bewegt oder aber in Ruhe ist. In der Relativitätstheorie wird darauf hingewiesen, dass jeder meinen könne, er ruhe und das andere Inertialsystem bewege sich und daraus folgert, dessen Uhren gingen langsamer und dessen Streckenmaßstäbe verkürzten sich. Aber es kann natürlich nicht sein, dass beide recht haben. Wer hat jetzt recht? Warum gibt es letztlich doch einen Unterschied? Feynman argumentiert, dass eben der eine Zwilling tatsächlich beschleunigt wird, dann wieder abbremst und umkehrt und nochmal das Gleiche, der andere aber nicht. Das sei nötig, sonst kämen die beiden ja überhaupt nicht mehr zusammen, um irgendwas zu vergleichen.“
„Genau.“
„Bloß ist das keine brauchbare Argumentation. Stell dir vor, du befindest dich in einem ebenen, geschlossenen Universum, also einem mit Torus-Geometrie.“
„So wie in einem alten Computerspiel? Wenn du links oben raus fliegst, kommst du rechts unten wieder rein?“
„Richtig. Stell dir vor, du hast Mehrlinge und die fliegen oder ruhen alle gemeinsam in diesem Universum. Aber dann wird allen außer einem fad und sie beschleunigen auf unterschiedliche Weise und in verschiedene Richtungen alle weg von dem Einen. Danach fliegen sie wieder gleichförmig. Da ihr Universum geschlossen ist, kommen sie irgendwann wieder bei dem Einen vorbei – je häufiger, je schneller sie sind – und treffen sich auch sonst. Und der Vergleich der Zählwerke, der Stoppuhren, wird ihnen nun sagen, dass irgendwann bei dem Einen die Zeit schneller vergangen sein muss und er ist ja auch älter als alle anderen. Aus historischen Gründen gibt es dann ein ausgezeichnetes Koordinatensystem.“
„Ist das nicht spitzfindig?“
„Vielleicht. Ich glaube, es war Smolin der die Möglichkeit ins Auge gefasst hat, dass es so etwas wie absolute Ruhe doch geben mag, auch wenn ich in einem Inertialsystem kein physikalisches Experiment durchführen kann, dass mir zeigt, ob ich ruhe oder in gleichförmiger Bewegung bin. Wenigstens nicht durch Vergleich der Maßstäbe. Aber es wäre dann ein historisches Phänomen. Übrigens war es das Zwillingsparadoxon, das eigentlich gar keines ist, das mich veranlasst hat, über die Glattheit der Jetzt-Front nachzudenken. Das sind meine dümmsten Gedanken, dem Club Olympia durchaus würdig.“
„Inwiefern?“
„Jeder hat eine Gegenwart, aber erleben wir sie gleichzeitig? Das hat jetzt wohlgemerkt nichts mit dem Gleichzeitigkeitsbegriff der Speziellen zu tun. Wir zeichnen einander schneidende Weltlinien und jede bekommt einen Punkt, wo gerade die Gegenwart ist. Die müssen aber nicht auf gleicher Höhe sein. Die eine liegt vielleicht gerade im Schnittpunkt, die andere zeitlich davor. Was jetzt? Wenn, wie im Fall des Zwillingsparadoxons, die Zeit für einen der beiden vor dem Treffen langsamer vergangen ist, könnte doch so etwas geschehen, nicht wahr? Dann ist der Zeitpunkt des Treffens für einen Gegenwart, für den anderen aber Zukunft. Später dann für den anderen Gegenwart und den einen Vergangenheit.“
„So ist es aber doch nicht, oder?“
„Wenn dem so wäre, müsste einer der Zwillinge den anderen im Zustand der Superposition aller möglichen Zukünfte sehen, was irgendwie ziemlich auffällig wäre.“
„Es sei denn Everetts 'Viele Welten Theorie' wäre korrekt.“
„Guter Einwand, ich halte sie aber für gehobene Science Fiction. Das ist natürlich ziemlich willkürlich, aber wenn wir von Galileos Definition der Naturwissenschaften ausgehen, kann ich gerade noch damit leben, dass die Gegenwart real aber nicht messbar ist. Nach Hugh Everetts Theorie wäre aber fast gar nichts mehr messbar und das ist mir dann doch zu viel. Oder zu wenig. Jedenfalls stelle ich fest, dass wir, selbst wenn wir ins Weltall hinaus blicken, nichts sehen, was irgendwie offensichtlich im Zustand der Superposition ist und dessen Gegenwart daher in einer Vergangenheit liegt, die noch weiter entfernt ist als die, die wir sehen. Daraus schließe ich, dass die Jetzt-Front glatt ist.“
„Dein Kristall ist also eine Kristallkugel. Oder Hyperkugel.“
„Zum Beispiel. Jedenfalls hat er eine glatte Oberfläche. Ich schließe daraus auch, dass die Wechselwirkung, die überall die Gegenwart festlegt, instantan ist, also nicht an die Lichtgeschwindigkeit gebunden.“
„Hmpf. Verzeih mir, das ist schwer zu schlucken.“
„Das wäre das Grünzeug, das du isst, für mich auch. Lass es nicht verwelken, lang zu.“ Das tat sie eine Weile, während sie nachdachte.
„Mir ist aber noch immer nicht ganz klar, wie jetzt die Quantentheorie und ihre speziellen Phänomene in dieses Gedankengebäude passen.“
„Verständlich. Bleiben wir bei unserem Bild des Kristalls, okay?“ Sie nickte und kaute gleichzeitig. „Es ist so, dass sich manchmal ein kleines Stück des Kristalls löst und einen unabhängigen Kristallisationskeim bildet. Er wächst vor sich hin, hat seine eigene Oberfläche, also Gegenwart, und bildet überhaupt einen eigenen Kosmos, den nichts mit dem anderen verbindet. So etwas kann umso wahrscheinlicher passieren, je winziger dieser Keim ist, weil es dann einfacher ist, ihn von seiner Umgebung, dem anderen Kosmos, zu isolieren. Also 'wechselwirkungsfrei' zu machen. Irgendwann wird es aber doch wieder zu einem Kontakt kommen und die Jetzt-Fronten der beiden Kosmen verschmelzen. Dann treten die Phänomene auf, die ich dir in Zusammenhang mit dem Katzenexperiment geschildert habe.“
„Deine Kosmen wachsen doch.“
„So schnell wie ein Lichtkegel im Zeit-Raumdiagramm, wenn ich das nicht verhindere. Da liegt sozusagen die praktische Herausforderung.“
„Okay, nur der Vollständigkeit halber. Wenn ich dich vorher richtig verstanden habe, ist die Zeitachse, also, dass die Zeit immer in eine Richtung läuft, in deinem Weltbild kein thermodynamisches Phänomen, das auftritt, weil die Welt von einem Zustand höherer Ordnung in einen solchen niedrigerer übergeht.“
„So ist es. Ich glaube auch gar nicht, dass es überhaupt zu einer Entropiezunahme kommt. Jeder Statistiker weiß, dass es Freiheitsgrade braucht, damit verschiedene Zustände auftreten können. Am Anfang des Universums hat es die aber schlicht nicht gegeben und daher war seine Uniformität keineswegs Ausdruck besonderer Ordnung. Ich glaube, dass sich die Entropie des Universums nicht geändert hat, sie liegt nur in anderer Form vor. Freiheitsgrade und quantenmechanische Verschränkung sind antagonistische Begriffe, die Ordnung liegt jetzt in anderer Form vor, es sind, etwa mit der Expansion des Raumes, immer mehr Freiheitsgrade entstanden. Alternativ kann es aber auch sein, dass die Jetzt-Front nicht die gesamte Information aller früheren Gegenwarten speichern kann und dass daher die Entropiezunahme eine Folge des Zeitpfeils ist, aber nicht umgekehrt. Meine Kristallkugel mit der brodelnden – und damit doch nicht völlig glatten – Oberfläche ist also ein bisschen so wie ein Rauchquarz. Je tiefer darin etwas ist, desto dunkler. Das ist natürlich eine sehr vereinfachte Sichtweise, denn de facto kannst du ja in den Kristall nicht wirklich hineinsehen, es spielt sich ja alles an seiner Oberfläche ab.“
„Und wie sehen Schwarze Löcher in deiner Weltbild-Phantasie aus?“
„Wie sehr, sehr langgezogene Kegel mit nach außen gerichteter Spitze natürlich, sie lösen sich ja langsam auf. Sie sind Einschlüsse des Meeres der Möglichkeiten inmitten des Kristalls, die ihre eigene Jetzt-Front bilden, gewissermaßen kontrahierende Universen, die in ihrem eigenen Irgendwann verschwinden. Nur bekommen wir auf unserer Gegenwart nichts davon mit. Wenn ich also vorher gesagt habe, dass sich im Kristall der getroffenen Entscheidungen nichts mehr tut, dann war das nicht ganz richtig.“ Er zögerte kurz, bevor er fortfuhr. „Das alles ist nur ein Bild, keine Theorie. Aus dem Bild muss ich Schlussfolgerungen ziehen, die dann hoffentlich zu Hypothesen heranwachsen.“
„Wie es aussieht, hast du sehr viel zu tun. Man kann dir nur ein sehr langes Leben wünschen.“ Sie beendete ihre Mahlzeit. „Okay, ich habe jetzt zu tun. Ist es dir recht, wenn ich am Abend zu Besuch komme?“
„Natürlich! Ich komme vielleicht ein bisschen später, aber du hast ja den Schlüssel zu meinem Pavillon.“
„Ja“, bestätigte sie, erhob sich, beugte sich vor und gab ihm einen Kuss. Dann entschwand sie.
***
„Los, schenk nach, Mädchen!“ Semira beeilte sich, dem Befehl nachzukommen, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten, denn der junge Adelige war nicht mehr ganz nüchtern und sie wollte keine Ohrfeige riskieren. Peresa, Prinz von Hava-Ala war unter den Dienern für seinen Jähzorn berüchtigt, weit über die Grenzen seines Landes hinaus. Sie trat vom Tisch weg und wurde damit für die Hohen Herren so gut wie unsichtbar, die Diener und Sklaven nur dann wahrnahmen, wenn sie sie benötigten. Aber dann hatten sie augenblicklich zur Verfügung zu stehen. Semiras Aufgabe am heutigen Abend war es, den Mundschenk des fremden Prinzen zu spielen, die anderen Herren, zwei an der Zahl, hatten jeweils ihren eigenen. Sie hatte noch eine weitere Funktion, aber von der durften die drei Adeligen nichts wissen.
Peresa hob das goldverzierte Kristallglas und leerte es mit einigen gierigen Schlucken zur Hälfte. Der Prinz war zwar jung, aber dennoch bereits alt genug, dass man ihm seine Trunksucht ansah: ausgestreckt auf der Liege sah er aus wie eine an den Strand gespülte Qualle. Im Gegensatz dazu war Prinz Ras von Astora ein schlanker, muskulöser Mann von mittlerer Größe. Er hatte die helle Haut der Astoraner, liebte es aber sich dunkel zu kleiden, doch waren Wams und Beinkleider nicht frei von Verzierungen in Silber und Gold. Ras war zwar dem Alkohol nicht abgeneigt, konsumierte ihn aber nur in Maßen. Der dritte Mann war ebenso hellhäutig wie Ras, aber drahtiger und größer als die beiden anderen und in ein schwarzes, unverziertes Gewand gehüllt. Er war älter als die beiden anderen und bereits kahl. Achan, Hohepriester der drei Gottheiten, war Asket und trank nur Wasser. Trunken wurde er lediglich, so hieß es, von Macht und sicherlich litt er darunter, dass er alles erreicht hatte, was man durch geschicktes Intrigieren zuwege bringen konnte, wenn man nicht den bedeutendsten Familien des Landes entsprang. Und so lag ihm einiges daran, dass, wenn er schon nicht persönlich mehr Bedeutung erlangen konnte, sein Land wichtiger werden sollte, etwa, indem es Zugang zum Meer erlangte, denn das bedeutete Reichtum, Schiffe, die Güter aller Art aus den unterschiedlichsten Ländern brachten, auf die auch Astora angewiesen war. Der Zugang zur See war der Grund, warum Hava-Ala mit seinen dunkelhäutigeren Menschen im Wohlstand badete, während die meisten Astoraner kaum das Nötigste zum Leben hatten. Ein anderer Grund, warum Achan der Meinung war, das gebirgige Astor müsse sich Hava-Ala einverleiben, war, dass die beiden größten Heiligtümer der drei Gottheiten, deren oberster Priester er hier war, in Hava-Ala zu finden waren und solange sich das nicht änderte, würde außerhalb seines Landes niemand die religiöse Strömung ernst nehmen, der er angehörte. Es grenzte schon an ein Wunder, dass der reiche Herrscher von Hava-Ala seinen Sohn zur Wiedererweckungsfeier, dem höchsten Fest in Astor, geschickt hatte. Zumindest hatte Achan so gedacht, bis er den verweichlichten, ewig quengelnden Peresa kennen gelernt hatte. Wahrscheinlich hatte sein Vater ihn bloß eine Weile los werden wollen. Möglicherweise hatte er ja sogar gehofft, dass die Feindschaft zwischen den beiden Ländern so weit ginge, dass ein Attentat auf seinen Sohn verübt werden würde; dann wäre er ihn los und hätte auch gleich einen Grund, gegen Astora vorzugehen, das militärisch hoffnungslos unterlegen war. Aber solche Gedanken waren zynisch und der König von Hava-Ala hatte diese Eigenschaft nicht. Er vertrat eine sehr verantwortungsvolle Politik und hatte, nach allem was Achans Spione vermeldeten, keine Expansionspläne.
Vieles von dem, was hinter Achans Stirn vor sich ging, konnte die zarte, rehäugige Semira erahnen, vor allem, dass er in dem unförmigen Prinzen ein potentielles Werkzeug sah. Natürlich kannte sie ihn nur gerüchteweise – identifiziert hatte ihn ihr Onkel, nicht sie –, aber sie war keineswegs so harmlos, wie sie aussah. Schuld dran war der Mord an ihren geliebten Eltern bei einem Überfall auf eine Handelskarawane, der sich die kleine Familie angeschlossen hatte, um über das Gebirge zu kommen. Dass die Mörderbande nicht dem Küstenvolk entsprang, konnte man sowohl an der rauen Aussprache als auch der hellen Hautfarbe erkennen, zudem war es zu dem Überfall gekommen als sie bereits die Grenze passiert hatten. Dass Semiras Vater im Gegensatz zu ihrer Mutter ebenfalls Astoraner war, hatte ihm nichts genutzt. Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten, während seine Frau von einem Pfeil durchbohrt worden war. Die damals elf Sommer zählende Semira war gerade auf einem Esel geritten, der große, hoch aufragende Tuchballen an seinen Seiten getragen hatte. Zwischen ihnen, eng an seinen Rücken geschmiegt war sie den Pfeilen entgangen, was ihr das Leben gerettet hatte. Das und die Tatsache, dass der Angriff von den angeheuerten Söldnern schließlich zurückgeschlagen worden war. Der Schicksalsschlag aber hatte sie verändert und jählings erwachsen werden lassen.
Der Palast hatte Ohren, so sagte man und das nicht zu unrecht. Intriganten, die ihr eigenes Süpplein kochten, gab es da zuhauf. Es wimmelte nur so von Spionen aus verschiedenen Ländern und allerlei schillernden Interessengruppierungen. Das wussten die Adeligen und zogen es deshalb vor, ihre konspirativen Treffen an anderen Orten abzuhalten, zum Beispiel auf dem Landgut eines befreundeten Händlers. Langfristige Planung war in diesem Fall kontraproduktiv und so war ein Reiter erst etwa eine Stunde, bevor die Herren eingetroffen waren, auf dem Hof von Semiras Onkel erschienen, um sie im Auftrag des Prinzen von Astora anzukündigen, ohne die Namen der anderen zu nennen. Ihr Onkel aber erkannte sie alle.
Aber auch die kurzfristige Planung nutzte den eintreffenden Herren nichts, da sie sich unwissentlich ins Nest der Schlange setzten. Erim würde dafür Sorge tragen, dass der König von Hava-Ala alles erfuhr, was hier gesprochen wurde und deshalb musste Semira mit ihrem guten Gedächtnis die Dienerin spielen, denn seine eigene Anwesenheit war nicht erwünscht. Jedenfalls lagen nun die drei so unterschiedlichen Männer auf ihrer gepolsterten Unterlage um einen niedrigen Tisch in einem Raum, der ihnen wohl sehr schlicht erscheinen musste. Semira bediente nicht nur den Prinzen von Hava-Ala, sie war auch dazu da, die Wünsche, um nicht zu sagen: Befehle, der Herrschaften weiterzuleiten. Bislang war da aber nur einer gewesen: mehr Wein. Beunruhigt stellte sie fest, dass der Priester gelegentlich in ihre Richtung blickte; sie versuchte dann, möglichst einfältig auszusehen, während die zukünftigen Herrscher ihrer Reiche sie geflissentlich ignorierten.
Semira wusste, dass ihr Onkel es an sich hasste, sie auf diese Weise einzusetzen, an der Front sozusagen, dennoch hatte er in diesem Fall nicht auf seinen Trumpf verzichten können. Offiziell war er Salzhändler und weil er ein gut funktionierendes Netz freier Mitarbeiter hatte – Sklaven beschäftigte er nicht – wurde er auch des öfteren als Bote zwischen den Ländern eingesetzt. In beiden Funktionen war er wichtig, Astora hatte keine Salzvorkommen und war daher auf die Salzfelder des Nachbarlandes angewiesen. Durch reiche Schenkungen hatte er sich das Vertrauen des Königshauses nach und nach erschlichen, sodass er des öfteren gebeten worden war, die Art von Information weiterzugeben, die man besser nicht schriftlich festhält. Der Nachrichtenaustausch war von großer Bedeutung, denn die nicht gerade befreundeten Länder pflegten keinen Diplomatenaustausch. Da Erim ihr Onkel väterlicherseits war, hatte er die helle Hautfarbe der Astoraner und auch Semira hatte diese geerbt, obwohl ihre Mutter an der Meeresküste groß geworden war. Erim gab sich den Anschein der Neutralität. Aber so war es nicht, er hatte Semiras Mutter beinahe eben so sehr geliebt wie ihr Bruder und hatte nicht vergessen, dass dessen Heirat mit einer Frau, die dem niederen Adel Hava-Alas angehört hatte, der ganzen Familie Reichtum geschenkt hatte. Die Ermordung seines Bruders, seiner Schwägerin und das Schicksal seiner Nichte hatte ihn nicht kalt gelassen. Der Angriff damals war kein Einzelfall gewesen, vielmehr hatten die Händler von Hava-Ala seit langem schon unter Überfällen marodierender Banden zu leiden, die mordend und plündernd über ihre Karawanen herfielen. Der König von Hava-Ala reagierte bei jedem dieser Anlässe empört und bezichtigte das offizielle Astora, hinter den Angriffen zu stecken, erfolgten sie doch auf seinem Territorium und trafen offenbar nie astorische Händler; dessen Beteiligung konnte freilich niemand beweisen und deswegen ignorierten die Edlen von Astora auch seinen Zorn, boten dem König aber, um ihn zu beschwichtigen, Hilfe bei der Verfolgung der Banden an. Schließlich sei es auch in ihrem Sinne, dass der Handel nicht zum Erliegen kam. Ihre Erfolglosigkeit begründeten sie mit den zahllosen unwegsamen Schluchten, die als Rückzugsgebiet zur Verfügung standen. Erim zweifelte diese Erklärung an. So hatte er es sich im Namen aller Händler zur Aufgabe gemacht, Antworten auf die eine, wesentliche Frage zu finden: Geschahen diese Überfälle tatsächlich mit Duldung und Einverständnis des astorischen Königshauses oder seiner Adeligen? Wer konnte an einer Destabilisierung der nachbarlichen Verhältnisse Interesse haben? Erim hütete den Verdacht, dass es sich bei den Plünderern zwar um Krieger des feindlichen Landes handelte, sie aber nicht im Auftrag des Königs von Astor, sondern eines anderen hochgestellten Astoraners handelten. Doch wer war der Drahtzieher? Er vermutete seit langem, dass verkleideten Soldaten an den Überfällen und Morden beteiligt waren, denn die Marodeure waren auffällig versierte Kämpfer. Im Zentrum, so nahm er an, stand jeweils ein Hauptmann einer Zwölfschaft und von denen gab es eine ganze Menge. Hier nun kam Semiras besondere Begabung zum Tragen: sie war in der Lage, die Gesichter von Menschen aus dem Gedächtnis so akkurat zu zeichnen, dass man sie ohne weiteres wiedererkennen konnte. Also schickte Erim sie zu allen Militärparaden, von denen es schon deshalb eine Menge gab, um die Minderwertigkeitskomplexe in Sachen Wehrbereitschaft des Landes zu kompensieren. Und Semira war stets eine aufmerksame Zuschauerin. An den Uniformen erkannte sie, wer wichtig genug war, dass es sich lohnte, Skizzen von ihm anzufertigen. Ihr Onkel gab diese an die Karawanenführer weiter, in der Hoffnung, dass der eine oder andere wiedererkannt werden würde. Das Ergebnis allerdings war bislang negativ gewesen: möglicherweise waren die Soldaten, was sie zu sein schienen und nicht mehr.
„Ich bin der Thronfolger!“, jammerte Prinz Peresa. „Wird der alte Mann nicht langsam müde? Sollte er nicht wenigstens einige königliche Aufgaben an mich weitergeben? Wie ist das bei dir, Ras? Befehligst du inzwischen nicht über das Heer von Astora?“
„Nun, oberster Befehlshaber ist nach wie vor mein Vater, den Befehl zu einer kriegerischen Auseinandersetzung dürfte ich nicht geben, aber alle andern Aufgaben der Landesverteidigung hat er inzwischen mir überlassen, auch die Ausbildung der Rekruten. Das Heer aufzurüsten, wäre enorm bedeutend. Nur leider stellt er mir nicht die erforderlichen Mittel zur Verfügung. Sie seien schlicht nicht vorhanden. Ich wünschte, ich könnte über euren Reichtum verfügen.“
„Was nützt mir der Reichtum, wenn ich nichts machen darf?“ entgegnete Peresa in weinerlichem Tonfall.
„Die Art, wie man mit Euch umgeht, Euer Herrlichkeit, ist in der Tat skandalös!“ In Semiras Ohren klang Achans Stimme schleimig und ölig, aber anscheinend merkte der nicht mehr ganz junge Prinz nichts davon. Er wollte, dass man ihm recht gab und ihn bemitleidete, was der Hohepriester offenbar auszunutzen gedachte.
„Nicht wahr, nicht wahr?“ bestätigte Peresa eifrig, richtete sich ein wenig auf, was seine Fettwülste zum wabbeln brachte. Er genehmigte sich noch einen Schluck.
„Euer Vater wird Euch wohl nie die Ehre zuteil werden lassen, die Euch von rechts wegen zukommt.“
Peresa senkte den Blick. „Ich fürchte, er hat vor mich bei der Thronfolge zu übergehen. Mein jüngerer Bruder ist sein ganzer Sonnenschein.“ Verzweiflung prägte die Züge des Prinzen. Semira konnte sich langsam ein Bild von ihm machen. Er schien ehrgeizig, aber unfähig. Sie war sich klar, dass auch Achan dies erkannt hatte. War Peresa auch charakter- und skrupellos? Mutig, aber dumm? Sie war überzeugt, dass dies auch den Hohepriester interessierte.
„Ein entschlossener Mann kann das Ruder herumreißen“, meinte Achan.
„Aber wie?“, wollte der Prinz von Hava-Ala wissen.
„Eine Revolte“, schlug Ras vor. „Ihr seid doch sicherlich bei den Adeligen sehr beliebt“. 'Meint er das zynisch?', fragte sich Semira.
Persea schüttelte den Kopf. „Keineswegs, leider. Mein Vater wird vom gemeinen Volk angebetet als wäre er Am-Echar“. Er blickte kurz zu Achan. „Bitte verzeiht die häretische Bemerkung, er ist natürlich kein Gott, aber manchmal habe ich wirklich den Eindruck, dass man ihm mit einer Verehrung begegnet, die eigentlich nur einem Gott gebührt. Geradezu widernatürlich, wie sich das Volk ihm gegenüber verhält, meint ihr nicht auch?“
Achan nickte. „Schuld ist die verweichlichte Priesterschaft Eures Landes, die den Eindruck erwecken will, die Götter wären gütig und gerecht gewesen, so wie es auch Euer Vater zu sein scheint, nach allem was man hört. Aber so waren sie nicht, sie waren grausam, herrschsüchtig und immer bereit, jeden zu zertreten, der sich ihnen in den Weg stellt. Ihre Wiederkehr wird schrecklich sein, außer für diejenigen, die bereit sind, ihnen vorbehaltlos zu dienen. Güte Untergebenen gegenüber ist nicht angemessen. Ich hoffe, Ihr werdet das bedenken, wenn Ihr erst herrscht.“
„Ja, natürlich, aber werde ich das jemals? Ich wünschte, Ihr wäret in der Lage mir zu helfen, aber Astorias militärische Macht ...ist begrenzt, wie man so hört.“
„Leider habt Ihr da nur allzu recht“, bestätigte Achan, was Ras gar nicht angenehm zu sein schien.
Peresa flüsterte: „Ich habe, offen gesprochen, sogar schon über ein Attentat auf den König nachgedacht. Aber auch hier steht seine Beliebtheit und die Treue der Palastwache und Dienerschaft meinen Vorhaben, die, wie gesagt, rein hypothetisch sind, im Wege.“
„Mein Prinz, es gibt immer eine Möglichkeit, wenn ihr nur entschlossen genug seid. Ebenfalls rein hypothetisch könnte es sein, dass ich über Streiter der Götter verfüge, die ihnen gegenüber – und damit mir, ihrem Hohepriester – absolut loyal sind. Sie wären, wenn sie denn existieren, geschult im Meucheln auf jede erdenkliche Art. Herkömmliche Waffen, Gift, egal.“ 'Das', merkte Semira auf, 'ist nun wirklich interessant.' Hatten sie die ganze Zeit auf das falsche Pferd gesetzt? War das astoranische Militär gar nicht in die Überfälle verwickelt sondern eine ganz andere Organisation? Eine pseudoreligiöse? Diese Wendung würde ihren Onkel sehr interessieren.
„Aber sie sind in diesem Land, was nützen sie mir in Hava-Ala?“, entgegnete Peresa unglücklich.
„Grenzen existieren für die Männer Gottes nicht.“ Der Hohepriester lächelte dämonisch. Gleichzeitig, dachte Semira, bedeutete diese Information aber auch Gefahr für Erim und sie. Achan war bestimmt nicht sehr risikofreudig und duldete wohl keine Mitwisser. Langsam folgte dieses Gespräch Bahnen, die sie mit Sorge erfüllten.
Der Prinz schien sich unwohl zu fühlen. Ihm wurde klar, dass sie den Mord an seinem Vater diskutierten. „Es dürfte nicht einmal der Schatten eines Verdachtes auf meine Person fallen. Es müsste wie eine Erkrankung aussehen. Und dann wäre da noch die Frage, was Ihr für diese Hilfeleistung von mir verlangt.“
„Nicht viel. Mehr Einfluss für die Wahre Lehre in Eurem Land. Und für ihre Vertreter.“
Peresa schüttelte den Kopf. „In Hava-Ala hat der König keine religiöse Bedeutung. Das ist ganz anders als in Eurem Land. So etwas würde Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern. Habt Ihr überhaupt einen möglichen Attentäter in meines Vaters nähe?“
„Nun ...“, Achan zögerte. „Gegenwärtig nicht. Aber ich bin zuversichtlich, dass in einigen Jahren ...“
„In einigen Jahren! Warum sagt ihr nicht gleich in einigen Jahrzehnten!“
Achan schluckte die Bemerkung herunter, dass auch der Prinz ihn gerade auf die gleiche Weise hatte vertrösten wollen. „Ein Dolch ginge wesentlich einfacher. Ein Attentat lässt sich auch recht kurzfristig organisieren.“
„Und führt dazu, dass man nach einem Auftraggeber sucht. Und wer wird das sein? Natürlich die Person, die am meisten profitiert. Und wer ist das? Richtig: ich. Nein, eine derart plumpe Vorgehensweise kommt nicht infrage.“ Peresa schwieg für einen Moment, dann ergänzte er: „Nun, wie dem auch sei, ich habe zu viel getrunken. Ich muss dem Abort einen Besuch abstatten.“ 'Zum Glück', dachte Semira, 'gehört der Prinz nicht zu jenen Adeligen, die einfach an die Wand pinkeln.' Sie winkte einem der Diener, die außerhalb des Raumes bereit standen, denn es hätte als ungehörig gegolten, wenn eine Frau einen Mann zum Abort geleitete. Und so wurde sie Zeugin des Gesprächs zwischen den beiden astorischen Männern.
„Was gibst du dich überhaupt mit ihm ab?“, wollte Ras wissen. „Hast du nicht genug Männer in Hava-Ala?“
„Genug? Ich kann sie nur einzeln über die Grenze schleusen, als Karawanenbegleiter“, zischte Achan, „und außerdem ist es wichtig, dass er beteiligt ist. Es muss Blut an seinen Händen kleben, nur dann können wir ihn auch weiterhin manipulieren. Was haben wir davon, wenn er die Regentschaft übernimmt und sich anschließen gegen uns wendet?“
„Das Risiko ist stets gegeben.“
„Aber man kann es minimieren.“
Sie schwiegen ein Weile, bis der krötenförmige Prinz zurück gekommen war und es sich auf seiner Liege bequem gemacht hatte. Dann aber fragte Achan: „Mein Prinz, glaubt ihr an die Prophezeiungen unserer Religion?“
„An welche? Es gibt so viele.“
„Dass die Götter eines Tages zurück kehren werden?“
„Natürlich nicht! Wer glaubt das schon? Außer euch Priestern. Sind nicht sogar sie davon überzeugt, dass es sich bloß um ein Bild handelt, eine Allegorie gewissermaßen?“
„Eure Priester sind Häretiker. Nein, der Wahre Glaube besagt, dass es genauso kommen wird, wie in dem Bildnis vom Zeitfluss, der sich aufspaltet, nur um dann wieder zusammen zu finden, beschrieben.“
„Müssen wir wirklich über religiöse Themen sprechen?“
„Wenn sie die Lösung für Euer Problem beinhalten, sollten wir das tun.“
„Wie sollte das möglich sein?“
„Nun, was ich Euch jetzt erzähle ist absolut vertraulich. Niemand außer Euch und Prinz Ras darf das wissen.“ Semira schluckte. Sie überlegte, ob sie Hals über Kopf fortlaufen solle, aber sie wollte wissen, welch großartiges Geheimnis nun gelüftet werden sollte. Indessen fuhr Achan fort: „Wie Ihr wisst, gibt es zwei Heiligtümer, die man auch als die Portale der Götter bezeichnet. Etwas zutiefst unnatürliches haftet ihnen an.“
„Beide“, warf der Prinz ein, wobei Genugtuung in seiner Stimme mitschwang, „befinden sich in Hava-Ala, in den Bergen das eine, auf einer Insel das andere. Der Oberste Priester residiert in einem Tempel in der Nähe des einen Heiligtums in den Bergen, die Oberste Priesterin und Gemahlin des Am-Echar auf der Insel. Das ist Euer Geheimnis? In meinem Land weiß das jedes Kind. Gemeinsam mit meinem Vater war ich sogar einmal bei einer Feier anwesend, die auf der Heiligen Insel stattfand. Es war unglaublich langweilig.“
„Nun, das Geheimnis ist, dass es soweit ist.“ Peresa blickte Achan verständnislos an. „Die Götter sind im Begriff, zurückzukehren. Die Zeichen sind eindeutig, zumindest, soweit es die geweihte Stätte in den Bergen betrifft. Wer bei den Gottheiten ist, wird Macht erlangen.“
„Wenn dem tatsächlich so ist, wird mein Vater es bereits wissen und auf dem Weg zum Heiligtum sein. Die Götter werden ihn lieben, davon bin ich überzeugt.“
„Euer Vater weiß nichts davon, denn die Boten sind verunglückt. Kleine, unbedeutende Adepten, die sich alleine auf den Weg gemacht haben, unbewaffnet und ohne Eskorte. Wie kann man nur so leichtfertig sein?“
„Und wieso wisst Ihr davon?“
„Nun, ich habe meine Spione überall. Glaubt Ihr wirklich, ich hätte in den bedeutendsten Orten meiner Religion nicht vertrauensvolle Männer?“
Der Prinz lachte. „Wie sollte das möglich sein? Die Insel wird nur von einer Person ständig bewohnt, nämlich von der Gemahlin unseres Schutzgottes. Was Ihr mir hier erzählt, ist wenig glaubhaft.“
Achan ärgerte sich offensichtlich ob der Zweifel. „Nun, aber in den Bergen befindet sich eine heilige Schule für die Adepten Eurer Religion. Und unter ihnen befindet sich einer meiner Agenten.“
„Einer also. Das klingt schon realistischer.“ Der Prinz lächelte, während Achan nun offenbar darüber ungehalten war, dass er sich diese Information aus der Nase hatte ziehen lassen. Der Eindruck von Großartigkeit und Überlegenheit war zerstört.
„Entscheidend ist: Es wird eine neue Weltordnung geben und wir könnten ihre Schmiede sein!“
„Und weshalb bedarf ich Eurer?“
„Nun, selbstverständlich könnt Ihr an der Seite Eures Vaters und Bruders vor die Götter treten und zusehen, wie deren Machtanspruch bestätigt wird.“ Peresa blickte nachdenklich. Wie Achan offenbar erwartet hatte, schien dem Prinzen diese Option nicht zu gefallen. Deshalb fuhr er fort: „Oder aber, Ihr kommt mit uns und lasst Euch von den Göttern als Regent von Hava-Ala bestätigen.“
„Ihr wollt eine offizielle Delegation zum Heiligtum in den Bergen entsenden?“
„Wenn wir dass tun, setzt Euer Vater die Spielregeln fest, nicht wahr? Vor allem wird er den Zeitpunkt bestimmen, er wird sich fragen, warum wir danach streben, wird schließlich doch noch erfahren, was dort vor sich geht und wird dafür sorgen, dass er die waffenmäßige Überlegenheit bewahrt. Wir wollen sie nicht nur besuchen. Wir wollen sie einnehmen und die Wachen eliminieren.“
„Dafür bedarf es eines kleinen Heers! Wie wollt Ihr damit über die Grenze kommen?“
„Keine Ahnung. Wisst Ihr einen Weg?“
„Was, wenn das schiefgeht? Das kommt einer Kriegserklärung an mein Land gleich. Was, wenn die Götter andere Pläne haben als Ihr? Gesetz den Fall, dass sie tatsächlich erscheinen. Das alles kommt mir vage und undurchdacht vor.“
„Die Götter kommen, daran gibt es keinen Zweifel. Dann bleibt nichts so, wie es vorher war. Natürlich könnt Ihr die Informationen, die ich Euch gebe, ignorieren und genauso die Chance, die damit verbunden ist. Geht zurück in Euer Land und tut nichts. Dann wird die neue Weltordnung eben ohne Euch auskommen müssen.“
Nun wandte sich der Peresa an den Prinz von Astora: „Ras, was habt Ihr davon, wenn Ihr einen Krieg zwischen Astora und Hava-Ala provoziert? Was erwartet Ihr Euch?“
„Ich glaube, dass unser Hohepriester mit seiner Einschätzung recht hat. Mit der Macht der Götter können wir Länder erobern und ein gewaltiges Imperium gründen. Warum sollten wird die Möglichkeiten, die sich uns jetzt bieten, nicht ergreifen? Ihr, Prinz Peresa, und ich, wir könnten die Welt beherrschen. Das ist vielleicht nur ein Traum, aber einer der ein gewisses Risiko rechtfertigt. Mehr als das.“ Seine Augen glühten vor Fanatismus und Semira erkannte, dass der junge Mann vom religiösen Wahn befallen war. Sie sah auch Achans triumphierenden Gesichtsausdruck. Selbst der so selbstbewusst erscheinende Prinz von Astora war nur sein Spielzeug. Peresa aber sah nur die Überzeugung, die auf ihn sehr ansteckend wirkte.
„Ich kenne alle Grenzfestungen“, sagte er. „Und ich weiß, wie man sie überwinden kann!“
***
Wolf hatte nur kurz bei seinem kleinen Bungalow am Unicampus Zwischenstation gemacht, um Badehose und Handtuch mitzunehmen. Die Tauchausrüstung hingegen befand sich auf der Insel, wo auch eine der Versuchsanlagen war. Er genoss einige Privilegien, weil man wollte, dass er sich wohlfühlte. Warum genau er sich nicht an Regeln halten musste, die für alle anderen bindend waren, war ihm nicht ganz klar. Vielleicht hing das mit der hierarchischen Denkweise des Militärs zusammen, ihm zwar fremd, aber in diesem Fall willkommen. Er hatte auf dem kleinen Eiland auch noch ein Windsurfboard und ein Ultraleichtflugzeug, einen Hängegleiter mit Heckrotor. Manchmal startete er kurz vor Sonnenuntergang und flog dann eine Runde knapp über dem Meer dahin. Bei rauer See, wenn die Bora in die Wogen fuhr, wagte er das allerdings nicht. Er war kein Extremsportler, sucht nicht den Kick, sondern im Gegenteil, die innere Ruhe und Ausgeglichenheit, die Voraussetzung dafür war, dass er seinen Beruf und seine Berufung ausüben konnte. Ein ruhiger Flug über den Wellen, wie eine Möwe, oder ein Besuch bei den Meerestieren, Kraken und Sepien vielleicht, oder merkwürdigen Fischen wie Knurr- und Flughähnen oder Rochen, in der Nacht auch Kalmare, setzten ihn seelisch ins Gleichgewicht. Mit dem Tauchen war momentan allerdings nichts, der Husten vertrug sich nicht damit.
Die Insel war aber nicht sein Ziel, zumindest nicht sogleich, wohl aber dass Strandstück, das er laut Alex besuchen sollte. Er hatte die Fenster seines Autos geöffnet, weil es ziemlich heiß war und er Klimaanlagen nicht leiden konnte. Einer mehrstündigen Fahrt in einem klimatisierten Wagen gab er sogar die Schuld am prekären Zustand seiner Lunge. Als Mitfahrer bei Boris, dem Bekannten 'seiner' Doris, der irgendwie ihre Kontaktperson zum Militär war, auf eine für ihn sehr undurchsichtige Weise, hatte er nicht lästig sein wollen und geschwiegen, obwohl er gefroren hatte wie ein Schlosshund, weil die Anlage seiner Meinung nach viel zu stark eingestellt gewesen war. Nun, er bezahlte seit Wochen für seine Zurückhaltung.
Er fuhr durch eine Sonnenlicht überflutete, karge Landschaft, geprägt von undurchdringlicher Macchie. Der Weg war schmal und hatte schon bessere Zeiten gesehen, verlangte mehr als nur ein wenig seiner Aufmerksamkeit. Durch die offenen Fenster drang nicht nur heiße Luft, die seiner Lunge gut tat, sondern auch das monotone und durchdringende Lärmen der Zikaden. Im wolkenlosen, unverschämt blauen Firmament kreiste ein großer Vogel, der seinem Laienauge erschien wie ein Geier. Durchaus möglich, dass es die hier gab. Wolf verlor sich nicht in der bizarren Schönheit seiner Umgebung, da er immer wieder an Alex' kryptische Bemerkung denken musste. Eigentlich wollte er gar nicht darüber sinnieren, aber dessen Worte hatten in seinem Geiste ein Eigenleben entwickelt und so hatte Wolf sich entschlossen seinem Rat zu folgen, obwohl er zweifellos Besseres zu tun gehabt hätte. Andererseits hatte er die vergangenen Wochen krankheitsbedingt indoors verbracht, die Decke war ihm zuletzt schon gehörig auf den Kopf gefallen, und es war wirklich an der Zeit, wieder frische Luft zu schnappen, die sich erfreulicher Weise auch noch ausgesprochen aromatisch darbot. Welche ungewöhnlichen Gewächse mochten wohl für den angenehmen, mediterranen Geruch verantwortlich sein? Er war für seine angegriffene Gesundheit jedenfalls besser als jede Medizin, fand er.
Vorne kam er an eine unauffällige Kreuzung. Er folgte seiner Erinnerung und bog rechts ab. Der Weg war jetzt, so erschien es ihm, von noch erbärmlicherer Qualität, falls dies überhaupt möglich war. Links von ihm befand sich ein Zaun aus groben Holzlatten und dahinter spielten Pferde mit merkwürdig grau gefärbtem Fell, hauptsächlich Jungtiere. 'Kannst du fühlen, wie mir die vielen fahlen Fohlen fehlen?', dichtete er im Geiste ohne zu reimen und völlig nutzlos. Manchmal spielte er einfach gerne mit Wörtern. Er ließ das Gestüt hinter sich und damit auch den Asphalt. Wie hatte Alex nur diesen Zugang zum Strand finden können? Es wurde sehr staubig und auch der Geruch änderte sich; so nahm er das Meer bereits wahr, bevor er es sehen konnte. Ein salziger, aber auch ein bisschen fauliger Duft machte es sich in seinen Nasenhöhlen bequem, bis die Empfindung durch Gewöhnung wieder abnahm. Nach wenigen Metern kam neben der Straße ein felsiger, vegetationsfreier Bereich in Sicht, der sich als Parkplatz anbot. Als Wolf ausstieg, lag der rote Staub, den die Räder aufgewirbelt hatten, immer noch in der Luft und trieb langsam zur Seite. Fast sofort bildete sich ein Schweißfilm auf seiner Haut, denn es war ziemlich heiß. Jetzt, so hatte er den Eindruck, war er völlig allein. Er hätte sich umziehen können, aber ihm war nun doch nicht nach Baden. Er verschloss das Auto und folgte einem steinigen Pfad, der ihn von der Straße weg führte, zunächst hinauf, bis er das Meer sehen konnte, nicht jedoch seine Küste. Von nun an ging es abwärts und es dauerte nicht lange, bis er auf ein ausgetrocknetes, steiniges Bachbett stieß, dem er folgen konnte ohne mit der niederwüchsigen, dornenreichen Vegetation in Berührung zu kommen. Langsam und vorsichtig folgte er seinem Verlauf, er hatte keine Lust, sich auch noch zu verletzen. Je mehr er sich dem Strand näherte, desto höher wurde die Vegetation bis schließlich richtige Hartlaubbäume das Bachbett begleiteten. Der Pfad wurde leichter zu begehen, weil abgeschliffene Felsbrocken durch rote Erde ersetzt wurden. Er konnte nun nicht nur die See sondern auch den feinschotterigen Strand sehen, aber von dort aus nicht gesehen werden, denn er blieb vorerst im Schatten des Waldes verborgen. Wenige Meter entfernt lagen am Kies zwei Kleiderhaufen auf bunten Handtüchern, ein Rucksack und eine Ledertasche, die ihm bekannt vorkam. Die gehörte doch seiner Freundin, oder? Sicher war er sich nicht, auf solche Sachen achtete er wenig. Wenn er hier Doris treffen würde, warum hatte Alex ihn dann ermahnt, ihr nichts davon zu erzählen, dass er hierher kommen würde? Er unterdrückte seinen Impuls, ins Licht hinauszutreten, obwohl das eher seinem Wesen entsprach als sich zu verstecken. Im Gegenteil: er verbarg sich hinter dem breiten Stamm einer uralten Steineiche. Zunächst tat sich nichts Faszinierendes. Weit entfernt trieben in den Wellen zwei Köpfe, die dazugehörigen Körper waren verborgen.
Er sah sich um. Ganz in der Nähe landete eine recht große, blutrote Libelle und hielt sich am stacheligen Blatt eines Rankengewächses fest. Sie hatte riesige Augen und er war ihr so nahe, dass er sie näher betrachten konnte. Ein rabenschwarzer Fleck war auf ihn gerichtet. Die Pupille? Die Oberfläche schien aus winzigen Sechsecken zu bestehen, die gerade noch mit freiem Auge zu erkennen waren. Sie standen jedenfalls in Reihen, die einen Winkel von sechzig Grad zueinander aufwiesen. Wie dieser optische Apparat wohl funktionierte? Eigentlich gab es nur drei Funktionsprinzipien, um Licht zu sammeln, zwei basierten darauf, dass von einem Gegenstandspunkt ausgehendes Licht gleichzeitig im Brennpunkt ankam und daher positiv interferierte, egal wo es den Sammelapparat berührt hatte. Ein Parabolspiegel schaffte das, indem er so konstruiert war, dass die verschiedenen Lichtwege gleich lang waren, eine Linse verzögerte den Lauf des Lichtes genau so, dass die unterschiedliche Weglänge kompensiert wurde. Beim dritten Prinzip kam das Licht nicht gleichzeitig an, benachbarte Teilwellen erschienen vielmehr zeitlich um eine Wellenperiode versetzt. Indem entweder die Wellenberge oder die Täler ausgeblendet wurden, verstärkten sich auch hier die Wellenzüge im Brennpunkt. Ermöglicht wurde das durch eine Fresnel'sche Zonenplatte, die aber ein Muster aus konzentrischen Kreisen gleicher Fläche darstellte, deren Radien in bestimmten Verhältnis zueinander standen und bei denen nur jeweils der innere Halbkreis Licht durchließ. Das war dem was er hier beobachtete, gar nicht ähnlich. Das Libellenauge war zu sehr als Oberflächenbedeckung konstruiert und die Pupille zu groß, als dass benachbarte Teilwellen gleichzeitig an einem Punkt der Netzhaut landen könnten, stellte Wolf nach kurzer Überlegung fest. Funktionierte das Zonenplattenprinzip überhaupt, wenn die Licht sammelnde Oberfläche gekrümmt war? Er führte im Geiste die notwendigen Kalkulationen durch und stellte fest, dass es so war, ja es funktionierte besser als auf einer ebenen Fläche. Gut. Aber was war mit den konzentrischen Kreisen, die nur die Wellenberge durchließen? Die Mittelpunkte der Sechsecke, die die Oberfläche des Libellenauges darstellten, bildeten ihrerseits ein Muster aus gleichseitigen Dreiecken. Ließ sich mit so einer Konfiguration der gleiche Effekt erzielen, wie mit konzentrischen Kreisen? Er kalkulierte im Geiste und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass dem so war. Aber war der Lichtweg durch benachbarte Sechseck-Mittelpunkte bis zur Netzhaut überhaupt im Bereich der Wellenlänge von sichtbarem Licht? Die Retina musste in einer Tiefe von etwa einem oder zwei Millimeter liegen, schätzte er. Er kannte das Auflösungsvermögen seiner Augen (das festzustellen hatte ihn natürlich schon sehr früh interessiert) und bewegte seinen Kopf weiter weg von dem glasfügeligen Insekt, um herauszufinden, wann er das Muster an der Oberfläche nicht mehr erkennen konnte. Daraus schloss er auf die Größe der Sechsecke und begann zu rechnen. Abermals stellte er fest, dass der Wegunterschied der Teilwellen genau im richtigen Bereich lag, jedenfalls grob geschätzt. Faszinierend! Er musste sich näher mit diesem Thema auseinandersetzen, mit den Eigenschaften der kleinen Linsen, die vielleicht unter den Sechsecken lagen!
Ein silbriges Flirren und das Objekt seiner Beobachtung war weg. Vielleicht hatte er sich zu viel bewegt als er den Abstand zu dem Lufträuber verändert hatte. Jedenfalls nahm er nun wieder den Rest seiner Umwelt wahr und das war gut so. Gerade eben entstiegen zwei Menschen händchenhaltend den Fluten, ein Mann und eine Frau, beide nackt. Er war enorm muskulös und sie war … Doris? Zuerst wollte er das nicht wahr haben, nicht jede blonde, schlanke Frau mit als Pferdeschwanz zurückgebundenen Haaren war seine Doris, aber er konnte jetzt auch ihre Gesichtszüge ausmachen. Sie war es unzweifelhaft und jetzt lachte sie auch auf eine ganz doristypische Weise und zeigte ihrem Begleiter all ihre makellosen Zähne. Den Mann, der ihre Hand hielt, kannte er auch, wie er schockiert feststellte. Es war Boris, der Militärmensch, der zurück grinste. Im Geiste sah er sich hinter dem Baum hervortreten und rufen: „Was macht ihr da?“, aber das wäre doch ziemlich blöd gewesen, denn eigentlich war das ja ohnehin offensichtlich. Deshalb stellte er sich nach einem letzten kurzen Blick, der ihm zeigte, dass sie auf die Kleiderbündel und Handtücher am Strand zuhielten, vollständig hinter die Eiche und wurde damit für die Beiden unsichtbar. Das Meer war heute sehr ruhig, ohne brechende Wellen und Brandung und damit geräuscharm, die lärmenden Zikaden oben in der Macchie geblieben. Deshalb konnte er hören, was sie jetzt sprachen.
„Komm näher!“, sagte er. Dann: „Du willst es heute durchführen?“
„Worauf nach warten?“, meinte Doris. „Es ist der beste Zeitpunkt. Alle wissen, dass er lungenkrank ist. Und das Mittel, das du mir für ihn gegeben hast, ist jetzt sicherlich nicht mehr nachweisbar, auch nicht bei einer noch so sorgfältigen Obduktion.“
„Du hast es ihm regelmäßig ins Trinken gegeben?“
„Außer letzte Woche natürlich. Da war ich ja nicht da. Es hatte jedenfalls den erwünschten Effekt. Dauerhusten, Kurzatmigkeit und noch ein paar andere Symptome. Woher hattest du das Mittel?“
Boris lachte. „Nun rate mal.“
„Diesmal scheint ihr jedenfalls alles richtig gemacht zu haben. Die letzten beiden Male war das ja eher nicht der Fall.“
„Die Agentin, die auf Skripal angesetzt war, ist eine Idiotin. Ein Wunder, dass sie sich mit dem Nervengift nicht selbst umgebracht hat. Und was bei Alexei Nawalny schief gelaufen ist, weiß ich nicht, da war ich nicht involviert. Aber was meinst du mit 'die beiden letzten Male'? Wir sind im Dauereinsatz. Oder glaubst du wirklich, die Flüchtlinge in Moira auf Lesbos haben ihr Lager selbst angezündet? Die Menschen dort kennen einander nicht, es ist ein Leichtes sich dort einzuschleichen. Den meisten Leuten kann man alles einreden, aber dir doch hoffentlich nicht.“
„Und der Sinn der Maßnahme?“
„Destabilisierung Europas. Eines der großen Ziele.“
„Das sind aber alles Wespenstiche, wenn überhaupt. Vergleiche das mit der Zerstörung der Demokratien im Iran und in Chile durch die CIA. Allein letzteres hatte 40.000 Tote zur Folge, wobei die meisten unter der Folter gestorben sind. Stammt man nicht gerade aus den Vereinigten Staaten, kann man getrost behaupten, dass die CIA die größte und erfolgreichste Terror-Organisation des Planeten ist. Was seid ihr da im Vergleich mit euren Mordversuchen an Oppositionsführern und Exagenten?“
„Diesmal wird die Sache jedenfalls anders laufen. Und ich meine: besser. Schade nur, dass wir ihn auf so unspektakuläre Weise beseitigen müssen. Viele Spanier, die sich ein Nebenbrot mit Hunderennen verdienen zum Beispiel hängen die Hunde, von denen sie enttäuscht worden sind, so auf, dass die Hinterbeine gerade noch den Boden berühren und ergötzen sich dann an ihrem Todeskampf. Jedes Jahr sterben so viele tausende Tiere. Wir könnten ihn hierher locken und mit ihm das gleiche machen.“
„Sicherlich ein amüsanter Gedanke, aber viel zu kompliziert. Er ist mir nur im Weg, das ist alles.“
„Du willst es schlicht haben? Was wenn ich einfach irgendwo in der Öffentlichkeit an ihm vorbeigehe und ihm das Genick breche? Das geht blitzschnell.“
„Der Teufel schläft nicht, alle Welt filmt mit dem Handy und wenn du Pech hast gerade im falschen Augenblick. Und wenn sie dich haben, kommen sie auch auf mich. Nein, es darf keine Beweise für einen Mord geben, denn sonst taucht immer die Frage auf: wer profitiert davon? Und das werde ohne jeden Zweifel ich sein. Ehrlich gesagt bedaure ich es sogar, dass ich ihn umbringen muss. Aber er ist so ein Gutmensch, so wie Konrad Wilhelm Röntgen. Wahrscheinlich würde er den Nobelpreis verschenken oder nicht annehmen. Er hat eine ganze Lade voll mit Beschreibungen praktischer Anwendungen seiner Ideen. Buchstäblich! Nicht auf einem USB-Stick. Nein! Auf Papier. Er könnte sie patentieren lassen, könnte wahnsinnig reich werden, aber das will er nicht, sie sollen allen kostenlos zukommen. Und genau diese Verschwendung muss ich verhindern.“
„Weil du selbst enorm reich werden willst.“
„Genau! Und du mit mir. Schon sein Taschen-Fusionsreaktor, der auf dem Prinzip des umgekehrten Mpemba-Effekts basiert, wird Milliarden bringen.“
„Wenn er funktioniert.“
„Daran zweifle ich nicht, aber nächste Woche haben wir Sicherheit, denn dann laufen die Tests in den beiden Anlagen. Bis dahin muss er tot sein.“
„Und du bist sicher, dass du davon profitieren kannst?“
„Alle wissen, dass wir zusammen gearbeitet haben. Warum also nicht auch bei den praktischen Anwendungen? Die Originalaufzeichnungen lasse ich gleich nach dem Mord verschwinden, die Patente werden meinen Namen tragen und auch seinen, denn er hat ja keine Angehörigen, die ihn beerben könnten. Das macht die Sache plausibler, einiges trägt doch ganz deutlich seine Handschrift. Jeder hat seine Art zu denken und die Kollegen könnten das erkennen und misstrauisch werden. Also lasse ich ihm einen Teil des Ruhms, seiner ist ohnehin nur posthum.“
„Du hast noch nie einen Mord begangen. Bist du sicher, dass du damit klar kommst?“
„Aber ja. Er war nicht uninteressant aber ein entsetzlich langweiliger Liebhaber. Während des Studiums habe ich mit vielen Professoren der Mathematik und Physik geschlafen ...“
„Um bessere Noten zu bekommen?“
„Das hatte ich nicht nötig. Eigentlich, kann man sagen, habe ich studiert, um mit den Professoren schlafen zu können. Als Teenager habe ich mir das toll vorgestellt, sie waren für mich ja das, was Pop-Stars für andere Mädchen sind. Wie fade sie alle waren, habe ich erst durch dich festgestellt. Du bist eine ganz andere Art von Mann, viel aufregender!“ Sie lachte hoch und schrill. Es blieb eine Weile ruhig und Wolf hätte beinahe den Kopf hinter dem Baum vorgestreckt. Aber dann redeten sie wieder.
„Und es wird funktionieren, ohne dass jemand bei der Obduktion Verdacht schöpft? Es wird bestimmt aussehen wie ein natürlicher Tod?“
„Verlass dich auf mich, er wird ersticken. Ich kann ihn nicht einfach strangulieren, das würde eindeutige Spuren am Hals hinterlassen, selbst wenn ich ihm Mund und Nase zuhalte oder die beiden Carotis abdrücke, kann man das an den Augen feststellen. So was lässt sich sogar ziemlich leicht nachweisen. Ertrinken ist auch keine Option, zumindest nicht im Haus.“
„Wie machen wir es dann? Er ist am Abend in seinem Pavillon und ich komme ihn besuchen.“
„Du erzählst ihm, dass du noch weg musst und dass ich dich abholen werde. Ich komme und du lässt mich ins Haus. Das alles ist recht unauffällig. Nach einer halben Stunde gehen wir gemeinsam fort. Du kommst am nächsten Tag und findest ihn tot in seinem Bett. Du alarmierst die Rettung und bist entsetzt. Dein Freund ist im Schlaf gestorben, oh Jammer! Er war doch noch so jung! Du verstehst das gar nicht! Ach, er war in letzter Zeit krank. Und so weiter. Ich lasse deiner Phantasie da freien Lauf.“
„Und was geschieht in dieser halben Stunde?“
„Sobald ich ihn treffe und die Haustüre zu ist, versetze ich ihm einen gezielten Kyusho-Jitsu-Schlag gegen die Halsseite. Dort ist ein wichtiger Vitalpunkt. Das betäubt ihn eine Weile und hinterlässt kaum einen blauen Fleck. Ich werde drei Dinge mitnehmen, nämlich ein Gewebeband, einen Zahnstocher und einen Sodazylinder, die gebe ich dir gleich am Anfang. Sobald er süß schlummert gehst du ins Badezimmer und verschließt mit dem Gewebeband den Abfluss der Badewanne luftdicht. Zum Glück hat er eine, sonst hätte ich ihn doch im Meer ertränken müssen. Aber bei so was besteht halt immer der Verdacht auf Fremdverschulden und das Risiko, gesehen zu werden, ist groß. Wie auch immer. Ich lege ihn in die Badewanne ...“
„Wie lange bleibt er denn betäubt?“
„Lange genug, ein paar Minuten, mehr brauchen wir nicht. Ich präpariere den Sodazylinder mit dem Zahnstocher so, dass er dauernd geöffnet bleibt und lege ihn ebenfalls in die Wanne. Kohlendioxid ist schwerer als Sauerstoff und verdrängt ihn, sodass er schließlich daran erstickt. Der Ersatz geht sehr rasch und er lebt dann nicht mehr lange, aber wir warten fünfundzwanzig Minuten, für alle Fälle. Diese Art des Mordes hinterlässt keine Spuren an der Leiche, er kann ja Atembewegungen machen und verkrampft sich nicht. Wahrscheinlich merkt er überhaupt nichts, ein Jammer eigentlich.“
„Was machen wir in dieser Zeit?“
„Wir können durchaus einen Rotwein trinken, wenn du willst, aber es müssen dann drei Gläser in der Spüle stehen, nicht zwei! Und sie müssen die entsprechenden Fingerabdrücke aufweisen. Für den Fall, dass ich gesehen werde, solltest du meine Anwesenheit nicht leugnen, aber du musst auch nicht zwanghaft darauf hinweisen.“
Nicht vollendetes Fragment
Sie blickte in den Spiegel und sah ein junges, sportlich schlankes, blondes Mädchen in einem türkisfarbenen, kurzen Kleid, dessen Gesichtszüge Zufriedenheit ausdrückten. Ja, sie war sehr mit sich im Einklang. Sie war gerade dabei, die Karriereleiter hinauf zu fallen, war ins Bodyguard-Team des Obersten Wächters aufgenommen worden, was sie heute mit Freundinnen feiern wollte. Endlich war es soweit! Davon hatte sie geträumt. Man würde sie in TV-Übertragungen an seiner Seite sehen...
Nein, korrigierte sie sich frustriert, davon würde sie auch weiterhin bloß phantasieren können. Sie würde irgendwo im Hintergrund stehen, denn der Platz an seiner Seite war IHR vorbehalten, der Schlächterin des Geliebten Diktators, diesem Cyborg-Mädchen mit ihren übermenschlichen Reflexen und der unheimlichen Kraft. Da konnte sie trotz ihres mörderischen Trainings und dem leistungsverstärkenden, hochentwickelten Exoskelett nicht mithalten. Nicht einmal annähernd. Das hatte sie sich dereinst eingebildet und hatte, weil sie im Training immer mit Abstand die Beste im Nahkampf war, in einer Bar, wo sie mit ihren Freundinnen einen Kurs-Abschluss feierte, in einem Anfall von Überheblichkeit laut verkündet, sie könne mit ihrem Exoskelett sogar die Schlächterin, diese Angeberin, mühelos schlagen. Das war keine ungefährliche Ansage, denn diese trug ihre Bezeichnung, die fast schon ein Name war, durchaus zurecht.
Jemand hatte das dem Cyborg offenbar zugetragen, denn beim nächsten öffentlichen Training war sie plötzlich dagestanden, hatte gesagt: „Du glaubst, du kannst mich besiegen? Dann versuch es!“ Zunächst hatte sie sich über diese Chance vor bedeutendem Publikum zu zeigen, was für ein Ausnahmetalent sie war, gefreut. Aber dann hatte der Cyborg sie mit einer solchen Leichtigkeit besiegt, hatte sie plump und unbeholfen aussehen lassen und den Kampf ganz offenbar nicht ernst genommen. Sie hatte sie verhöhnt und verspottet, aber sie war von der erbarmungslosen Killerin erstaunlicherweise physisch nicht ernstlich verletzt worden. Vielleicht wollte sie mit ihrer Schonung bloß die Lächerlichkeit ihrer Gegnerin demonstrieren. Ihr Selbstbewusstsein und Ansehen waren danach allerdings für eine ganze Weile dahin, sie war auch im Bodyguard-Ranking zurück gereiht worden. Der neuerliche Weg an die Spitze war mühselig und lehrte sie Geduld. Sie haderte mit sich selbst, bis sie sich sagte, dass es nur dieser hochentwickelte, mechanische Körper war. Sie würde alles dafür geben auch so einen Leib zu besitzen wie ihre verhasste Feindin, würde sofort auf ihre schwache, fleischliche Hülle verzichten, wenn sie nur die Möglichkeit dazu bekäme. Aber solche Körper wurden nicht mehr produziert, ja waren auf der Erde nie hergestellt worden.
Plötzlich sah sie im Spiegel noch eine zweite Gestalt, ausgerechnet die Person, an die sie gerade hatte denken müssen.
***
Die Bodyguard des Geliebten Diktators Jeremi Nowas stand vor einer verschlossenen, milchig-weißen Tür. An der Wand daneben war grau die Silhouette einer Hand zu sehen und dorthin hielt sie ihre Rechte, woraufhin das Türblatt geräuschlos zur Seite glitt und die Sicht auf eine spärlich möblierte, helle, geräumige Wohneinheit freigab, deren Glasfront die atemberaubende Aussicht auf einen Teil der Kuppelstadt ermöglichte, die ihre Bewohner Asgard nannten. Dahinter stand der Himmel in Flammen, gleißende Blitze zuckten aus düsteren Wolkentürmen; Hagel explodierte auf der Oberfläche der Hemisphäre.Vorsichtig und heimlich wie eine Schabe betrat sie den Raum und sah sich rasch um. Niemand befand sich in ihm und so ging sie langsam und unglaublich leise weiter. Kaum hatte sie das nächste Zimmer betreten, erspähte sie eine blonde, junge, schlanke Frau in einem türkisfarbenen Kleid, die sich selbstverliebt in einem Spiegel betrachtete. Die Schlächterin glitt weiter, sodass sie nun sowohl für sich selbst als auch für das Mädchen, das sichtlich erschrak, im Spiegel sichtbar wurde. Sie war in der Tat ein gewöhnungsbedürftiger Anblick: gläsern wirkende Haare umhüllten das Haupt, durchsichtige Synthohaut bedeckte einen metallblauen, hochentwickelten Maschinenkörper, dessen Konturen dennoch feminin wirkten. Er war bis ins Detail der menschlichen Physiognomie angepasst, erschien weiblich zart und grazil, ja fast zerbrechlich und war gleichzeitig eine enorm robuste, starke und schnelle Waffe, der höchstentwickelte Cyborg-Körper, den menschlicher und künstlicher Geist je vereint hervorgebracht hatten. Geradezu erschreckend und auf makabere Weise schön wirkte der Metallschädel, in dessen Kiefer sehr weiße Zähne steckten, die die unsichtbaren Lippen genauso wenig verhüllten wie die durchsichtigen Lider die großen Augenbälle, die sich nun ein wenig bewegten, um die Sicht von ihrem Spiegelbild weg und auf die Frau zu lenken, die sich jetzt langsam umdrehte.
„Wie bist du in meine Wohnung gekommen?“, fragte sie. „Die Tür war verschlossen.“
Der Cyborg antwortete mit einer überraschend wohlklingenden, unzweifelhaft weiblichen Stimme. „Natürlich war sie das. Aber die Rechte Hand des Obersten Wächters hat Zugang zu allen privaten Räumen, wusstest du das nicht?“
„So nennst du dich? Rechte Hand unseres Geliebten Diktators?“
„Geliebt? Deine Wortwahl, nicht meine.“
„Und was jetzt? Bist du gekommen, mich umzubringen? Ich bin ohne mein Exoskelett wehrlos. Nicht dass es mir gegen dich viel nützen würde, wie du ja allen demonstriert hast.“
„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“
„Mich? Ausgerechnet mich? Ich hasse dich. Und das weißt du sehr genau.“
„Natürlich weiß ich das. Deshalb habe ich dich ja vor aller Augen blamiert. Damit du mich hasst.“
„Gibt es da nicht genug Leute? Diejenigen, die du gefoltert hast und die überlebten. Oder die Angehörigen derjenigen, die das nicht getan haben.“
„Ohne Zweifel hassen sie mich. Aber sie fürchten mich auch. In meiner Gegenwart würden sie handlungsunfähig. Ich habe das oft genug erlebt. Bei dir ist das anders, glaube ich.“
„Worauf du dich verlassen kannst.“ Das Cyborg-Mädchen hoffte, dass das stimmte, denn sie registrierte die erhöhte Atemfrequenz bei der anderen, die auf Angst schließen ließ.
„Bist du nicht neugierig? Willst du gar nicht wissen, was ich von dir will?“
„Ich bin mir wirklich nicht sicher, ob ich das wissen will. Wie ich dich kenne, möchtest du, dass ich für dich sterbe.“
„Oh nein! Ich glaube, es wird dir gefallen.“ Sie machte eine dramatische Pause und fuhr dann fort: „Ich wünsche mir, dass du mich tötest!“
Die Blonde war einen Moment sprachlos. Dann lachte sie. „Wo ist der Trick? Ich kann das gar nicht und selbst wenn: Willst du, dass ich eine Anklage wegen Mordversuchs bekomme und du mich dann offiziell foltern kannst?“
„Es muss niemand wissen, dass du es warst. Wir gehen gemeinsam zur Müllpresse. Dort trenne ich mit deiner Hilfe meinen Core vom restlichen Körper. Ich bin dann wehrlos. Alles was du noch zu tun hast, ist, die beiden Teile zerquetschen zu lassen.“
„Abermals: wo ist der Witz dabei? Das überlebst nicht einmal du! Hast du dort irgendwelche Freunde ...“, sie zögerte, bevor sie fortfuhr, „nein, so was hast du nicht; ... Mitverschworene versteckt, die mich verhaften, bevor dir etwas zustößt?“
„Du bist so misstrauisch. Ich verstehe gar nicht, weshalb. Nun gut, dann machen wir es eben hier. Du kannst ja dann die Teile zur Müllpresse tragen, nachdem du dich versichert hast, dass niemand unten ist. DU hast doch Freunde, oder? Du kannst sie hinschicken. Sie werden feststellen, dass niemand auf dich wartet. Und auch ganz bestimmt nicht auf mich.“
„Warum wirfst du dich nicht selbst zwischen die Mahlwalzen der Presse?“
„Das kann ich nicht. Mir sind die Instinkte einer Kriegerin aufgezwungen. Selbstmord ist mir nur auf Befehl möglich, sonst muss ich mich verteidigen, angreifen, zerstören. Verstehst du?“
Der Mensch schwieg und der Cyborg nahm das als Zustimmung. Im medialen Bereich der Brust schmolz die Synthohaut dahin. Ein Teil der Abdeckung des Torsos verschwand und ein kleines Display, das Ziffern zeigte, wurde sichtbar. Wie die Beiden wussten, diente es als Tastatur.
„Der Code für die Trennung des Cores vom Körper ist zwölfstellig. Kannst du dir so viele Ziffern merken?“
„Alles eine Frage der Motivation.“
Sie seufzte. „Na, dann ist sie hoffentlich ausreichend.“ Sie nannte ihr die Zahlenkombination und wiederholte sie vorsichtshalber noch zweimal. Immer noch zögerte die Frau. Vielleicht stellte sie sich vor, wie der Körper explodierte, sobald sie die Zahl eingegeben hatte, und sie mit in den Tod nahm.
„Warum tippst du den Code nicht selbst ein?“
„Wenn mir das möglich wäre, hätte ich es längst getan! Glaube mir.“
Die Blonde fluchte. „Fällt mir verdammt schwer.“ Aber dann hob sie entschlossen den Arm, trat näher und tippte die Kombination. Fast sofort begannen sich Verankerungen im Hals-Thoraxbereich zu lösen, die Synthohaut verschwand dort. Was sich innen tat, konnte sie natürlich nicht sehen, aber es gab eine Reihe merkwürdiger Geräusche. Dann kippte der Cyborg-Körper langsam nach seitlich hinten. Dabei wurde der Kopf, dessen Hals in einer eigenartigen, an einen Reptilschwanz erinnernden Konstruktion auslief, weggeschleudert.
Die Frau starrte fasziniert. „Bist du bei Bewusstsein? Lebst du noch?“
„Ja, klar“, antwortete der auf dem Fußboden isoliert liegende Schädel und die großen Augenbälle richteten sich auf ihr Gesicht aus.
„Dann hör mir zu! Was du nicht weißt: meine Geliebte ist Cyberchirurg und sie ist sicherlich bereit, mich mit diesem Körper zu verbinden.“
„Das ist wohl kaum in ihrem Sinne, oder?“, antwortete der Schädel. „Aber selbst wenn sie dazu bereit sein sollte; ich rate dir, tu das nicht! Alle werden wissen, dass du es warst!“
„Und? Wer kann dann noch etwas unternehmen? Wer könnte so mächtig sein? Wer käme dann noch gegen mich an?“
„Du hast keine Ahnung, worauf du dich einlässt! Hör mir zu!“
„Ich habe dir lang genug zugehört!“ Sie ergriff den Schädel an den langen Glasfaserhaaren und trug ihn an eine bestimmte Stelle der Wand; auch hier war ein Handabdruck aufgemalt, den sie rasch berührte. Eine Öffnung bildete sich in Höhe ihres Oberschenkels.
„Vernichte den Körper!“, versuchte es die Schlächterin nochmals. „Bitte!“
„Sei still! Wozu soll ich dich zur Presse tragen, wenn ich dich auch von hier einfach der Müllentsorgen anvertrauen kann.“ Ihre Stimme war voller Wut und Häme, die verriet, wie sehr sie ihre Gegnerin hasste. Sie hielt den Kopf in den Schacht, der in der Wand nach unten verlief, flüsterte ein 'bon voyage' und ließ ihn fallen. Er stürzte mehrere Stockwerke hinab und prallte so heftig auf dem Förderband auf, dass das menschliche Gehirn in seinem Inneren massiv gestaucht wurde; die Schlächterin verlor ihr Bewusstsein. Langsam glitt sie durch die dunklen Eingeweide der Stadt und während vor und hinter ihr anderer Müll landete verwandelte sie sich währenddessen: zunächst wurden ihre Haare schwarz, auch ihre Brauen; dann wurden die synthetischen Gesichtsmuskeln sichtbar, kurz darauf bleichte die Haut und verlor ihre Transparenz. Diese sah nun der eines hellhäutigen Menschen zum Verwechseln ähnlich. Die Lippen färbten sich rot. Die Züge wurden deutlich, die kleine, schmale Nase wurde sichtbar und an den – gemessen an dem für Terraner üblichen – übergroßen Augen hätte so mancher sie als einen Makimenschen erkannt, selbst jetzt noch, wo es seit geraumer Zeit keine Marsianer – oder, wie sie selbst sich genannt hatten, Aresianer – mehr gab. Ihr Antlitz war lieblich, geradezu das eines Engels und so gar nicht zu einer Person passend, die jeder, der sie und ihre Taten kannte, nur als 'Schlächterin' bezeichnete, denn ihr eigentlicher Name war längst vergessen. Sie war kein Mensch mehr, sie war ein Cyborg und es gab niemanden, der ihre Verwandlung beobachtete.
Langsam kam sie wieder zu sich und erfasste ihre Situation. Sie spürte die Bewegung, sah aber nichts in der meist absoluten Dunkelheit. Sie wusste aber, dass sie zum Stadtzentrum befördert wurde. Gelegentlich trieb sie an einem blauen Lichtpunkt vorbei, einer Markierung für das Wartungsteam. Widerwillig konstatierte sie, dass sie immer noch nicht tot war. Sie seufzte. Wenigstens war sie auf dem Weg dorthin, aber langsam, viel zu langsam. Nun drehte sie sich zusammen mit dem anderen Müll auf einer Plattform und wurde offenbar gescannt. Ihr Ende wartete wohl ganz in der Nähe auf sie. Die „Mahlsteine“, die gewaltigen, stählernen Rollen, denen nicht einmal die spezielle Legierung widerstehen konnte, aus der ihr synthetischer Schädel bestand, würden sie bald erfassen und ihr Elend abschließen. Fast war sie ihrer Konkurrentin dankbar. In den Müll geworfen zu werden mochte würdelos sein, aber es gebührte ihr. Es gab niemanden, der um sie trauern würde. „Gut“, dachte sie, dennoch löste sich eine silberne Träne aus ihrem Augenwinkel. Aber warum sollte sie nicht emotional werden, jetzt, wo es keiner sehen konnte? Sie dachte zurück an ihre Kindheit auf Ares, an ihre unschuldigen Tage, selbst ihr Name fiel ihr wieder ein: Caelia Tegenar. Die anderen Kinder im Waisenhaus hatten sie Caeli oder Galli genannt. Aber es gab auch eine Zeit davor als sie noch Eltern hatte und glücklich war. Auch später war sie noch einmal heiter gewesen, als sie den merkwürdigen Jungen kennen gelernt hatte, Balder. Aber dann kam der Weltenkrieg, der erste und letzte. Die Siedlungen auf Ares gab es nicht mehr, ihre gewaltigen Kuppelstädte waren zerstört. Nicht anders stand es um diejenigen auf Selene, dem Mond, und um die allermeisten auf Gaia, auf der Erde. Auch sie hatten gebrannt. Alle Welten hatten gelitten, besonders auch die eine in ihrem Inneren. Im Krieg hatte sie ihren menschlichen Körper verloren und bald darauf alles, was von Bedeutung war, insbesondere dass Gefühl der Unschuld. Mitgefühl war plötzlich Luxus.
Irgendwo im Inneren der Stadt traf ein kybernetisches Gehirn Entscheidungen, der Haufen neben ihr, der gerochen hatte wie Erbrochenes, war plötzlich weg. Etwas Schepperndes verschwand durch eine andere Tür. Auch sie wurde schließlich von der drehenden Plattform geschoben und an der Presse vorbei geleitet. Zuviel organisches Material, so lautete die Erkenntnis, die beim Zerquetschen freiwerdende Flüssigkeit könnte der Maschine langfristig schaden. Für den Bioabfall aber war zu viel Metall an ihr, auch für die Verbrennungsanlage taugte sie nicht. Also geriet sie auf das Förderband für Restmüll, für Diverses, das radiär auf die Stadtperipherie zuhielt. Wieder war sie nicht alleine, vor und hinter ihr lagen Schicksalsgefährten. Ihre Entsorgung hatte es nicht eilig und so hatte das Cyborg-Mädchen Zeit zu der Erkenntnis, dass sie nicht zerstört werden würde. Sie wusste um die Langlebigkeit ihres Cores und verfiel in Panik. Ihr Gehirn schickte automatisch einen Befehl an ihren Stimm-Synthesizer. Voller Entsetzen schrie sie. Aber da war niemand, der sie hätte hören können.
Nach einer Ewigkeit schied Asgard sie aus. Plötzlich war das Unwetter nicht mehr hinter einer Kuppel, sondern wurde zu ihrer Realität, kaum dass sie auf dem übel stinkenden Misthaufen gelandet war. Hagelkörner groß wie Wachteleier prasselten wuchtig auf sie nieder, bedeckten ihre Umgebung, färbten sie weiß. Sie schloss ihre Lider instinktiv, um die Augen zu schützen, anderer Mischabfall landete auf und neben ihr. Obwohl sie sterben wollte, hatte sie Angst in dem Konglomerat, das sie umgab, zu ersticken; die kleine Pumpe und der Luftaustauscher des isolierten Cores waren nicht allzu leistungsfähig. Ein Blitz schlug wenige Meter neben ihr ein, Flammen waren kurz zu sehen, wurden aber vom Hagelschauer getötet. Sie empfand den Sturm wie auch den Aufruhr in ihrem Inneren und wünschte sich nichts sehnlicher als Ruhe überall. Während der Müllberg immer höher wurde und sie begrub, wurde das Atmen immer mehr zur Qual. Schließlich kam ein System im Core zu dem Schluss, nur noch die allernotwendigsten Lebenserhaltungssysteme aktiv sein zu lassen und daher auch die Energiezufuhr ans Gehirn zu drosseln. Nach wenigen Augenblicken verlor sie das Bewusstsein.
***
Er betrat gemeinsam mit seiner Frau die Besprechungshemisphäre. Am runden Tisch saß bereits der Oberste Wächter der Stadt, ein für einen Aresianer bullig gebauter Mann mit einem unangenehmen Schimpansenmännchen-Gehabe. 'Vielleicht müssen höhere Militärs so sein', dachte Norsei Mori, 'immer übel gelaunt und unfreundlich und unhöflich und – oh Ares! - stets in dieser Angeberpositur.' Er lächelte ihn an, eine Geste, die erwartungsgemäß nicht erwidert wurde. Das Ehepaar Tegenar war natürlich auch da und saß soweit weg wie möglich vom Obersten Wächter. Als Menschen waren sie sympathischer, aber in der Sache nicht. Sie waren als Sphärentechnologen die bedeutendsten Personen hier und würden ohne Zweifel Einwände gegen sein Projekt erheben. Das taten sie ja immer. Ein weiteres Dutzend Techniker, Kybernetiker, Biologen und mindere Militärs waren ebenfalls da. Die würden kein ernstzunehmendes Problem darstellen.
Norsei und seine Frau Silvi hasteten zu den ihnen zugewiesenen Plätzen. Sie waren durch Namensschilder kenntlich gemacht. Norsei überlegte, ob er sich für die Verspätung entschuldigen solle, kam aber zu der Entscheidung, das Thema besser nicht anzusprechen. Also starrte er stattdessen durch die transparente Kuppelhaut auf die rote, giftige Oberfläche von Ares. Die kleine Sonne stand noch tief am Himmel. Die Tageslänge auf Ares entsprach etwa der von Gaia, was die Anpassung der ersten Siedler an ihre neue Umgebung sehr vereinfacht hatte. Man konnte den Tag-Nachtzyklus, der tief in die Matrix des menschlichen Gehirns geprägt war, einfach übernehmen.
„Nachdem nun auch jene Personen erschienen sind, die diese Sitzung beantragt haben, können wir ja nun endlich beginnen“, ließ sich der Oberste Wächter vernehmen. Er kam normalerweise immer als letzte Person, um seine Bedeutung herauszustreichen. Die Moris hatten ihm diese Möglichkeit genommen, was seine immer üble Laune noch mehr verdüsterte. „Vorab,“, fuhr er fort, „wir besprechen ein Projekt von möglicherweise militärischer Relevanz, nach Meinung von Norsei Mori zumindest, was bedeutet, dass nicht alle Anwesenden Zugang zu allen Daten erhalten. Insbesondere wird der Projektverlauf geheim gehalten. So oder so, alle Anwesenden unterliegen einer Schweigeverpflichtung. Wenn das soweit alle verstanden haben, können Sie beginnen, Herr Mori. Vorab eins noch: von ihren Vorschlägen für den Projektnamen, die wie bei Ihnen stets üblich größtenteils der nordischen Mythologie entstammen“, (hier war leises Gelächter im kreisrunden Raum zu vernehmen), „wird die Bezeichnung 'Berserker' abgelehnt.“
„Wieso?“, wollte Norsei wissen.
„Ein Projekt dieses Namens gibt es schon.“
„Worum geht es dabei?“ Rachel Tegenar, eine schlanke, dunkelhaarige, sehr attraktive Frau, hatte diese Frage gestellt.
„Wenn Sie das etwas angehen würde, wüssten Sie Bescheid.“
Bei dieser harschen, unhöflichen Replik krümmte sich Elwin Tegenar zusammen. Er öffnete den Mund, wagte aber dann doch nichts zu sagen. Zweifellos würde er sich dafür später Vorhaltungen machen, denn seiner Meinung nach wäre es seine Pflicht gewesen, seine Frau zu verteidigen, auch wenn es nicht dass geringste gebracht hätte. So viel Schimpansenmentalität hatte auch er. Das wusste seine Frau und legte zur Beruhigung ihre Hand auf die seine. Wie oft hatte sie ihm schon gesagt, dass er froh sein müsse, nicht täglich mit diesem Mann beruflich zu tun zu haben. Jeder, dem dieses Schicksal widerfuhr und der nicht die Feinfühligkeit eines Psychopathen aufbrachte, würde früher oder später zugrunde gehen oder wenigstens Magengeschwüre bekommen.
Norsei Mori stand auf und räusperte sich. „Wie Sie sicherlich alle wissen, beschäftige ich mich mit der Entwicklung und Verwendung sogenannter 'Motivated Artificial Neuronal Networks', MANNs also, denen man nicht zu unrecht eine gewisse Kreativität nachsagt. Bekannt geworden ist die Anwendung in der Physik. Durch Studium von Millionen naturwissenschaftlicher Experimente konnte eines unserer Netzwerke namens FRED nicht nur die Allgemeiner Relativitätstheorie und die Schrödinger Gleichung herleiten, sondern auch darüber hinausgehende Gleichungen einer höheren, noch unbekannten Physik.“
„'Hergeleitet' ist wohl nicht die korrekte Bezeichnung“, wandte ein junger Mann, der Norsei vis a vis saß, ein. „wir haben schlicht nicht die geringste Ahnung, wie FRED zu seinen Erkenntnissen gelangt ist und damit wird die neue Physik auch weiterhin unbekannt bleiben. Wir kommen einfach nicht weiter, weil uns das verdammte Netz nicht verraten kann, wie es zu seinen Schlussfolgerungen gekommen ist. Das ist für uns Physiker ziemlich frustrierend.“
„Ich kenne diese Kritik“, verteidigte sich Norsei. „Aber Fakt ist, dass wir diese Gleichungen haben, Gaia aber nicht. Wir haben durch ihre Anwendung in manchen Bereichen ein technisches Niveau erreicht, von dem der dritte Planet nur träumen kann.“ Der junge Physiker nickte, wirkte aber immer noch unzufrieden. „Hier“, fuhr Norsei fort, „geht es aber nicht um Physik, oder jedenfalls nur indirekt. Der Grundgedanke stammt von meiner Frau. Sie meinte, ich solle doch den neuen FRED, eine noch leistungsfähigere Maschine, an deren Entwicklung wir die letzten Jahre gearbeitet haben, an einem medizinischen Problem testen.“ Bei diesen Worten versuchte die eher unscheinbare Silvi Mori noch unauffälliger zu werden, indem sie den Kopf einzog. Öffentliche Aufmerksamkeit war ihr offensichtlich ein Gräuel. „Das neue Netz heißt übrigens MANNFRED“, ergänzte er. Wie Ihnen allen bekannt ist, leidet unser Metabolismus unter Ares geringer Schwerkraft. Jeder von uns muss täglich für eine Stunde in die Zentrifuge, um bei ein G diverse Standardübungen durchzuführen. Wir vermeiden dadurch die Schädigung praktisch aller Organe, insbesondere aber des Stützapparates und des Kreislaufs...“
„Wie Sie bereits sagten, ist uns dass bekannt, Herr Mori“, wandte der Oberste Wächter ein. „Kommen Sie auf den Punkt.“
Für einen Augenblick verlor Norsei den Faden. „Nun … um zukünftige Generationen diesen Zeitverlust zu ersparen, wollten wir herausfinden, welche Änderungen am menschlichen Genom dazu erforderlich sind. Deshalb haben wir MANNFRED mit so ziemlich allen genetischen und phänetischen Daten gefüttert, über die die Menschheit verfügt. Über interspezifische Variation bei Homo sapiens, aber auch darüber hinaus mit den Genomen aller anderen Organismen Gaias, wo die entsprechenden Daten vorhanden sind. Die praktische Verwertung derselben wie auch das Hüten der Zellkulturen ist ja die Aufgabe meiner Frau. Wenn Sie das nächste Mal ein Libellenflugmuskel-Kotelett bestellen, denken Sie bitte daran, dass es nach einem von ihr entwickelten Verfahren aus Kulturen gezüchtet wird.“ Silvi versuchte neben ihrem Mann noch kleiner zu erscheinen, scheiterte aber an natürlichen Grenzen.
„Hätten nicht die menschenspezifischen Daten genügt?“, fragte jemand.
„MANNs werden grundsätzlich so umfassend gefüttert wie nur möglich, da es ja ihre Aufgabe ist, eigene Anwendungsmöglichkeiten zu erkennen. MANNFRED hat daher nicht nur das vorgegebene Problem gelöst, sondern gleich auch weitere.“
„Hat er das?“, wandte Rachel Tegenar ein. „Die meisten Gene sind polyphänisch, wirken sich also auf mehrere körperliche und auch geistige Merkmale gleichzeitig aus. Wer sagt uns, dass das Netz nicht zwar die gesundheitlichen Probleme der geringen Schwerkraft löst, dabei aber ganz neue verursacht?“
„MANNFRED hat aus der unglaublichen Datenmannigfaltigkeit sicherlich alle Korrelationen ausgesiebt, die in ihnen stecken. Aber die Natur ist umfassender als unsere Kenntnis von ihr“, räumte Norsei ein. „Hypothesen muss man testen.“
„Hypothesen muss man testen? Was meinen Sie damit?“, wollte Elwin Tegenar wissen.
„Nun, offensichtlich ist es notwendig, die genetischen Veränderungen an einem Menschen im Einzellstadium durchzuführen und am Herangewachsenen zu untersuchen, ob die erwarteten Effekte eintreten.“
„Genmanipulation? Im Ernst?“
„Glauben Sie, Herr Tegenar, das wäre noch nie geschehen? Sehen Sie sich doch ihr Gesicht an, oder das irgendeines Aresianers. Die Gaianer bezeichnen uns als 'Makimenschen' wegen unserer Eulenaugen.“
„Warum dann nicht Eulenmenschen? Was sind überhaupt Eulen?“, erkundigte sich eine ältere Frau, wurde aber geflissentlich ignoriert.
„Sind sie nicht eine evolutionäre Anpassung an die hiesigen Lichtverhältnisse?“, wollte ihr Sitznachbar wissen.
Der junge Physiker schüttelte den Kopf und erklärte: „Bestimmt nicht. Gaia liegt acht Lichtminuten von Helios entfernt, Ares zwölf. Die Intensität der ankommenden Strahlung nimmt mit dem Entfernungsquadrat von der Quelle ab, beträgt also auf Ares etwa fünfundvierzig Prozent derjenigen, die auf Gaia herrscht. Etwas weniger. Wenn Sie dann noch die geringere Absorption durch die viel dünnere Atmosphäre berücksichtigen … es gibt wirklich keinen Grund für vergrößerte Augen. Oder einer Erweiterung des Pupillendiameters.“
„Also gut“, meinte die ältere Frau, „dann liegt eben eine zufällige Allelsubstitution vor.“
Hier schaltete sich Norsei wieder ein: „Das wäre zwar nicht unmöglich, da die Gründerpopulation sehr klein war. Es ist aber ein wenig bekanntes Faktum, dass die Makiaugen das Resultat einer Genmanipulation sind. Was wir schon vor vielen Generationen konnten, sollte uns jetzt keine Angst mehr machen.“
Der Oberste Wächter ließ seine dröhnende Stimme vernehmen. „Herr und Frau Mori, Sie haben dieses Gremium einberufen, um zukünftigen Generation das Zentrifugentraining zu ersparen? Sie verschwenden unsere Zeit!“
Aber jetzt war Norsei in Fahrt gekommen. „Wie bereits erwähnt, findet MANNFRED eigenständig Anwendungen für die ihm zur Verfügung stehenden Daten. Das hat er auch hier getan. Er hat nicht nur das Eingangsproblem gelöst – es sind sieben Änderungen im Genom erforderlich –, sondern hat gleich weitere Verbesserungsvorschläge gemacht. Wenn man dem menschlichen Genom fünf synthetische Chromosomen hinzufügt, sodass achtundzwanzig den haploiden Chromosomensatz bilden, sollte ein phänotypisch erheblich verbessertes Exemplar resultieren.“
„Was soll das werden? Der Übermensch? Haben Sie zu viel Nietzsche gelesen? Fangen Sie jetzt an, alle, die nicht Ihrer Meinung sind als Flachköpfe zu beschimpfen, wir er es getan hat?“, empörte sich Rachel.
„Es gibt auch heute noch natürliche Selektion“, argumentierte Norsei sachlich, der keine Lust hatte, sich provozieren und mit Nietzsche in einen Topf werfen zu lassen. „Wir werden uns im Laufe der Generationen durch die geringe Gravitation verändern, wir können ja jetzt schon kaum Botschafter nach Gaia schicken, Himmel nochmal! Wir haben uns bereits verändert! Wenn wir nichts dagegen tun, wird sich der Weg nach Ares als Sackgasse erweisen. Ob wir wollen oder nicht, wir leben in Konkurrenz mit Gaia. Aber während sie ohne weiteres hierher kommen können, können wir ihren Planeten kaum noch betreten. Wir erscheinen schwach; was sage ich: Wir sind schwach. Doch das kann man ändern. All die genetische Information, die wir kennen, die vielen Anpassungen an unterschiedliche Bedingungen, die Tiere entwickelt haben, kann uns ermöglichen, dort zu leben, wo es auch Gaianer nicht können.“
„Das ist doch Science Fiction“, äußerte Elwin.
„Es war auch einmal Science Fiction, Städte auf Ares zu bauen!“, konterte Norsei. „Schauen Sie sich um! Es war Utopie, dass sich das Klima auf Gaia so sehr verändert, das Menschen beinahe nur noch im Schutze von Hemisphären leben können. Auf dem Planeten ihrer Herkunft! Die sieben Städte Gaias halten gerade einmal ihr technisches Niveau. Was wenn es weiter absinkt? Durchaus möglich, denn die Bewohner der gaianischen Hemisphären degenerieren zusehends. Wäre es dann nicht ein attraktives Ziel von Ares aus den Ursprungsplaneten neu zu besiedeln? Mit Menschen, die die enormen Temperatur- und Feuchtigkeitsschwankungen und den geringen Sauerstoffgehalt mühelos ertragen können? So wie wir jetzt sind, können wir das nicht.“
„Aber ihre Kreaturen können das?“, fragte der Oberste Wächter, jetzt sichtlich interessiert. Er überdachte wohl die militärischen Anwendungsmöglichkeiten, wie stets.
„Und sie sind übermenschlich stark und schnell und vor allem auch hyperintelligent. Und enorm langlebig“, ergänzte Norsei.
„Ich erwähne nochmals die polyphänische Wirkung der meisten Gene. Wahrscheinlich sind ihre 'Wunsch-Übermenschen' nichts davon“, konterte Rachel. „Und noch ein Punkt: Nach aresianischem Gesetz ist jeder Bürger dieses Planeten Eigentümer seines Genoms. Wo also wollen Sie freiwillige für ihre absurden Experimente hernehmen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand ihnen Keimzellen für so eine Sache spendet. Und keine Frau wird solch einen Embryo austragen wollen.“
„Auch dieses Problem haben wir überdacht. Er ergriff jetzt die Hand seiner Frau, die während der Diskussion aus ihrem Schildkrötenpanzer herausgeschaut hatte, jetzt aber, unter der Wirkung der allgemeinen Aufmerksamkeit, schnell wieder ihren Kopf einzog. „Wir wollten sowieso Kinder bekommen, nicht wahr Liebling?“ Sie sah keinem in die Augen, nickte aber schließlich unsicher.
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Heute war einer der Tage, an denen man nach draußen gehen konnte und er nutzte ihn. Der Himmel war bloß ein wenig bewölkt und trotzdem hatte es nur etwa fünfundzwanzig Grad Celsius im Schatten. Gestern waren es bei starker Bewölkung eisige minus fünfzehn gewesen und für morgen waren starke, wolkenbruchartige Regenfälle vorausgesagt. Hier in der kreisrunden Senke um Saleem mit ihren Landwirtschaftskuppeln war der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre höher als sonst und es bereitete Ido Typhon daher keine Mühe zu atmen. Weiter weg von der Stadt, auf der Ebene, war das anders. Er ging dort nicht hin, keiner tat das.
Ido lebte nicht mehr in Saleem, sondern in den angrenzenden, größtenteils verfallenden Gebäuden einer älteren Siedlung, die ihre Einwohner Müllstadt nannten. Die Bürger Saleems wählten als Namen für ihre Hemisphärenstadt hingegen Asgard und bezeichneten Müllstadt als Midgard und die praktisch unbesiedelbare Umgebung als Utgard. Das Ganze glich einem Riesenauge: Die Pupille war Asgard, die Iris Midgard und ihre unmittelbare Umgebung und „das Weiße“, die Sklera, Utgard. Die Kuppel war riesig, aber die ursprüngliche Stadt musste erheblich größer gewesen sein, sonst wären nicht rundherum Ruinen vorhanden. Jenseits der Bauwerke, aber immer noch in der Senke, standen die Agraranlagen auf mehr als zwei Dritteln der 'Irisfläche'. Asgards Bevölkerung hielt sich für Götter und pflegte keinen Umgang mit den Menschen von Müllstadt, sofern es sich vermeiden ließ. Ganz war dass aber nicht möglich, denn es waren die Müllstädter, die in den vielen kleineren Kuppeln der Peripherie Obst, Gemüse und Nüsse produzierten, Kaffee, Kakao und Tee und anderes und als Nebenprodukt Sauerstoff. Ebenfalls in Hemisphären wurden aus Zellkulturen Fleischprodukte hergestellt. Wiederum andere dienten der Energieproduktion und dem Zerlegen von Wasser in seine atomaren Bestandteile oder zur Gewinnung von Methanol aus Hydrogen und Kohlendioxid. Das zentrale Fusionskraftwerk aber befand sich unter der Erde und der Zugang war den Müllstädtern verwehrt. Die Müllhalden hingegen durfte jeder besuchen. Die organischen Substanzen wurden kompostiert und zu den Agrarkuppeln gebracht. Das Altmetall wurde ebenfalls wiederverwertet und kam in riesige Schmiedeanlagen. Ido konnte nichts damit anfangen, denn der Schrott war zusammengepresst worden und technisch komplexere Dinge damit zerstört. Nur der Mischmüll gab ihm eine gewisse Chance, etwas Verwertbares zu finden. Ido war Cyberchirurg, ein Beruf, die einer hochentwickelte Hardware bedurfte. Er hatte so viele Ersatzteile aus Saleem mitgenommen, wie möglich. Dennoch befürchtete er, das Material könne nicht ausreichen. Also schlachtete er aus, was er finden konnte. Bildschirme, zum Beispiel, bestanden nicht nur aus Metall und kamen oft in die Mischdeponie. Deshalb kletterte er jetzt über Berge von übelriechendem Müll. Schwärme von Fliegen begleiteten ihn. Gelegentlich fand er Vielversprechendes und steckte es sorgfältig verpackt in eine Umhängtasche aus synthetischem Leder. Er wich einem Bagger-Roboter aus, dessen gewaltiger Metallarm einen Hügel umwälzte. Offenbar selektierte er organisches Material für die Kunststoffproduktion aus, womit er keine Konkurrenz für ihn war, im Gegenteil. Für eine wirklich gute Prothese bedurfte es sehr vieler Bestandteile, auch solcher aus Kunststoff. In seine Gedanken versunken beobachtete Ido das Robot-Ungetüm, wie es mit der Schaufel Tonnen von Unrat umwälzte, während viel feinere, schlankere Metallarme alles herauspickten, was die AI für verwertbar hielt. Sie machte ihre Arbeit gut, das war ganz offensichtlich Asgard-Technologie. Hier in Müllstadt – Midgard - ließ sich so etwas nicht herstellen. Eine leise Wehmut ergriff ihn, wenn er an das Equipment dachte, das ihm früher zur Verfügung gestanden hatte. Und Ersatzteile hatte er auch nicht auf der Müllhalde suchen müssen.
Als die feinen Robotarme in dem bunten Allerlei herumwühlten, kam etwas in Bewegung: Ein rundes Ding rollte zunächst langsam und dann immer schneller den Müllhügel hinab. Die AI kümmerte sich nicht darum, hielt es offenbar für unverwertbar und so landete es schließlich beinahe vor seinen Füßen. Er bekam einen ziemlichen Schock als er erkannte, dass es sich um einen Kopf handelte. Eine Leiche im Unrat? Er ging etwas näher heran, um eine eingehendere Betrachtung durchzuführen. Schnell stellte sich heraus, dass das kein Menschenkopf war sondern einer von einem Cyborg, aber unglaublich sorgfältig angefertigt, vermutlich nach dem Vorbild des Menschen, von dem das Gehirn stammte. Vor dem Weltenkrieg war das durchaus üblich gewesen, allerdings waren nur einige wenige Technologie-Zentren in der Lage gewesen, einen derartig hochkomplexen und individualisierten Core herzustellen. Fast spürte er ein wenig Neid aufkeimen, den er tapfer unterdrückte. Bewunderung für dieses Werk nahm überhand. Er betrachtete es von allen Seiten, dann hockte er sich hin. Das liebliche Gesicht war von schwarzem, glattem Haar umrahmt, die Brauen waren zart wie die Schwingen einer Schwalbe und die Wimpern lang. Die Gesichtszüge waren die eines Mädchens oder einer jungen Frau. Wenn das tatsächlich eine Kopie des Originalgesichts war, musste sie sehr hübsch gewesen sein. Auffällig waren die übergroßen Augen, die man trotz der geschlossenen Lider erahnen konnte. War sie Marsianerin gewesen? Ido inspizierte das Interface genauer, das dort begann, wo der Hals endete, ein kegelförmiger, silbriggrauer Stumpf. Das war sein Fachgebiet, da kannte er sich aus wie sonst niemand, auch keiner unter der „Schüssel“, wie man die Kuppel in Müllstadt gerne nannte. Nicht dass er der berühmteste oder beliebteste Cyberchirurg gewesen wäre. Er hatte Aufmerksamkeit immer vermieden, was ihm seine Frau oft genug vorgehalten hatte. Wie auch immer, eine kurze Inspektion zeigte, dass das Interface tatsächlich marsianisches Machwerk war. Das erschreckte ihn ziemlich, denn er wusste nur von einem einzigen Cyborg, dessen Bauart die Herkunft vom vierten Planeten verriet. Er gehörte zum meist gefürchteten Wesen in Saleem. Der „Geliebte Diktator“, wie sich Jeremi Nowa gerne nennen ließ, schickte sie zu Regimekritikern, um Geständnisse zu erpressen. Und die erhielt er, selbst von völlig Unschuldigen, dafür sorgte die Schlächterin. Wenn man ihr in den Gängen Saleems begegnete, wich man soweit aus wie nur möglich, schmiegte sich an die Wände, hoffte mit ihnen zu verwachsen und unsichtbar zu sein, bekam einen Schweißausbruch und unkontrolliert zitternde Hände. In diesen Momenten fühlten sich die sonst so überheblichen Einwohner Asgards nicht als Götter. Zu ihrem Ruf trug auch noch das erschreckende Äußere bei, der Metallschädel mit den riesigen Augenbällen und den weißen Zähnen. Ido wusste, dass all das von durchsichtiger Synthohaut bedeckt gewesen war. Aber trotz dieses Wissens wäre er nicht in der Lage gewesen zu erraten, wie das Gesicht mit undurchsichtiger Haut ausgesehen hätte. Der Core, der vor ihm lag, hatte eine helle Haut, die vielleicht ein wenig durchscheinend wirkte, aber vielleicht war das auch eine Täuschung, bedingt durch die Lieblichkeit der Gesichtszüge. Sie erschienen so unschuldig, dass Ido zu zweifeln begann. Kannte er alle Cyborgs von Saleem? Na ja, er hätte vor Augenblicken noch geantwortet, dass dem so sei, aber war er sich wirklich sicher? Eigentlich war dass ja auch egal, denn das Gehirn in dem Core war doch sicherlich tot, oder? Er entnahm seiner Tasche ein kleines Gerät, das er über das Interface mit dem Core verband. Es erlaubte ihm unter anderem auch, Gehirnwellen zu registrieren. Tatsächlich erhielt er ein Muster, das ihm verriet, dass sich das offenbar tatsächlich weibliche Hirn im Schlafmodus befand und zwar in einer Traumphase. Dass keine Augenbewegungen zu sehen waren, mochte daran liegen, dass die Verbindung zu ihnen unterbrochen worden war. Offenbar hatte die AI des Cores Energieverbrauch und Stoffwechsel gedrosselt, eine gute Entscheidung wenn man unter einem Müllberg begraben lag. Dennoch: sie lebte. Und damit begann ein Gewissenskonflikt. Ido hatte einen Körper weiblicher Gestalt, den er mit diesem Core verbinden konnte. Er war sein Meisterwerk, Produkt von drei Jahren harter Arbeit mit dem besten Equipment, das es auf Saleem gegeben hatte. Nie wieder würde er Ähnliches herstellen können. Er war nicht für die Verbindung mit einem marsianischen Interface gebaut worden, aber das war eine Herausforderung, der er auch mit seiner aktuellen Ausrüstung gewachsen war. Die nötigen Informationen hatte er jedenfalls, wenn es damals auch nicht leicht gewesen war, sie zu bekommen. Aber was, wenn sich hinter diesem Engelsgesicht tatsächlich die Schlächterin verbarg? Dann ließ er eine Wahnsinnige auf Saleem los, eine gestörte Psychopathin, wie man ihresgleichen selbst in dieser Stadt der Skrupellosen vergeblich suchte. Aber konnte er sie sterben lassen? Er wusste, dazu war er nicht fähig. Er wäre dazu nicht einmal dann in der Lage gewesen, wenn er mit Sicherheit gewusst hätte, dass es sich um die rechte Hand des Diktators handelte. Seufzend nahm er ein Tuch aus seiner Ledertasche, wischte den Unrat so gut es ging weg, der auf der Haut klebte, schüttelte es dann und entfaltete es ganz und wickelte es um den Kopf, um ihn vor neugierigen Blicken zu verbergen. Dann begab er sich auf den Heimweg. Bei jedem seiner Schritte erhoben sich Schwärme von schwarzen Fliegen, die sich aber gleich wieder irgendwo auf einer leckeren Stelle niederließen. Bei dem Gewimmel fiel ihm nicht auf, dass ihm eines der geflügelten Kerbtiere getreulich folgte.
Nicht vollendetes Fragment
Prolog
Er hatte gehofft auf diese Weise die gewaltige Wut loszuwerden, die die ganze Welt in einen blutroten Schleier hüllte und vor allem die rasenden, pulsierenden Schmerzen hinter den Augen, die ihn jetzt immer öfter quälten. Aber jedes Mal, wenn er den Kopf der blonden Schlampe unter Wasser drückte, brachte ihm das nur kurz Erleichterung und Befriedigung. Seine Frau, das Flittchen! Hatte geglaubt, dass er sie nicht durchschauen würde, das blöde Aas. Dabei wusste er schon seit einem Monat von ihrem Techtelmechtel. Aber ihn betrog man nicht ungestraft, das brachte er ihr gerade bei!
Das Wimmern ihrer Freundin, die er an den Sessel gebunden hatte, damit sie zusehen konnte, störte ihn. Er verabreichte ihr eine schallende Ohrfeige. „Halt die Schnauze, blöde Kuh!“, schrie er sie an. Dann hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Eingangstür drehte und sie sich schließlich knarrend öffnete. Kurz erstarb das Gewimmer und man vernahm von unten ein ‚Schatz, ich bin wieder da!‘. Sie begann zu schreien, so laut, dass sein Schädel wie eine Glocke dröhnte. Er zog den Dolch und fuhr über ihren Hals. Der Schrei erstarb, verkam zu einem Röcheln und Blut spritzte rhythmisch aus der Wunde. Aber er hatte keine Zeit sich das anzusehen, so interessant es auch war. Denn der lästige Eindringling hatte ihr geantwortet, rief ihren Namen. Er stieß den Sessel mit der Gefesselten um und rannte aus dem Badezimmer in den Vorraum. Dort wartete er, die Hand mit dem blutigen Dolch hinter dem Rücken versteckt. Ein bulliger Mann kam die Stiege herauf gewetzt, ein Trottel, das sah man auf den ersten Blick. Wenig überraschend war es der Typ, der ihm Hörner aufgesetzt hatte. Um den war es nicht schade, er stand sowieso auf seiner Abschussliste. Gleich würde er ihn fragen, was er hier zu suchen hatte und das würde seine letzte idiotische Bemerkung sein, dann würde er ihm den Dolch ins Herz stoßen.
Aber zu seiner Überraschung kam es nicht so, der Mann hielt nicht, sondern stürzte sich auf ihn, drängte ihn nach hinten. Er rammte ihm den Dolch in die Seite, trotzdem presste er sich mit unverminderter Wucht gegen ihn und zwang ihn genau auf das Fenster zu. Der Holzrahmen war zu schwach, gab nach, die Scheiben zersplitterten. Nochmals stießen ihn kräftige Arme, dann fiel er. Das Ganze ging so schnell, dass nicht einmal mehr Panik aufkeimen konnte. ‚Wenigstens hören jetzt die verdammten Kopfschmerzen auf‘ war das Letzte, was er dachte. Und dann verließ er - wie Ratten das sinkende Schiff – den totgeweihten Körper.
***
„Sein Körper ist völlig durchsichtig! Du siehst nicht wenn es kommt. Es lässt sich mit dem Nebel treiben, mit den grauen Nebelschwaden! Huuuuu! Aber wenn es ganz nahe ist, siehst Du seine Zähne, die aussehen wie Eiszapfen, so lange wie dein Unterarm und gaaanz spitz. Aber du musst hinaufschauen, weil es sehr groß ist, viel größer noch als Papa. Und dann … wenn du nach oben blickst und es schon ganz nah ist, siehst du seine Augen, weiß wie Schneebälle und riesig. Nur in der Mitte sind sie vollkommen schwarz und sie folgen dir mit ihrem Blick bei jeder Bewegung! Und dann ist es zu spät, du kannst ihm nicht mehr entkommen!“
„Patrick, erzähl nicht solche Schauermärchen. Lass Lena in Ruhe, du machst ihr Angst!“
„Das ist ja der Sinn der Sache!“
Die beiden Kinder hatten aus dem Fenster gesehen, wo jetzt die dunklen Nebelschleier immer näher zogen. Sie wirkten wirklich unheimlich, wie sie gegen das Fenster drückten, so als wären sie belebt und wollten unbedingt hinein in das kleine Ferienhaus oder als wollten sie es verschlingen. Schließlich wurde es Lena zu viel, mit einem spitzen Schrei wandte sie sich ab und lief zu ihrer Mutter in die Küche, um sich trösten zu lassen. Was diese nur ungern tat, denn es war Abreisetag und sie hatte noch eine Menge zu tun. Sie hob sie auf und versuchte sie davon zu überzeugen, dass es gar keine Nebelmonster gäbe, aber vorläufig ohne Erfolg, wie Lenas Schluchzen verriet.
„Da siehst du was du angerichtet hast!“ Sie schleuderte den Vorwurf in Richtung ihres zehnjährigen Sohns, an dem sowas aber abprallte. „Jetzt fürchtet sie sich und ich kann nicht weitermachen! Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr mich nicht stören dürft, wenn ich abwasche!“
„Ich hab’ nicht mitgezählt!“, kam die Replik aus dem Kinderzimmer, aber gleich darauf erschien auch Patrick in der winzige Küche, um, wenig beeindruckt von der Kritik seiner Mutter, die Plastikumhüllung eines „Nimm Zwei“ in den Mistkübel zu werfen.
„Am Vormittag wird nicht genascht!“
„War eh das letzte.“
„Waaas?“, heulte Lena auf, „ich hab‘ nur doppelt so wenig gehabt wie du!“
„Es heißt: halb so viel“, bemerkte Patrick altklug.
Birgit, die Mutter der beiden goldigen Kinder, verlor langsam die Geduld. Sie stellte die sechsjährige Lena auf den Boden, gab ihr einen Klaps. „Raus jetzt! Und keiner kommt mehr hierher, bevor ich mit dem Abwaschen fertig bin! Ist das jetzt klipp und klar?“
„Ja klar. Klar und klipp.“
„Nein, es heißt … ach ist ja egal.“
Die beiden Kinder (süß, goldig, aus verblendeter Muttersicht) trollten sich tatsächlich, dafür erschien nun Kathi, Birgits jüngere Schwester in der Tür. Weniger verblendet sah sie in den Kindern Rabauken und Nervensägen, was sie aber nicht daran hinderte sich viel mit ihnen zu beschäftigen. Jetzt aber plagte sie ein wenig das schlechte Gewissen. „Lass mich abwaschen, wirklich! Warum soll ich im Wohnzimmer herumsitzen und lesen, während du schuftest?“ In der kleinen Küche des Ferienhauses gab es keinen Geschirrspüler.
„Weil du schon genug getan hast und weil wir nun mal den meisten Mist machen.“ Und nach einer Pause, die vom Scheppern des Geschirrs getragen worden war: „Willst du wirklich hierbleiben, einsam und alleine?“
„Alleine ja, einsam nein! Ich bin nie einsam, das weißt du doch.“
„Du hast keine Nachbarn und kein Auto, es gibt kein Geschäft in der Nähe!“
„Und das Nebelmonster könnte kommen und mich verschlingen. Huuu!“. Gelächter aus dem Kinderzimmer. Kathi grinste breit und auch Birgit lächelte.
„Aber jetzt im Ernst“, meinte die ältere Schwester, „nie einsam? Kein Bedürfnis nach … hmmmm … zum Beispiel einem Freund?“
„Ich hab‘ kein Geschick bei der Auswahl von Männern, das weißt du doch! Ich hab‘ überhaupt keine Menschenkenntnis und schon gar keine Männerkenntnis! Ich würde nur auf einen Psychopathen hereinfallen, daran gibt es gar keinen Zweifel!“
„Ach die alte Geschichte mit Raphael!“ Birgit seufzte und verdrehte die Augen. „Wie alt warst du da? Zwölf? Oder dreizehn?“
„Zwölf“, bekannte Kathi verschämt. Damals war der blondgelockte, drei Jahre ältere Raphael in der Schule ihr Schwarm gewesen – solange, bis sie ihn dabei ertappt hatte, eine Eidechse zu quälen. Später, bereits erwachsen, war er dann an einer Entführung beteiligt gewesen, bei der die Entführer ihr Opfer völlig grundlos so schwer gefoltert hatten, dass es heute noch im Rollstuhl sitzen musste. Die Idee dazu hatte Raphael geboren. Diese Ereignisse hatten in Kathis Seele schwere Wunden gerissen. Nicht nur hasste sie Tierquäler – das hatte sie früher auch schon getan – sondern sie misstraute auch sich selbst, wenn es darum ging, andere zu beurteilen. Besonders Männer.
„Das war eine einmalige Verirrung! Es hätte jeder passieren können! Psychopathen laufen nun mal nicht mit einem Schild auf der Stirn herum! Ich will sie bestimmt nicht verteidigen, aber die meisten Männer sind nicht so.“ Es gab eine kurze Pause, die beiden jungen Frauen dachten an Birgits Mann, der diesmal nicht dabei war, wegen einer Ehekrise, ausgelöst durch die Affäre, die er hatte. Statt seiner war Kathi mitgekommen und hatte in den letzten vierzehn Tagen als Klagemauer gedient. Besonders am Anfang des Urlaubs war Birgit sehr verletzt gewesen und oft gereizt. Deshalb hatte sich Kathi und auch ihre Mutter sehr viel mit den Mistfratzen beschäftigen müssen – also mit Birgits süßen Kindern. Was gar nicht so schlecht war, dämpfte das doch einen eventuell aufkeimenden eigenen Kinderwunsch und daraus resultierende Torschlusspanik, wenngleich sie für zweiteres sowieso noch zu jung war.
„Wo ist eigentlich Ma?“, wollte schließlich Kathi wissen.
„Die sitzt draußen auf der Veranda, mit Tränen in den Augen. Sie hat einen Nostalgieanfall. Sie hat gestern einen Schilling gefunden und starrt jetzt auf die drei Edelweiß auf der Rückseite. Du weißt ja, wie alte Menschen sind.“
Kathi hatte keine Ahnung wie alte Menschen sind, aber sie wusste um wen ihre Mutter trauerte. Birgit wusste das auch.
„Vielleicht hast du ja recht“, meinte sie, „wenn alles gut geht, sterben sie früh und wenn sie das nicht tun, betrügen sie einen. Vielleicht solltest du Raphael für das Misstrauen danken.“
Kathi würde Raphael nicht danken, niemals. Dessen war sie sich sicher. Sie ging hinaus auf die Veranda zu ihrer Mutter – die keine Tränen in den Augen hatte, nicht eine einzige, Birgit hatte wie üblich übertrieben - und setzte sich zu ihr an den kleinen Tisch. Aber der Schilling war da.
„Darf ich mal?“ Ihre Mutter nickte. Sie nahm die kleine, bronzene Münze und tatsächlich, da waren sie, die drei Edelweiß. Das hatte sie nicht gewusst. Hübsch. Die Wände des Ferienhauses waren so dünn, dass sie weiterhin das Toben und Streiten der Kinder hören konnte und Birgit, die jetzt rief:
„Ruuuuhe jetzt, hört auf zu streiten! Ist das klar?“
„Und klipp!“, tönte es unisono aus dem Kinderzimmer. Sowie wildes Gelächter.
„Du wirst die Ruhe genießen“, meinte ihre Mutter mit einem Schmunzeln. Sie war eine schlanke Frau mit dunklem Haar, in das sich bereits einzelne graue Strähnen verirrt hatten und blauen Augen, die Unbeugsamkeit verrieten, eine Eigenschaft die sie als Witwe mit zwei Kindern sehr gut brauchen konnte, früher schon und auch jetzt wo beide erwachsen waren. Die dunklen Haare hatte Kathi von ihr, aber woher die fast schwarzen Augen kamen, war ihr ein Rätsel, denn ihr Vater hatte hellbraune Iris gehabt. Auch die zarte Gestalt stammte von ihrer Mutter, die blonde Birgit war da anders, immer noch schlank, aber auf eine robustere Art.
„Oh ja, bestimmt! Die Kinder können ziemlich nerven und Seelentrösterin ist nicht meine Lieblingsrolle.“
„Gibt’s was Neues im Ehekrieg?“
„Sie hatte ein langes Telefonat gestern. Rudolf will jedenfalls zurück, das heißt er sagt, er wollte eigentlich nie weg, das mit der Freundin sei ihm halt so passiert. Dass die Sache aufgeflogen ist, wäre nicht Absicht gewesen, sagt er. Letzteres stimmt sicherlich. Glaubst du, Birgit nimmt ihn zurück?“
Ihre Mutter blickte zweifelnd, Birgit konnte sehr stur sein. „Für die Kinder wäre es besser, ohne Zweifel. Zumindest wenn sie jetzt nicht anfangen zu streiten. Aber Birgit war sehr verletzt und ist es noch. Ich kann es nicht sagen, da fehlt mir jede Erfahrung.“
Beide sahen in den wabernden Nebel, der jetzt dünner zu werden schien, heller, fast schon leuchtend. Kathi konnte verstehen, dass die alten Nordvölker den Nebel als „Reiter der Erde“ bezeichnet hatten, denn er war immer in Bewegung.
„Er hebt sich. Du wirst heute einen schönen Tag bekommen. Was hast du vor?“
„Zuerst warten bis es ein bisschen wärmer ist, aber nicht zu lange. Und dann möchte ich hinauf zum Teich. Vielleicht sogar ein wenig schwimmen.“ Ferienhaus und Teich waren im Privatbesitz, beides hatte der Familie ihres Vaters gehört, der als Einzelkind alles geerbt hatte. Dennoch war der Teich ziemlich weit weg, eine halbe Stunde zu Fuß. Kathi ging gerne durch die dichten Fichtenwälder spazieren. Aber noch lieber saß sie am Wasser, an einem Fleck, wo sich nur sehr selten Menschen hin verirrten. „Und Libellen beobachten und so.“
„Wirst du zurecht kommen ohne Auto? Das nächste Geschäft ist fast eineinhalb Stunden weg, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Und zurück musst du dann ja auch noch!“
„Ich habe Füße und einen Rucksack. Und wir waren ja erst gestern einkaufen! Wahrscheinlich muss ich überhaupt nicht mehr weg. Lange Spaziergänge finde ich einfach wunderschön.“
„Vielleicht solltest du dir wenigstens ein Handy anschaffen, irgendwann?“
Kathi blickte skeptisch. „Was soll ich damit? Diese Erfindung wird sich nie durchsetzen.“
„Hm. Eigentlich hat sie das schon. Ich wäre einfach beruhigter, wenn du erreichbar wärest.“
„Ich weiß, ich bin ein bisschen verrückt. Aber auf eine harmlose Art!“
„Ach Kathi!“ Sie umarmten sich kurz.
„Mir passiert schon nichts! Was soll mir den hier schon passieren?“ Sie breitete die Arme aus als wollte sie den Garten und den ganzen Wald umarmen und grinste.
„Du könntest dir den Fuß verstauchen bei deinen langen Märschen. Oder sowas. Oder dich auch nur einfach verirren.“
„Ha!“ Kathi lachte. „Ich kenne den ganzen Wald wie meine Westentasche und jede einzelne Lichtung, jeden Teich! Mach dir bitte keine Sorgen.“ Sie sah ihre Mutter liebevoll an.
Das Gespräch wurde jäh dadurch beendet, dass Birgit ihre Kinder aus dem kleinen Haus haben wollte, um noch einmal Staub zu saugen. Auf Kathis Beteuerung, sie könne das machen, hörte sie nicht. Später trug sie das Gepäck heraus und erlaubte ihr immerhin es zum geräumigen Auto zu tragen. Sie hatte keine Probleme es unterzubringen. Ihre Mutter half ihr, die Kinder tollten im großen Garten herum. Dann kam der Augenblick des Abschieds, endlich, eine letzte Umarmung, dann winkte sie dem blauen Dacia Lodgy hinterher, der schließlich um die Kurve fuhr und außer Sicht geriet. Kathi seufzte. Sie ging zunächst zurück ins Wohnzimmer, um ein Glas Orangensaft zu konsumieren und die Stille zu genießen. Eine große Spinne huschte über den Boden und blieb nahe dem Tischchen an der Wand, auf dem sich der alte, kistenförmige Fernseher befand, stehen. Eine Tegenaria, eine Hausspinne, vermutete sie. Kathi hatte zwei Möglichkeiten: sie mit einem umgedrehten Trinkglas und Papier zu fangen und hinaus zu schmeißen oder sie einfach in Ruhe zu lassen. Mord, zertreten oder so, war für sie keine Option. Die Spinne nahm ihr die Wahl ab, indem sie weiterhuschte und unter einem Kasten verschwand.
Draußen wurde es tatsächlich immer heller, so dass sie beschloss den Bikini mitzunehmen. Noch war es ziemlich kühl wie sie gemerkt hatte als sie mit ihrer Mutter auf der Veranda gewesen war und sie hatte lediglich Bluejeans und ein kurzärmliges Leibchen an, sodass sie auch noch eine Weste brauchen würde. Sie stellte das Glas in die Abwasch, schnappte sich die Kleidung, zog die Turnschuhe an, sperrte das Haus ab und begab sich auf den Weg.
Während sie den fichtengesäumten Waldpfad entlang ging, setzte sich die Sonne langsam durch und offenbarte einen tiefblauen Himmel. Eine Lichtung wurde durch ihren Schein märchenhaft verzaubert. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich in Myriaden kleiner Tautropfen, die sich in den Rispen der Gräser gefangen hatten, sodass die Wiese fast weiß erschien, beinahe wie von Schnee bedeckt. Darüber das grüne Strauchwerk, dahinter die dunklen Bäume und das makellose, azurne Firmament. Kathi war glücklich, zog die Weste aus und band sie um die schmale Taille. Es war jetzt warm genug. Auch der Jungwald erschien anders als sonst. Die kleinen Fichten am Wegesrand waren geschmückt mit zahllosen Netzchen von Baldachinspinnen, jeder einzelne Faden voller Tautröpfchen, die das Sonnenlicht brachen und so die sonst so verborgenen Gespinste schillernd sichtbar machten. Eine Zierde, viel schöner als jeder Weihnachtsschmuck. Eine Traumlandschaft, so schön wie sie vermeinte sie noch nie gesehen zu haben.
Kathi sah sich einige Netze fasziniert an, manche mit einem flachen, andere mit einem parabolisch nach oben gebogenem, feinem Basisgewebe in deren Mitte die Spinne saß und sie überlegte, ob sie darüber wohl ihre Diplomarbeit schreiben könnte. Das wäre eine Möglichkeit, hier mehr Zeit zu verbringen. Aber eine gute, noch unbearbeitete Fragestellung müsste ihr dazu einfallen.
Mehrere Male wurde sie aufgehalten. Eine Füchsin spielte mit ihren beiden Welpen mitten auf dem Weg. Einer der Jungfüchse hatte sie von Anfang an entdeckt, betrachtete sie aber nicht als Gefahr, weil seine Mutter ihn nicht warnte. Erst nach einiger Zeit sah diese Kathi, wusste aber mit der reglos Dastehenden nichts anzufangen. Daher näherte sie sich ihr sehr vorsichtig, sie immer im Blick bannend. Da sie offenbar immer noch nicht wusste, was das da war, kroch sie noch ein wenig näher. Schließlich wurde es ihr doch zu viel, sie warnte ihre Jungen und verschwand. Kathi konnte weitergehen, aber nicht lange, da kam ihr ein Steinmarder entgegen. Auch er sah sie lange nicht. Erschrocken wich er schließlich in die hohe Vegetation, die einen Bach säumte, aus. Noch später erblickte sie eine Bergeidechse, die sich sonnte und pirschte sich in Indianermanier an, um sie aus der Nähe zu betrachten. Eidechsen mochte sie besonders.
Schließlich erreichte sie den Teich mit dem fast schwarzen, huminreichen Wasser. Helle Nebelgeister wanderten über seine Oberfläche. So hatte sie als Kind die menschengroßen Dunstsäulen genannt, die sich dicht aneinander drängten, kaum dass die Wärme der Sonne den Teich berührte. Kathi ging durch Heidelbeergestrüpp auf das Ufer zu, wobei sie einige der großen, dunkelblauen Früchte pflückte und sie sich in den Mund schob. Sie war dabei sehr vorsichtig, um nicht durch Unachtsamkeit auf eine Kreuzotter zu treten. Sie wollte keines dieser edlen und schönen Tiere, die in der kühlen Morgenluft fast starr waren, verletzen. Dann setzte sie sich bei einem bis auf niedriges Moos kahlen Fleck nahe einer Fichte ans Ufer, denn dort wo die Seggen wuchsen, war es noch zu nass. Hier musste sie nicht allzu lange warten und schon erschienen die ersten schillernd grünen Smaragdlibellen, die sich in reißendem Flug jagten oder lauernd an Ort und Stelle in der Luft standen. Kathi musste lächeln, hatte sie doch erst vor kurzem in Wikipedia gelesen, dass Libellen zum Schwebfug nicht fähig seien, wegen ihrer primitiven Flügelgelenkung. Warum hatte sich der Schreiberling nicht die Mühe gemacht, ihnen einfach einmal zuzusehen? Unsinn dieser Art fand sich nicht nur im Internet, sondern auch in ihren Lehrbüchern.
Eine der Smaragdlibellen schwebte so niedrig über dem Wasser, dass ihr Flügelschlag winzige Wellenkreise auf die Teichoberfläche zauberte. Konnte man durch deren Frequenz und Amplitude Rückschlüsse auf den Flug des Insekts treffen?, überlegte sie sofort. Nun, das ging wohl anders einfacher, trotzdem begannen ihre Gedanken um dieses Thema zu kreisen. Wenig später kamen noch die majestätischeren Arten, wie die blaue Königslibelle oder die Braune Mosaikjungfer mit ihren dunkel getönten Flügeln. Auch sie jagten einander und machten Patrouillenflüge über ihr Territorium. Sie beobachtend versank sie in ihrer eigenen Welt, die sie schon immer vor Langeweile bewahrt hatte. Das Wort kannte sie natürlich, konnte ihm aber kaum eigene Erfahrung zuordnen - zumindest seit sie die Schule hinter sich gebracht hatte.
Alles empfand sie als idyllisch, nichts wies sie auf Gefahr hin.
***
Nichts fühlt sich eigenartiger an als in die Realität zurückzukehren. Als fiele man einen Augenblick unendlich lange durch düsteren Nebel, der einen genauso umgibt wie erfüllt, denn zuerst ist man nichts. Irgendwann vermeint man zu sehen, hören, fühlen aber das ist noch Trug. Denn noch versteht man die Eindrücke des neuen Körpers nicht, vermag die plötzlich anbrandende Sinnesflut nicht zu deuten. Noch begreift man nicht, dass man atmen muss, dass man wieder einen Herzschlag hat – und dass das Sein davon abhängt. Man weiß nicht wer man ist, weiß nicht, was man ist und doch verspürt man keine Irritation.
Abermals irgendwann, vielleicht früher, vielleicht später, verspürt man die ersten Wahrnehmungen, die der neue Körper bietet, interpretiert durch das noch ungewohnte Gehirn. Fein und leise sollten sie sein. Bloße Andeutungen.
Diesmal nicht. Das Gefühl des Fallens kam jäh, dann der Eindruck von Lärm, ein berstendes Geräusch, ohrenbetäubend, ohrenzerstörend. Dann der Schmerz! Unwillkürlich zuckte er zurück, wollte den Körper wieder loslassen, aber dann besann er sich, klammerte sich mit mentalen Krallen an seine neue Behausung, ließ nicht mehr los. Und erschauerte unter dem Ansturm wogenden Schmerzes. Und dann kam die Erkenntnis: ich bin Mentor!
Ein leidvolles Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Er schnappte nach Luft, doch er konnte nicht atmen bis er begriff, dass die Rippenmuskulatur gelähmt war und er das Zwerchfell bewegen musste. Tief atmete er ein und aus und bekämpfte die Panik. So hatte er sich die Rückkehr nicht vorgestellt! Aber man denkt ohnehin nicht viel darüber nach, wenn man im Sterben liegt.
Nur nicht zu viel bewegen. Klein anfangen. Also zitterte er ein bisschen mit den Fingerspitzen, dann mit den Zehen. Das war möglich, er bekam die ersehnte Rückmeldung sich an- und entspannender Muskeln. Kühn geworden, beschloss er die Augenlider zu öffnen. Es blieb fast dunkel, aber schließlich erschien ein unscharfes Bild: ein helles Rechteck. Mentor schüttelte leicht den Kopf in der Hoffnung die Verschwommenheit zu mindern, was ihm aber nur stechende Kopfschmerzen einbrachte. Also ließ er es wieder bleiben.
Lange blieb er einfach liegen. Dann stellte er fest, dass sich etwas geändert hatte. Die Lähmung der Rippenmuskulatur war nur befristet gewesen, verursacht durch einen heftigen Aufprall. Dennoch bleib er bei der Zwerchfellatmung, denn den Brustkorb zu bewegen, war ein schmerzvoller Prozess.
Behutsam machte er sich an die Interpretation seiner Umgebung. Wo bin ich? Und einen Schritt weiter: was ist passiert? Er erspürte seine Unterlage. Ein unebenes Holzbrett oder eher eine Platte. Sie schien in der Mitte durchgebrochen zu sein, denn irgendetwas, Späne vielleicht, bohrten sich peinvoll entlang der Wirbelsäule in seinen Rücken. Er lag schräg – offenbar war er auf der Platte eine Betonstiege hinab gerutscht und befand sich jetzt an derem Fuß in einer Art Keller. Der modrige Geruch sprach jedenfalls dafür. Das helle Rechteck, das er als erstes gesehen hatte, war demnach der Eingang und seine Unterlage das ursprünglich waagerecht angebrachte Türblatt, das er aus den Angeln herausgerissen hatte als er darauf fiel. Wollte man hier hineinkommen, musste man die Türe unpraktischer Weise aufklappen und auf die Seite legen. Das erschien ihm keine sehr nützliche Konstruktion zu sein, aber immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet und daher sollte er sich besser nicht beschweren. Bei wem auch immer.
Die nächste Frage, die sich ihm stellte, war, ob er in der Lage war, die rauen Stufen hinauf zu gehen und herauszufinden, wo er hinab gefallen war. Er bewegte die Hände vor sein Gesicht - das war möglich – und stellte fest, sah, roch, dass sie voller Blut waren. Sein Blut? Wahrscheinlich.
Jede Bewegung war eine schreckliche Qual und so ging er ganz behutsam vor. Er rollte sich sehr langsam auf die Seite, den Arm ausgestreckt, bis einer seiner Füße Bodenkontakt hatte. Da er kopfunter gelegen war, dauerte das ziemlich lange. Dann zog er den Arm etwas an und rollte darüber. Das ging zu schnell und war daher ziemlich schmerzhaft. Er stöhnte und ließ sich Zeit. Er hatte sie ja jetzt wieder. Zeit. Schließlich kauerte er auf allen Vieren, auf Unterarmen und Unterschenkeln. Nun kam der mühseligste Teil. Er musste sich irgendwie aufrichten. Sein Körper hatte starke Muskeln – wenn man zuletzt ein krebskranker, ausgezehrter Mann gewesen war, wusste man das zu schätzen – aber sein geschundener Leib protestierte heftig. Dennoch schob er sich über die Hände nach vorn und richtete sich damit etwas auf, stellte seinen Fuß auf den Boden. Schwer atmend drückte er das Knie durch und stand schließlich. Er blickte an sich herab. Er trug ein khakifarbenes Hemd und eine entsprechende Hose. Beide hatten schon bessere Tage erlebt, besonders das Hemd war zerfetzt und blutverschmiert.
Eine Weile stand er nur so da. Dann ergriff er das zerbrochene Türblatt und zog es von den Stufen. Und stieg sie hinauf und blickte hinaus. Überall lagen Glasscherben und er bezweifelte nicht, dass weitere, gar nicht so wenige, in seinem Rücken steckten. Ein paar Stufen noch, dann stand er neben dem Kellereingang und bei einem rustikal wirkenden Haus. Da war der verwilderte Garten mit einem zum Teil schon verfallenen Holzzaun mitten auf einer Lichtung und ringsum dichter Rotbuchen- und Fichtenwald. Soweit er sehen konnte, waren hier keine Siedlung und überhaupt kein weiteres Gebäude. Vielleicht stand er vor einem alten Forsthaus? Er blickte nach oben. Direkt über dem Kellereingang, im ersten Stock, befand sich ein Fenster, dessen zerschlagene Scheiben wohl die Quelle für die herumliegenden Scherben waren. Von da oben musste er herabgefallen sein und offenbar hatte sich keiner bemüht, das Fenster vorher zu öffnen, denn ein Flügel hing nur mehr lose an einer Angel. Der Fall erfolgte über etwa sechs Meter und er war auf dem Rücken gelandet, auf der waagerechten Kellertüre, die von der Wucht zerbarst und nach unten gedrückt wurde. Dann ging es die Stufen hinab. Kein Wunder, dass sein Vorgänger den Körper verlassen hatte und er nun ihm zur Verfügung stand! Die Ereignisse mussten ihm einen buchstäblich tödlichen Schreck verpasst haben!
Niemand stand am Fenster und blickte entsetzt nach unten. War er alleine hier gewesen? Er durchforstete das episodische Gedächtnis seines Gehirns. Das ging zwar üblicherweise bei einem Übergang verloren, aber oft blieben einzelne Spuren. Hier nicht, er fand nur Leere. Wenn er alleine da war, wie kam es dann, dass er herabgestürzt war? Eine völlig absurde Art des Selbstmordes? Hätte sein Vorgänger da nicht wenigstens das Fenster geöffnet? Und wie kam dann das Blut an seine Hände, die nicht zerschnitten waren, da er offensichtlich mit dem Rücken zuerst durch die Scheibe geraten war?
Er beschloss, auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte rufen, aber es kam nur ein Krächzen. Er räusperte sich. Dann entrang sich seiner Kehle ein schwaches „Hallo?“. Nochmals schrie er, diesmal lauter und kräftiger. Er formulierte Worte in einer Sprache, die er bislang noch nicht gesprochen hatte, zumindest war sie nie seine Muttersprache gewesen. Wie üblich, funktionierte der Teil des Gedächtnisses, der keine persönlichen Inhalte beherbergte, ausgezeichnet. Dennoch fühlte er sich in dem Gehirn noch nicht wirklich heimisch, das würde noch dauern. Sein Vorgänger hatte manche Teile nicht übermäßig stark genutzt, um es höflich zu formulieren. Dafür hatte er für eine starke Arm-, Bein- und Rückenmuskulatur gesorgt, letzteres hatte ihn wohl vor bedeutenderen Verletzungen bewahrt, also musste er ihm dankbar sein.
Er stand hier offenbar an der Seitenwand des Hauses. Er ging langsam zur Vorderfront, zur Eingangstür. Die hatte bloß einen Knauf, war also von der Art, die man von außen ohne Schlüssel nicht öffnen konnte. Er kramte in den Taschen seiner Hose, fand aber nichts. Hatte er ihn bei dem Sturz verloren? Er würde doch noch einmal in den Keller gehen müssen. Er ging langsam um das weiß getünchte Haus, in der Hoffnung, eines der Fenster des Erdgeschoßes stünde offen, aber alle erwiesen sich als geschlossen und zudem vergittert. Ohne massive Gewaltanwendung würde er nicht hineinkommen. Er kam wieder zum Keller und kletterte hinunter, suchte nach dem Schlüssel, fand ihn aber nicht. Er hob sogar die zerbrochene Tür an, unter beträchtlichen Schmerzen, aber auch darunter war er nicht aufzufinden. Also ging er wieder hinauf, betrachtete noch einmal das Gebäude, ging wieder in Richtung Eingang, über dem ein Hirschgeweih hing. Also handelte es sich wahrscheinlich wirklich um ein Forsthaus oder eine sehr groß geratene Jagdhütte? War der ehemalige Eigner seines Körpers Jäger gewesen?
Ein Auto parkte außerhalb des Gartens in der Wiese, Garage gab es keine. Ein dunkler Audi, höhere Preiskategorie. Falls er ihm gehörte, war er wohlsituiert. Er öffnete die Gartentüre und blickte durch die Windschutzscheibe ins Innere, dann umrundete er den Wagen, sah aber nichts als Komfort. Nichts wies darauf hin, ob der Besitzer eine Familie hatte oder alleine gekommen war, der Innenraum war makellos sauber. Das jedenfalls sprach gegen Kinder! Falls sein Vorgänger der Eigner war, unterschied er sich jedenfalls sehr von ihm. Er versuchte die Fahrertüre zu öffnen, aber der Wagen war erwartungsgemäß abgeschlossen.
Er setzte sich auf die Kühlerhaube und dachte eine Weile nach. Sicherlich verließ der frühere Besitzer des Körpers üblicherweise das Haus nicht dadurch, dass er aus dem Fenster im ersten Stock sprang, noch dazu ohne es vorher zu öffnen. War er infolge Fremdeinwirkens hinab gefallen? Nicht auszuschließen, sogar wahrscheinlich, aber wo war dann diese Person? Keine Spuren wiesen darauf hin, dass ein zweites Auto hier geparkt hätte und wahrscheinlich war er nicht ohnmächtig gewesen, hätte also das Motorengeräusch des wegfahrenden Wagens vernommen. Natürlich hätte der Widersacher den Schauplatz zu Fuß verlassen können, unwahrscheinlich aber möglich. Oder er befand sich noch im Haus. Aber warum reagierte er dann nicht auf seine Rufe? Er schrie noch einmal laut: „Ist da wer?“, was einen Eichelhähertrupp alarmierte, der empört loskrächzte. Sonst regte sich nichts.
Er blutete immer noch ziemlich stark aus einem guten Dutzend Wunden, die meisten davon befanden sich auf seinem Rücken. Er brauchte Hilfe. Sollte er hier warten? Was wenn niemand vorbeikam? Wenn er aber losging, bestand die Gefahr, dass er zusammenbrach. Und wo sollte er hingehen, er hatte keine Ahnung in welche Richtung er auf Zivilisation stoßen würde. Bergab wahrscheinlich, aber es war hier ziemlich eben, also konnte er sich nicht einmal sicher sein, wo das war. Er schloss die Augen und ruhte innerlich. Er war kein passiver Charakter, jedenfalls nicht in einer solchen Situation. Deshalb entschloss er sich dafür Hilfe suchen zu gehen. Irgendwo würde er auf einen Bach stoßen, dessen Fließrichtung ihm verriet, wo bergab war. Außerdem hatte er Durst und musste schon wegen des Blutverlustes viel Trinken. Er stand auf und folgte der Waldstraße ohne sich noch einmal umzublicken.
***
Ein paar spitze Äste bohrten sich in ihre Kehrseite und holten sie aus ihrer Trance. Sie hätte ihren Sitzplatz besser frei machen sollen von stechenden Dingern. Außerdem war es inzwischen ziemlich heiß geworden, sie sollte in den Schatten übersiedeln. Lächelnd blickte sie auf die dunkle Wasserfläche. Eine Schlammfliege kroch auf eine Segge, winzige Eintagsfliegen tanzten über das Wasser und so manche landete zwischen den Kiefern einer Vierflecklibelle, die sich einen nur halb untergetauchten Fichtenzweig als Warte erwählt hatte, unweit von Kathis Ruheplatz.
Es war ruhig. Sehr ruhig. Wie erholsam nach Birgits Fratzen! Jetzt hörte sie das „Drü, drü, drü“ eines Schwarzspechts, gefolgt von einem langgezogenen Laut, wie der Schrei einer verlorenen Seele. Und gelegentlich flog eine Schwebfliege an ihrem Ohr vorbei, sodass sie das Summen ihres Flügelschlags vernehmen konnte. Aber sonst – einfach nur Stille.
Da ihr heiß geworden war, beschloss sie, baden zu gehen. Dazu würde sie in ihren Bikini schlüpfen, nackt baden war nichts für sie, es könnte ja doch jemand vorbei kommen. Unweit vom Ufer war eine Gruppe weihnachtsbaumgroßer Fichten, die sich hervorragend als Umkleidekabine eigneten. Sie schnappte sich ihren blauen Bikini aus dem Stoffsack und wollte aufstehen, musste aber feststellen, dass ihr linkes Bein eingeschlafen war. Sie streckte es aus, um die Blutzirkulation zu erleichtern und tausend Ameisen krochen darauf herum. Natürlich nicht wirklich, es war nur so ein Gefühl. Schließlich konnte sie aufstehen. Mit den Zehen wischte sie die spitzen Äste, die sie geplagt hatten, ins Wasser. Dann ging sie nach hinten, zwischen die kleinen Fichten, von denen die meisten aber doch ein wenig größer waren als sie.
Sie hatte sich gerade ihrer Blue Jeans und ihres Slips entledigt, da hörte sie ein Krachen und Platschen als ob ein fünfhundert Kilo Wildschwein aus großer Höhe in den Teich gefallen wäre. Sie erschrak fürchterlich und zog sich rasch ihre Kleidung wieder an, was sich in der Eile als gar nicht so einfach erwies. Dann spähte sie zwischen zwei nadeligen Ästen in Richtung Teich. Kein Wildschwein, ein schwarzhaariger, sonnengebräunter Mann. Ärgerlich, sie ging nicht in den Wald, um Menschen zu treffen! Sollte sie einfach zwischen den Fichten verborgen bleiben, bis er wieder weg war? Aber der Stoffsack, die Weste und ihre Turnschuhe lagen noch am Teichrand, diese Option fiel also definitiv aus. Sollte sie ihn vertreiben? Immerhin war das ja Privatbesitz, wenngleich ungekennzeichnet, denn sie mochte keine Schilder im Wald. Na ja, mal sehen. Den Bikini hinter dem Rücken verborgen, ging sie auf den Teich zu.
***
Als ein schmaler Bach die Forststraße gequert hatte, war er ihm gefolgt, beziehungsweise dem engen Pfad, der sich an ihn schmiegte. Das Wegelein war doch sicherlich eine Abkürzung und die hatte er dringend nötig, denn mit seinen Kräften ging es rapide bergab. Mit dem Weg hingegen nicht, wie sich herausstellte und so taumelte er schon unendlich lange, wie ihm schien, den Bach entlang. Weil er großen Durst hatte, war er stehen geblieben und hatte sich herabgebeugt, wollte Wasser mit seiner Händeschale aufnehmen, nachdem er sich das getrocknete Blut abgewaschen hatte. Aber da hatte ihm sein Gehirn eine grässliche, verstörende Erinnerung geschickt. Er sah wie zwei Hände den Hals einer blonden Frau umfasst hielten und ihren Kopf unter Wasser drückten. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie versuchte sich zu wehren, aber sie war in Panik und daher ineffizient. Zudem waren ihre Hände wohl hinter dem Rücken gefesselt, sie konnte sie jedenfalls nicht gegen ihn einsetzen. Die Szene erschien nur für einen Augenblick und genauso schnell war das Gefühl von Genugtuung und sadistischer Freude vergangen, aber dennoch war er entsetzt und erschrocken. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Gehirn seines Vorgängers. Wer war die Frau, die er versucht hatte in einer Badewanne zu ertränken? War es ihm gelungen?
Schließlich trank er doch, in tiefen Zügen und schöpfte die Flüssigkeit wiederholt, führte die Hände immer wieder zum Mund. Dann taumelte er weiter, obwohl er sehr müde war. Aber er war sich nicht sicher, ob er wieder aufwachen würde, ließe er zu, dass er jetzt einschlief. Eine Weile verlor er alle Aufmerksamkeit für seine Umgebung und handelte nur noch automatisch. Das änderte sich erst als allmählich der Wald weniger dicht wurde und er kurz hoffte, dass eine kleine Siedlung vor ihm lag. Aber als er das dunkle Wasser sah und die silberhelle Spiegelung der Sonne, erkannte er, dass ein kleiner See oder Teich vor ihm lag, in den der Bach mündete. Da sein Körper von einem kalten Schweißfilm bedeckt war und er hoffte, dass das kühle Nass seine Aufmerksamkeit steigern und ihn gewissermaßen ins Leben zurückholen würde, beschloss er, zu baden und sich das Blut vom Körper zu spülen. Wenn er auch nicht genau wusste, wo er war, war es doch offensichtlich, dass es keine Gegend für Krokodile oder Piranhas war, also sollte sein Bad völlig ungefährlich sein. Er stieg in den knöcheltiefen Bach und folgte seinem Lauf, aber in Teichnähe wurde der Untergrund plötzlich schlickig und tiefgründiger; Hüfthohe Seggen umgaben ihn. Also kletterte er auf eine umgestürzte Erle und folgte der rauen Borke in Kronenrichtung, ohne zu erkennen, wie morsch ihre Zweige bereits waren. Er kletterte in etwa eineinhalb Meter Höhe einen längst kahlen, aber robust aussehenden Stamm entlang, als es plötzlich laut knackte und er mitsamt dem Holz und dem Seitenzweig, an dem er sich mit einer Hand festklammerte, mit einem lauten Platschen ins Wasser fiel. „Nicht schon wieder“, dachte er. Er hatte wieder Schmerzen, aber immerhin verletzte er sich nicht weiter und erfrischend war es auch noch; die Müdigkeit war jählings verflogen, wahrscheinlich durch den Schreck. Der war allerdings noch nicht vorbei, da der schlammige Untergrund ihn festhielt. Gleich fielen ihm Geschichten von Mooren und Sümpfen ein, die ihre Opfer nicht mehr losließen und schließlich nach unten zogen. Seine Beine steckten tief im Schlamm und er hatte keine Zweifel, dass er sie nicht so ohne weiteres würde befreien können. Er blickte sich nach irgendeinem Zweig in erreichbarer Nähe um, aber die noch verbliebenen waren zu hoch, um sich daran festzuhalten. Als er bereits überlegte, ob er sich ernsthaft um sein Leben Sorgen machen sollte, hörte er eine Stimme: „Sie sollten von dort weg; im Bachdelta ist es sehr schlickig, wenn man mal feststeckt, kommt man schwer wieder raus!“
Er blickte sich um. Am Ufer stand, umgeben von Heidelbeergestrüpp, ein zierliches Mädchen mit großen, dunklen Augen und kaum mehr als schulterlangem, dunkelbraunem Haar, das aussah, als hätte es schon eine Weile keine Bürste mehr gesehen. Die eine Hand hielt sie hinter dem Rücken verborgen. Mit der wirren Frisur erinnerte sie ihn an einen Waldschrat oder kleinen Kobold; trotzdem erkannte er sie sofort und wusste daher, dass es kein Zufall gewesen war, der ihn dem Bachlauf folgen ließ, sondern seine feinen, außergewöhnlichen Sinne. Er hatte sie gefunden. Seine Züge hellten sich auf, er lächelte sie an. Dann erst antwortete er ihr: „Richtig! Genau das ist der Grund, warum ich noch hierstehe. Ich komm‘ nicht mehr weg!“
***
Der Mann stand im Mündungsgebiet des Baches, was nicht ganz ungefährlich war. Der Schlamm war dort zäh und wenn man versuchte, seine Beine zu befreien, sank man nur noch tiefer. Sie beschloss ihn zu warnen und zog damit seine Aufmerksamkeit auf sich. Als er ihrer angesichtig wurde, spiegelte sich kurz Überraschung in seinen Zügen, dann etwas anderes. Erkennen? Er lächelte sie an und obwohl es so wirkte als sei diese Art der Mimik seinem Gesicht unvertraut, geschah etwas Erstaunliches. Sie war ein sehr selbstreflektiver Mensch und erlebte und beobachtete das Erleben zugleich. Sie hatte das Gefühl als würden durch sein Lächeln mindestens zwanzig verschiedene Endorphine und Hormone in ihrem Hirn zu hastiger Betriebsamkeit angestiftet. Und das wirkte sich sogleich aus; sie konnte nicht anders als zurückgrinsen. Ihr beobachtendes Selbst in ihrem Hinterkopf war davon überzeugt, dass sie ziemlich dümmlich dreinsehen musste; ihr erlebendes konnte aber nichts dagegen tun. In kürzester Zeit wirkten sich die freigesetzten Hormone auch auf ihren Kreislauf aus. Ihr Herz schlug viel rascher und trotzdem sackte das Blut in ihre Beine, weg von dort, wo sie es jetzt eigentlich brauchen würde. In ihrem Kopf entstand eine für sie ungewöhnliche Leere. Und so sah sie eine Weile bloß zu, wie er langsam immer tiefer sank und erst dann kam ihre eine – unter diesen erschwerenden Umständen geradezu geniale – Idee, die sie auch gleich darauf mit piepsiger Stimme artikulierte: „Soll ich Ihnen helfen?“
Nicht dass er sich bereits Sorgen gemacht hatte, er kannte sie ja und wusste, dass sie ihm helfen würde. Trotzdem spiegelte sich Erleichterung in seinem Gesicht, er war einfach nicht in der physischen Verfassung, um sich alleine aus dieser misslichen Situation zu befreien. Er lächelte wieder, etwas krampfhaft aber immerhin, nickte. „Das wäre sehr, sehr nett!“ Er schaffte es, das ohne jeden Sarkasmus zu sagen. Er deutete auf einen armdicken, langen Ast, der unweit seitlich von ihr am Ufer lag. „Der da müsste lange genug sein, dass Sie mich rausfischen können.“
Sie ließ den Bikini, den sie hinter ihrem Rücken verborgen hatte, einfach fallen und lief die paar Schritte auf den Ast zu. Wie sich herausstellte als sie ihn etwa bei seinem Schwerpunkt hochhob, war er ihr nicht zu schwer. Sie ging zum Wasser und schob ihn auf den attraktiven Fremden zu. Statt sich auf die Rettung zu konzentrieren fragte sie sich, weshalb er eigentlich so anziehend auf sie wirkte. Er sah aus wie tausend andere. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht, sich die Namen gut aussehender Schauspieler zu merken, aber so sah er jedenfalls nicht aus.
Der Ast war etwas zu kurz, deshalb ging sie einfach ein paar Schritte ins Wasser, ungeachtet der Tatsache dass ihre Hose nass wurde, aber nur so weit, dass sie noch einen sicheren Stand hatte. Weiter vom Ufer weg wurde der Teich doch zu tief, das wusste sie, deshalb blieb sie stehen und angelte nach dem Fremden, der seinen Rettungsanker jetzt erreichte und festhielt.
„Ziehen Sie mich bitte auf die Seggen zu!“ Sie bemühte sich, setzte all ihre Kraft ein, aber er wog sicherlich dreißig Kilo mehr als sie und steckte verdammt fest. Dennoch konnte er bald seinen Beinen ein wenig Freiraum verschaffen ohne weiter zu sinken und schließlich ging es rasch, sogar ein wenig zu schnell, denn Kathi verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten um. Völlig durchnässt richtete sie sich wieder halb auf und zog weiter, im Sitzen ging das auch ganz gut. Er schwamm die paar Meter auf sie zu, den Ast brauchte er jetzt nicht mehr. Dann setzte er sich neben sie ins Wasser und betrachtete sie schmunzelnd. Er hielt ihr die Hand hin, die sie gleich ergriff.
„Danke!“
„Gern geschehen“. Sie blickte ihn nicht an, sondern sah hinaus auf den Teich.
„Ich war tatsächlich ein wenig in Sorge, obwohl die Situation wahrscheinlich objektiv betrachtet nicht wirklich gefährlich war.“
„Sie haben vor ein paar Jahren hier in der Nähe eine Moorleiche gefunden.“
„Aha?“ Das musste er erst ein wenig verdauen. „Tut mir leid, dass Sie nass geworden sind.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich wollte sowieso baden.“
„Aber wahrscheinlich nicht in dieser Kleidung!“
Sie sah jetzt zu ihm und erkannte, dass er seinen Blick ihren Körper rauf und runter wandern ließ, rauf und runter und ihr fiel ein, dass das nasse Leibchen an ihrem Körper kleben musste. Ihr wurde plötzlich siedend heiß im Gesicht, was bedeutete, dass sie ganz rot wurde. Dass war ihr noch zusätzlich peinlich, aber sie konnte nichts dagegen tun. In Realzeit hatte die Inspektion sicherlich nur ganz kurz gedauert, aber sie empfand das nicht so und war aus dem Konzept gebracht. Deshalb antwortete sie erst verspätet: „Nein, ich hab‘ einen Bikini mit.“ Sie deutete hin, aber er folgte der Geste nicht sondern sah in ihre Augen, links, rechts, immer wieder und dann gelegentlich auf ihren Mund. Wenigstens betrachtete er nicht mehr ihren nassen Körper, aber auch das beruhigte ihr aufgewühltes Inneres nicht gerade. Jetzt erst fiel ihr auf, dass er immer noch ihre Hand festhielt.
„Wir könnten eigentlich auf die Förmlichkeiten verzichten“, meinte er leise. Sie nickte.
„Wie heißt du?“
„Kathi. Und du?“
„Das weiß ich nicht!“ Er sagte das ziemlich erstaunt. „Durch den Sturz habe ich wohl mein Gedächtnis verloren.“
Das verblüffte sie. „Aber das waren doch höchstens eineinhalb Meter!“
„Ah! Nicht durch den Sturz. Weiter bachaufwärts ist ein Haus …“
„Das Jagdhaus Prinzenwald!“
„Ja, wahrscheinlich. Ich meine, das weiß ich nicht. Wenn ich gewusst habe, wie es heißt, hab‘ ich auch das vergessen. Jedenfalls bin ich, so wie es aussieht, durch das Fenster des oberen Stockwerks gefallen. Dummerweise war es dabei noch nicht einmal offen! Ich bin dann mit dem Rücken auf die Kellerklappe. Die hat die Wucht nicht ausgehalten und wurde aus der Verankerung gerissen. Dann bin ich auf ihr nochmal zweieinhalb Meter die Kellerstufen runtergerutscht.“
Kathi machte große Augen und einen O-Mund. Dann schüttelte sie sich. „Und das hast du überlebt?“
„Na ja, nur so halb! Mir tut alles weh, besonders der Rücken. Ich glaube, da stecken noch Glassplitter drin. Jedenfalls hab‘ ich ziemlich viel Blut verloren!“
„Lass mich nachsehen!“ Sie rutschte nach hinten. Das Hemd war an der Rückseite völlig zerfetzt, obwohl es aus einem recht dicken Stoff bestand und blutgetränkt. „Uh! Keine gute Idee! Ich kann kein Blut sehen! Und schon gar nicht so viel!“ Ihr wurde richtiggehend schlecht, die Welt begann sich zu drehen.
„Geh schnell ans Ufer und leg dich hin!“ Das tat sie, sie taumelte die zwei Meter und ließ sich dann fallen, legte den Kopf möglichst weit nach unten.
„Tief einatmen!“ Er rutschte ihr nach, setzte sich neben sie und streichelte ihr ganz vertraut die Haare.
„Das ist doch Blödsinn“, protestierte sie schwach. „Du bist verletzt, ich nicht und jetzt musst du dich um mich kümmern! Ich bin dir eine wirklich große Hilfe!“
Er schmunzelte. Trotz der Schmerzen, die er hatte, war er sehr gut gelaunt. „Du hast mich ans Ufer gezogen, schon vergessen?“
Jetzt lächelte auch sie. Langsam erholte sie sich, sie zitterte nicht mehr; nur der kalte Schweiß auf ihrer Stirn blieb. „Es ist einfach lächerlich. Weißt du, dass meine Schwester Krankenschwester ist? Diplomierte Krankenschwester? Und ich? Ein Tropfen Blut und zack, liege ich auf der Nase! Ich muss das überwinden! Und zwar jetzt!“
„Lass dir Zeit.“
„Nein! Zieh das Hemd aus. Es besteht sowieso nur mehr aus Fetzen.“
Er löste die Knöpfe, streifte es über die Schulter und drehte ihr den Rücken zu. Hinter sich hörte er ein Stöhnen.
„Das sieht schlimm aus. Sehr schlimm! Du brauchst Hilfe! Dein Handy ist wohl nass geworden, aber vielleicht funktioniert es ja trotzdem.“
Er drehte sich zu ihr. „Ich hab‘ so was nicht. Was ist das überhaupt?“
Sie blickte ihn eine Weile sprachlos an. Dann fand sie die Erklärung. „Ach ja, deine Amnesie! Das ist so eine Art kleines Telefon, das man immer bei sich trägt. Die meisten tun das jedenfalls. Ich natürlich nicht, ich hab‘ sowas nicht nötig“, meinte sie selbstkritisch. „Damit könnten wir jetzt Hilfe für dich holen.“ Sie richtete sich langsam und vorsichtig auf. „Warum bist du vom Forsthaus Prinzenwald weg? Das wird vermietet, da müssen außer dir auch noch andere Leute sein!“
Er schüttelte den Kopf. „Ich hab‘ gerufen, aber niemand hat sich gerührt. Die Tür war geschlossen und Schlüssel habe ich keinen. Mir war auch klar, dass ich Hilfe brauche. Deswegen bin ich schließlich aufgebrochen, in der Hoffnung, eine Siedlung zu finden.“
Sie fuchtelte mit den Armen herum, was sie oft tat, wenn sie ratlos war. Daran erinnerte er sich nur zu deutlich. „Die nächste Siedlung ist zu Fuß eineinhalb Stunden entfernt.“ Sie sah ihn zweifelnd an „Wenn man schnell geht. In der Verfassung, in der du bist … aber du könntest hier warten und ich hole Hilfe!“
Er blickte nicht übermäßig begeistert, was sie veranlasste, eine andere Alternative vorzuschlagen. „Oder wir versuchen gemeinsam, die Ferienhütte zu erreichen, in der ich wohne. Zu der brauchen wir nur eine halbe Stunde. Na ja, bestenfalls. Wohl eher länger. Aber ich könnte dich stützen!“
Er nickte. „Das gefällt mir besser. Herumsitzen und warten entspricht eher nicht meiner Mentalität, jedenfalls nicht in dieser Situation. Da hätte ich gleich beim Forsthaus bleiben können. Ich werde es schon schaffen. Und wenn nicht, kannst du immer noch Hilfe holen.“
Sie stand auf und versuchte auch ihm aufzuhelfen, indem sie seinen linken Arm unter der Achsel fasste und nach oben zog. Aber er war schwer! Trotzdem legte sie sich schließlich, als er stand, den Arm um die Schulter und half ihm langsam durch das Heidelbeergestrüpp den zum Glück nicht sehr steilen Hang zum Weg hinauf, aber dort angekommen knickte sie ein. Obwohl er ein wenig taumelte, blieb er stehen.
„Es geht nicht! Ich bin zu schwach!“
„Oder ich zu fett, wie man’s sieht.“ In seiner Stimme schwang Anstrengung mit.
„Du bist nicht fett! Nur muskulös. Schau dir deinen Arm an, der wiegt eine Tonne!“
Er schüttelte langsam den Kopf und atmete tief ein. „Ich kann alleine gehen, du musst mir nur den Weg zeigen. Bleib einfach bei mir.“
Kathi blickte besorgt auf ihren Begleiter, dann gingen sie los, meist leicht bergab. Die Sonne stand schon hoch, von Tautropfen keine Spur, das Grün der Wiesen wirkte intensiv und war von gelben Johanniskrautsprenkeln durchzogen. Der Himmel war tiefblau und wolkenfrei. Abseits der Lichtungen wirkten die Nadelbäume fast düster, der schattige Wald im Kontrast zur Helligkeit draußen sehr dunkel. Hier war es auch kühler und damit für den Verletzten angenehmer, er musste nicht jeden Schritt bewusst machen sondern konnte in einen mühevollen Trott verfallen und hatte gleichzeitig die Kraft ein Gespräch zu beginnen, um etwas mehr von dem Mädchen zu erfahren, das er sehr gut kannte und von dem er doch nichts wusste.
„Wie heißt deine Schwester?“
Kathi, aus wirren Gedanken aufgescheucht, blickte ihn kurz erstaunt an. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass er jeden Augenblick umfallen könnte, denn er atmete sehr schwer und das Ende seiner Kräfte schien bald gekommen.
„Birgit.“
„Und sie ist Krankenschwester?“
„Oh ja“, plauderte Kathi drauf los, „eine sehr gute, glaub‘ ich. Obwohl sie vielleicht zu viel Mitgefühl hat. Als sie in der Onkologie beschäftigt war, sind ihr ihre Patienten zu oft weggestorben. Das hat sie ziemlich fertig gemacht. In dieser Zeit war sie sehr unglücklich und wirkte irgendwie verstört. Aber jetzt, in der Gyn, ist sie glücklich. Eine ältere Kollegin hat mir erzählt, dass sie sie anfangs kaum dort wegbekommen haben. Sie hat ihr gesagt, dass sie jetzt schon seit zwei Stunden Dienstende hat und dass ihr das keiner bezahlt. Darauf hat sie geantwortet: ‚Aber es ist gerade so viel los!‘ An manchen Tagen kommen die Kinder am laufenden Band auf die Welt, musst du wissen! Na ja, jetzt geht das nicht mehr, jetzt hat sie eigene Kinder, zwei Stück, da kommt sie so früh nach Hause, wie es eben möglich ist.“
„Lass mich raten: sie ist mit einem Arzt verheiratet.“
Kathi schüttelte energisch den Kopf. „Sie hat ja gesehen, wie es am Spital zugeht. Die Ärzte sind immer von jungen Schwestern umgeben. ‚Ärzte können nicht treu sein‘, hat sie gesagt. Deshalb hat sie einen Finanzbeamten geheiratet. Genutzt hat ihr das allerdings nichts. Finanzbeamte können offenbar auch nicht treu sein, er zumindest nicht. Er sagt, das mit der Freundin sei ihm halt so passiert, ganz ohne Absicht. Dass er nichts dagegen hätte tun können. Und dass es nicht an Birgit liegt. Ich kann mir das irgendwie nicht vorstellen.“
„Hm. Mit deiner Schwester hat das vielleicht wirklich nichts zu tun, aber mit ihm bestimmt! Es scheint da schon einen Unterschied zwischen vielen Frauen und den meisten Männern zu geben. Du musst dir ja nur das typische Schema eines Frauenromans anschauen. Die sind – eh klar – für viele Frauen interessant, für die meisten Männer hingegen sterbenslangweilig.“
„Für mich sind sie fad, ich lese sowas nicht. Außer in Form eines historischen Romans oder so. Wo auch Action dabei ist.“
„Ich weiß. Jedenfalls geht es darum, dass sich eine Frau zwischen zwei Männern entscheiden muss, die sie natürlich beide unsterblich lieben und beide irgendwie faszinierend sind, nur auf verschiedene Weise. Diese Situation, ‚wie entscheide ich mich nun?‘ scheint für viele Frauen entsetzlich spannend zu sein. Scheint zumindest so. Also, uns, ich meine, den Männern, geht es da anders. Wenn zwei einen unbedingt wollen, nimmt man halt beide! Wo ist das Problem? Verstehst du? Ich fürchte, wir sind alle irgendwie polygam. Wir können uns in die eine verlieben, auch wenn wir bereits in eine andere verliebt sind.“
Kathi blickte ihn eine Weile von der Seite her an. „Dann kann es so was wie eine dauerhafte Beziehung gar nicht geben. Liebe ein Leben lang.“
„Doch, sogar viele Leben lang. Ob man sich verliebt, mag man nicht beeinflussen können, aber was man dann macht schon! Was man dann tut, hängt schließlich vom Wollen ab. Manche wollen einfach das Gefühl des Verliebtseins öfter erleben, ist schließlich auch was Besonderes.“ Kathi musste an sich halten, um nicht heftig zu nicken. „Ist auch schmeichelhaft, wenn sich jemand in einen verliebt. Viele sind für Bauchpinselei sehr empfänglich. Aber trotzdem: Dass einem eine Freundin einfach so passiert, wie manche sagen, ist Blödsinn. Es ist eine Entscheidung, die man bewusst trifft oder eben nicht. Wenn ich bereits eine Freundin oder Frau habe, die ich liebe, bin ich wohl dazu imstande, mit einer anderen, die mir sehr gut gefällt, nicht zu schlafen! Bewusst und rational. Einfach weil ich meiner Frau oder Freundin nicht weh tun will. Und das will ich nicht, wenn ich sie wirklich liebe.“
„Alle scheinen das nicht zu können.“
„Oder zu wollen.“
„Ja. Es ist merkwürdig, dass du dich an so vieles erinnern kannst - sogar an Frauenromane - und dann aber nicht weißt, wie du heißt! Das muss ein ziemlich merkwürdiges Gefühl sein.“
Der Fremde seufzte. „Es wird momentan überlagert von unmittelbareren Problemen. Wie schaffe ich es, den nächsten Schritt zu machen? Dass ich nicht an Ort und Stelle umfalle. Mit meinem Gleichgewichtssinn stimmt etwas nicht. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass mir nicht gefallen wird, woran ich mich schließlich wieder erinnern werde. Ich bin bestimmt nicht zum Vergnügen aus dem geschlossenen Fenster gesprungen. Entweder war es ein ziemlich dummer Selbstmordversuch oder jemand hat nachgeholfen. Falls letzteres zutrifft, frage ich mich aber, warum niemand aus dem Haus gekommen ist, um nachzuschauen, ob ich eh tot bin. Die Sache ist ziemlich mysteriös.“
„Ja, da muss was Schlimmes passiert sein. Vielleicht hat nur deshalb niemand nachgeschaut, weil man einen derartigen Sturz eigentlich nicht überleben kann.“
„Ich habe nachher gerufen. Spätestens da kann es keine Zweifel mehr gegeben haben, dass ich noch – nicht frisch und fröhlich, aber eben doch – am Leben bin.“
„Wenn ich die Rettung hole, soll ich dann gleich auch die Polizei zum Prinzenwald schicken?“
Er zögerte kurz, dann nickte er. „Hast du Telefon im Ferienhaus?“
Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Leider nein! Aber jede Menge Verbandszeug! Dafür sorgt meine Schwester. Man könnte dort eine mittelschwere Operation durchführen.“
„Welch beruhigender Gedanke!“
Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Sie dachte darüber nach, dass sie einem völlig Fremden erzählt hatte, dass sie kein Telefon hatte und man aus dem, was sie gesprochen hatte auch schließen konnte, dass sie momentan allein lebte, fernab von dem, was man Zivilisation nannte. Sie stellte sich das Entsetzen ihrer Mutter vor, wenn sie das erfuhr. Besser es blieb ihr Geheimnis.
Manchmal musste er sich an einen Baum lehnen und Kathi beugte sich dann hinab zum Bächlein am Wegesrand, um etwas Wasser in ihren Händen aufzunehmen, das er dann trank. Er fühlte sich unendlich erschöpft. Er blickte oft kurz seine Retterin an und empfand das Falsche. Wenn er ihren schlanken Hals betrachtete, erschien das Bild in ihm, wie er seine Hände darum legte und voller Genugtuung zudrückte. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem Gehirn, er konnte es nicht nach seinen Wünschen formen. Er war froh, dass er zu schwach war, um ihr wirklich etwas anzutun. Wenn er wieder zu Kräften gekommen war, musste er weit weg sein. Oder sie. Vielleicht gelang es ihm ja auch, diese kranken Gedanken zu besiegen, wenn er erst stärker war. Dann wieder war alles anders und er erinnerte sich, dass sie die Polizei verständigen wollte und wusste plötzlich, dass das nicht in seinem Sinne war. Dagegen musste er etwas unternehmen. Aber fürs erste musste es genügen, weiter zu taumeln.
So erreichten sie nach erstaunlich langer Zeit Kathis kleines Ferienhaus.
***
Die Stiegen hinauf hatte sie ihm wieder helfen müssen. Sie brachte ihn ins Kinderzimmer, dessen Fenster nach Westen blickte und jetzt bereits heller war als das Schlafzimmer. Sie führte ihn zum Bett neben dem Fenster.
„Leg dich auf den Bauch.“
„Ich werde alles vollbluten.“
„Egal. Ich hol‘ nur ein paar Sachen, eine Schüssel mit Wasser, eine Küchenrolle, Verbandszeug.“ Das tat sie dann auch, stellte alles auf den kleinen Tisch und richtete sich den Sessel. Das erste Mal klappte es nicht, sie rutschte gleich herunter auf den Boden, weil ihr beim Anblick des vielen Blutes wieder schwindlig geworden war.
„Tief durchatmen!“, meinte er. Das tat sie. Nach einer Weile versuchte sie abermals, sich um die Wunden zu kümmern. ‚Zunächst‘, dachte sie, ‚müssen sie ja nur gereinigt werden‘. Ohne allzu genau hinzusehen entfernte sie das getrocknete Blut langsam und mit vielen feuchten Blättern der Küchenrolle. Jetzt sah der Rücken nur mehr halb so schlimm aus. Dafür musste sie sehr sorgfältig vermeiden, die blutigen Tücher anzusehen, die sich im Mistkübel unter dem Tisch ansammelten. Die vielen Schnitte kamen langsam zum Vorschein. Aus einigen mussten tatsächlich Glassplitter entfernt werden. Manche waren sogar gemein groß und saßen tief im Fleisch.
„Hm, das sieht ziemlich übel aus. Da steckt die halbe Fensterscheibe in deinem Rücken.“
„Ich hoffe, du neigst zu Übertreibungen!“
„Na ja, ein bisschen schon! Aber trotzdem. Ich glaube, ich muss deinen Rücken Experten überlassen. Es ist wohl besser, wenn ich jetzt Hilfe hole …“
„Nein, geh nicht! Ich habe keine Lust, alleine zu sterben. Am Blutverlust immer schwächer werden. Schließlich mein Leben aushauchen, ohne jemanden, der neben mir ist und mein Dahinscheiden betrauert!“ Er äußerte das übertrieben dramatisch. Warum hatte er das gesagt? Ihr Vorschlag war der einzig vernünftige. Weshalb wollte er, dass sie hierblieb, wo er doch genau wusste, dass er eine Gefahr für sie darstellte, wenn er sich stärker fühlte? Und an eine unmittelbare Lebensgefahr für sich glaubte er nicht. Aber er ahnte, dass nicht nur ein Krankenwagen sondern auch einer der Polizei hier auftauchen würde, wenn sie jetzt ging. „Und bedenke meine Desorientiertheit. Bislang habe ich nur vergessen, wer ich war, aber vielleicht vergesse ich alles und laufe in die Wälder. Oder so.“
Kathi wollte den Namenlosen nicht verlassen, aber verarzten wollte sie ihn auch nicht, das traute sie sich nicht zu. Wäre bloß ihre Schwester hier! „Aber so kann ich dich nicht verbinden! Die Splitter müssen gezogen werden. Ich bin keine Chirurgin!“
„Du bist sicher begabt! Bitte versuch es.“
„Das wird eine Metzgerei!“
Der Fremde stöhnte. „Musst du sowas sagen? Bitte versuch es. Das kann doch nicht so schwer sein, du schaffst das schon. Du hast doch eine Pinzette, oder?
„Viele sogar!“
Sie blickten sich eine Weile in die Augen und schließlich zerbrach ihr Widerstand. „Na gut! Es ist dumm, aber okay. Ich hol das Chirurgenbesteck!“ Nach einer Weile kam sie wieder, setzte sich, atmete tief aus. Sie war jetzt in der Lage, das Ganze nüchterner zu betrachten, fast emotionslos. Da war eine klar umrissene Aufgabe, der sie sich zwar nicht gewachsen fühlte und die sie nicht wollte, aber heute war sowieso ein merkwürdiger Tag.
„Okay, du musst jetzt sehr tapfer sein!“
„Soweit ich mich zurück erinnern kann …“
„Was ja nicht sehr lange ist …“
„… war ich noch nie besonders heldenhaft. Sogar richtig feige. Dafür bin ich aber sehr müde, das hilft sicherlich auch. Sonst würde ich jetzt davon rennen. So aber bin ich dir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.“
„So ist es!“ Kathi grinste. Sie begann mit der „Metzgerei“. Als sie mit der Pinzette vorsichtig am ersten Splitter zog, zuckte er zusammen. Erschrocken ließ sie los.
„Tut mir leid.“
„Du kannst ja nichts dafür!“
Sie begann wieder und diesmal klappte es. Sie legte das erste blutige Glasstück auf ein Blatt der Küchenrolle. Bevor sie fortfuhr, beobachtete sie, was seine rechte Hand machte. Er ließ sie am Fußboden auf- und abwandern und zwar in höchst merkwürdiger Weise. Der Handrücken zeigte nach oben, der Mittelfinger gerade nach vorne. Die Hand stand hoch aufgestellt auf den restlichen Fingern, die nun nach vorne wanderten, zunächst Daumen und Zeigefinger gleichzeitig, dann, alternierend, Ring- und Kleiner Finger. Das sah beinahe aus wie ein wanderndes Kamel im Passgang, na ja nicht ganz. Dann zog er die Hand zurück und ließ sie abermals nach vorne gehen, diesmal bewegte er aber gleichzeitig Daumen und Ringfinger bzw. Zeige- und Kleiner Finger. Er bewegte die Hand also so, als wäre sie z. B. ein Hund.
„Was tust du da mit deiner Hand?“
„Das lenkt mich ab. Von den Schmerzen. Ich konzentriere mich auf was anderes und dann vergesse ich sie vielleicht ein bisschen. Hoffentlich. Ich hab‘ Dir ja gesagt, dass ich ein Jammerlappen bin.“
„Funktioniert es?“
„Hm. Nicht sehr gut.“
„Ich glaub’ Dir nicht, dass Du das kannst, ohne trainiert zu haben!“
„Hab‘ ich auch nicht behauptet!“
In der nächste halben Stunde folgten noch viele dem ersten Splitter nach. Schließlich war sie schweißgebadet, aber auch zufrieden. Sie desinfizierte die Wunden und legte einen Verband an.
„Schlaf jetzt!“, schlug sie ihm vor.
„Nur wenn du bei mir bleibst.“
Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Rettung zu holen, sobald er eingeschlafen war, aber schließlich nickte sie zögerlich.
***
„Du bist ein wenig grün um die Nase. Geht’s?“
„Ich werde mich nie daran gewöhnen. An den Anblick der Leichen, an das viele Blut, den Ausdruck des Entsetzens in ihren gebrochenen Augen. Ich komme damit nicht zurande, dass man ihnen alles weggenommen hat, egal welches Motiv dahinter steckt. Ich bin zu weich für diese Welt!“ Susanne (sag‘ niemals Susi zu mir!) seufzte.
Er hatte nicht die Absicht sie zu trösten. Sie würde das auch gar nicht wollen. „Hm. Sieht so aus. Aber du bist trotzdem eine verdammt gute Polizistin. Wer ist die Tote in der Badewanne?“ Der Mann, der gefragt hatte, Andreas für sie, aber eigentlich András, denn er war gebürtiger Ungar, war groß, breitschultrig, muskulös und auch ein wenig unterspickt, aber nicht so, dass man ihn dick nennen würde. Er wirkte sehr sympathisch, seine Gesichtszüge hatten etwas von einem Baby, er lächelte breit. Der Eindruck von Harmlosigkeit wurde von der runden Kopfform noch verstärkt. Seine Freundlichkeit lud offenbar gelegentlich dazu ein, ihn zu unterschätzen. Aber das war ein Fehler, den schon mancher bereut hatte. Die kleine blonde Frau, an die seine Frage gerichtet war, hatte einmal erlebt, wie er sich gegen zwei mit Messern bewaffnete Gegner zur Wehr gesetzt hatte. Er hatte sich so schnell bewegt, dass sie nicht mitbekam, was eigentlich genau geschah, aber nach einigen Sekunden lagen beide am Boden, ohne ihre Messer.
„Angelina Hoppelmayr“, antwortete sie, „zweiundzwanzig Jahre jung, sagt ihre Freundin.“ Sie deutete dabei auf eine schlanke, dunkelhaarige Frau, die verstört, zitternd und mit tränenüberströmtem Gesicht auf einem Sessel im Eck saß, nahe des Stiegenaufgangs und so weit wie möglich weg von den Leichen. Als der Kommissar gekommen war, waren die Männer und Frauen in ihren Ganzkörperkondomen, die die Spuren sicherten, bereits da gewesen. Die drei Ermordeten hatten sie an Ort und Stelle gelassen, damit er sich selbst einen Eindruck vom Tathergang machen konnte. Der Lokalaugenschein war oft entscheidend. „Sie hat die Leichen heute gefunden und uns vor etwa einer Stunde benachrichtigt. Sie hat einen Schlüssel zum Haus.“
„Hat sie das Forsthaus gemietet?“
„Nein, das war der Mann.“ Sie deutete auf die Leiche, die beim Fenster lag, in einer gewaltigen Blutlache. Das Messer steckte noch in seinem Körper. „Die zweite Tote, der man den Hals aufgeschlitzt hat, ist seine Schwester.“ Sie deutete auf eine brünette, langgesichtige Frau mit weit aufgerissenen Augen und einem entsetzten Gesichtsausdruck. Quer zu ihrem Hals verlief ein Schnitt, der beide Carotis und die Kehle durchtrennt hatte. Das Gewand der Toten war voller Blut. Ihre Hände waren an die Sitzlehne des Sessels gebunden, der dann umgekippt war. Sie lag beim Eingang zum Badezimmer.
„Und Angelina?“
„War die Geliebte von ihm, sagt die Freundin. Und sie sagt noch etwas. Nämlich, dass Angelina verheiratet ist. War.“
„Da fragt man sich unwillkürlich, ob der Ehemann von der Affäre gewusst hat.“
„Ich würde sagen, die Antwort lautet ja!“
„Wem gehört das Auto, das vor dem Haus steht?“
„Dem Toten.“
„Was wissen wir über ihn?“
„Er ist der Direktor einer Softwarefirma. Sehr wohlhabend. Übrigens ebenfalls verheiratet. Aber das da ist wohl eher nicht die Handschrift einer Frau.“
„Außer sie wiegt hundert Kilo und ist eins neunzig groß.“
„Ist sie nicht. Im Gegenteil, sie ist eher klein wie ich, jedenfalls unter eins siebzig. Sagt der Beamte, der vor einer halben Stunde mit ihr gesprochen hat.“
„Und was sagt man über Angelinas Ehemann?“
Sie seufzte. „Das Übliche. Netter, unauffälliger Nachbar. Alle beschreiben ihn als harmlos.“
„Also, ohne voreilige Schlüsse ziehen zu wollen. Der Täter hat die beiden Frauen überwältigt und gefesselt. Dann hat er Angelina in der Badewanne ertränkt und die Schwester dabei zusehen lassen. Der Mann war zu dem Zeitpunkt wohl nicht im Haus. Als der Täter hört, dass jemand an der Eingangstür ist, schneidet er der Frau auf dem Sessel die Kehle durch, vielleicht, damit sie nicht schreien kann, vielleicht, damit sie zu schreien aufhört, was wahrscheinlicher ist. Im Todeskampf wirft sie den Sessel um. Der Softwaremensch rennt die Stiegen hinauf, wie ein Bulle – ich meine nicht wie ein Polizist, sondern wie ein Rindvieh - direkt ins Messer des Täters, der vor dem Fenster steht und durch die Wucht des Angriffs hinausgeschleudert wird, während der Firmenboss unter dem Fenster zusammenbricht, denn die Wunde tötet ihn schnell.“
Sie gingen zum Fenster, darum bemüht nicht ins Blut zu treten und das Spurensicherungsteam nicht zu stören.
„Der Täter ist ein sadistischer Psychopath, aber kein Profi. Sonst hätte er sich nicht so hingestellt, dass man ihn von den Stiegen kommend gleich sehen konnte. Er bricht durchs Fenster und landet … da unten.“
„Auf der Kellerklappe, die er mit Wucht durchschlägt“, meinte seine Kollegin. Sie hatte sich so weit nach vorne gebeugt wie möglich, ohne ins Blut zu treten und ohne etwas zu berühren.
„Schauen wir uns das näher an.“ Der Kommissar ging noch einmal ins Badezimmer und warf einen Blick auf die nackte Leiche der blonden, schlanken Frau, die mit hinter dem Rücken gefesselten Armen im Wasser lag. Die Beine waren ebenfalls zusammengeschnürt und an ein Rohr außerhalb der Wanne gebunden, sodass sie nicht hatte treten können und generell kaum zur Gegenwehr in der Lage gewesen war. Nicht dass sie es nicht verzweifelt versucht hatte, der Boden des Badezimmers war pitschnass. Es war dem Mörder trotzdem ein Leichtes gewesen sie unter Wasser zu drücken. Er vermutete, dass sie nicht schnell gestorben war, dass er sie öfter wieder etwas angehoben hatte, sodass das Ertrinken länger dauerte. Wahrscheinlich hatte sie ihr Leben erst ausgehaucht als der Fenstersturz bereits stattgefunden hatte. Sie war da wohl schon zu schwach gewesen, um den Kopf aus eigener Kraft über die Wasserlinie zu halten.
Als er genug gesehen hatte – oder mehr als genug, um Stoff für ein Dutzend Albträume zu haben – wandte er sich ab und schritt wieder auf seine wartende Kollegin zu. Die beiden gingen die Stufen hinab. Bei der Eingangstür fragte er: „Wie ist er hineingekommen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Das Schloss ist unversehrt, die Tür auch. Eingebrochen ist er jedenfalls nicht.“
„Hatte er also einen Schlüssel?“
„Gibt man dem Mann seiner Geliebten einen Schlüssel zum Haus – falls er es war?“
„Eher nicht.“
„Vielleicht hat der Softwaremensch die Tür schlicht offen gelassen als er das Haus verlassen hat. Möglicherweise hat er den Schlüssel nicht mitgenommen.“
Der Kommissar nickte. „Das können wir überprüfen. Wenn das Szenario stimmt, hatte er wohl kaum Zeit, ihn ans Schlüsselbrett zu hängen. Er müsste ihn also noch bei sich tragen.“
Inzwischen waren sie beim Kellereingang angekommen. Alles was sie sahen war Finsternis.
„Hast du eine Taschenlampe dabei?“
Sie nickte, holte sie hervor, schaltete sie ein und hielt sie etwa auf Kopfhöhe, um besser nach unten leuchten zu können. Der Daumen der Hand zeigte dabei nach hinten. Die Dunkelheit blieb in den Ecken hängen, aber die Treppenbasis war jetzt deutlich zu sehen.
„Verdammt viel Blut, doch keine Leiche“, kommentierte der Kommissar. „Vielleicht ist er in eine Ecke gekrochen?“
Die blonde Frau leuchtete auch die Winkel des kleinen Raums aus. „Nein, abgesehen von ein wenig Gerümpel ist da nichts.“
„Die Wucht des Aufpralls hat die Klappe aus den Angeln gerissen und sie der Länge nach beinahe gespalten. Er muss mit der Kellerklappe nach unten gerutscht sein. Dort ist er liegen geblieben, wahrscheinlich schwer verletzt, aber nicht tot. Er muss in der Lage gewesen sein, sich aufzurappeln, ist die Stiegen hinauf und dann …“ Er blickte suchend um sich, aber es war seine Begleiterin, die zuerst fündig wurde.
„Dort! Blut. Wo ist er hingegangen?“ Sie gingen in Richtung Gartentor und sahen sich den Blutfleck näher an.
„Vielleicht zu seinem Auto, mit dem er dann davon ist. Weit kann er jedenfalls nicht gekommen sein. Schick die Spusi runter, wenn sie oben fertig sind. Sie sollen sich den Keller anschauen und auch den Blutfleck. Und nach weiteren Ausschau halten. Ich wette, das Blut gehört dem Ehemann von Angelina!“
Sie nickte. „Muss ein jähzorniger Kerl sein. Trotz allem was die Nachbarn behaupten.“
„Vielleicht auch das. Aber es war ein überlegter, sadistischer Mord. Der Typ ist gefährlich und wir sollten ihn so schnell wie möglich erwischen. Falls er überhaupt noch lebt.“
Ein Streifenwagen hielt vor dem Haus. Ein uniformierter Beamter ging auf die beiden zu und grüßte. „Wir haben unweit von hier im Wald einen abgestellten weißen Citroen gefunden.“
„Habt ihr den Fahrzeughalter schon ermittelt?“
Der Polizist nickte. „Sein Name ist Michael Hopplmayr.“
Der Kommissar wandte sich an seine Begleiterin. „Ist das der Ehemann?“
„Ja. Wie schön, wir haben einen Verdächtigen!“
„Wenn er nicht mit dem Wagen weg ist, wo ist er dann? Er muss irgendwo im Wald sein, mit seinen Verletzungen kann er nicht weit gekommen sein. Wäre ich sechs Meter in die Tiefe gestürzt, durch ein geschlossenes Fenster und dann nochmals mehr als zwei Meter eine Stiege hinunter gerutscht, käme ich bestimmt nicht mehr sehr weit.“ Er wandte sich an den Uniformierten: „Organisieren Sie einen Suchtrupp. Mit Hunden womöglich. Der Wald soll in einem Radius von ein, zwei Kilometer genau durchsucht werden, entlang der Wege weiter. Und schreiben Sie den Mann zur Fahndung aus, falls er doch weiter gekommen ist. Man kann nie wissen, vielleicht hat er ein anderes herrenloses Auto geklaut, vielleicht ist eines der Opfer mit dem eigenen Auto da gewesen, auch wenn die Spuren eher nicht dafür sprechen.“
Der Uniformierte bestätigte, grüßte abermals und kehrte zum Streifenwagen zurück.
„Wir sollten auch die Medien informieren. Irgendwo ist ein Monster unterwegs und es hat schon genug Leichen gegeben.“
Sie nickte. Die Sonne sank gerade unter einen mit hohen Fichten bewachsenen busenförmigen Doppelhügel, mit dem Schatten wurde es kühl und über den immer noch feuchten Wiesen kehrten einzelne Nebelschwaden zurück. Die Polizistin beobachtete sie eine Weile. „Ein Nebelmonster.“
***
Der Fremde ohne Gedächtnis rührte sich langsam, dann öffnete er die Augen.
„Guten Morgen! Wie fühlst du dich?“
„Morgen?“, krächzte er.
„Eigentlich nicht. Ich hab‘ das nur gesagt, weil du aufgewacht bist.“ Kathi zeigte ihm ihr strahlendstes Lächeln. Dann blickte sie aus dem Fenster. „Es ist Abend. Die Sonne ist gerade hinter den Bergen untergegangen. Noch säumt ein goldiger Schimmer ihre Silhouetten. Und die Nebel kommen wieder. Eigenartig. Normaler Weise entstehen sie erst bei Sonnenaufgang und verschwinden dann, wenn sie höher steht. Patrick, der Sohn meiner Schwester, glaubt, dass mit dem Nebel auch Nebelmonster erscheinen.“
„Du bist bei mir geblieben.“ Das klang nicht erleichtert, sondern fast bedauernd als hätte sie einen Fehler gemacht. Kathi achtete nicht darauf.
„Ja. Und jetzt ist es zu spät, um ins Dorf runter zu gehen. Zu dunkel. Ich werde gleich morgen in der Früh aufbrechen. Ich fürchte du musst hier übernachten. Das stört dich doch nicht, oder?“
Er lachte leise. „Die Frage ist wohl eher, ob es dich stört!“
Sie schüttelte den Kopf. „Na ja, ich übernachte im Schlafzimmer, du im Kinderzimmer. Das Haus ist zwar klein, aber für zwei Leute wohl ausreichend groß.“ Und um das Thema zu wechseln. „Bist du durstig? Oder möchtest du etwas zu essen? Oder beides?“
Er überlegte. „Ich möchte nicht, dass du dir meinetwegen Umstände machst.“
„Hab‘ ich schon.“
Er lachte. „Das ist wahr. Also beides, wenn du genug im Haus hast, dass du dann nicht verhungerst.“
„Wasser oder Bier?“
„Bier wäre schön. Wasser hatte ich schon. Ziemlich viel sogar!“
Sie nickte. „Wie wär’s mit selbst gepflückten Eierschwammerln? Ich sammle sie und wir – also meine Schwester, ihre Kinder und meine Mutter – essen sie dann immer, wenn sie da sind. Es sind viel zu viele übrig geblieben für eine Person. Dass du hier bist ist also ein Glücksfall!“
„Eierschwammerl sind o.k. - ihr esst den ganzen Urlaub über Eierschwammerl?“
„Mhm. Natürlich nicht ausschließlich. Nur am Abend. Ich sammle sie so gerne und die anderen mögen sie. Zumindest am Anfang. Später hängen sie ihnen schon zum Hals raus, glaube ich und essen sie nur noch, um mir eine Freude zu machen. Dabei putze ich sie ebenso ungern wie ich es mag, sie zu sammeln. Ich versuche dann immer, die Kinder dazu zu motivieren, mir zu helfen. Ohne Erfolg. Egal. Zum Schluss bleiben immer eine Menge übrig. Zum Glück sind auch noch ein paar Eier da, die Birgit vergessen hat mitzunehmen. Ich bin nämlich Veganer. Daher gibt es auch kein Fleisch für dich“, meinte sie bedauernd.
„Wie ich dich kenne bist du Veganer aus Mitleid zu den Tieren.“
„Du kennst mich nicht. Aber du hast recht.“ Es kam zu einer Gesprächspause, die Kathi schließlich beendete, indem sie ihre Frage wiederholte: „Wie fühlst du dich?“
„Ich würde zur Antwort mit der Schulter zucken. Aber das wäre schmerzhaft, also lass ich’s lieber bleiben. Für jemand, der sechs Meter hinunter gefallen ist, darf ich mich eigentlich nicht beschweren. Ich fühle mich kräftig und munter. Der Rücken tut eigentlich gar nicht so weh. Schlimmer ist das Pochen im Kopf. Da stimmt irgendwas nicht.“
„Mit deinem Kopf stimmt was nicht? Aber das wissen wir doch schon!“ Sie grinste ein bisschen, dann besann sie sich. „Nein, tut mir leid, das war nicht nett. Man macht keine Späße darüber, dass jemand sein Gedächtnis verloren hat und schon gar nicht darüber, dass er Schmerzen hat.“ Sie blickte in Richtung Wohnzimmer. „Vielleicht wäre ein wenig Abwechslung gut, du könntest fernsehen, während ich das Essen zubereite. Der Bildschirm ist zwar ganz klein, es ist nur ein alter Kastenfernseher mit Zimmerantenne … hm, vielleicht ist das aber auch nicht gut, wenn du Kopfschmerzen hast.“
„Sind Fernseher das nicht immer? Kastenförmig?“
Sie blickte ihn verwundert an. „Nicht mehr. Schon eine ganze Weile nicht. Merkwürdig was du alles vergessen hast. Dass es Handys gibt und Flachbildschirme.“
„Wenn die Fernseher so viel toller sind, müsste doch auch das Programm besser geworden sein …“
„Nein, eigentlich nicht. Vielleicht wenn man auf Fußball steht, aber wenn man findet, dass die nicht so knausrig sein sollten und ruhig jedem Spieler einen eigenen Ball gönnen könnten …“
Er lächelte. „Fußball interessiert mich leider nicht.“
„Bist du da sicher? Vielleicht hast du bloß die Erinnerung daran verloren.“
„Nein, da bin ich mir sicher. Ich nehme deinen Vorschlag trotzdem gerne an. Ablenkung wäre sicherlich gut. Hilfst du mir auf?“ Er streckte ihr den Arm hin, den sie ergriff, um dann vorsichtig daran zu ziehen. Mit ihrer Hilfe und übertriebenem Stöhnen richtete er sich auf.
„Soll ich dich stützen?“
„Gerne! Nicht dass ich es nötig hätte …“
„Dann lieber nicht. Setz‘ dich bitte auf den gepolsterten Stuhl neben dem Tisch.“ Sie folgte ihm ins Wohnzimmer und während er sich vorsichtig setzte, hantierte sie am Fernsehgerät herum und an seiner Fernbedienung und der vom Receiver. Schließlich erschien wie von Zauberhand das A4-Blatt große Bild. Kathi war richtig stolz auf sich, kümmerte sich doch normalerweise ihre Schwester um den Fernseher und wählte auch das Programm.
„Wie ist das eigentlich mit deinem Gedächtnis?“, fragte sie, während sie zu ihm ging, um ihm die Fernbedienung in die Hand zu drücken. „Ist schon irgendwas zurück gekommen?“
Er schüttelte den Kopf – vorsichtig, weil ihn das schmerzte. „Nichts, bis auf einige Szenen, die gelegentlich aufblitzen. Aber sie sind nicht erfreulich. Ich hoffe, sie sind nicht real, nichts was ich wirklich erlebt habe, sondern nur Einbildung. Aber ich bin mir da nicht sicher. Überhaupt nicht.“
„Was denn?“
„Das erzähle ich dir lieber nicht. Ich möchte dich nicht beunruhigen.“
„Na das beruhigt mich jetzt aber, dass du das sagst.“ Sie hatte sich kurz auf den Tisch gesetzt und lächelte auf ihn herab. „Wenn du nicht freiwillig gesprungen bist, war jemand nicht sehr nett zu dir. Du hast sicherlich Übles erlebt und es ist gar kein Wunder, dass du dich nicht daran erinnern willst. Vorläufig ist das wohl besser für dich.“ Sie sah eine Weile auf ihn hinunter ohne etwas zu sagen. Irgendwie war die Situation merkwürdig. Dann besann sie sich. „Ich mach‘ uns jetzt was zu essen.“
Eine Weile lauschte er dem Scheppern aus der kleinen Küche, dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Fernseher zu, der aber nur eine Folge einer Serie zeigte, die er nicht kannte. Irgendwas mit Spitalsärzten. Von denen würde er in nächster Zeit ohnehin noch einige sehen. Also wechselte er lieber das Programm, geriet aber nur an Werbung. Nicht alle beworbenen Produkte kannte er, die meisten aber schon. Irgendwann brachte Kathi ein Krügerl Bier vorbei, das er ihr dankbar abnahm und gleich an die Lippen setzte. Nach einigen Schlucken fühlte er sich insgesamt besser und seine Konzentrationsfähigkeit steigerte sich ebenfalls. Nur das Hämmern in seinem Hinterkopf nahm nicht ab, im Gegenteil. Auch die befremdlichen Gedanken kamen wieder und versuchten von ihm Besitz zu ergreifen. Erschrocken setzte er sich zur Wehr, aber mit nur geringem Erfolg. Langsam wurde ihm klar, dass er für Kathi möglicherweise eine Bedrohung darstellte. Nur – wenn die Bilder kamen wurde dieser Gedanke bedeutungslos, wie überhaupt jeder, der sich mit dem Wohle anderer beschäftigte. Da waren Ausbrüche von Wut und Neid und Schadenfreude. Jetzt hatten die Nachrichten begonnen; das in vielen Häppchen sorgfältig servierte Leid auf der Welt wurde minutiös durchgekaut; es amüsierte ihn und er gierte nach mehr. Welch Genugtuung ein paar geköpfte humanitäre Helfer vom Roten Kreuz doch darstellten! Schließlich waren die Idioten selbst schuld – wären sie doch daheim geblieben. Dann aber kamen wieder klare Momente, in denen er das verabscheute, was dieses defekte Gehirn aus ihm machen wollte.
Schließlich folgten die Lokalnachrichten. Ein spektakulärer Mordfall. Drei Opfer und alle grausam hingerichtet. Es wurden keine Bilder gezeigt, natürlich nicht, was ein Teil von ihm bedauerte. Der Name der Gegend sagte ihm nichts. Zwei junge Frauen und ein Mann irgendwo in der Einschicht. Trotzdem schwante ihm Übles, denn Kathi war inzwischen neben ihn getreten, in den Händen ein Tablett mit zwei Tellern auf denen sich die Eierschwammerl befanden, einmal mit, einmal ohne Ei, immer mit Zwiebel, daneben einige Scheiben Schwarzbrot; mit Besteck und kleinen Schüsseln voll grünem Salat, einer Flasche Rotwein und zwei dazu passenden Gläsern, sowie ein weiteres, einfaches, gefüllt mit Wasser. Sie starrte gebannt auf den Bildschirm.
Die Sprecherin blickte sehr ernst. „In diesem Zusammenhang erbittet die Polizei Hinweise zum Verbleib dieses Mannes.“ Das Gesicht eines ihm Unbekannten wurde eingeblendet. Fremd für ihn, aber nicht für Kathi. Sie fuhr erschrocken zusammen und hätte beinahe das Tablett fallen gelassen. Die Gläser klirrten und hinterließen ein schmerzhaftes Dröhnen in seinem Schädel. Dann dämmerte ihm die Wahrheit.
„Bin das ich?“
***
Eine Augenblick lang war sie fürchterlich erschrocken. Ihr wurde klar, dass sie ein ganz, ganz ernstes Problem hatte. Ein lebensbedrohliches. Trotz seiner Verletzungen war er ohne Zweifel stärker als sie und wohl auch schneller. Wie weit würde sie kommen, wenn sie jetzt lossprintete? Sie könnte sich natürlich auch verteidigen, aber das was einer Waffe noch am ähnlichsten war, hatte er: das Krügerl. Sie hatte zwar ein Semester waffenlose, gegnerschonende Selbstverteidigung besucht, war aber nicht übermäßig begabt, eher sogar ziemlich talentfrei. Konnte sie ihn mit einem dynamischen Vier-Richtungs-Wurf so zu Fall bringen, dass es eine Weile dauerte, bis er wieder aufstand? Aber was, wenn er nicht attackierte, indem er zunächst ihr Handgelenk ergriff? Was sie gegen andere Arten des Angriffs tun konnte, hatte sie noch nicht gelernt oder es war ihr schon wieder entfallen. ‚Ach, vergiss es!‘ All diese Gedanken durchzuckten sie blitzschnell und dann noch einer: ‚Du darfst nicht zeigen, dass du Angst hast!‘ Also hielt sie die Tränen zurück, die die Angst aus ihr herausquetschen wollte wie die Faust den Saft aus der Zitrone. Sie musste schauspielern wie noch nie; buchstäblich. Denn sie war nicht der Typ, der sich gerne verstellte.
Zögerlich, aber scheinbar unbeschwert antwortete sie: „Das hat nichts zu bedeuten. Vielleicht war ja eine fünfte Person anwesend. Irgendwer muss dich ja aus dem Fenster gestoßen haben!“
Er griff zur Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Sein Blick hatte etwas Unstetes, Diabolisches. Er wirkte verändert, bei weitem nicht mehr so nett wie noch beim Teich. Er lächelte zwar immer noch, aber wie eines jener reptilischen Raubtiere, die schon deshalb immer die Zähne zeigen, weil sie keine Wangen haben.
„Setzt dich doch!“ Er deutete auf den Sessel neben sich und sie folgte der Aufforderung, weil sie überzeugt war, keine Wahl zu haben. Sie stellte ihm sein Essen hin, das mit Ei und sich selbst die andere Portion und das Glas Wasser. Den Wein beließ sie auf dem Tablett, das sie beiseiteschob. Er langte zu, nahm von den Schwammerln und dem Brot, offenbar voll Appetit; der ihre war ihr vergangen.
„Köstlich!“, meinte er. Und nach einer Weile: „Nein, da waren nur wir vier.“
„Du erinnerst dich jetzt?“ Wieso hatte sie das gefragt? Eigentlich wollte sie lieber nicht wissen, was geschehen war.
Er schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich. Da sind nur diese Bilder, wie Hände diese blonde Frau unter Wasser drücken. Meine Hände!“ Er lachte. „Und dann noch andere. Von einer gefesselten und viel Blut.“ Er hielt sich den Kopf und stöhnte. „Und von dem Mann. Wie er auf mich zukommt. Und das Gefühl des Triumphs, das ich empfinde, es dämpft die Schmerzen in meinem Schädel! Aber niemand sonst. Nein, da war niemand. Der damalige Besitzer dieses Körpers hat alle umgebracht!“
Sie schauderte, ihr wurde kalt. Fasziniert sah sie zu, wie sich die Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten. Er sprach wirr, war unberechenbar. Eigentlich hatte er das schon die ganze Zeit getan, sie hatte nur nicht darauf geachtet! „Was du mir erzählt hast, von der Amnesie … dann ist das also wahr?“
Er hielt jetzt seinen Kopf in beiden Händen. „Irgendetwas stimmt mit diesem Hirn wirklich nicht. Ein Tumor?“ Dann blickte er entspannter, so als würden die Schmerzen etwas nachlassen. Aber was er dann sagte, ergab für Kathi wieder keinen Sinn. „Es ist wie immer. Es sind nicht meine Erinnerungen, die ich verliere sondern die von dem anderen.“ Er tippte sich an den Kopf. „Von dem, der vorher da war! Ich verliere sie beim Übergang.“
„Vorher? Übergang?“, piepste sie.
„Vor dem Sturz aus dem Fenster. Das war zu viel für ihn. Da hat er seinen Körper verlassen. Und ich habe ihn mir genommen! Sein episodisches Gedächtnis musste dem meinen weichen. Ich erinnere mich sehr gut an das was früher war. Aber nicht an sein Leben sondern an meines.“
„Entschuldige, das ist etwas verwirrend! Du bist nicht er? Wer bist du?“
„Ich bin Mentor! Oder dutzende andere. Das ist eine lange Geschichte.“ Er lachte wieder, aber auf eine weniger beunruhigende Weise. „Wirklich und wahrhaftig eine lange Geschichte.“
„Du kannst sie mir ruhig erzählen, ich habe Zeit.“
„Hast du das? Ich bin gekommen, um dich zu finden, aber so sollte es nicht sein!“ Er nahm einen letzten Schluck Bier.
„Warum suchst du mich?“
„Ich suche dich, seit wir uns das erste Mal getroffen haben. Immer wieder. Weil ich es dir versprochen habe. Damals, vor mehr als viereinhalb Tausend Jahren!“
„Wovon sprichst du? Von einer Art Seelenwanderung?“
„Ein Versprechen auf der Insel des Atlas. Bei Göttern, an die ich zu jener Zeit schon nicht geglaubt habe, aber in diesem Moment sehnsüchtig glauben wollte. Die große Vulkaninsel nördlich von Keftiu. Wir lebten im Schatten dieses Vulkans, in der Stadt des Herrschers, des Tantalos. Seine Stadt hieß nach ihm Tantalis, die Aithiopier nannten sie und oft das ganze Eiland Atlantis. Für die damalige Zeit eine schier unglaubliche Insel. Wir aber waren nicht reich, nichts Besonderes. Du, die Einwanderin aus Keftiu und ich, der Sohn eines einfachen Fischers. Wir kannten uns vom Markt her, wo ich die Früchte des Meeres verkaufte. Du warst die Dienerin eines bedeutenden Handelsvertreters aus Keftiu, heute würde man wohl Botschafter sagen. Schon beim ersten Mal funkte es. Das exotische Mädchen mit der zierlichen Gestalt und den schwarzen Mandelaugen. Du hattest lange Haare, wie der Nachthimmel, so dunkel. Leicht gewellt, außer bei den Schläfen. Dort waren sie dicht geringelt. Dein Lächeln hat einen Tollpatsch aus mir gemacht, aber du hast mich dennoch nie ausgelacht.“ Er zögerte, verharrte eine Zeit lang in seinen Erinnerungen. „Irgendwann brachte ich den Mut auf, dich anzusprechen. Dir nicht nur mitzuteilen, wie teuer dieser Fisch oder jener Krake ist, sondern dich um eine Verabredung zu bitten. Zum Glück war dein Herr nicht sehr streng, so habe ich öfter vor dem mehrstöckigen Haus auf dich gewartet und wir sind dann durch die reichen Felder der Insel gewandert, durch Wälder oder einfach den Strand entlang.“
Kathi lauschte gebannt der Geschichte, die sie für einen Ausbund der Phantasie hielt, die sie aber trotzdem fesselte und von ihren wenig rosigen Zukunftsaussichten ablenkte. Außerdem: solange er erzählte, würde er sie nicht umbringen. Deshalb fragte sie: „Was ist dann passiert?“
„Wir wussten um die Gefahr! Wussten, das unterhalb der Insel die Esse des Hephaistos lag, des Schmieds der Götter und der obersten Gottheit der Einwohner von Tantalis. Nicht einmal Poseidon, der eigentlich unser Pantheon anführte, war uns so heilig! Aber es war uns auch bekannt, dass einer der Titanen seine Ruhestatt in den Höhlen tief unter dem Berg hatte. Und dieser Titan mit den vielen feurigen Köpfen erwachte!“ Der Fremde, der sich Mentor nannte, wirkte abwesend, als wäre seine Seele zurückgekehrt in längst vergangene Zeiten. Einen Augenblick lang war sie bereit, ihm zuzutrauen, er könne wirklich in den Äonen wandern. Aber dann wurde ihr wieder klar, dass er ein gefährlicher Irrer war.
„Du hättest fliehen können. Dein Herr hatte eine wundervolle, reich ausgestattete Barke und ist damit rechtzeitig nach Keftiu zurückgekehrt. Du hast mir erzählt, es wäre kein Platz mehr für dich gewesen, aber das habe ich dir schon damals nicht geglaubt. In diesen Tagen entbrannten wir in Liebe und haben uns erkannt. Nur wir haben gezählt, unsere Liebe schien uns unbesiegbar zu machen!“ Abermals verharrte er kurz in Erinnerungen. Dann fuhr er fort: „Erdstöße hatte es die ganze Zeit über schon gegeben, manchmal regnete es Bimssteine, aber jetzt folgte ein Erdbeben, das einen Teil der Insel vollständig verwüstete. Häuser sind eingestürzt. Schließlich haben wir erkannt, dass es allerhöchste Zeit ist zu fliehen. Aber wir hatten nur mehr ein kleines Boot zur Verfügung, alle größeren Schiffe waren bereits ausgelaufen, viele waren auch von Menschen in Panik gestohlen worden. Als wir einige Meilen vor der Insel waren, regte sich der Titan und schickte uns seinen Atem entgegen. Da wussten wir um unser Ende und ich habe dir bei Hephaistos geschworen, deine Seele wiederzufinden. Das ist meine letzte Erinnerung. Dann hat uns die pyroklastische Wolke wohl umgebracht.
Seitdem ist mir das Tor der Geburt versperrt, das alle Erinnerungen löscht. So reise ich von einem aufgegebenen Körper zum nächsten, immer auf der Suche nach dir.“
Leise sagte sie: „Ich glaube nicht an Seelenwanderung.“
Er lachte. „Ich weiß. Das tust du nie! Deswegen erzähle ich dir normalerweise auch nichts davon. Aber diesmal liegen die Dinge anders! Diesmal ist es wichtig, dass du es weißt!“ Offenbar hatte er erneut heftige Schmerzen, er hielt sich den Kopf so fest als wollte er ihn zerquetschen, sein ganzer Körper krümmte sich. Dann schrie er: „Flieh! Lauf! Lauf weg!“
Nur kurz zögerte sie, dann rannte sie barfuß hinaus in die Nacht.
***
Was für ein Spaß! Das Flittchen glaubte wirklich, es könne ihm entkommen! Gut, sein Rücken schmerzte und sein Kopf pulsierte im Rhythmus seines Herzens, aber er war ausgeruht und satt. Kaum war sie an der Ausgangstüre des kleinen Hauses, folgte er ihr schon. Das Biest war schnell wie eine Gazelle. Aber er holte auf als sie das Gartentor öffnen musste. Dann rannte er hinter ihr her, in einem Abstand, der ihm erlaubte sie zu sehen, trotz Nebel und Dunkelheit. Wie sinnlos ihre Flucht doch war. Er lachte sie aus. Aber dann war sie plötzlich weg! Das Luder arbeitete mit Tricks! Rasch war er an der Stelle, wo er sie das letzte Mal gesehen hatte und erkannte, dass sie einem schmalen, bergab führenden Pfad gefolgt war. Da sah er sie auch schon wieder. Sie hatte keine Chance. Sie würde ebenso durch diesen Körper ihr Ende finden, wie die anderen beiden Schlampen, die er manchmal in seiner Erinnerung sah. Er lachte abermals.
***
Sie blickte nicht zurück, selbst als sie sein grässliches Lachen vernahm, dazu hatte sie keine Muße, aber dass sie ihn die ganze Zeit hörte, war schrecklich. Er war fürchterlich nahe. Wenn sie weiterhin der Waldstraße folgte, hätte er sie bald eingeholt, obwohl sie lief wie noch nie! Ihr einziger Vorteil war ihre Ortskenntnis. Da vorne war ein schmaler Pfad und jede Wurzel und jede Unebenheit war ihr bekannt. Hier sollte sie in Dunkelheit und Nebel schneller vorankommen als er. Sie bog ab und folgte dem Weg mehr aus dem Gedächtnis als nach dem, was sie sah. Dass ihre Rechnung zunächst einmal aufging, merkte sie als er begann, lästerlich zu fluchen. Fast hätte sie gelacht, aber der Atem fehlte ihr. Offenbar war er über eine Wurzel gestolpert und der Abstand zwischen ihnen wurde größer. Das war auch dringend nötig, denn ihr ging bereits die Luft aus, ihr Atem begann unregelmäßig zu werden. Bald keuchte sie. In dem Tempo konnte sie nicht mehr weiter. Und dann erkannte sie schlagartig, dass sie einen Fehler gemacht hatte, denn der Pfad, den sie gewählt hatte, führte nur auf den Abhang des alten Steinbruchs zu und dort ging es fünfzehn Meter senkrecht bergab. Sie könnte sich höchstens verstecken, aber dazu war er immer noch zu nahe. Sie blickte sich kurz um. Er hatte bereits wieder aufgeholt. So lief sie weiter und kümmerte sich nicht um die Fichtenzweige, die ihr Gesicht peitschten.
Bald wurden die Bäume niedriger und weniger dicht; die letzten zwanzig Meter bis zum Abgrund wuchs nur mehr eine Mischung aus spärlichem Heidelbeergebüsch, Heidekraut und harten, schmalblättrigen Gräsern. Hier hatte sie keinen Sichtschutz und es gab keine Möglichkeit mehr, sich zu verstecken. Spitze Steine bohrten sich in ihre nackten Fußsohlen. Etwa drei Meter vor dem Abgrund befand sich eine jämmerliche Absperrung aus dünnen Fichtenstämmen, vielleicht von ehemaligen Christbäumen, die in etwa vierzig Zentimeter Höhe an senkrechte Pfosten genagelt waren. Man konnte ohne Schwierigkeiten darüber steigen, wenn man wollte. Natürlich war da auch ein Schild, das Wanderer vor dem Abgrund warnte. Nicht nur Wanderer sondern auch Mörder. Also auch ihn.
Linker Hand ging der Pfad weiter, immer den Abhang entlang, aber sie wusste, dass sie verloren hatte. Sie drehte sich nach Atem ringend um, damit sie ihrem Tod ins Auge sehen konnte. Da war er auch schon, löste sich als düsterer, bedrohlicher Schatten von der Silhouette des Waldes. Er grinste sardonisch, blickte auf das Schild, nicht auf sie. Aber auch er atmete schwer, dieser kleine Triumph blieb ihr wenigstens. „Du läufst verdammt schnell, kleines Flittchen!“
Erschöpft beugte sie sich nach vorne, stützte sich mit einer Hand am Knie ab und zeigte mit der anderen auf ihn. Zwischen tiefen Atemzügen sagte sie: „Das 'Flittchen' nimmst du sofort zurück! Ich bin Jungfrau!“ Aber er erwiderte nichts, nicht das Naheliegende, gar nichts und in seiner Miene konnte sie ihren Tod lesen. Schnell blickte sie sich nach einem größeren Stein um, aber da war bloß Kies und Schotter. Alles was ihr blieb, war, es ihm möglichst schwer zu machen. Sie sank in die Knie und eine einsame Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel. Sollte er sie doch über die Absperrung schleifen! Sie konnte seinen Anblick, die Wut und den Hass der sich in seinem Antlitz widerspiegelte und den Wahnsinn in seinem Blick nicht mehr ertragen, schloss die Augen und mit ihrem Leben ab.
Er hatte nicht vor, es ihr leicht zu machen. Sie hörte die näherkommenden Schritte und wartete auf den grausamen Griff seiner großen Hände, während sie gegen die Übelkeit ankämpfte. Warum eigentlich, wozu noch kämpfen? Sie sank noch mehr in sich zusammen und wartete weiter. Aber niemand ergriff sie. Dann hörte sie einen dumpfen Laut, wie von einem Schlag. Sie zuckte zusammen. Danach empfand sie eine Weile nichts. Schließlich kamen die Tränen und sie weinte laut und jämmerlich. Sie wusste nicht einmal ob aus Erleichterung oder Trauer. Dann übergab sie sich, so heftig, dass sie noch weiter zusammensackte. Sie zitterte - wahrhaftig wie Espenlaub - und spürte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn, der von Angst ebenso wie von der Anstrengung herrührte.
Sie brauchte lange, um sich zu beruhigen. ‚Wie soll ich dieses Trauma jemals loswerden?‘, dachte sie verzweifelt und kläglich und erhob sich unsicher. Sie stieg über die Absperrung und näherte sich dem Rand, spähte vorsichtig über den Abgrund. Es war zu dunkel und zu nebelig, um mehr als einen Schemen erkennen zu können. Aber vielleicht war das gut so. Bestimmt sogar.
Dann ging sie zurück, sehr langsam, den Pfad, die Waldstraße zum Haus, das hell erleuchtet war, durch den Garten in ihr Feriendomizil, wo sie die Eingangstür schloss und sich im Wohnzimmer unter das Fenster kauerte. So verblieb sie und manchmal schlief sie sogar ein. Irgendwann wurde es hell. Und sie hockte immer noch an ihrem Platz, mit eng angezogenen Knien, die sie umarmte. Ein wenig später kamen sie, sie konnte hören, wie sich das Auto näherte. Sie klopften, aber sie hatte nicht die Kraft darauf zu reagieren. Sie öffneten vorsichtig die Türe.
„Hallo? Polizei! Ist jemand da?“ Es war die Stimme einer Frau. Sie kamen näher. Es waren zwei Personen, eine kleine blonde Frau, mit Haaren, die zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden waren und ein großer Mann mit sehr kurzen Haaren und mit freundlichem Gesicht. Beide in Zivil. Man konnte ihrer Mimik ansehen, dass sie bei ihrem Anblick erkannten, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
Sie seufze tief. „Er ist tot. Der Mann den Sie suchen ist tot.“ Sie fröstelte.
„Was ist passiert?“. Diesmal war es der Mann der gesprochen hatte.
Sie war völlig ausgelaugt und so klammerte sie sich an den ersten Gedanken, der ihr kam und sprach ihn auch gleich aus. „Wir haben Eierschwammerl gegessen …“
Die Polizistin blickte skeptisch auf den unabgeräumten Wohnzimmertisch, auf dem Kathis Portion gerade dabei war, sich in ein Bakterienparadies zu verwandeln und nach Entsorgung schrie. „Sind sie sicher, dass es wirklich Eierschwammerl waren?“, wollte sie wissen.
Das empörte Kathi und gab ihre ein bisschen Lebensgeist zurück. „Ich sammle doch keine giftigen Pilze! Die Eierschwammerl haben überhaupt nichts damit zu tun!“ Sie blickte die beiden finster an.
Der Mann machte daraufhin eine beschwichtigende Geste. „Vielleicht könnten sie uns sagen, wo die Leiche ist. Alles andere hat Zeit.“
Sie fuchtelte mit dem linken Arm ungefähr in die Richtung, wo sie seine sterblichen Überreste vermutete. „Beim alten Steinbruch. Den Hang hinab gestürzt.“ Der zweite Teil kam nicht mehr ganz klar heraus, sie heulte schon wieder. Nach einiger Zeit folgte noch eine Erklärung: „Er wollte mich dort runter werfen!“
Das interessierte die Polizistin, die nicht Susi genannt werden wollte: „Wie ist es ihnen gelungen zu entkommen?“
„Wie? Ich hab‘ gar nichts getan! Das war er selbst!“
„Er hat sich selbst den Hang hinunter gestürzt? Warum denn?“
Darüber dachte Kathi schon die ganze Nacht lang nach. „Ich glaube, er wollte verhindern, dass er mich hinab wirft, verstehen sie?“
Beide blickten sie entgeistert an. Offenbar nicht. Dann schauten sie sich gegenseitig ins Gesicht. Schließlich wandte sich der Polizist wieder ihr zu: „Brauchen Sie psychologische Betreuung?“
„Nein!“ Sie schrie fast. Und dann, deutlich leiser: „Mir geht es blendend! Wenn Sie ein bisschen weiter bergauf fahren, werden Sie sehen, dass linker Hand ein kleiner Pfad weggeht. Dem müssen Sie folgen. Oder Sie fahren wieder zurück und nehmen die Abzweigung zum alten Steinbruch. Dann müssen Sie weniger weit gehen.“
„Danke! Wir kommen später wieder.“ Sie drehten sich um und gingen; sie hörte noch das Auto, dann wurde es still. Ein bisschen blieb sie noch sitzen, dann hatte sie endlich genug Energie, um aufzustehen. Sie räumte den Tisch ab und in der Küche auf. Später verließ sie das Haus und setzte sich auf jenen Sessel, auf dem – wann war das gewesen? War es wirklich erst einen Tag her? – ihre Mutter gesessen hatte. Von der Veranda aus sah sie zu, wie sich der Nebel hob, Schleier für Schleier, wie in einem Tanz, um einen wunderbaren, wolkenlosen Himmel zu präsentieren.
Nach ein paar Stunden kamen sie wieder. Sie forderte sie auf sich zu setzen. Sie nannten ihr ihre Namen und zeigten einen Ausweis. Die mit dem Pferdeschwanz fragte sie, wie es ihr gehe und ob sie in der Lage wäre jetzt einen genauen Bericht abzugeben.
Ganz klein und mit schlechtem Gewissen fragte Kathi: „War er sofort tot?“ Darüber hatte sie auch nachgedacht während der letzten Nacht.
„Doch, ja“, meinte der Polizist, „Genickbruch. Er muss sich mit dem Kopf voran hinab gestürzt haben.“
„Ich habe einfach nicht den Mut besessen, zu ihm hinunter zu gehen. Ich weiß, ich hätte es tun müssen, aber es ging einfach nicht!“ Sie zog wieder die Beine an und umarmte sie.
„Warum haben Sie uns nicht verständigt?“
„Es gibt kein Telefon im Haus; ich habe kein Handy. Und es war schon zu dunkel, um noch ins Dorf zu laufen.“
Sie fragten sie, wann genau das war und noch viele andere Dinge; die Fragen stellten sie sehr behutsam. Schließlich schilderte sie alles oder doch fast alles. „Er war sehr verwirrt und glaubte offenbar, zwei Personen zu sein. Wie nennt man das? Bewusstseinsspaltung? Die eine war sehr nett!“ Sie lächelte. „Die andere gar nicht. Er hat öfter gesagt, mit seinem Hirn stimme etwas nicht. Ein Gehirntumor oder so.“
„Das können wir überprüfen, falls noch genug von seinem Gehirn übrig ist“, meinte die Blonde nicht gerade einfühlsam.
Als sie sich anschickten zu gehen, bat Kathi sie um einen Gefallen. „Könnten Sie mir Ihr Handy leihen? Ich möchte meine Schwester anrufen, sie hat gestern sicherlich die Nachrichten gesehen und macht sich vielleicht Sorgen!“ Auch diese Möglichkeit hatte sie während der Nacht in ihrem Kopf gewälzt.
Der freundliche Polizist gab ihr sein Handy und dann gingen er und seine Begleiterin so weit in den Garten, dass sie vorgeben konnten, nicht zuzuhören.
„Birgit?“
„Es ist jetzt ein bisschen ungünstig, fass dich kurz! Hat dein Anruf etwas mit den Ereignissen zu tun, die gestern in den Nachrichten waren? Wessen Handy ist das überhaupt? Du hast dir doch nicht etwa eines gekauft?“
Sie schüttelte sinnloser Weise den Kopf. „Es gehört einem Polizisten. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir gut geht. Sag das bitte auch Mama! Sie sieht sich zwar die Nachrichten normalerweise nicht an, aber für alle Fälle!“
„Heißt das, du hattest Kontakt zu dem Psychopathen? War er vielleicht sogar im Haus?“
Kathi konnte sich vorstellen, wie Birgits Phantasie Blüten trieb. „Ja schon, aber mir ist nichts passiert! Jetzt ist er tot und die Polizei ist da.“
„Du hast ihn umgebracht? Wie? Oder hat ihn die Polizei erschossen?“
„Nein, nein! Das war anders. Ich erzähl’s dir später, das dauert länger und das Handy ist ja nicht meins.“
„Oh mein Gott! Wenn du ein Handy gehabt hättest, wärest du in der Lage gewesen, Hilfe zu holen! Siehst du jetzt ein, wie wichtig das ist? Wirst du dir jetzt endlich eins kaufen?“
„Ich finde, man sollte nicht gleich überreagieren …“
„Du ziehst die Psychopathen an, wie das Aas die Fliegen! Entschuldige den Vergleich! Aber es ist so! Trotzdem ein Fortschritt. Diesmal hast du dich wenigstens nicht in ihn verliebt!“
„Ähm …“
„Nein! Sag bitte nicht, du hast! Oooh Kathi! Du bist eine Gefahr für dich selbst! Sieh dir deine Bilanz an! Wie oft warst du bis jetzt verliebt?“
„Zählt der Teddybär auch?“
„Ich bin deine Schwester! Ich weiß, dass du nie einen hattest! Darüber müssen wir noch reden, Kathi! Aber jetzt muss ich Schluss machen.“
„Okay! Vergiss nicht Mama zu benachrichtigen.“ Innerlich völlig erschöpft gab sie dem Beamten das Handy zurück und verabschiedete sich von ihnen. Nach dem Anruf ging es ihr keineswegs wie erhofft besser. Im Gegenteil, sie war nur noch mehr ausgelaugt, außerdem hatte sie ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht nach Birgits Ehekrieg gefragt hatte. War ihre Bilanz wirklich so schlimm? Ihr war eingefallen, dass sie ein Jahr lang für ihren Mathelehrer geschwärmt hatte. Sie musste unbedingt nachforschen, ob er seine Freundin umgebracht hatte oder so. Falls nicht, stünde es zwei zu eins und das wäre doch erträglich! Oder?
***
„Er hatte wirklich einen Hirntumor! Hat mir der Kommissar erzählt – er ist extra noch einmal vorbei gekommen! Inoperabel. Er hätte ihn früher oder später auf ziemlich qualvolle Weise umgebracht. Er war gar nicht wirklich böse, nur krank.“
„Es ist schön, dass du darüber hinweg gekommen bist!“
„Ja, völlig! Ich denke nicht einmal mehr jede Minute an ihn! Und außerdem war er sowieso nicht frei. Also, schon. Aber ohne Tumor hätte er ja seine Frau nicht umgebracht.“
Es war Frühling, in der Nähe blühten ein paar Marillenbäume – die Apfelbäume hingegen waren noch nicht so weit. Sie hatten sich hier, in der Buckligen Welt, bei einem Mostheurigen getroffen. Wegen des schönen Wetters – nur ein paar Schäfchenwolken zogen über den Himmel – hatten sie sich hinaus in den Sonnenschein gesetzt. Außer ihnen waren nur wenige andere Gäste auf diese Idee gekommen, denn es war trotz Sonne noch ein bisschen kalt, weshalb sie ihre Jacken angelassen hatten. Birgits Kinder zankten sich auf dem Spielplatz in der Nähe, der aus zwei Schaukeln, einer Rutsche und einer Kletterwand bestand; Sandkiste war ebenfalls vorhanden.
„Du bist wirklich erstaunlich! Dass du immer noch auf diese Weise an ihn denkst! Immerhin war er ein verrückter Mörder und du machst einen Märtyrer aus ihm!“ Diese Bemerkung stammte von Birgit.
„Ich bin eben auch nicht ganz normal. Und ich glaube wirklich, dass er nicht nur böse war sondern auch ein bisschen gut. Er hat mich ehrlich gemocht und ist deshalb in den Tod gestürzt!“ Kathis Unterlippe zitterte und ihre Augen wurden feucht.
„Lass sie in Ruhe, Birgit“, schaltete sich ihre Mutter ein, „wenn sie diese Sichtweise braucht, um mit den Ereignissen fertig zu werden … und vielleicht hat sie ja recht!“
Kathi hatte kein Trauma ausgebildet, jedenfalls wachte sie nie schweißgebadet aus einem Albtraum auf, in dem jemand versuchte, sie zu ermorden. Aber sie hatte jetzt manchmal so merkwürdige Gefühle wie Sehnsucht und – zugegeben, aber nicht gerne – sie fühlte sich jetzt gelegentlich sogar ein bisschen einsam. Am Abend vielleicht oder gleich nach dem Aufwachen.
„Eine Art Stockholm-Syndrom möglicherweise. Du glaubst ihm doch hoffentlich nicht diese Geschichte, dass er dir von Leben zu Leben nachhetzt!“, meinte Birgit, die sich von ihrer Mutter nicht aufhalten ließ.
Kathi bereute inzwischen, dass sie davon erzählt hatte, aber es war eine wirklich schöne Phantasie gewesen – das mit Atlantis hatte sie allerdings verschwiegen. Man kann auch zu weit gehen. „Natürlich nicht! Wiedergeburt ist eine ziemlich grauenvolle Vorstellung für mich. Da hat man ja gar nichts unter Kontrolle. Außerdem ist das Bewusstsein ein Produkt des Gehirns – es beginnt und endet mit ihm.“ Schließlich war sie überzeugte, angehende Wissenschaftlerin.
Es gab eine kurze Pause; Birgit war offenbar abgelenkt. Sie rückte von rechts näher an ihr Ohr. „Schau nicht nach links! Dort sitzt einer, der fixiert dich die ganze Zeit. Als wollte er dich verschlingen! Sicherlich wieder ein Psychopath!“
„Wie sieht er denn aus?“
„Geht so.“
„Eigentlich ist es ja umgekehrt. Nicht die Psychopathen stehen auf mich, sondern ich auf sie. Also ist er vielleicht ganz ungefährlich!“
„Kennst du ihn?“, wollte ihre Mutter wissen.
„Um das heraus zu finden, müsste ich hinschauen!“, flüsterte sie.
„Gut! Aber nur ganz kurz – wie zufällig!“, flüsterte Birgit zurück, die selbst unauffällig in alle möglichen Richtungen sah, nur nicht in seine.
Kathis Blick huschte zu dem Mann. Er war jung, schlank und mittelgroß – ungefähr einen halben Kopf größer als sie, soweit man das bei einem Sitzenden abschätzen konnte – blond und mit grauen Augen. „Nein, nie gesehen!“ Sie schaute noch einmal unwillkürlich ganz kurz hin und sein Lächeln griff unmittelbar an ihr Herz. Diesmal passte es zu seinem Gesicht. Schnell wandte sie sich wieder ab.
„Was tut er jetzt mit seiner Hand?“ Birgit wirkte irritiert.
Kathi sah wieder hin. Sein Handrücken zeigte nach oben, der Mittelfinger gerade nach vorne. Die Hand stand hoch aufgestellt auf den restlichen Fingern, die jetzt nach vorne wanderten, zunächst Daumen und Zeigefinger gleichzeitig, dann, alternierend, Ring- und Kleiner Finger. Kathi hatte das erst einmal jemanden machen sehen. Nun zog er die Hand zurück und ließ sie abermals nach vorne gehen, diesmal bewegte er aber gleichzeitig Daumen und Ringfinger bzw. Zeige- und Kleiner Finger. Die Hand lief auf dem rustikalen Tisch vorwärts als wäre sie ein Hund. Während er sie so bewegte, blickte ihr der Mann die ganze Zeit in die Augen und lächelte. Da konnte sie nicht mehr anders, sie musste aufstehen und hingehen und ihn fragen: „Entschuldigen Sie, wer sind sie?“
Deutsch war nicht seine Muttersprache und deshalb verschluckte er sich fast am ersten Wort. Und vielleicht war das ja auch nur der einzige Satz den er in dieser Sprache formen konnte: „Ich bin Mentor!“
Da hüpfte Kathi auf ihn los, setzte sich auf seinen Schoß, umschlang ihn mit den Armen und küsste ihn hingebungsvoll und ausdauernd. Mit dieser Reaktion hatte nicht einmal er gerechnet, denn er riss die Augen auf und es dauerte eine Weile, bis auch er sie umarmte. Kathi war jetzt glücklich und das konnte auch das Getuschel hinter ihrem Rücken nicht ändern.
„Das ist doch ein völlig Fremder für sie! Und sicherlich wieder ein Psychopath!“
„Wir müssen sie entmündigen!“
„Es ist zu ihrem eigenen Schutz!“
„Wir müssen sie einweisen lassen. In eine hübsche Klinik mit großem Garten, Wiesen und Wald! Es soll ihr an nichts fehlen!“
„Oh Gott, die Kinder schauen her! Was sollen sie nur von ihrer Tante halten?“
Nicht vollendetes Fragment
Lies bitte weiter! Von Jan Palisa sind bislang folgende Titel auf BookRix erschienen:
Tochter der Titanin I:
Die Sklavin
Die Göttin
Tochter der Titanin II:
Intermezzo: Die Rache des Heilers
Rückkehr nach Historia
Tochter der Titanin III (finale Version):
Die Büchse der Pandora
Alle Bände sind auch als Taschenbuch (neobooks, epubli) erhältlich.
Fragmente
Der Schatten der Zeit
Alitha
Das Nebelmonster
Texte: Jan Palisa
Bildmaterialien: Dagmar Tiefenbrunner
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2014
Alle Rechte vorbehalten