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Erstes Buch: Die Sklavin


PROLOG - Planet Arkeen

Blut! Man hatte sie fortgezerrt von dem Ort, von der Blutlache, aber ihre kleinen Finger waren noch immer voller Blut. Das Bild der beiden Menschen, die in ihrem Blut lagen, das Bild des Mannes und der Frau, die einmal ihre Eltern waren; es blieb in quälender Klarheit in ihrer Erinnerung, ließ sich nicht aus ihrem Geist radieren, nie mehr.
Ihre Augen waren voller Tränen, ihr Inneres gefroren; sie sah nicht das Jetzt, reagierte nicht auf die brutale Hand, die ihren Oberarm umspannte, nur schemenhaft wurde sie der schwarzen, hochgewachsenen Gestalt gewahr, menschenähnlich und doch fremd, verhasst. Die Kreatur verhandelte mit dem Mann, der sie festhielt. Das Mädchen verstand ihr Gespräch nicht, wollte es nicht verstehen.
Viele Dinge, die einmal ihrem Vater, ihrer Mutter gehört hatten, wurden von dem grotesken Zerrbild hervorgeholt und gingen nach kurzer Feilscherei in den Besitz des Mannes über, auch sie selbst. Nichts besaß sie mehr, alles nahmen sie ihr fort, das sie an ihre Eltern erinnerte; nur einen kleinen unscheinbaren Gegenstand, ein billiges Medaillon hielt sie in ihrer blutigen Hand verborgen.
Nicht viel später schleifte der Mann sie auf ein Schiff zu, das sich schlank, nadelförmig gegen den Himmel hob. Einen Augenblick lang betrachtete sie es, sah den Himmel, blickte gegen die Sonne, nicht wissend, dass sie sie für viele Jahre zum letzten Mal gesehen hatte, dass sie viele Jahre weder die Sonne dieses Planeten, noch die irgend eines anderen sehen würde.


***


Planet Ivarn
Zwei Männer befanden sich in dem prunkvollen Raum, zwei Männer, wie sie – sowohl was das Aussehen, als auch ihre innere Stimmung betraf – nicht unterschiedlicher sein konnten. Der eine – Raft AkRrovaar – stand vor dem anderen, der in einem bequemen Sessel saß und überragte ihn doch kaum. Mit seinem wallenden, roten Haar und dem langen, buschigen Bart wirkte er wie ein etwas zu kurz geratener, aber unglaublich breiter und massiger Wikinger. Tatsächlich war sein Gesicht breiter als lang; mit dichten Augenbrauen, und einer knolligen Nase und einem breiten Mund mit hochgezogenen Winkeln, der Vergnügen verriet, ebenso wie die Fältchen in den Augenwinkeln. Die Augen waren dunkel, der Blick intensiv.
Raft stammte von Romjen, einem Planeten mit eineinhalbfacher Erdgravitation. Die Menschen, die sich dort ansiedelten – vielleicht tatsächlich sehr späte Nachkommen der Wikinger – wurden von Romjen innerhalb weniger Generationen geformt: sie erhielten einen gedrungenen, aber enorm kräftigen Körperbau mit relativ kurzen, massigen Gliedmaßen, mit gewaltiger Muskulatur. Bei Raft war diese im Augenblick aber von einem äußerst unpraktischen, bei den Handgelenken mit Rüschen und Spitzen verzierten Gewand bedeckt. Hemd und Hose waren purpurn und noch zusätzlich mit verspielt wirkenden, abstrakten Mustern verunstaltet. Ein breiter Gürtel hielt die massige Gestalt zusammen und diente einer Dolchscheide als Anker. Der Dolch selbst war der einzige Teil der Kleidung, dem es an einer verspielten Note fehlte. Er war offensichtlich nach seiner abschreckenden und tödlichen Wirksamkeit gewählt.
Nicht den Dolch aber hielt der Mann in seiner breiten Hand, sondern ein Glas mit leuchtend grünem Nijem-Wein aus eigenem Anbau.
Der andere Mann war schlank und hochgewachsen, besaß blondes, leicht gewelltes, derzeit wirr durcheinander stehendes Haar, eine hohe Stirn, etwas schräg gestellte, gegenwärtig auf den anderen Mann gerichtete, graublaue Augen unter schwarzen dichten Brauen. Die Augen besaßen die bemerkenswerte Eigenschaft, sowohl an Land, als auch im Wasser gleichermaßen scharf zu sehen. Sein bartloses Gesicht war eher schmal, ebenso wie Mund und Nase. Die Hände waren feingliedrig und wiesen als Besonderheit Schwimmhäute auf, die allerdings im entspannten Zustand nicht einmal bis zur Mitte der ersten Fingerglieder reichten. Diese Eigenheit, die an den schmalen, langzehigen Füßen noch deutlicher ausgeprägt war, wies ihn als Mann vom Lagunenplaneten Wägan aus. Tjonre SoErgen, dunkel gewandet und unbewaffnet, blickte trübsinnig auf sein Gegenüber.
„Was blickst du so griesgrämig“, ließ sich die tiefe Stimme des Roten vernehmen, „nimm Dir ein Glas Nijem, Eigenproduktion, und genieß das Leben“. Der düster gekleidete blickte noch finsterer, ließ sich aber nicht zu einer Antwort herab. Raft verlor dadurch keineswegs seine gute Laune. Er grinste ihn jetzt an, bei einem so breiten Mund eine wahrlich erschreckende Mimik. „Was dir fehlt, ist eine Frau! Lass uns in die Stadt fahren zu Evwan, der hat die schönsten und willigsten Mädchen und das beste Avon-Bier, was auch nicht zu verachten ist!“
„Ich bin an Prostituierten nicht interessiert, das weißt du doch. Und von Nijem und Avon vertrage ich so wenig, dass es sich kaum lohnt, mit dem Trinken anzufangen.“ Tjonre wandte seinen Blick einer nahen Obstschüssel zu und ergriff mit beiden Händen eine kopfgroße melonenartige Frucht, die er eindringlich anstarrte. „Wenigstens empfiehlst du mir nicht eine der Töchter der benachbarten Gutsherren.“
Raft schauderte, „Brr, das lieber nicht! Dann nimm dir noch besser eine von unseren Sklavinnen! Die Dürre mit den langen braunen Haaren, wie heißt sie noch, müsste doch genau deine Kragenweite sein.“
Tjonre wusste nicht, wie sie hieß oder er wollte es bloß nicht sagen, jedenfalls antwortete er eine ganze Weile nicht. Dann bemerkte er: „Ich fange mir bestimmt nichts mit einer Sklavin an! Woher soll ich wissen, dass sie tatsächlich etwas für mich übrig hat, es bleibt ihr ja keine andere Wahl, als mir gefällig zu sein. Außerdem ist sie nicht die richtige Begleitung für einen Grübler wie mich. Sie ist sehr lebenslustig, steht zu gern im Zentrum der Aufmerksamkeit für meinen Geschmack. Nebenbei: sie ist nicht dürr. Nein, ich bleibe lieber hier, alleine“, er betonte dieses Wort, „und grüble.“
„Tjonre, du bist kein Mönch, also lebe nicht so – aber ein Narr bist du! Du verfügst Dank der Föderation über ein beachtliches Gut, bist zwar keiner der ganz großen Gutsherren, aber auch nicht gerade der kleinste, besitzt Ländereien mit beträchtlicher Nijem Anbaufläche, ein schönes Herrenhaus, dutzende Sklaven, die für dich schuften ...“
„Eben! Wozu Sklaven! Ich hasse die Sklaverei! Es gäbe Maschinen, die die Arbeit auf dem Weingut und im Keller und Haus erledigen könnten ...“
„Würden wir Maschinen konstruieren oder kaufen und sie verwenden, wären wir bald tot, das weißt du,“ entgegnete Raft, „die Herren dieses Planeten aus der Familie OrPhon liquidieren jeden, der ihnen gefährlich werden könnte und jede Maschine die komplizierter ist als elektrisches Licht oder ein automatischer Türöffner könnte vielleicht auch – in ihren Augen jedenfalls – als Waffe verwendet werden. Wer keine Technik besitzt, keine Waffen, keine Kommunikationsmittel, keine Bildung hat, kann ihnen auch nicht bedrohlich werden. Verwende Maschinen oder verhalte dich irgendwie anders, als die anderen Gutsbesitzer und deine Tarnung ist dahin! Dann kannst du dir gleich ein Schild mit der Aufschrift ‚Agent der Föderation’ umhängen.“
„Deshalb kann ich nicht einmal etwas Nützliches tun, wie z. B. bei der Nijem-Ernte selbst anpacken. Kein Gutsherr würde das tun und sich damit vor seinen Sklaven eine Blöße geben ... außerdem habe ich ja einen Statthalter, dich, der die eigentliche Arbeit macht.“
„Du scheinst nicht allzu glücklich zu sein mit deiner Tätigkeit für die Föderation. Warum hast Du dich eigentlich dafür beworben?“
Tjonre erinnerte sich an Elvinia und Franak und an den grausamsten Rausch seines Lebens so genau als wäre das Ganze erst gestern passiert.
Ein paar Lampen spendeten unerträglich grelles Licht. Er schloss seine Augen, öffnete sie aber gleich wieder, um seinen Blick auf das Glas vor ihm zu richten. Um ihn war ein Rauschen und Gemurmel, das periodisch zu einem Dröhnen anwuchs; er wusste nicht, war es in seinem Schädel oder außerhalb? Er bemühte sich, nicht darauf zu achten, genauso wenig wie auf ein monotones, eintöniges Summen, das in seinen Ohren festsaß.
Die Luft in der Spelunke, in der vor allem zweitklassiger Kelwe ausgeschenkt wurde, war zu dick zum Atmen. Der Schweiß vieler Menschen, Ausdünstungen, Rauch, der Gestank billiger Zigaretten und alkoholischer Getränke erfüllte den Raum. Hin und wieder bohrten sich ein paar Wortfetzen in sein Bewusstsein; er konnte sich nicht völlig abschotten. Kurz blickte er auf das Mädchen, das ihm gegenüber saß, Quelle der Worte, die ihn nicht interessierten. Es schien ihm, als hätte er sie noch nie gesehen. Sie hatte ein Lächeln – aufgesetzt oder aufgemalt? Aufgemalt! Viel zu viel Schminke. Ihr Mund bewegte sich, sie sagte etwas; irgendein Gebrabbel und Gestammel. Er verstand sie nicht. Ihre Finger zeigten auf eine Gestalt im Mittelpunkt des Raumes, jung, mit blonder Mähne und kurzgestutztem Bart, die – wie er wusste – stets das Zentrum des Geschehens bildete. Beim Anblick des grinsenden Mannes wurde ihm übel. Er erhob sich schwerfällig, fegte beiläufig das Glas mit dem billigen Fusel vom Tisch, wankte auf die Tür zu und stolperte hinaus. Sein Schädel schien bersten zu wollen, seine Knie wurden weich, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn; er erbrach sich.
Als er später aufstand, blickte er in die aufgehende Sonne. Er senkte die Augenlider ein wenig und sah durch die Wimpern in das rote Licht. Er genoss die wärmenden Strahlen und die sanfte Brise, die ihm den Geruch der Lagunen in die Nase wehte. Eine merkwürdige Sehnsucht überfiel ihn. Er begann zu laufen – immer schneller - auf die Lagunen zu. Dann hielt er, bückte sich herab, fuhr mit den Fingern durch das Nass, spähte auf die rote Wasserfläche, dann auf den leuchtenden Himmel, der nur langsam, nach und nach, den gewohnten türkisen Farbton annahm. Die Sonne war jetzt etwas höher gestiegen; einige ihrer Strahlen berührten den Lagunengrund. Sofort erhob sich aus der Tiefe ein vielgestaltiges Zirpen und Singen. Immer lauter wurde die See, je höher die Sonne stieg. Nahe dem Strand spielten durchsichtige, kleine, garnelenartige Tiere. Sie spielten das Spiel von Leben und Tod, das Spiel von Leben und Liebe, von Liebe und Tod. Tjonre beobachtete sie eine Weile. Einen Blick schenkte er noch dem jungen Morgen, dann zog er sich in sich zurück.
Was hielt ihn hier? Sicher, er liebte die Landschaft, das Meer, die steinigen Strände; er liebte seine Familie, aber er hatte hier keine Zukunft – so schien es ihm zumindest im Augenblick. Die Erbfolge war im wäganschen Gesetz klar geregelt; sein ältester Bruder würde die Lagunen der Familie übernehmen – er selbst würde Pflücker bleiben, ein Leben lang.
Für „sein“ Mädchen – das Mädchen aus der Bar – fühlte er keine Liebe. Ihr Körper zog ihn an, mehr war da nicht. Er hatte versucht sich einzureden, er liebe sie. Immerhin war sie hübsch, schlank, ein etwas zu strenges Gesicht, aber mit beeindruckenden Augen, langes schwarzes Haar, feste Brüste, schmale Taille. Aber manchmal, gelegentlich, wollte er nicht nur mit ihr schlafen sondern auch mit ihr reden. Da begannen die Probleme. Elvinias Lieblingsthemen kreisten ausschließlich um ihre eigene Person, sie liebte es von ihrer zukünftigen Karriere zu sprechen, der sie sich sicher fühlte und von ihrem Besitz, der einmal beträchtlich sein würde. Für ihn hatte sie seit langem nur noch Vorhaltungen übrig; er sei zu wenig ehrgeizig, nicht „entwicklungsfähig“; und sie liebte es, ihn mit anderen zu vergleichen, mit „Besseren“, beispielsweise mit jener Gestalt im Zentrum der Bar. Soweit es sie betraf war er ein Auslaufmodell, dessen war er sich nur zu deutlich bewusst. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er den Laufpass bekommen würde. Ganz offensichtlich fühlte sie sich zu Franak hingezogen. Tjonre hingegen konnte ihn nicht leiden, hielt ihn für einen Luftballon, einen aufgeblasenen Typen, dessen Selbstbewusstsein grundlos existierte und aus dem Nichts entsprang. Franak war auf jeder Party im Umkreis von fünfzig Meilen zu finden; kein Barmann der ihn nicht kannte. Franak liebte es das Publikum zu überraschen. Diesmal hatte er lauthals vermeldet, er sei als Rekrut der Patrouille aufgenommen worden, ein Privileg, das nur wenigen Jugendlichen eines Planeten zuteil wurde.
Ja, das war ein Weg. Tjonre würde sich gleich morgen – heute, denn mit dem blassen Schimmer der Morgenröte hatte der neue Tag begonnen – den Aufnahmeprüfungen stellen.
Als die Sonne hochstieg begann es heiß zu werden. Tjonre entledigte sich seiner Kleider, spannte die Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen, sprang ins kühle Nass und tauchte in die Tiefe, hinab zu jenen Kreaturen, die sie Sirenen nannten.


Tjonre hielt den Kopf mit beiden Händen als wäre er zu schwer und stöhnte auf. Als Folge einer Fehlentscheidung trauerte er nun Wärme, Sonne und Meer nach. Dann blickte er Raft gequält an und beantwortete schließlich seine Frage: „Aus dem dümmsten Grund den es gibt. Um einem Mädchen zu imponieren, an dem mir eigentlich überhaupt nichts gelegen ist! Deshalb habe ich mich dazu hinreißen lassen, die Föderations - Militäraufnahmeprüfung zu machen.“
„Es wundert mich, dass Du sie geschafft hast! Sie legen großen Wert auf Gehorsam, Teamgeist und darauf, dass man zuerst handelt und dann denkt ...“
„Hab ich nicht. Ich bin mächtig durchgerasselt. Aber sie sagten, sie brauchen mich für eine Spezialaufgabe. Wie du weißt, war ihr voriger Agent auf Ivarn ebenfalls Wäganer, du hast ja mit ihm zusammen gearbeitet. Als klar war, dass der alte Gutsherr nicht mehr allzu lange zu leben hat, suchten sie jemand, der als Verwandter und Erbe durchgehen könnte. Dafür kam aber nur jemand in Frage, der ihm in den Augen der Herrscher von Ivarn ähnlich genug ist, um keinen Verdacht zu erregen.“
„Und da hatten sie nur dich?“
„Der einzige andere Bewerber von Wägan hat beim Test ziemlich gut abgeschnitten. Um hier die Zeit abzusitzen und regelmäßig Meldung zu machen braucht man keine besondere Leuchte. Teamgeist ist auch nicht wirklich besonders wichtig. Außer mir bist du schließlich der einzige Agent der Föderation auf diesem Planeten, zumindest soweit wir wissen. Diesem Planeten, der die fundamentalen Gesetze der Föderation nicht anerkennt.“
„Ivarn ist keine schlechte Welt“, meinte Raft, „ähnlich groß wie die alte Erde, mit ähnlich großen Kontinentalmassen, einem angenehmen Klima...“
„Zu kalt! Du müsstest den Lagunenplaneten kennen! Ha! Dort herrscht ein angenehmes Klima! Man braucht nicht die ganze Zeit dicke Klamotten zu tragen, noch dazu dermaßen lächerliche.“ Er blickte auf das purpurne Gewand seines Gegenübers. „Ivarn ist eine Welt voller Grausamkeit, voller Sklaverei und Willkür, in der eine kleine Elite das Sagen hat, auf ihren Machterhalt bedacht ist und gegen die Föderation intrigiert. Sonst kümmern sie sich um nichts. Dieser Planet ist dreckig und hoffnungslos überbevölkert. Zweihundertfünfzig Millionen Menschen auf einem terraähnlichen Planeten! Hat man aus dem Beispiel der alten Erde nichts gelernt?“
„Auf der Erde sollen es aber mehr gewesen sein, vielleicht sogar eine Milliarde.“
„Eine Milliarde!“ entgegnete Tjonre, „So dumm können nicht einmal die alten Terraner gewesen sein, dass sie das zugelassen haben. Wie viele Generationen kann das ein Planet verkraften? Nirgends in der Föderation gibt es einen terraähnlichen Planeten mit mehr als 50 Millionen Menschen, weil das auf Dauer zu einer Katastrophe führt.“
„Und weil du den Planeten und deinen Job nicht leiden kannst – und wohl auch weil es seit 17 Tagen regnet - vergräbst du dich hier in der alten Bibliothek.“ Raft machte eine ausholende Geste in Richtung der archaischen Bücherregale – elektronische Medien waren nicht erlaubt und Spitzel überall, sicher auch unter den Sklaven des Gutshofs.
„Ich weiß, ich bin kein Mönch und auch nicht Hamlet“, entgegnete Tjonre immer noch die Melone anstarrend.
„Hamlet?“
„Der düstere Prinz Dänemarks, eine dramatische Figur eines Schriftstellers namens William Shakespeare, der vermutlich vor etwa viertausend Jahren auf dem Planeten Historia gelebt und gewirkt hat. Du weißt, jener Planet, auf dem man sich bemühte so zu leben wie nach der Überlieferung die Menschen auf der Erde in bestimmten historischen Epochen, bevor die Erde ausgequetscht war wie eine Zitrone. Jeder Kontinent Historias verkörperte eine andere historische Periode der Erde.“ Er balancierte die Melone auf der linken Hand und starrte sie noch intensiver an, für ihn war sie jetzt ein Totenschädel; dann rezitierte er mit viel Pathos: „Sein! ... oder nicht?“ Er blickte dem Roten in die Augen, jetzt mit ein wenig Enthusiasmus. „Ewige Worte, seit Jahrtausenden unverändert! Ich fand in den Regalen ein Buch des großen Historikers Lezart PaDorkis. Er behandelt darin die Frage, ob Shakespeare nicht auf Historia, sondern bereits früher auf der Erde gelebt haben könnte, wie einige meinen. Er kommt aber zu dem Schluss, dass das unwahrscheinlich ist, weil alle Meme, die von seinen Werken erhalten sind, sich auf Historia zurückführen lassen. Hingegen sind einige der Werke Virgim Lefters auch in Kopien erhalten, die man nicht auf Historia zurückführen kann, also dürfte dieser Schriftsteller wirklich auf der Erde gelebt haben und daher ein ‚Original‘ sein.“ Tjonre stand – fast mit Begeisterung – auf, reckte sich, runzelte die Stirn, fuhr sich mit der Rechten durchs Chaos seiner Haare, warf sich in Pose und fasste die Melone mit beiden Händen wie einen Globus. Dann zitierte er pathetisch Lefters berühmtestes Werk:

„Und wenn die Welt zugrunde geht … was kümmert’s mich?“

„Was für ein Glück!“, meinte Raft.

„Glück?“

„Dass du nicht Schauspieler geworden bist!“

Tjonre sackte in sich zusammen und setzte sich wieder. „Das sagen alle. Muss wohl stimmen.“

„Warum nimmt man nicht mit Historia Kontakt auf und fragt dort nach und klärt diese überaus bedeutsame Frage? Ob Shakespeare ein Erdling war?“, meinte Raft, wobei sein spöttelnder Tonfall keinen Zweifel daran ließ, dass er auch ohne Antwort auf die Frage ganz gut leben konnte.
„Historia will keinen Kontakt. Kommunikation mit diesem Planeten ist seit Jahrtausenden nicht mehr üblich, weil er die ethischen und gesetzlichen Grundlagen der Föderation nicht anerkennt und sogar die Koordinaten des Planeten sind seit einiger Zeit nicht mehr bekannt. Angeblich hat aber Lezart PaDorkis aufgrund alter Quellen die Lage von Historia ausfindig gemacht, er wüsste also wo der Planet zu finden ist. Leider ist PaDorkis seit vielen Jahren verschollen. Es ist nicht bekannt, ob er Historia tatsächlich besucht hat.“
„Damit wird diese wahnsinnig wichtige Frage wohl für alle Zeit unbeantwortet bleiben, wie schade“, spöttelte Raft abermals, „kein Wunder, dass Du trübsinnig wirst, wenn du dich mit derartigem Unsinn beschäftigst! Komm jetzt, lass uns aufbrechen, die Sonne scheint.“
Tatsächlich quälte sich gerade ein Sonnenstrahl durch das dicke Farbglas der Fensterseite, beleuchtete die alten Bücher und hob augenblicklich die Stimmung Tjonres, der von Wägan her verregnete Tage und bewölkten Himmel nicht gewohnt war. Er legte die Melone beiseite und stand auf. „Du hast recht, lass schon mal die Droschke anspannen, ich zieh mir nur noch schnell etwas der Mode entsprechenderes, unbequemeres an und plündere den Safe.“ Während Tjonre den Raum in Richtung seines Schlafzimmers und Ankleideraums verließ, ging Raft den düsteren Gang hin zur Küche, wo er hoffte auf Ma Handor zu treffen, eine alte Sklavin, die seit ihrer Kindheit in dem Herrenhaus diente und inzwischen zu seinem unverzichtbaren Bestandteil geworden war, indem sie den Haushalt führte. Es war aber weder sie noch irgendjemand sonst in der nach Süden gerichteten und deshalb relativ hellen Küche, folglich hinterließ er eine schriftliche Nachricht mit dem Inhalt, dass er und Tjonre die nächsten Stunden in der Stadt zu verbringen geruhten.
Er verließ das Herrenhaus und eilte zu den geräumigen Stallungen, um die Droschke bereitmachen zu lassen. Die beiden Zugtiere erinnerten – wenn man über genügend Phantasie verfügte – an die Harpyien der griechischen Mythologie, jedenfalls waren sie nach ihnen benannt. Hohe, langbeinige Kreaturen waren sie, mit spitzem Schnabel, vor dem man sich in acht nehmen musste, einem scheinbar verachtungsvollen Blick, der durch Knochenkämme über den Augen hervorgerufen wurde, und einem Nackenschild, der wie zwei große, zusammenhängende Ohren wirkte. Die Tiere besaßen außer einer derben, reich strukturierten Haut keine Körperbedeckung. Die zwei wurden von einem Sklaven vor den Wagen gespannt, Raft ergriff die an den Nackenschilden befestigten Zügel und stieg auf, wobei der Wagen bedenklich und nicht ohne knirschenden Protest zur Seite kippte – Raft war noch schwerer, als er aussah. Er schob sich in die Mitte des Zweisitzers und lenkte das Gefährt in Richtung Haupteingang, wo Tjonre bereits wartete, jetzt angetan mit einer ähnlich lächerlichen Kleidung wie Raft, die allerdings in einem dunkleren Farbton – fast schwarz – gehalten war. Der breite Leibgurt trug keine Waffe, was aber nicht bedeutete, dass Tjonre unbewaffnet war. Er hatte in der Tat ein respektables Repertoire an Waffen bei sich, auch solche, die die Herrn von Ivarn nicht tolerierten. Wer auf Ivarn unbewaffnet war, lebte nur kurz. Tjonre trug weiters eine knielange Jacke, denn es war noch recht kalt bzw. bereits angenehm warm, je nachdem, ob man in seiner oder in Rafts Haut steckte. Er sprang auf die Droschke auf, deutlich besser gelaunt, als zuletzt. Er musste sich ganz seitlich hinsetzen, denn Raft saß aus Sicherheitsgründen in der Mitte; ein Kippen des Gefährts war auf den holprigen Wegen sonst zu leicht möglich. Herrenhaus, Stallungen und Sklavenunterkünfte waren von einer trutzigen Mauer umgeben, notwendiger Schutz vor marodierenden Banden entlaufener Sklaven, Vogelfreien, die von den meisten Gutsherren erbarmungslos gejagt wurden, die ihrerseits aber im Umgang mit dem Besitz dieser Herren auch nicht gerade zimperlich waren. Der Wagen näherte sich dem großen Tor, das bei ihrem Erscheinen rasch geöffnet wurde. Sie passierten es und fuhren hinaus in eine Welt, in der die bizarre Vegetation glitzerte, spiegelte sich doch die Sonne, die sich nun endgültig gegen die grauen, aber hellrandigen Wolken durchzusetzen schien, in myriaden kleiner Tröpfchen. Der Zauber der Szenerie wurde noch durch die Nebelschwaden betont, die sich an manchen Stellen aus der Vegetation erhoben. Fast alle Landpflanzen Ivarns waren Variationen eines einzigen Themas: auf einem zentralen Stamm inserierten schraubig angeordnete Nebenstämme, die von unten nach oben immer kürzer wurden. In fraktaler Manier besaßen oftmals die Nebenstämme ihrerseits Nebenstämme zweiter Ordnung, die sich ebenfalls helikal anordneten. Tjonre und Raft kutschierten jetzt durch die mannshohen Nijempflanzen, deren faustgroße, runde Früchte bald zur Ernte anstanden. In der Vegetation Irvarns überwog generell ein rostroter Farbton, Stämme und Blätter waren so gefärbt, die Nijemfrüchte hingegen leuchteten grün, so wie auch der aus ihnen hergestellte Wein.
Neben den Nijemplantagen, die sich vom Anwesen in Richtung Stadt mehrere Meilen erstreckten, verfügte Tjonres Gut auch noch über ein großes Waldgebiet in entgegengesetzter Richtung, also nach Norden; dort lag auch ein See, den der an weite, freie Wasserflächen gewöhnte gern besuchte – und der auch ein für ihn überaus bedeutsames Geheimnis verbarg.
Der Weg zur Stadt ging Hügel abwärts, war schlammig und die Fahrrinnen tief. Der Bach der parallel zum Weg verlief, war streckenweise über die Ufer getreten und hatte sich den Weg als zusätzliches Bett erkoren. All das erschwerte die Fahrt, das Vorwärtskommen war mühselig und langsam, etwa fünf Meilen mussten zurückgelegt werden. Schließlich kam die Stadt in Sicht, die eigentlich „Neustadt“ hieß, war sie doch erst wenig mehr als einhundert Jahre alt. Ursprünglich in einer Flussschlinge gebaut, war schließlich eine chaotische Ansammlung von mehrheitlich Holzhäusern um einen großen Marktplatz entstanden. Neustadt verfügte aber auch über ein Wasserkraftwerk, Strom stand für alle Zwecke zur Verfügung, die die Herren von Ivarn akzeptierten, und für diejenigen, die genug zahlen konnten; die gemeine Bevölkerung zog daraus keinen Nutzen. Aus Stein waren nur die Bauten der Regierung, einiger reicher und adeliger Bürger, sowie die Auktionshalle, in der die Sklaven verkauft wurden, ein Theater und Evwans Taverne und Bordell, wichtigster Treffpunkt der betuchteren männlichen Einwohner und gesellschaftliches Zentrum. Raft hoffte dort nicht nur auf Zerstreuung und weibliche Gesellschaft, er erwartete hier auch auf jene Informationen zu stoßen, die für die Föderation von Bedeutung sein könnten. Letzterer Grund war auch für das Einlenken Tjonres ausschlaggebend. Neustadt hatte etwa zwanzigtausend Einwohner und galt damit als mittelgroße Stadt.
Je näher sie der Siedlung kamen, desto tiefer wurden die Fahrrinnen und desto öfter hörte Tjonre Raft variantenreich fluchen. Viel schwerere Gefährte hatten hier bereits am frühen Tag ihre Furchen gezogen. „Über den Marktplatz komme ich nicht zu Evwan, die Harpyien scheuen jetzt schon“, schnaufte er. „Wir müssen außen herum fahren.“
„Das heißt also über die Sklavengehege, du weißt, wie ungern ich dort vorbeikomme!“
„Fällt Dir ein anderer Weg ein?“
Tjonre wusste, dass es keine Alternative gab. Sie fuhren daher an der nächsten Kreuzung links ab, in einen wenig befahrenen Seitenweg am Außenrand der Stadt. Bei den Sklaven- und Bestiengehegen nahe dem Auktionshaus blieben sie schließlich stehen, die beiden stiegen ab und Raft band die Harpyien an einen metallenen Ring, der zu diesem Zweck in einem Pfosten verankert war. Zwischen den beiden Gehegen verlief ein schmaler Pfad in Richtung des kreisrunden Auktionshauses. Jedes der beiden Freigehege war von einem engmaschigen massiven inneren Metallzaun umgeben, der unter Strom stand und den zu berühren deshalb lebensgefährlich war; er sollte die Sklaven bzw. Bestien an einer Flucht hindern. Der äußere Zaun diente dem Schutz der Passanten. Er war weniger massiv, weitmaschiger und ihn zu berühren war ungefährlich. Er umgab die innere Absperrung in einem Sicherheitsabstand von etwa eineinhalb Metern.
Tjonre achtete zunächst nicht auf die Gruppe der Sklavinnen, die sich in einiger Entfernung in dem Sklavengehege befand, er wollte ja mit Sklaverei nichts zu tun haben und wandte daher absichtlich seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Aber aus dem Augenwinkel wurde er eines irisierenden, vielfarbigen Funkelns gewahr. Tjonre blickte hin zur Quelle dieses Phänomens und sah wie sich schillernde Wellen bunten Lichts über die Haare eines der Mädchen bewegten. Das Spiel der Farben wirkte verwirrend und faszinierte ihn wie seit langem nichts mehr. Es schien als hätte sich ein Regenbogen auf magische Weise im Haar der jungen Frau verfangen. Das dynamische Kaleidoskop war umso erstaunlicher, als die Haare eigentlich schwarz zu sein schienen. Das Mädchen war zart und bewegte sich leicht wie ein Falter. Tjonre erwachte erst aus seinem tranceartigen Zustand als ihn die tiefe Stimme Rafts in den Alltag zurückholte: „Siehst du die üppige Blonde? Was für ein Weib!“ In seiner Stimme klang deutliches Interesse mit. Bei näherer Betrachtung war die Szene weniger zauberhaft. Jedes Mädchen hatte ein einheitlich graues, möglichst billiges Kleid an, das nicht viel mehr war als ein Sack aus einfachstem Stoff, sie trugen weder Schmuck, noch Schuhe. Auch war zwischen der Blonden und dem Mädchen mit dem Regenbogen im Haar irgendetwas Disharmonisches im Gange. Die beiden standen sich gegenüber, vier weitere umkreisten sie in geringem Abstand und lachten höhnisch. „Bitte gib es mit zurück, bitte!“ Stimme und Haltung des zarten Mädchens verrieten eine eigenartige Mischung aus Furcht und Hoffnungslosigkeit einerseits mit dem aus reiner Verzweiflung geborenen, widervernünftigen Wunsch zu hoffen andererseits. Vielleicht war das Ganze ja doch nur ein Spiel, vielleicht konnte sie das wiedererlangen, was ihr das andere Mädchen in einem Augenblick der Unachtsamkeit weggenommen hatte. Etwas das zumindest für die Besitzerin einen unendlichen Wert zu haben schien. „Hol es dir doch!“ Die Stimme der Blonden war zuckersüß, aber es folgte ein perlendes Lachen, das nichts Gutes verhieß. Das andere Mädchen näherte sich langsam der in ihre Richtung ausgestreckten Hand. Doch kaum war sie wirklich nahe, schleuderte die Blonde den Gegenstand weit weg von ihr, er flog, gefolgt von einem verzweifelten Schrei über die Umzäunung des Geheges, fast genau vor Tjonres Füße. Während Raft weiterhin die Blonde begeistert anstarrte, hob Tjonre den Gegenstand auf, gleichzeitig ertönte für kurze Zeit ein hoher, hässlicher Ton vom Auktionshaus her. Der Gegenstand war jedenfalls nichts Wertvolles, soviel war klar, ein billiges Kettchen mit einem muschelförmigen Anhänger, offenbar eine Art Medaillon. Neugierig geworden versuchte er den Anhänger zu öffnen, was ihm binnen kurzer Zeit auch gelang. Er klappte auf und zeigte die Photographien eines Mannes und einer Frau. Die Frau war sehr schön, sah dem Mädchen ähnlich und ihr Gesicht war ebenfalls von einem schillernden Rahmen umfasst, ein Leuchten, das offenbar von ihrem Haar ausging. Der Mann hatte eine hohe Stirn und wirkte auch sonst intellektuell. Tjonre klappte das Medaillon zu und wurde seiner weiteren Umgebung wieder gewahr. Die Besitzerin des Medaillons hatte die Hände durch die Maschen des inneren Zauns gestreckt, nicht der großen Gefahr achtend, die dieser für ihre Gesundheit oder sogar für ihr Leben bedeutete. Einen Augenblick sah er in ihr Gesicht, in ihre Tränen überströmten, weit aufgerissenen Augen. Der Gesichtsausdruck verriet unsäglichen Schmerz und Hoffnungslosigkeit. Das Mädchen blickte nicht in Tjonres Augen sondern auf das Medaillon, das nun für alle Zeit verloren schien. Nie hatte irgendetwas Tjonre in seinem Inneren so sehr berührt wie dieser Anblick, deshalb zögerte er etwas zu lange. Gerade wollte er sich dem Mädchen zuwenden und ihr das Medaillon zurückgeben, als sie von jemandem brutal zurück gerissen und in Richtung Auktionshalle gestoßen wurde. Der hässliche Ton war ein Signal gewesen, das die Sklavinnen zurück rief, da die Versteigerung unmittelbar bevor stand.
Tjonre wandte sich an Raft: „Komm, gehen wir.“
„Ja, zu Evwans Taverne.“
„Nein“, erwiderte Tjonre, „zum Auktionshaus“.
„Zum Auktionshaus? Willst Du eine Sklavin kaufen? Die Blonde?“
„Nein, das andere Mädchen, das mit dem Regenbogen im Haar.“ Während er das sagte, lächelte er – dümmlich, wie Raft fand.
„Regenbogen? Da war kein Regenbogen ... warte! Da war ein Flackern. Lästig, hat mich immer davon abgelenkt mich auf die blonde Sklavin zu konzentrieren. Du meinst die, die aussieht wie ein Strich! Warum willst du gerade die kaufen? Warum willst du überhaupt eine Sklavin kaufen? Das hast du doch noch nie getan. Das hast du stets anderen überlassen. Und wenn schon warum nicht die Blonde? Von der hast du wenigstens was.“ Raft deutete mit seinen Händen ihre kurvenreiche Figur an.
Tjonre hob das Medaillon mit seiner Hand um es Raft zu zeigen, dieser blickte es entgeistert an, er hatte offenbar die ganze Szene nicht mitbekommen. „Darum geht es nicht, ich möchte ihr das hier zurückgeben.“
„Dann gib es ihr doch, dazu brauchst du sie nicht kaufen.“
„Ich möchte sichergehen, dass sie es auch behalten kann.“ Tjonre schob das Medaillon in seine Jackentasche, während Raft seinen schweren Kopf langsam schüttelte und schließlich zur Auffassung kam, dass es um Tjonres Geisteszustand nicht zum Besten stand, was irgendwie auch der Wahrheit entsprach.
„Na gut, kaufen wir eben den Strich.“
„Du kannst aber auch zu Evwans Kneipe vorgehen, wenn dir das lieber ist.“
„Nein, ich gehe mit dir, das lasse ich mir nicht entgehen.“ Sie schritten entlang der Umzäunungen zum Auktionshaus, wobei ihnen im Bestiengehege ein Rudel Smilons folgte, kleine, nicht viel mehr als ein Meter lange Säbelzahnmarder, die dank ihrer verlängerten Eckzähne Beute schlagen konnten, die wesentlich größer war, als sie selbst. Auch dem Menschen konnten sie gefährlich werden, in freier Natur jagten sie allerdings nur des Nachts. Auf Ivarn war es also nicht eben ratsam, im Freien zu übernachten.
Das Tor des Auktionshauses war weit offen, sie betraten die Halle, die im Grunde wie ein antikes Theater gestaltet war. Um den zentralen Platz waren die steinernen Sitzgelegenheiten konzentrisch und stufenförmig so angeordnet, dass sie zur Peripherie hin immer weiter anstiegen, sodass man stets einen guten Blick auf den Auktionsplatz hatte. Direkt über dem Eingang war der Bereich, in dem der stimmgewaltige Auktionator residierte. Am Eingang standen vier Bewaffnete, die verhindern sollten, dass Sklaven flohen. Vis a Vis befand sich eine zweite Tür, durch die die Sklaven und ihre Besitzer eintraten. Das Haus war gut besucht, fast ausschließlich von Männern; Tjonre und Raft setzten sich auf eine der vorderen Steinstufen, wobei sie darauf achteten, nicht die Füße eines Hintermanns im Rücken zu haben.
***
Der Sklavenhändler Arem SiVender war ein wohlbeleibter Mann mit kahlem Kopf und rundem Gesicht. Er übte seinen Beruf durch die Gnade der Herren dieses Planeten aus. Er hatte genehmigten Zugang zum einzigen Raumhafen, sodass er seinen Kunden auch die begehrten Exoten verkaufen konnte, ein Privileg, das nur wenigen anderen Sklavenhändlern zustand. Seine meist reichen Kunden wussten das zu schätzen, aber es kam ihn auch teuer. Privilegien musste man auf die unterschiedlichste Weise bezahlen. Arem handelte ausschließlich mit Sklaven und exotische Tierformen; gern hätte er mit seiner Ware, die einige sehr ansehnliche Stücke enthielt, eine größere Stadt heimgesucht. Aber nicht immer war man Herr seiner Entscheidungen. Ephram OrPhon hatte ihm gegenüber sehr freundlich den Wunsch geäußert, er möge sein Sortiment diesmal genau hier verkaufen; es wäre sehr unklug und ungesund von ihm gewesen, einem Mitglied der Familie OrPhon einen Wunsch abzuschlagen, gleichgültig wie freundlich er geäußert wurde. Unter seinen Sklavinnen war ein Todesengel und dieser musste an der richtigen Stelle platziert werden, genaueres wusste er nicht und er wollte es auch nicht wissen. Was gingen ihn die Intrigen der adeligen Herrn an? Obwohl die potentielle Käuferschaft nicht erste Wahl war, erwartete er, einen guten Profit zu machen. Er betrat die Halle durch den zweiten Eingang und nach einigen nichtssagenden Begrüßungsfloskeln wies er einen Gehilfen an, die erste Sklavin herein zuschicken. Sie kam näher und blieb neben ihm, im Zentrum der Halle, stehen. Es handelte sich um jene Frau, von der er sich den größten Gewinn erwartete; sie sollte die Kauffreudigkeit seines Publikums anheizen. Das Mädchen hatte lange, blonde Haare, ein schönes Gesicht, das so geschminkt war, dass man die großen, verheißungsvollen Lippen bis in die letzte Reihe knallrot leuchten sehen konnte, auch die Augenbrauen waren betont. Sie verfügte über einen üppigen, wohl geformten Körper, den Arem wortreich pries, obwohl das Publikum ihn noch nicht sehen konnte, noch war er hinter dem sackartigen Kleid verborgen. Dann kam die theatralische Enthüllung; Arem löste die Maschen, die das Kleid an den Schultern hielt und es glitt langsam an ihr herab, langsam, weil das Mädchen die Arme eng am Körper hielt. Das Publikum grölte und johlte, die Sklavin lächelte – es war offensichtlich, dass sie die Zurschaustellung genoss. Sie wiegte und bog sich wie eine Schlange, führte die Hände von ihren Brüsten über die Taille ihren Körper entlang und blickte dabei verheißungsvoll hinter einer goldenen Locke hervor. Das Publikum kochte inzwischen, Arem jubelte innerlich, als die Angebote immer höher kletterten; jetzt bot sogar Evwam mit und er wusste was er tat, das war auch dem restlichen Publikum klar. Also stiegen die Angebote nochmals höher, der Auktionator kam kaum noch nach, schließlich endete die Auktion bei einem recht respektablen Betrag; das Mädchen ging an Evwam. Sie zog ihr Kleid hoch und verschwand in Richtung Eingang.
Mit dem nächsten Mädchen hatte er von Beginn an Schwierigkeiten gehabt. Ihre Haare waren interessant; die Farbreflexphänomene, die durch mikroskopische Strukturen an der Haaroberfläche verursacht wurden, sollten eigentlich betuchte Käufer anlocken. Aber seit sie bei ihm war, aß das Mädchen nicht genug und wurde magerer und magerer. Seine Versuche, sie mit der Peitsche dazu zu motivieren, mehr zu essen, hatten nicht den erwünschten Erfolg gebracht, sondern lediglich hässliche blaue Striemen auf ihrer Haut hinterlassen, die keinen guten Eindruck erweckten. Niemand zahlt gut für eine beschädigte Ware. Wie sollte er für dieses Skelett mit Haut wenigstens den Einkaufspreis zurückerhalten? Er wies seinen Gehilfen an, sie herein zuschicken. Wenn er wenigstens auf einen eindrucksvollen Auftritt gehofft hatte, wurde er bitter enttäuscht. Das sorgfältig aufgetragene Make-up war verwischt, sodass ihr an sich sehr hübsches Gesicht abschreckend aussah. In der nicht allzu hellen Halle verursachten ihre Haare nur ein mattes, wenig ansehnliches Leuchten, auch dieser Spezialeffekt brachte also nichts. Sie wirkte weder erfreut sich in Szene setzen zu können, wie die vorhergehende Sklavin, noch etwa ängstlich. Sie war schlicht völlig unbeteiligt und ihrem Schicksal gegenüber offenbar gleichgültig. Arem wusste: nichts verkauft sich schlechter. Während er seine Standardfloskeln von sich gab, wurde er immer wütender auf seinen Besitz. Er schwor sich, sollte sie sich als unverkäuflich erweisen, sie so lange auszupeitschen, bis ihr die Haut in Fetzen vom Leib hing und sie anschließend an seine Smilons zu verfüttern. Dann hatte sie wenigstens noch einen Nutzen. Jetzt enthüllte er die knochige Gestalt, die auch diese Prozedur ohne jede Reaktion über sich ergehen ließ. Hätte sie wenigstens Scham gezeigt, auch das konnte attraktiv wirken, wie er wusste; aber diese völlige Gleichgültigkeit! Der Auktionator nannte das Mindestgebot, das zu Arems Überraschung von einem hageren Mann, der an seiner Kleidung als Gutsbesitzer zu erkennen war, sofort – fast hastig – akzeptiert wurde. Ein weiterer Mann überbot ihn um einen marginalen Betrag; darauf hin verdoppelte der Gutsherr sein ursprüngliches Angebot, eine Handlung, die ein Raunen in der Halle auslöste, war sie doch für die Anwesenden unverständlich. Es kamen keine weiteren Angebote, aber Arem war zufrieden. Es schien ein guter Geschäftstag zu werden.


***


Als das Mädchen von dem Händler herein gerufen wurde, erschrak Tjonre. Sie wirkte völlig verloren. Langsam, in kleinen Schritten, bewegte sie sich in die Mitte der Halle. Sie weinte nicht mehr. Ihr Gesicht mit den weit geöffneten Augen, die ins Leere starrten, war zu einer Maske der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit erstarrt; sie hatte sich aufgegeben. Der Verlust des Medaillons musste für sie schrecklicher sein alles andere, das ihr seit langem widerfahren war und sie hatte offensichtlich in letzter Zeit immerhin große Schmerzen und Demütigung erlebt. Das wurde deutlich, als der Händler ihr Kleid fallen ließ. Tjonre erkannte wie mager das Mädchen war und nur allzu deutlich sah er die Spuren von wiederholten Misshandlungen. Es war ihm plötzlich noch wichtiger, ihr das Medaillon zurückgeben zu können. Es war ihm plötzlich wichtiger als alles andere, sie irgendwann lächeln, oder vielleicht sogar lachen sehen zu können. Als Tjonre augenblicklich auf das Mindestangebot des Auktionators einging, blickte ihn Raft nicht verstehend von der Seite her an. Als er wenig später sein Angebot verdoppelte, rollte Raft die Augenbälle und griff sich an die Stirn. Ihm war das egal. Er war nur froh, dass er genug Münzen mitgenommen hatte. Evwan sei gedankt, seine Taverne war alles andere als billig. „Ich nehme an, du gehst noch zu Evwan?“
„Klar“, antwortete Raft, „jetzt wo er die neue Sklavin hat, ist mein Interesse an seiner Taverne noch um einiges größer geworden.“ Er grinste. „Und du? Bringst du die Dünne zum Gutshof?“
„Natürlich“, antwortete Tjonre, „ich schicke Dir dann die Droschke wieder her.“ Tjonre stand auf und ging zum Eingang, wo ein vertrauenswürdiger Angestellter das Geld in Empfang nahm. Ein weiterer Bediensteter hatte inzwischen der Sklavin die Hände auf den Rücken gebunden und war gerade dabei ihr die Zwinge anzulegen, einen etwa eineinhalb Meter langen Stock, der an einem Ende eine Schlinge besaß, die um den Hals eines Sklaven gelegt wurde, um seinen Transport ohne Gegenwehr zu gewährleisten. Versuchte er zurück zu weichen, zog sich die Schlinge zu. Genauso wenig konnte sich ein Sklave abrupt nähern, da von dem Stock zwei etwa zwei Zentimeter lange Spieße ausgingen, die sich bei einer zu großen Verringerung des Abstandes in den Hals des Sklaven bohren würden. Tjonre machte eine abwehrende Geste. „Das ist nicht nötig, ich nehme sie so.“ Er ergriff das Mädchen am linken Oberarm und zog sie behutsam aus dem Auktionshaus. Er nahm aus seinem Stiefelschaft ein Klappmesser, das er öffnete. Beruhigend sagte er dabei: „Ich schneide dir die Fesseln durch“, aber sie reagierte weder auf das Messer, noch auf die Worte. Behutsam durchtrennte er die Fesseln und steckte dann das Messer wieder weg. Er nahm das Mädchen an der Hand und zog sie hinter sich her auf den schmalen Weg zwischen den Gehegen. Das Sklavengehege war jetzt leer. Im Bestiengehege folgte ihnen das Rudel Smilons, das keine Ahnung hatte um welch leckere Beute Tjonre es betrogen hatte. Schließlich erreichten sie die Droschke, Tjonre löste die Zügel von dem ehernen Ring und bedeutete dem Mädchen einzusteigen. Er folgte ihr. Sie saßen nebeneinander und Tjonre blickte ihr in die großen, dunklen Augen. Sie sah ihn nicht an. Tjonre war sich bewusst, dass sie ihn bislang wohl noch nicht richtig wahrgenommen hatte, denn bei keiner Begegnung hatte sie ihm ins Gesicht geblickt. Er wandte sich ihr zu und griff mit der Rechten in seine Jackentasche, um das Medaillon herauszuholen. „Ich möchte dir etwas geben, das dir gehört.“ Er hielt seine Hand, in der das Medaillon deutlich zu sehen war, offen vor sie hin. Sie erkannte es sofort. Zwar änderte sich ihre Mimik nicht, aber ihre Augen füllten sich abermals mit Tränen. „Du kannst es dir nehmen“, sagte er, aber sie tat nichts. Er begriff, dass sie ihm nicht traute. Dass sie sicher war er würde es wegwerfen und sie auslachen. Schließlich band er das Kettchen um ihren Hals und legte das Medaillon geöffnet in ihre Hand. Nachdem sie es staunend und ungläubig einige Zeit angesehen hatte schloss sie die Hand um ihren Besitz und ihrer Kehle entrang sich ein Schluchzen. Sie presste ihre Hand an ihren Körper und beugte sich nach vor. In dieser Haltung blieb sie während der ganzen Rückfahrt.
Die Sonne strahlte nun von einem intensiv azurblauen Himmel auf sie herab und obwohl die Fahrt größtenteils bergauf ging, mussten sich die Harpyien - befreit von Rafts Gewicht - weniger abmühen und kamen mit den oft tiefen Fahrrinnen besser zurecht. Auch bemühte sich Tjonre besonders vorsichtig und erschütterungsfrei zu fahren, stets war er sich seiner Begleiterin bewusst, obwohl er nicht mehr das Wort an sie richtete. Schließlich erreichten sie den Gutshof, das Tor war jetzt offen und innerhalb der Mauer herrschte bereits rege Aktivität. Das Mädchen und insbesondere die schillernden Farbreflexe in ihrem Haar erregten Aufmerksamkeit, der Gutsherr wurde zwar allseits begrüßt aber die Blicke seiner Bediensteten galten seiner Begleiterin. Tjonre lenkte die Tiere zum Haupteingang des Herrenhauses und winkte einem der Freien, von dem er wusste, dass er gut zu Fuß war und gern spazieren ging. „Bring die Droschke hinter die Sklavengehege, Raft ist bei Evwarn und du weißt, wie ungern er zu Fuß geht.“
„Ich nehme an, ich soll dann gleich zurückkommen?“
„Entweder das, oder Du trinkst bei Evwarn noch ein Avon auf meine Kosten und kommst dann mit Raft zurück. Wie es deine Zeit erlaubt und abgesehen davon wie du Lust und Laune hast.“ Er sprang vom Wagen, half dem Mädchen beim Absteigen, ergriff sie wieder bei der Hand und zog sie ins Haus, dabei laut und wiederholt „Maaaa, Ma Handor!“ brüllend. Die so gerufene erschien schließlich aus der Küche kommend, wobei sie nicht gerade den Eindruck erweckte, sie habe sich besonders beeilt. Sie war alt, runzelig und klein, aber offensichtlich noch sehr vital.
„Was ist denn, Hoher Herr?“ Sie verzichtete auf jede Art der Ehrenbezeugung, um klarzustellen, dass sie das mit dem „Hohen Herrn“ nicht so ganz ernst gemeint hatte. Erst jetzt wurde sie sich der Person bewusst, die Tjonre an der Hand führte: „Was ist das? Wer ist das? Himmel, Kind, bist du mager! Wie heißt Du?“
Als keine Antwort kam, reagierte Tjonre an ihrer statt: „Das werden wir schon noch herauskriegen; wichtiger ist, dass sie etwas zu Essen bekommt. Lass uns etwas in die Bibliothek bringen.“
„In die Bibliothek?“ fragte Ma Handor nach, weil dort zwar oft etwas getrunken, aber selten gegessen wurde, wenngleich dort stets ein Obstkorb mit frischen Früchten am Tisch stand.
„Genau; glaub mir, ich habe meine Gründe.“
„Die mir der Hohe Herr ohne Zweifel nicht verraten wird.“ Ma ging zurück in die Küche, während Tjonre mit seiner Begleitung dem langen, düsteren Gang zur Bibliothek folgte. Er dirigierte sie zu einem bequemen Sessel, ließ sie sich setzen und ging zum Glaskasten vis a vis der Bücherwand, öffnete ihn und holte zwei prachtvolle alte Kristallgläser hervor. Das Mädchen war inzwischen aus ihrem mentalen Schneckenhaus hervorgekrochen und beobachtete mit zunehmendem Interesse aber auch Irritiertheit die für sie völlig ungewohnte Art, wie ein Herr mit seiner Sklavin umging. Eigentlich war alles hier sehr ungewohnt und ihre Verunsicherung wuchs deshalb. Zuviel war an einem Tag geschehen und ihr wenig selbstbewusstes Wesen war davon entsetzlich überfordert. Nach einer Ruhepause, die sie herbeisehnte, hätte sie das durchaus freundliche Verhalten ihr gegenüber überaus zu schätzen gewusst, war es doch so völlig anders, als das Arem SiVenders oder jenes Mädchens, dem es so sehr Spaß gemacht hatte, sie zu peinigen. Tatsächlich war noch niemand zu ihr auch nur annähernd so nett gewesen. Dass sie das Medaillon wieder hatte, konnte sie immer noch nicht so recht begreifen.
Tjonre hingegen war durch seine für ihn so ungewöhnliche Art zu handeln aufgekratzt und fühlte sich energiegeladen und viel zu ungeduldig. Am liebsten hätte er in den nächsten Minuten ihr ganzes Leben seit ihrer Geburt von ihr erzählt bekommen und dabei als besondere Pointe das Wenige beigetragen, was er zu berichten hatte. Er ging zum schweren Tisch in der Mitte des Zimmers, auf dem neben dem Obstkorb auch noch die halbvolle Nijemflasche stand und weil er der Meinung war, Alkohol löse die Zunge, schenkte er beide Gläser voll, stellte eines davon vor seine Sklavin hin, nahm das andere in seine Rechte, um sich anschließend neben sie zu setzen. „Wie heißt du?“, wollte er wissen.
„Herr, ich heiße wie Ihr mich nennen wollt“, gab sie zur Antwort, so war sie es gewohnt, kein Herr interessierte sich wirklich für den Namen eines Sklaven. In ihr aber tauchte eine längst vergessen geglaubte Erinnerung auf: „Elri, mein kleiner Liebling, mein Schatz“, hörte sie die sanfte Stimme ihrer Mutter und fühlte, wie deren zarte Hand ihre Wange liebkoste. Sie saß auf dem Schoß ihrer Mutter, die ein langes, safrangelbes Kleid anhatte; ganz deutlich war die Vision für einen kurzen, aber wunderschönen Augenblick.
Hatte sie keinen Namen, weil sie ihr ganzes Leben lang Sklavin gewesen war? Tjonre glaubte das nicht, schon wegen des Medaillons, das in ihrem Besitz war. Wahrscheinlich hatte sie ihre Eltern noch gekannt und konnte sich vielleicht auch noch an ihren richtigen Namen erinnern. Ihm war bewusst, dass sie mit ihrer Antwort auf die Distanz zwischen ihnen aufmerksam machte, eine Barriere, die er so schnell wie möglich niederreißen wollte. Vielleicht ging es besser mit etwas Alkohol? „Wenn du durstig bist, nimm doch einen Schluck von dem Nijem Wein.“ Er grinste: „An dieser Stelle weise ich Gäste stets darauf hin, dass es sich um ein Produkt unseres Gutshofes handelt. Wir sind ziemlich stolz auf das gute Tröpfchen.“
Das scheue Mädchen nahm also das wunderbar gearbeitete Kristallglas in die Hand und führte es zum Mund. Gerade in diesem Augenblick versuchte Ma Handor - sie wollte natürlich selbst servieren, neugierig wie sie war - die Tür zum Gang mit dem Ellenbogen zu öffnen, weil sie mit beiden Händen ein Tablett hielt. Dabei rutschte sie an der Klinke aus, was ein plötzliches und für das Mädchen unerwartetes schnalzendes Geräusch verursachte. Sie erschrak heftig und ließ das Glas fallen, das auf dem Steinboden zersplitterte. Tjonre sah, wie sie zusammenzuckte, die Lider zusammenpresste und den Mund verzog, offenbar in Erwartung einer Ohrfeige. Augenblicklich war er mit Hass gegen die Sklavenhändler erfüllt. Um sie zu beruhigen, sagte er leise: „Das macht nichts, das war nur ein Glas.“
Sie blickte zu Boden: „Aber es war so ein schönes Kristallglas. Bestimmt war es teurer, als ich.“
‚Das stimmt sogar’, dachte er unwillkürlich.
Bevor er antworten konnte, mischte sich Ma Handor ein: „Tjonre, was machst du, du überforderst das arme Mädchen. Lass sie jetzt einmal in Ruhe, gib ihr Zeit sich an alles zu gewöhnen! Sie wird früher wohl kaum mit der Herrschaft gegessen haben.“ Und zu dem Mädchen gewandt, das etwa einen Kopf größer war, als sie: „Komm Kleine! Verlassen wir den bösen Mann, gehen wir in die Küche und essen dort. Und dann ruhst du dich ein bisschen aus, du bist sicher lang nicht zum Schlafen gekommen.“ Das Mädchen blickte ihn unsicher an, als er nichts sagte, folgte sie Ma Handor aus dem Raum, die munter weiterplauderte: „Du kannst mich Ma nennen, alle nennen mich so ...“
„Aber mein Essen hättest du da lassen können“, meinte Tjonre, die Tür war allerdings schon hinter den beiden zugefallen und Ma konnte ihn nicht mehr hören.
„Geduld“, dachte er, „ich muss Geduld haben ... und außerdem die Splitter wegräumen. Davor aber ...“ Er ging zur Bücherwand. Alle Bücher waren von seinem Vorgänger besorgt worden, als jenem klar wurde, dass es hier keine Geräte gab, mit denen man Meme sichtbar, hörbar oder fühlbar machen konnte, zumindest stand auf den Besitz eines derartigen Gegenstands die Todesstrafe. Viele Bücher hatte er allerdings erst kurz vor seinem Ableben besorgt, so auch das, das Tjonre jetzt suchte. Wo war noch gleich das Buch des Historikers Lezart PaDorkis? Ah ja. Er nahm es aus dem Regal, schlug es auf und musste darin blättern, denn er hatte sich die Seite nicht gemerkt. Da war sie. Das 3D-Holo zeigte das Porträt PaDorkis. Kein Zweifel, dass dies der Mann war, der auch auf dem 2D-Bild des Medaillons zu sehen war, das war ihm sofort aufgefallen, nachdem er es geöffnet hatte. War seine neue Sklavin die Tochter dieses Mannes? Was wusste sie über sein rätselhaftes Verschwinden? „Geduld“, sagte er zu sich selbst, „Geduld“.


***


Mond Itirana, Verwaltungszentrale der Föderation


Der Mann war hochgewachsen und schlank, wie alle Menschen seiner Rasse. Langes, silbernes Haar umrahmte sein spitzes, blutleeres Gesicht. Große, rote Augen betrachteten kühl die kristallenen Gänge und gläsernen Räume, durch die er langsam ging. Das Echo seiner Schritte klirrte durch die um diese Zeit menschenleeren Tunnels, eilte ihm voraus zur gewaltigen Aussichtskuppel. Der Gang fühlte die Strahlen der weit entfernten Sonne, die gerade über den Horizont stieg, färbte sich tiefrot, orange, dann gelb und grün, schließlich blau und violett und – sichtbar für die scharlachfarbenen Augen – ultraviolett.
Langsam blickte er sich um. Die Kuppel war durchsichtig: die Sonne wirkte kraftlos verglichen mit der Dunkelheit der ewigen Nacht, die sich in den gewaltigen Raum fraß. Wie festgefrorene Schneeflocken lagen Lichtpunkte verstreut auf der schwarzen Hemisphäre, manche hell und dominierend, andere schwach und unauffällig. Milliarden davon wurden in einen riesenhaften Wirbel gezogen, ein Rad mit nur zwei Speichen aus unzählbar vielen Sternen, das sich behäbig im All drehte, ohne je Widerstand zu finden. Ein gleißendes Band, einst Magellansche Wolke genannt, zog quer über das Firmament, eine Sternenstraße, die das Sternenrad – Ursprung der Menschheit – nicht berührte. Sie glich einer gewaltigen Kerzenprozession, die aus dem Nirgendwo kam und ins Nichts führte. Am Horizont entschwand sie, nahe jener Stelle wo die kleine, weit entfernte Sonne nun langsam höher stieg und sich endgültig vom Horizont löste. Unweit von ihr – und scheinbar viel größer - drehte sich der düstere Gasriese dessen besiedelter, kalter Mond Itirana war. Der Planet ragte ein wenig über die Eisberge Itiranas empor, die Turbulenzen seiner Atmosphäre färbten ihn rot, braun und grau. Wolkenmassen von gigantischen Stürmen getrieben teilten die Atmosphäre in farbige Bänder.
Der Protektor löste seinen Blick von dem phantastischen Schauspiel und wurde eines winzigen Lichtpunkts in der Mitte der Kuppel gewahr; kein herab gefallener Stern, eine gleißende, dem Anschein nach menschliche Gestalt. Als er näher kam, wandte sich das Mädchen ihm zu. Zwei rote Lichter flackerten auf, umrahmt von einem silbernen Schleier. Er hatte Achela schon aus der Ferne an ihrer irritierenden Eigenart, wenige Zentimeter über dem Boden zu schweben, erkannt. Trotz ihrer perfekten äußeren Übereinstimmung war sie kein Mensch sondern ein Avatar. Sie grüßte den Protektor durch ein angedeutetes Senken des Hauptes. Dann kniete sie sich mit seltsam emotionsloser Miene nieder; ihr langes weißes Haar streichelte sanft den blanken Boden. Er sprach zu ihr mit ruhiger, tiefer und sicherer Stimme: „Gibt es etwas Neues über den Vorfall in Sektor 13? Weiß man bereits, wer hinter dem Überfall auf den Minenplaneten Yssar steckt? Wieso hat Commander Franak den Überfall nicht gemeldet? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er tatsächlich daran beteiligt war.“
Sie antwortete auf diese Flut der Fragen mit zarter, ätherischer Stimme: „Leider lassen die Fakten nur wenig Zweifel daran, dass der Commander in den Angriff auf die Station involviert war. Die Stationsbesatzung wurde durch die Waffen der Patrouille ausgelöscht. Es ist aber denkbar – sogar ziemlich wahrscheinlich – dass er von den Piraten getäuscht wurde. Dafür spricht, dass es ihnen gelungen ist, seine Einsatzgruppe ohne Gegenwehr völlig zu eliminieren.“
„Wie hat Commander Eres eigentlich erkannt, dass Yssar sich in der Gewalt von Piraten befindet?“
„Die Station kannte den Code nicht, als er sich meldete. Sie hatten offenbar auch nicht damit gerechnet, dass die Patrouille so rasch erscheinen würde und tatsächlich war der Besuch durch Eres auch nicht vorgesehen. Sie sind Hals über Kopf geflohen und haben dabei eine Menge Spuren hinterlassen aus denen wir schließen können, dass die OrPhons Drahtzieher dieses Überfalls waren. Der übrigens recht erfolgreich für sie war. Der Verlust ist beträchtlich, praktisch die Schürfleistung eines ganzen Jahres.“
„Abgesehen davon werden die Gesellschaften kaum mehr bereit sein, ihre Leute in die Peripherie zu schicken, wenn wir sie nicht schützen können!“ Er machte eine kurze Pause, um dann das Thema zu wechseln. „Die OrPhons? Das ist doch dieser größenwahnsinnige Klan, der auf Ivarn seine Basis hat. Haben wir dort überhaupt Agenten?“, wollte der Protektor wissen.
„Nur Beobachter, die schlecht ausgebildet sind und weit weg vom eigentlichen Zentrum der Macht. Nach den Informationen, die ich über sie habe fehlen ihnen nicht nur die Ausbildung, sondern auch die Fähigkeiten, um eine aktivere Rolle zu spielen. Beide sind eher zweite Wahl, was sogar noch höflich formuliert ist. Sie befinden sich in Deltaeinstufung“, antwortete Achela. „Aber da ist noch etwas. Die Besatzung der Piraten ist für eine Weile in die Station gezogen. Und bei der überhasteten Flucht wurden Gegenstände zurückgelassen, die zwar keinen besonderen Wert haben, was vielleicht neben dem Zeitdruck erklärt, warum sie schließlich nicht mitgenommen wurden. Einer dieser Gegenstände dürfte eine Art Trophäe von einem früheren Überfall sein. Und er liefert uns erstmals einen Hinweis auf ein Geschehen, das jetzt bereits einige Jahre zurückliegt, nämlich auf das Verschwinden des Historikers Lazart PaDorkis.“
„Einen Hinweis?“ Der Protektor verstummte als hätten ihn diese beiden Worte bereits erschöpft. Eine Weile stand er da, reglos, sich an längst Vergangenes erinnernd, an Ereignisse, die nunmehr neunzehn Standardjahre zurück lagen. Erst nach einer Weile sprach er wieder. „Wie dumm von mir, ihm diesen Auftrag zu geben“, meinte er, „ich hätte erkennen müssen, wie gefährlich er ist.“
Sie beruhigte: „Wir wussten nichts von einer Gefahr.“
Fast zornig entgegnete er: „Doch! Wenn plötzlich alle Unterlagen, alle Aufzeichnungen von einem Planeten verschwinden ... aus allen Bibliotheken und Informationszentren der verschiedensten Welten, dann steckt da etwas dahinter. Wenn wir nicht mehr wissen, wie wir diesen Planeten, Historia oder Gaia, wie ihn die Einheimischen nennen, erreichen können ... dann ist da etwas faul. Da sind Mächte am Werk die für die Föderation äußerst bedrohlich sind. Aber gerade deshalb musste ich handeln. Ich musste jenen Mann auf das Problem ansetzen, der dafür am besten geeignet war und konnte keine Rücksicht darauf nehmen, dass wir befreundet sind ...“
Achela blickte ihn aus großen roten Augen an und bekräftigte ihn. „Natürlich; du hättest kaum anders handeln können. Zudem rechnete ich offen gesagt nicht mit einem Erfolg seiner Mission. Und ohne einen Erfolg wäre er nicht in Gefahr gewesen.“
„Da hast du nicht ganz recht, man muss immer mit dem Erfolg rechnen, wenn er auch noch so unwahrscheinlich erscheint“, meinte er schließlich. Und dann, zögerlich: „Aber wissen wir jetzt überhaupt, ob er den Planeten gefunden hat? Du sprachst von einem Hinweis. Welcher Art ist der?“
Das Abbild des eigenartigen Mädchens wurde rasch fahl und verschwand. An seiner Stelle erschien ein gewaltiger Stierschädel – oder vielmehr eine düstere Skulptur, die einen solchen darstellte, mit mächtigen, goldenen, weit geschwungenen Hörnern und unnatürlich großen, beeindruckenden Augen. Die Vergrößerung einer kaum mehr als faustgroßen Skulptur. „Minoisch ... oder vielmehr Historia – minoisch“, meinte der Protektor. „Stammt sie von Yssar?“
Achelas Stimme war deutlich zu vernehmen. Sie schien ihren Ursprung dort zu haben, wo der mannshohe Stierschädel schwebte. „Ja. Die Patrouille von Commander Eres fand sie in den Stationsunterkünften, die eine Weile von den Piraten bewohnt wurden. Der Stierschädel ist wohl Bestandteil der Beute eines früheren Unternehmens. Er stammt – wie du dir sicherlich denken kannst – von Historia. Leider ist nichts Genaueres darüber bekannt, wie er in die Hände der Piraten gekommen ist.“
„Und wo ist der Bezug zu Lezart?“ „Sieh selbst!“, antwortete Achela. Der Stierschädel begann sich zu drehen, sodass der Querschnitt durch den Hals sichtbar wurde. Und da stand es: „Für Lezart PaDorkis, einen sehr guten Freund“. Und als Unterschrift: „Zeus Kronion“.
Einen Augenblick war der Protektor verblüfft. Dann durchströmten ihn Genugtuung. „Dann hat er also den verlorenen Planeten gefunden: Historia. Er war erfolgreich! Aber was ist dann passiert? Wo ist er jetzt? Immerhin: dieser Fund zeigt wohl, dass er Historia nicht nur gefunden, sondern auch wieder verlassen hat. Wir müssen mehr über das Schicksal von PaDorkis herausfinden, Achela. Wie es aussieht müssen wir Ivarn in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen. Wir müssen richtige Agenten dorthin schicken.“
„Es wird eine Weile dauern, sie einzuschleusen“, entgegnete sie.
„Dann müssen wir vorerst mit dem vorlieb nehmen, was wir haben“, meinte der Protektor unzufrieden. „was haben wir also?“
„Tjonre SoErgen und Raft AkRrovaar.“


***


Ivarn


Einige Stunden später kam Ma nochmals zu ihm, er saß immer noch in der Bibliothek und las im Buch von PaDorkis, um mit ihm über die Verwendung der neuen Sklavin zu sprechen. „Wie geht es ihr?“, fragte Tjonre, wobei man seiner Stimme Besorgnis und echte Anteilnahme anmerkte.
“Sie schläft jetzt. Ich habe sie in das zweite Bett in meinem Zimmer gelegt. Ich glaube es ist das Beste, wenn wir sie dort einquartieren, es ist sowieso nichts anderes frei.“
„Sehr gut!“, antwortete er, über solche Nebensächlichkeiten wie die, dass sie einen Schlafplatz benötigte, hatte er noch gar nicht nachgedacht. Er wusste, warum er derartige Dinge Ma überließ. „Hat sie gegessen?“
„Nicht viel. Eine Suppe und ein wenig Brot, aber wir werden sie schon aufpäppeln. Wenn nötig schiebe ich ihr jeden Löffel einzeln in den Mund, wie einem Baby. Bei Ma ist noch keiner verhungert, glaub’ mir das. Das wichtigste ist jetzt, sie in Ruhe zu lassen und mit viel Freundlichkeit zu behandeln.“ Dieser Appell war offensichtlich an ihn gerichtet.
„Du hast selbstverständlich recht. Sie soll sich in aller Ruhe akklimatisieren.“
„Was hast du mit ihr vor?“, fragte Ma, „bei der Ernte der Nijemfrüchte kann sie in der Verfassung, in der sie derzeit ist jedenfalls nicht helfen. Auch die Arbeit im Keller ist für sie noch zu anstrengend. Außerdem haben wir, soweit ich weiß, ohnehin genug Arbeitskräfte. Du scheinst da anderer Meinung zu sein, sonst hättest du sie ja nicht gekauft.“
„Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was wir mit ihr tun sollen, es stimmt, dass wir genug Arbeiter haben. Ich hatte nicht geplant sie zu kaufen. Raft und ich sind den Pfad bei den Sklavengehegen entlang gegangen, als plötzlich ein Gegenstand vor meinen Füßen gelandet ist. Ein Medaillon von der Art, wie man ihn manchmal Kinder tragen sieht. Es gehört diesem Mädchen und ich wollte es ihr zurückgeben.“
„Und deshalb hast du sie gekauft?“
„Ja, deshalb. Übrigens: mach den anderen klar, dass sie ihr das Medaillon nicht wegnehmen dürfen. Am besten, niemand rührt es an. Sie reagiert in der Hinsicht sehr emotional, ich nehme an, es ist ein Erinnerungsstück an ihre Eltern.“
Sie blieben eine Weile stumm, dann meinte Ma: „Sie könnte mir natürlich mit den Kindern helfen, ich könnte Hilfe wirklich brauchen und außerdem habe ich dann ein Auge auf sie.“ Während der Nijemernte waren die meisten Frauen des Guts auf den Feldern und hatten keine Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern. Ma übernahm dann neben der Haushaltsführung auch noch während des Tages deren Betreuung, zusammen mit ein oder zwei jüngeren Sklavinnen.
„Das ist eine hervorragende Idee“, zeigte sich Tjonre zunächst begeistert. Dann aber, nachdenklich geworden, wandte er ein: „Braucht man dazu nicht Erfahrung?“
„Entweder das oder man ist ein Naturtalent. Probieren wir's aus?“ Tjonre nickte und Ma wandte sich zum Gehen.
Tjonre hielt sie zurück. „Ach noch etwas: du erwähntest vorher, dass noch keiner bei dir verhungert ist.“
Amüsiert lächelte Ma ihn aus ihrem runzeligen Gesicht an: „Ich habe mich schon gefragt, wann du darauf zu sprechen kommst. Raft ist gerade zurück gekommen. Ich habe für euch beide im Speisesaal gedeckt. Am kleinen Tisch, wie sonst auch.“
Tjonre ging also in den hellen Speisesaal, der neben der Küche gelegen war und von einem zentralen Langtisch dominiert wurde. An der Fensterseite standen ein paar kleine Tische. An einem davon saß bereits Raft auf seinem robusten, speziell verstärkten Stuhl, vor sich einen Teller mit einer gewaltigen Portion fermentierter Früchte und Fleisches verschiedener ivarnscher Wildtiere. Die grundlegende Physiologie der ivarnschen Fauna und Flora war verglichen mit der terranischen so fundamental anders – keine DNA, keine Proteine - dass nur wenige Pflanzen und gar keine Tiere vom Menschen verdaut werden konnten, ohne vorher von speziellen Mikroorganismen umgeformt zu werden. Als Ivarn zuerst besiedelt wurde, waren diese jedoch noch nicht bekannt und auch der Versuch Lebewesen von der Erde auf Ivarn heimisch werden zu lassen scheiterte größtenteils. Neben dem Menschen überdauerten nur wenige Pflanzen, darunter kurioserweise die Zitrone. Ein Zitronenbaum stand in der Eingangshalle des Herrenhauses, die grünen Blätter und gelben Früchte dienten als Zierde; die Zitronen wurden aber auch kulinarisch genutzt.
Der fremde Metabolismus der heimischen Lebensformen und die geringe Anpassungsfähigkeit der terranischen Pflanzen führten zu einer Hungersnot und waren damit die grundlegende Ursache dafür, dass die ivarnsche Gesellschaft auf präindustrielles Niveau zurücksank und der Kontakt zur Föderation verloren ging. Erst mit der Entdeckung der fermentierenden Mikroorganismen gelang es der Menschheit sich wirklich auf dem Planeten zu etablieren, aber zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine archaische Gesellschaftsform durchgesetzt, in der das Recht des Stärkeren dominierte. Eine Gruppe späterer Eroberer, Nachfahren von Gesetzlosen, die aus der Föderation ausgeschlossen waren, von denen die OrPhons die Mächtigsten waren, nutzte das aus und riss die Herrschaft über den Planeten an sich. Sie beanspruchten die Raumfahrt als Monopol für sich und sorgten dafür, dass jede technische Entwicklung im Keim erstickt wurde. Auch die Gutsherren gingen größtenteils auf spätere Siedler zurück, Abenteurer und Vertriebene aus allen Ecken der Föderation, die sich mit den Mächtigsten arrangieren mussten, wollten sie ihrerseits ihre oft grausame und fast stets absolutistische Herrschaft über andere behalten. Die OrPhons sorgten aber andererseits dafür, dass Kleinkriege zwischen den Gutsherren nicht überhand nahmen; niemand durfte so mächtig werden, dass er ihre Vormachtstellung gefährden konnte. Die Föderation interessierte sich natürlich nicht für diese Scharmützel, sondern für die Kontakte der OrPhons zu den Piraten und ihre Rolle im Handelsnetz derselben. Diese Verbindungen auszuspionieren war Aufgabe von Tjonre und Raft. Dass die beiden dabei nicht näher an der Hauptstadt Newi operieren konnten lag einerseits am Geschick der OrPhons, andererseits aber auch daran, dass die Föderation dem Planeten Ivarn nur eine geringe Bedeutung beimaß. Die OrPhons gefährdeten die Föderation nicht unmittelbar und so wurde dem Schutz der Personen und der Stetigkeit des Kontakts größere Bedeutung beigemessen als dem Erwerb von Informationen aus diesem entlegenen Eck des Universums. Das war zumindest der Kenntnisstand von Tjonre und Raft. Selbstverständlich konnten weitere Agenten der Föderation in Newi tätig sein oder etwa als verdeckte Ermittler in die Piratenschaft eingeschleust worden sein, die mit Ivarn Handel trieben und hier eine dauerhafte Operationsbasis aufgebaut hatte. Davon aber wussten die beiden nichts. Trotz der Entlegenheit war ihre Aufgabe aber nicht ungefährlich. Die OrPhons hatten sich wiederholt als ausgesprochen psychopathisch erwiesen und würden jeden Agenten der Föderation dem sie habhaft werden konnten augenblicklich ermorden.
Tjonre setzte sich zu Raft an den Tisch, in einen schmäleren Sessel und vor eine deutlich kleinere Portion, selbst sein Glas mit Avon enthielt verglichen mit dem von Raft nur eine bescheidene Menge des Getränks. Raft sah sehr zufrieden aus und schaufelte die Speisen in sich hinein. „Und? Hast du das blonde Biest getroffen?“
„Wieso Biest? Sie ist überaus niedlich und sehr kuschelig. Evwan wollte sie zunächst noch nicht herausrücken, aber für spezielle Kunden ...“
„... und bei spezieller Bezahlung ...“, ergänzte Tjonre.
„Das natürlich auch!“ Raft grinste, „Evwan ist kein Wohltäter. Jedenfalls war sie es Wert. Sie ist eine verdammt scharfe Braut, das kannst du mir glauben. Mit allen Wassern gewaschen und so erfahrungsreich, dass sogar ich noch was dazulernen kann. Aber einmal abgesehen davon könnte sie für uns auch nützlich sein.“
„Wieso das?“
„Wir haben uns danach ein bisschen unterhalten. Sie war zuletzt in einem Bordell in Newi beschäftigt mit Kunden aus den allerbesten Kreisen, auch OrPhons waren darunter, sie weiß also vermutlich einiges über deren Intrigen und Machenschaften.“
„Wieso ist sie dann bei uns gelandet?“
„Es kam wegen ihr zu Streitigkeiten zwischen zwei Kunden, an denen sie natürlich völlig unschuldig war ...“
„Sicherlich unschuldig wie ein Kind“, wandte Tjonre ein,
„... aber der Besitzer hielt es dennoch für klüger, sie so schnell wie möglich zu verkaufen.“
„Ich werde demnächst wieder Talira besuchen“, meinte Tjonre, „wenn du also bereits irgendetwas Nützliches weißt ...“
„Offensichtlich ist ein Machtkampf zwischen Ephram OrPhon und einer seiner Cousinen mit Namen Reja im Gange. Es geht natürlich um die interstellaren Handelswege, nur die bedeuten Macht. Reja wird dabei von einem Piraten unterstützt, dessen Geliebte sie ist und der sich ‚Rammbock‘ nennt. Soll ein übler Bursche sein und offenbar nicht sehr phantasievoll, wie man an seinem Namen sieht. Jedenfalls erhofft er sich von dieser Allianz einen eigenen Stützpunkt auf Ivarn. Das wiederum passt den Piraten, die mit Ephram zusammenarbeiten und die als Alteingesessene glauben Vorrechte zu besitzen, gar nicht. Sie sind der Meinung, der Rammbock solle sich entweder schleichen oder nur über ihre Vermittlung in Ivarn Handel treiben, einen eigenen Stützpunkt billigen sie ihm in jedem Fall nicht zu. Das ganze könnte sich auf einen kleinen Raumkrieg hin entwickeln, möglicherweise auch mit Konsequenzen auf Ivarn selbst. Soweit die Blonde – sie heißt übrigens Elina – gehört hat, hat der Rammbock bereits mit dem Aufbau eines Stützpunktes in der Silonischen Ebene begonnen. Die Ebene gehört zum Hoheitsgebiet von Reja, nichts desto trotz ist Ephram ziemlich ungehalten und seine Piraten toben, allen voran Tevar, genannt ,Der Schädel'.“
„Das klingt übel“, meinte Tjonre, der ähnliche Gerüchte auch schon vernommen hatte, „die Föderation muss unbedingt informiert werden. Ich verstehe nicht, warum die Föderation diese Piratennester nicht ausräuchert. Sie hätte jeden Grund dazu. Immerhin sind es Föderationisten die überfallen, beraubt und versklavt werden und das alles wäre nicht möglich, gäbe es nicht diese gesetzlosen Planeten, die ihnen zu ihrem eigenen Profit Unterschlupf gewähren.“
Raft seufzte. „Ich kann deine Empörung nachvollziehen, aber ein direkter Angriff auf einen der gesetzlosen Planeten würde alle anderen alarmieren und hätte unweigerlich zur Folge, dass sich die anderen solidarisieren und ebenfalls eine Föderation bilden, deren einziges Ziel es ist, unsere Föderation zu zerstören. Dies wäre eine notwendige Konsequenz, wie uns die Geschichte immer wieder gelehrt hat. So wie die Situation jetzt ist – die gesetzlosen Planeten können sich untereinander genauso wenig leiden, wie sie die Föderation mögen – sind wir einfach besser dran.“
„Trotzdem“, gab Tjonre seinem Unmut freien Lauf, „es ist schwer zu ertragen, dass wir immer nur zusehen und nie handeln.“
Raft gefiel sich als Stimme der Vernunft. „Selbst wenn die Föderation handelte, würde sie bestimmt nicht uns losschicken, wir sind keine Topagenten, schon vergessen? Vielleicht agiert sie sogar, so weit, wie wir vom Geschehen weg sind, würden wir das doch nicht einmal mitkriegen.“
„Du hast natürlich recht“, meinte Tjonre schließlich, „außerdem bin ich sowieso kein Held. Hier in Sicherheit zu sitzen, ist für mich das Ideale. Jedenfalls werde ich morgen zu Talira aufbrechen. Mal sehen, was sie in Erfahrung gebracht hat.“ Dieser Besuch würde unangenehm werden, aber es war immer noch am besten ihn jetzt stattfinden zu lassen, wo es auf Ivarn verhältnismäßig weniger kalt war als sonst. Der kurze ivarnische Sommer hatte begonnen. Das Gespräch verlief anschließend in eine andere Richtung, hauptsächlich pries Raft die Qualitäten von Elina, ihre üppige weibliche Figur und das aufreizende Verhalten. Tjonre mimte höflich Interesse, obwohl ihn diese Sklavin in keiner Weise ansprach, weder körperlich noch charakterlich. Den Unterschied zwischen ihrem Geschmack bezüglich weiblicher Wesen pflegte Tjonre durch ein Gleichnis zu beschreiben, bei dem es darum ging, durch eine Tür in ein Haus zu kommen. Natürlich muss man sich dem Besitzer bemerkbar machen. Wenn der Hausbesitzer feinhörig ist, genügt es, mit dem Fingerknöchel leicht gegen die Tür zu klopfen. Er wird einen hören und eventuell die Tür öffnen. Ist der Eigentümer aber schwerhörig, muss man mit einem Vorschlaghammer gegen die Tür klopfen, damit man gehört wird. In der Interpretation des Gleichnisses war Raft der Schwerhörige und es bedurfte überdeutlicher, überdimensionaler, vorschlaghammerartiger weiblicher Reize, wie etwa melonengroßer Busen, um ihn anzusprechen und sein Interesse zu wecken. Im Gegensatz dazu hielt sich Tjonre für den Feinhörigen, den weniger ausgeprägte Reize und ein in geringerem Ausmaß auf Effekt bedachtes Verhalten mehr ansprachen.


***


Der Vorfall in Sektor 13, einige Standardwochen früher


Commander Franak ToÖren wurde jählings aus seiner eitlen Selbstbetrachtung geschreckt – er stand vor dem großen Bildschirm mit Reflektorfunktion, der eine Wand seines Privatraumes ausfüllte. Der Reflektor zeigte einen hochgewachsenen, breitschultrigen Mann in der vorteilhaft geschnittenen Uniform der Föderationspatrouille mit langen, gewellten, blonden Haaren und einem dichten, hellen, gepflegten Bart – sein Spiegelbild erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit. Da erschallte der Alarm – ein grässliches, auf- und abtönendes Signal, der Bildschirm wurde kurz milchig und gewann dann wieder Tiefe, aber hinter dem Schirm war nun nicht länger ein Abbild des Raumes in dem er stand zu sehen; der Hintergrund war viel größer und mit Fenstern ausgestattet, die in eine wägansche Landschaft blickten, also fast unweigerlich einen Meeresstrand zeigten. Dort, scheinbare zwei Meter von ihm entfernt, stand ein feingliedriger, dunkelhaariger Mann – Avatar eigentlich – in einem nichtssagenden, grauen Anzug, einem Paradoxon, einer Art militärischer Zivilkleidung. Der Mann kam näher, schritt seitlich an ihm vorbei und durch die Oberfläche des Bildschirms hindurch, als ob dieser gar nicht existierte. Er blieb zur Gänze in Franaks Privatraum stehen, genau in jener Distanz, die er als angenehm empfand.
„Nun, Nadar. Was soll der Lärm?“ Franak sprach im Ton des Überlegenen, des Gebieters, obwohl der Avatar natürlich keinen militärischen Rang hatte.
„Commander SeFrin möchte Sie sprechen, Sir! Der Alarm wurde durch sie an uns weitergeschickt. Nehmen Sie das Gespräch entgegen?“
Franak wusste, dass dies lediglich eine Höflichkeitsfloskel war. Bei einem dermaßen als dringlich eingestuften Kontakt war es unmöglich abzulehnen. „Natürlich!“, antwortete er deshalb. Im Spiegelraum erschien abrupt eine kurvige, langbeinige und langhaarige Blondine, die ihn aus großen, blauen Augen mit halb niedergeschlagenen Lidern durch lange Wimpern hindurch eindringlich und selbstbewusst musterte. Sie trug eine feminine Variante seiner eigenen Uniform.
„Commander SeFrin, nehme ich an“, bemerkte Franak beeindruckt, „nun, was gibt es so Dringliches?“
„Commander ToÖren, wir empfangen einen Hilferuf“, antwortete sie mit weicher Stimme, „ein Signal aus Sektor 13. Wir sind die Patrouille, die der Quelle des Rufs am nächsten ist. Er stammt offenbar vom Minenplanet Yssar. Vor zwei Standardtagen wurde die zentrale Station von einer Schwadron eines Piraten der sich ‚Morgenstern‘ nennt, überfallen. Das erzählte zumindest die Leiterin der Station, kurz bevor der persönliche Kontakt abbrach. Nur das automatische Hilfesignal wurde noch eine Weile weitergesendet. Es ist möglich, dass es keine Überlebenden mehr gibt. Wie auch immer, dieser Planet gehört zur Föderation und es ist unsere Aufgabe ihn zu befreien!“
„Natürlich“, stimmte Franak zu, „Commander SeFrin ...“
„Araissa ...“
„Nun ... Araissa, ich helfe Ihnen selbstverständlich gerne, wenn es erforderlich ist.“
„Ist es, Commander ...“
Er zögerte nur kurz: „Franak, nennen Sie mich Franak.“
„Wir vermuten, dass sowohl das Piratenschiff, als auch die Station besetzt sind ... Franak. Wir müssen daher beide gleichzeitig angreifen, da wir die Piraten wohl kaum überraschen können. Haben Sie Erfahrung in solchen Einsätzen?“
„Doch, ja!“, log Franak, um ihr zu imponieren.
„Hervorragend!“ Sie lächelte ihm amüsiert zu. Was sie so sehr amüsierte, blieb Franak verborgen. „Dann treffen wir uns im Orbit von Yssar – in ...“, sie zögerte und blickte wohl auf einen Bildschirm, den Franak nicht sehen konnte, „...etwa zwei Tagen. Sie lächelte ihm noch einmal zu, dann war sie verschwunden. Franak starrte noch eine Weile auf den Fleck, wo vor einem Augenblick die verführerische Frau zu sehen gewesen war. Er stellte fest, dass er sich bereits darauf freute Araissa wiederzusehen und mehr noch, ihr leibhaftig zu begegnen. Dieses Treffen würde etwas Leben in den langweiligen Alltag eines Patrouillenkommandeurs bringen, so hoffte er. Auch die bevorstehende Militäraktion war erfreulich. Er war siegessicher, rechnete nicht ernsthaft mit Verlusten und zweifelte überhaupt nicht daran, dass insbesondere er ungeschoren davonkommen würde. Er war selbstbewusst und jung. Nichts konnte ihm etwas anhaben, außer Langeweile.
Franak verließ seine Kajüte und ging in Richtung Kommandoraum. Wie er wusste, würde er dort die gesamte Besatzung der „Dakmatar“ antreffen, denn in den Statuten des Patrouillendienstes war festgelegt, dass sich im Alarmfall – Alarmstufe 3: dringlicher Einsatz ohne unmittelbare Gefahr für das Schiff – die Besatzung im Kommandoraum zu sammeln hatte. Die Besatzung bestand aus acht „Mann“, von denen vier weiblich waren. Dazu kam natürlich Nadar, der Avatar, Betriebssystem des Schiffscomputers und eigentlich der Einzige, der für die Steuerung der „Dakmatar“, eines mittelgroßen Patrouillenschiffs, nötig war. Die Besatzung aus Experten diente aber nicht nur für den Notfall – der bei bewaffneten Konflikten gar nicht so unwahrscheinlich war – sondern auch für Kontakte mit Menschen, die zu vielfältig waren, um selbst von der besten Software gemeistert zu werden. Solch ein Kontakt stand nun bevor, Piraten mussten gefangen genommen oder sogar eliminiert werden, möglichst ohne dass den Minenarbeitern – so sie noch lebten – Schaden zugefügt wurde. Araissa hatte von einer Schwadron gesprochen, die Piraten würden also in der Überzahl sein.
Franak betrat die Zentrale und sieben Köpfe wandten sich ihm zu. Seine besondere Aufmerksmakeit galt Sitha, einer rassigen dunkelhaarigen Frau, die ihn anstrahlte. Sein Interesse an ihr ging über das Berufliche hinaus. Leider war sie der Auffassung, man müsse Dienst und Privates strikt trennen.
„Was gibt es?“, fragte sie.
„Einen Angriff von Piraten auf einen Minenplaneten“, antwortete er.
Ein breitschultriger, kleiner Mann neben ihr entgegnete: „Mal was Neues.“ Das war es tatsächlich, denn in den vergangenen acht Jahren hatte die „Dakmatar“ hauptsächlich interplanetare Handelsstreitigkeiten regeln müssen. Säbelrasseln hatte genügt, um die streitenden Parteien zu beruhigen. Wohl war gelegentlich Blut geflossen, aber nie waren Mitglieder der Patrouille tätlich angegriffen worden. Franaks Dienst hatte im Zentrum der Föderation begonnen und sich mehr und mehr – mit zunehmender Erfahrung - in Richtung Peripherie verlagert. Sein Team war gut, hervorragend sogar, davon war er überzeugt und würde wohl auch mit Angreifern von außerhalb der Föderation fertig werden. Trotzdem war dies eine Premiere.
„Ja“, bestätigte er, „es kann gut sein, dass uns diesmal die Raketen um die Ohren fliegen und dass wir töten müssen. Ich denke, wir sind darauf vorbereitet! Dies wird unser erster richtiger Einsatz und ich zweifle nicht am Erfolg unserer Mission.“
„Woraus besteht sie nun eigentlich?“ Die Frage stammte von Relaf dem Emeraner, dem Mann neben Sitha.
Franak wiederholte, was er wusste und das war nicht viel. „Die Details wird uns Commander SeFrin erzählen, wenn wir uns dem Orbit Yssars nähern. Wir sollten uns mit den Plänen der Bergbaustation befassen.“
„Was wird auf dem Planeten abgebaut?“, wollte eine zarte Frau mit bleicher Haut und silbrigem Haar wissen.
„Eleftrin, das für die Enigma-Interuniversalraumtechnologie wichtig ist“, antwortete Franak, „Nadar, die Pläne bitte.“ Im Zentrum des kreisrunden Raums wurde ein dreidimensionales, teilweise transparentes Modell des Gebäudekomplexes sichtbar, das von der Besatzung eifrig studiert wurde. Die Anlage war zum Glück überschaubar, das Gangsystem im zentralen Gebäude mit den Aufenthaltsräumen der Mannschaft eher einfach. Die Topologie der Umgebung war ebenfalls von Interesse, falls ein Überraschungsangriff auf die in den Gebäuden befindlichen Piraten stattfinden sollte. Viele Stunden diskutierten sie während das Schiff sie mit atemberaubender Geschwindigkeit dem Ziel näherbrachte.


***


Planet Yssar


Sie saß ihm vis a vis, wenngleich nur virtuell und lächelte ihn an. Offensichtlich war sie von seinem Charme gefangen genommen, wie so viele Frauen. Er erwiderte ihren Blick mit einem Selbstbewusstsein, das nie ins Wanken geriet. Der Tisch im Besprechungsraum war groß, neben ihm, zu seiner Rechten, saß Sitha, zu seiner Linken der hochgewachsene Relav, sein gesamtes Team auf einer Tischseite; auf der anderen nur eine Person: die goldlockige, wohlgeformte Araissa. Sie hatten sich vorgestellt und zur Kenntnis genommen, dass Araissa’s Team bei der Einsatzbesprechung nicht anwesend sein würde. Die seidenhaarige Sitha beobachtete das Funkensprühen zwischen Araissa und Franak, ließ aber keinerlei Eifersucht erkennen, was Franak etwas enttäuscht nebenbei zur Kenntnis nahm; sein Hauptinteresse galt natürlich Araissa und ... war da nicht noch etwas gewesen? Ach ja. Dem Einsatz.
Commander SeFrin hatte zu sprechen begonnen und Franak zwang sich zuzuhören. „...schlage vor, dass wir die Piratenschiffe angreifen, während Sie die Bergbaustation zurückerobern.“ Das vertraute „Du“ war nicht für die Ohren der anderen bestimmt. „Wie Sie sehen“, sie wies auf den Tisch wo ein Holo erschien, „liegt die Station im Zentrum eines Kraters. Unseren Informationen zufolge ist die ursprüngliche Besatzung von den Piraten exekutiert worden, es befinden sich also nur noch Piraten in der Station. Das ist natürlich überaus bedauerlich, vereinfacht aber die Rückeroberung.“ Sie blickte Franak an. „Wir brauchen also keine Angst zu haben, dass wir irrtümlich die Falschen erschießen.“ Ihre Miene veränderte sich, sie hob die Brauen. „Selbstverständlich müssen Sie versuchen, die Piraten gefangen zu nehmen, aber ich empfehle Ihnen nicht damit zu rechnen, dass sie es Ihnen leicht machen werden. Wenn Sie nicht zuerst schießen, dann sind sie tot. Das ist meine Erfahrung in solchen Einsätzen.“
„Na gut“, meinte Franak, der eigentlich das Gegenteil ausdrücken wollte. Die Sache gefiel ihm gar nicht. „Mit wie viel Personen müssen wir rechnen?“
Araissa wiegte ihr Haupt. „Wir rechnen damit, dass etwa die Hälfte der Belegschaft eines der Piratenschiffe in der Bergbaustation sitzt, also etwa 8 bis 10 Personen. Zwei Piratenkapitäne sind an dieser Aktion beteiligt, die sich Morgenstern und Rammbock nennen. Ein Teil der Mannschaft des Letzteren sitzt jetzt in der Station, der Rest ist entweder in den Schiffen verblieben oder aber im Lager. Die beiden Schiffe stehen also...“, das Holo zoomte vom Betrachter weg, man konnte jetzt auf ihm einen zweiten Krater in der Nähe des ersten erkennen, „hier in diesem Krater, wo sich auch das Lager befindet, das gegenwärtig geplündert wird“. Sie holte kurz Luft und blickte ihm in die Augen bevor sie weiterfuhr. Das Holo auf dem Tisch änderte abermals den Maßstab; ein dritter Krater, kleiner als die anderen beiden und von der Station aus gesehen den Schiffen gerade gegenüber liegend wurde nun sichtbar. „Dieser kleine Krater steht über einen schmalen Canyon mit dem der Station in Verbindung. Von hier aus kann sich Ihr Team unbemerkt nähern.“
„Wird man uns nicht schon bemerken, wenn wir die „Dakmatar“ landen? Oder sogar schon wenn wir uns dem Krater nähern?“, wollte Relav wissen.
„Nicht wenn Sie sich knapp über dem Boden fliegend nähern, sodass sie vom Rand des Stationskraters verdeckt werden. Alle Beobachtungs- und Ortungsgeräte sind an der Station selbst, keine außerhalb des Kraters. Das ist sehr unvorsichtig“, meinte Araissa, „geradezu dumm. Nun – sie haben dafür bezahlt.“
„Wie auch immer“, warf Franak ein, „sie werden uns jedenfalls orten, wenn wir den Krater betreten und ihr Defensivarsenal ist nicht zu unterschätzen!“
„Stimmt!“, meinte Sitha, „die Aktion ist nicht durchführbar!“
Arissa hob an zu sprechen, aber eine zierliche, rothaarige Frau – rothaarig nicht nur auf dem Kopf, sondern am ganzen Körper bedeckte sie ein zarter, rostroter Flaum – kam ihr zuvor: „Aber wir sind doch die Patrouille! Gerade für diesen Zweck haben wir ja den allgemeinen Deaktivierungscode! Wir brauchen uns nur den aktuellen schicken lassen, dann können wir ihre Verteidigung deaktivieren, ohne dass sie es gleich merken.“
„Danke Ezza!“, meinte Franak, sehr zufrieden diesmal. „Die Aktion ist durchführbar und wir werden die Station befreien! Daran sollte bitte niemand zweifeln.“ Araissa schien ebenfalls hoch erfreut. Offenbar gefiel ihr, wie sich das Gespräch entwickelte.
„Der Erfolg liegt in der Überraschung!“, ließ sich Franak vernehmen. „Wir müssen durch die Ost- und Südschleuse, greifen also von zwei Seiten an ...“
„Schleusen?“, warf Ezza ein.
„Yssar hat eine nahezu sauerstofffreie Atmosphäre – Kohlendioxid, Stickstoff und Methan, aber eben kein Sauerstoff. Belebt, aber ohne Photosynthese. Man braucht daher Schleusen“, erklärte Araissa.
„Aber das Öffnen der Schleusen werden sie wohl bemerken?“ wollte Sitha wissen.
„Schon möglich“, gab Franak zu, „bleibt zu hoffen, dass sie nicht mit Gefahr rechnen und völlig perplex sind. Araissa, wenn wir die Station zurückerobert haben, werden wir versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Kommen sie denn mit den beiden Schiffen allein zurecht?“
„Natürlich müssen auch wir auf den Überraschungseffekt setzten. Aber die meisten Piraten werden mit dem Verladen beschäftigt sein, also ...“. Araissa blickte ihn zuversichtlich an.


***


Ivarn


Am nächsten Morgen stand Tjonre früh auf, nicht so früh wie die Sonne, das tat er nie, wenn es sich vermeiden ließ. Früh eben für seine Begriffe. Er frühstückte ausgiebig auf der Veranda, die man durch den Speisesaal betreten konnte, denn der Tag begann verheißungsvoll, kein Wölkchen stand am tiefblauen Himmel. Er hatte Ma Handor über seinen Plan informiert, freilich ohne Details preiszugeben. Wie so oft, leistete ihm Ma auch heute Gesellschaft beim Frühstück. Er hatte gehofft, sie würde auch seinen Schützling mitnehmen, wurde aber enttäuscht. „Wie geht es der Kleinen?“ fragte er.
„Sie hat gut geschlafen, recht ruhig, sie schnarcht auch nicht, das ist eine angenehme Überraschung“, plauderte Ma dahin, „sie isst jetzt in der Küche ihr Frühstück; etwas später zeige ich ihr dann den Gutshof, stelle ihr die wichtigsten Leute vor, bevor sie zur Ernte aufbrechen und bringe sie dann mit den Kindern in Kontakt. Dann werden wir ja sehen ...“
„Hat sie irgendetwas von sich erzählt?“
„Nein, danach wirst du sie selber fragen müssen. Ich habe ihr gegenüber nur erwähnt, was für ein Glück es für uns ist, dass du sie gekauft hast und gemeint, was jetzt wohl wäre, wenn nicht. Da hat sie mich aus ihren großen, traurigen Augen angesehen und mit völliger Sicherheit gesagt: ,Dann wäre ich jetzt tot’. Das war alles. Sie scheint sich da absolut sicher zu sein.“
„Vielleicht hat sie recht; der Sklavenhändler schien sehr wütend auf sie zu sein ...“
„Nein“, meinte Ma, „ich glaube sie meinte etwas anderes: innerlich tot. Zuerst innerlich, dann äußerlich, also wirklich. Diese Reihenfolge hat sie gemeint.“
„Sie ist sehr schutzbedürftig“, Tjonre sah sie vor sich, wie sie durch das Gitter ihre Arme in Richtung Medaillon streckte, sah nochmals den Gesichtsausdruck absoluter Hoffnungslosigkeit. „Ma, schütze sie gut, solange ich weg bin.“ Er stand auf. „Ich werde morgen abends wiederkommen.“ Er tastete nach einem kleinen Gegenstand in seiner Jackentasche, fühlte ihn und war beruhigt. Es war eine kleine Dose, so wie für Schnupfharz; genau so sah sie äußerlich aus. Aber sie hatte ein höchst komplexes Innenleben. Er ging rasch die Stufen hinab, ja fast lief er, in Richtung Stallungen, grüßte die wenigen Leute die er unterwegs traf flüchtig, um schließlich das hölzerne Gebäude zu betreten. Er ergriff Sattel und Zügel, die an der Wand hingen und näherte sich einer der Boxen, wobei er unwillkürlich unsinnige Sätze in beruhigendem Tonfall von sich gab. Er öffnete eine Box, achtete darauf, dass er dem Schnabel der Harpyie nicht zu nah kam, benutzte dabei den Sattel wie ein Schild. Schließlich befestigte er Sattel und Zügel routiniert und führte die Harpyie aus dem Stall. Bald darauf ritt er durch das große Tor des Gutshofs, einen schmalen Pfad entlang, der sich quellwärts nahe dem Bach schlängelte. Er ritt langsam; der Zustand des Wegs ließ nichts anderes zu. Mit der Zeit wurde der Pfad immer schmäler und auch steiler, er ritt noch eine Weile durch den dunklen, schweigenden Wald, die Bäume wurden zunehmend mächtiger und dichter, sodass immer weniger Licht den Waldboden erreichte. Der Pfad wurde steiniger, die Steine immer glitschiger und schließlich immer öfter von einem moosartigen, rostfarbenen Gewächs überwuchert. Er musste absteigen und führte nun die Harpyie an den Zügeln. Auch das dunkle Wasser floss nun zusehends turbulenter, ergoss sich tosend über imposante Felsen; kaskadenartige Wasserfälle begleiteten seinen Weg. So ging es stundenlang und Tjonre war überaus froh, dass Harpyien so trittsicher waren. Dann hatten sie endlich eine Hochebene erreicht, Vorläufer eines höheren Gebirges. Der Bach floss jetzt wieder ruhiger, der Pfad war nun besser zu begehen, reiten wurde wieder möglich. Die düsteren Wälder wichen einer offeneren Landschaft mit sehr vielfältiger Vegetation. Die Sonne stand im Zenit und schickte ihre Strahlen nun wieder ungehemmt auf den Reiter herab. Tjonre legte eine Pause ein, die er dringend nötig hatte. Er war ein ausdauernder Wanderer, dennoch fühlte er sich erschöpft. Er nahm ein einfaches Mahl zu sich, während die Harpyie weidete. Dann ging es weiter; die letzten Meilen trennte sich der Pfad vom Bachverlauf. Sie kletterten einen letzten Hügel hinauf, von dem aus man den See sehen konnte. Für ihn war der Anblick einer größeren Wasserfläche wunderschön; wenn es nach ihm ginge, hätte der See ruhig größer sein können. Aber er maß nur etwa zwei Quadratmeilen. Die Seeoberfläche war sehr dunkel, fast schwarz. Einen Augenblick hielt er inne, um das phantastische und auf ihn fremd wirkende Panorama zu betrachten; die Berge im Hintergrund erschienen wie die Zähne im Gebiss eines Riesen. Die höchsten davon hatten sogar noch jetzt im Sommer einen schneebedeckten Gipfel.
Ein kurzer Ritt noch und sie befanden sich am flachen Ufer, wo eine kleine Hütte stand, die diese Nacht als Stall für die Harpyie fungieren musste. Ein Stall war notwendig, denn in den Bergen hausten Smilonrudel, für die Harpyien durchaus adäquate Beutetiere darstellten. Er stieg ab und betrachtete das Spiel der Wellen, dann die nicht allzu hohen aber doch markanten Berge, die am anderen Seeufer emporstiegen. Er genoss eine Weile die Ruhe und die Einsamkeit, die hier herrschte. Danach brachte er die Harpyie in den Stall und befreite sie vom Sattel und den Zügeln. Er entledigte sich auch aller Kleider und nahm die kleine Dose an sich. Er verließ die Hütte und ging an eine Stelle, an der das Ufer steiler abfiel. Der See war hier bemerkenswert tief. Tjonre streckte zaudernd die Zehen ins Wasser. Obwohl er natürlich damit gerechnet hatte, war die Kälteempfindung für ihn ein Schock. Es gab Dinge, an die man sich einfach nicht gewöhnen konnte, zumindest wenn man als Kind das warme wägansche Meer erlebt hatte. Bei dem Gedanken hineinzuspringen lief ihm ein kalter Schauder den Rücken hinab, er tat sich selbst sehr leid. Aber schließlich, nach einem tiefen Atemzug, sprang er trotzdem, wenig elegant allerdings. Schlagartig umgab ihn das dunkle, eisige Wasser, der Kälteeindruck verschwand; die ganze Haut begann zu brennen. Gleichzeitig begann sein Herz so intensiv zu pumpen als wollte es denn Brustkorb sprengen. Er bildete sich ein, er könne seinen Herzschlag hören. Tjonre kannte die Nebeneffekte eisig kalten Wassers auf seinen Körper, er unterzog sich nicht das erste Mal dieser Tortur. Er musste sich beeilen. Er spreizte die Schwimmhäute an Händen und Füßen und begann zügig in die Tiefe zu tauchen, solange, bis seine außergewöhnlichen Augen die Konturen eines mächtigen diskusförmigen Objekts am Boden des Sees wahrnahmen. Er berührte mit einer Hand die Kante und tauchte unter das Objekt, während er mit der anderen den Mechanismus in der Dose aktivierte. Direkt vor ihm drang plötzlich Licht in den See, eine Schleuse öffnete sich, durch die er in das Innere gelangte. Er zog sich hoch, ins Trockene, in einen kleinen, hellen Raum ohne jede Einrichtung. An der Wand befanden sich allerdings Handtücher und einige teilweise sehr merkwürdig anmutende Kleidungsstücke. Er trocknete sich ab, griff zu einem dunklen Overall, zog ihn über und wartete darauf, dass sich die Schleuse schloss und das Wasser ausgepumpt war; erst danach öffnete sich eine Tür, die ihn in einen größeren, kreisförmigen Raum eintreten ließ, der nun eine Beleuchtung aufwies, dessen spektrale Zusammensetzung eine genaue Kopie des von der Sonne Wägans ausgestrahlten Lichts darstellte. Er setzte sich auf einen der vier im Kreis stehenden Sessel und sagte leise: „Hallo Talira.“
Im Zentrum des Raumes erschien ein kleiner, aber intensiver Lichtpunkt, der sich rasch ausdehnte und die schlanke Gestalt einer ungewöhnlichen jungen Frau annahm. Sie saß im Vis a Vis Sessel und trug ein leicht wirkendes, türkises, bodenlanges Kleid ohne Ärmel, hatte eine sehr weiße Haut und goldenes, hüftlanges Haar. Ihre Iris’ waren ebenso golden wie ihr Haar und sie füllten die großen Augen vollständig aus. Die Pupillen waren senkrecht geschlitzt und ab und zu wurden sie von einer Nickhaut bedeckt, die sich vom inneren Augenwinkel nach außen schloss. Ihre Lider blieben hingegen ständig offen. Sie lächelte Tjonre mit blutroten Lippen an, wobei ihre langen, feinen, spitzen, oberen Eckzähne deutlich sichtbar wurden. Tjonre hatte Talira selbst gestaltet und war auf das Ergebnis durchaus stolz. Sie antwortete mit einer angenehmen, warmen und vollen Stimme: „Hallo Tjonre, wie geht’s?“
„Unterkühlt, schlotternd, grauenvoll eigentlich.“ Sofort wurde die Luft um Tjonre wärmer. „Und wie geht’s dir?“ fragte er.
„Sowohl die Fähre, als auch das Mutterschiff sind wohlauf“, bemerkte sie.
„Ich finde es immer noch eigenartig,“ meinte Tjonre, „ dass die Fähre mit dem Mutterschiff in quantenkryptographisch gesichertem Kontakt stehen kann, obwohl sie Millionen Kilometer trennen, das Mutterschiff mit der Zentrale Kontakt hat, die Lichtjahre voneinander entfernt sind, aber eine sichere Verbindung zwischen Fähre und Gutshof nicht möglich ist.“
„Das Problem ist eben nicht die Entfernung alleine“, erläuterte sie, „sondern vor allem die Lokalisierbarkeit und Sicherheit von Sender und Empfänger. Die dazu nötigen technischen Geräte sind nicht nur groß und deshalb auffällig, sie sind auch schwer zu transportieren und vor allem auch sehr energieintensiv. Mit welcher Energiequelle willst du sie am Gutshof betreiben? Weiters darf ihre Programmierung nicht in die falschen Hände geraten. Deswegen werden nie immobile Sender/Empfängereinheiten auf observierten Planeten installiert. Aber ich denke, dass ist dir bekannt.“
„Natürlich. Aber ich bin ein Mensch und liebe es daher, unnötige Fragen zu stellen.“
Sie lachte leise und wohlklingend. „Und ich bin der Avatar des Bordquantencomputers und eines meiner speicherintensivsten Programme beschäftigt sich ausschließlich damit, die wesentliche Information aus dem Gequassel der Menschen herauszufiltern. Schwierig kann ich dir sagen, sehr schwierig. Aber du siehst, an Bord der Fähre ist alles in Ordnung und das Mutterschiff ist in sicherem Abstand von Ivarn gut versteckt.“
„Talira“, begann Tjonre von neuem, „es haben sich einige Dinge zugetragen, die im nächsten Bericht Erwähnung finden müssen. Ich überlasse es natürlich dir zu entscheiden, ob nicht sogar eine unmittelbare Weiterleitung der Nachrichten notwendig ist.“ Er blickte in ihr Gesicht, das Interesse ausdrückte, wobei Tjonre natürlich wusste, dass sie stets alles was er sagte vollständig speicherte, unabhängig davon ob sie einen interessierten oder aber gelangweilten Gesichtsausdruck zeigte. „Einerseits droht offenbar ein Scharmützel zwischen zwei Piratengruppen, die eine steht unter der Leitung eines Piraten der sich der ‚Schädel‘ nennt und mit Ephram OrPhon kooperiert, die andere gehorcht einem ‚Rammbock‘, dem Liebhaber – oder vielleicht auch nur einem der Liebhaber – seiner Cousine Reja. Diese Information ist inzwischen mehrfach abgesichert, der Machtkampf zwischen Ephram und Reja dürfte also real sein. Es geht um eine Handelsbasis in der Silonischen Ebene für den Rammbock, was Ephram und der Schädel verhindern wollen und es ist anzunehmen, dass Ivarn in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn es tatsächlich zu einer Schlacht kommt. Kann das sein? Gibt es irgendwelche außergewöhnlichen Aktivitäten in Ivarns Orbit?“
Sie richtete sich in ihrem Sitzplatz zurecht, auch das nur Schein, da ihr Körper nur aus Licht bestand. „Das Mutterschiff nimmt tatsächlich größere Aktivitäten wahr, mehrere Schiffe, jeweils zwei getrennte Gruppen, die auf Ivarn zu halten und in wenigen Tagen hier sein werden, aber offenbar wissen sie voneinander. Einen Überraschungsangriff kann es da nicht geben und keine ist der anderen so deutlich überlegen, dass ein Angriff ohne bedeutende eigene Verluste möglich wäre. Vielleicht handelt es sich also nur um eine Art Säbelrasseln?“
„Wenn die Kontrahenten rational wären, aber das sind sie nicht“, meinte er. „Denkst du, dass die Geschehnisse hier hinreichend bedeutend für die Föderation sind, um eine Expressnachricht zu rechtfertigen?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Wen interessiert schon wirklich, was in diesem lausigen Abschnitt des Universums vor sich geht? Man geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass hier etwas passiert, das von wesentlicher Bedeutung für die Föderation ist, unter 0,1% liegt. Eine entsprechende Einstufung hat unsere Mission“.
„Äußerst motivierend“, entgegnete Tjonre, der ein Gesicht zog, als hätte er gerade in eine überaus saure Zitrone gebissen. „Was für einen Sinn hat diese Mission dann?“
„Nun die von uns gesammelten Daten dienen dazu, die Wahrscheinlichkeit zu kalkulieren, dass hier ...“
„In diesem lausigen Abschnitt des Universums ...“
„Ja, genau; etwas wichtiges passiert.“
„Glaubst du, liest eigentlich irgendjemand unsere Berichte?“, fragte Tjonre.
„Ein Mensch wahrscheinlich nicht. Aber ein Gegenstück von mir mit hoher Urteilskompetenz sicher. Möglicherweise sogar mehrere von meiner Bauart. Ich glaube, du wirst mir zustimmen, dass ich ein Modell hoher Qualität repräsentiere.“ Mit ihrer Stimme und ihrem Körper drückte sie Stolz und Selbstbewusstsein aus und simulierte so Gefühle, wichtig bei der Kommunikation mit Menschen. „Hast du sonst noch was?“
„Nichts so Bedeutendes, aber ja, hab ich noch. Es gibt da einen Historiker, Lezart PaDorkis mit Namen. Es scheint, dass er vor einiger Zeit verschollen ist. Ich denke, ich habe einen Hinweis darauf, was ihm zugestoßen sein könnte.“
Talira entblößte ihre Eckzähne. „Gratuliere, du hast deinen Expressbericht! Nachrichten über PaDorkis haben hohe Priorität.“
„Aha?“
„Ja, was genau weißt du?“
„Eigentlich nicht viel. Ein Mädchen, das auf Ivarn als Sklavin verkauft wurde, hat ein kleines Medaillon, das PaDorkis Bild zeigt. Es liegt nahe, dass das Mädchen seine Tochter ist, zumindest bedeutet ihr das Medaillon sehr viel.“
„Mhm, nicht viel, aber genug. Ich sehe zu, dass ich eine sichere Botschaft sende. Und währenddessen ... Hast du irgendeinen Wunsch?“
„Ja, die neuesten Nachrichten von Wägan. Ich bin ziemlich müde und möchte nachher gleich zu Bett gehen. Ja, Nachrichten und dann ab in die Koje.“ Wägan war einer der ruhigsten Plätze der Galaxis und so dauerten die Nachrichten nicht lange.
Nach viel zu kurzem Schlaf wurde die Koje hell und Talira erschien: „Entschuldige, dass ich dich wecke, aber in der Zentrale möchte jemand mit dir sprechen.“
Tjonre zog sich langsam und verschlafen den Overall über und bemühte sich, die Müdigkeit aus seinem Schädel zu bannen, was ihm nur teilweise gelang. „Jemand?“ fragte er währenddessen und erhielt zur Antwort:
„Jemand aus Itirana.“
Das klang wichtig. „Wer?“
„Der Protektor“, antwortete Talira. Tjonre war schlagartig wach und bewegte sich nun viel schneller, als kurz zuvor. Die Tür zur Zentrale öffnete sich automatisch beim Nähertreten. In dem zentralen Raum stand ein hochgewachsener, schlanker Mann, der Autorität ausstrahlte. Jeder in der Föderation kannte diesen Mann, der die höchste Funktion inne hatte. Jeder hatte schon ein Mem von seinem offenen aber ernsten Gesicht mit den blutroten Augen gesehen, das von silbernem, langem Haar umrahmt war. Aber dies war kein Mem, sondern eine Holovision, die tausende von Lichtjahren ohne Zeitverzögerung überwand. Der Protektor wendete sich Tjonre zu: „Entschuldigen sie Commander, dass ich ihren Schlaf unterbreche, aber mir scheint die Sache hinreichend wichtig. PaDorkis war ...“ Er berichtigte sich, „PaDorkis ist, wie ich hoffe, ein persönlicher Freund und sein Schicksal liegt mir sehr am Herzen. Es gibt auch noch andere Gründe, warum sein Fatum nicht nur für mich, sondern für die gesamte Föderation von großer Bedeutung ist, die ich ihnen aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht darlegen kann.“ Er setzte sich in einen der Sessel und bat mit einer Geste Tjonre am gegenüberliegenden Sitz ebenfalls Platz zu nehmen. Tjonre folgte der Einladung, zumal er vor lauter Verblüffung ohnehin vergessen hatte, militärische Haltung einzunehmen. „Wie mir Talira mitgeteilt hat“, begann er, „haben sie Kenntnis über das Schicksal PaDorkis’? Und sie kennen seine Tochter?“
„Nun“, antwortete Tjonre, „zweiteres ist lediglich eine Schlussfolgerung. Dass das Medaillon mit den Bildern der beiden Personen, eine davon ist PaDorkis, für sie so eine enorme Bedeutung hat, lässt als naheliegendsten Schluss zu, dass diese beiden Personen ihre Eltern waren. Sicher weiß ich das aber nicht, ich konnte mit der jungen Frau noch kein eingehenderes Gespräch führen, ihr Gesundheitszustand lässt das derzeit noch nicht zu. Sollte sie tatsächlich seine Tochter sein, folgt aus der Tatsache, dass sie als Sklavin verkauft wurde, dass ihre Eltern entweder gefangen sind oder tot. Jedenfalls kann man sicher sein, dass es den beiden nicht gut geht. Gestatten sie mir eine Frage?“
„Commander SoErgen, sie wollen mich fragen, weshalb PaDorkis für mich so wichtig ist?“ Tjonre nickte. „Einerseits deshalb, weil er ein persönlicher Freund von mir ist. Wir haben gemeinsam an der berühmtesten Universität auf Itirana studiert und uns zu dieser Zeit angefreundet. Er wollte aber im Gegensatz zu mir das bekannte Universum selbst sehen und die Geschichte der Menschheit erforschen – der Geist des Wissenschaftlers war in ihm stets sehr stark ausgeprägt. Er war auch ein Abenteurer im besten Sinne des Wortes, alles Eigenschaften, die mir fehlen. Außerdem hat er, so wie sie, als Agent der Föderation gearbeitet. So viel darf ich Ihnen erzählen, mehr wie gesagt nicht. Wie haben sie die junge Frau, die sie für seine Tochter halten getroffen?“
Tjonre erzählte noch einmal detailliert die Geschichte ihrer Begegnung, filterte aber die Tatsache heraus, dass sie gefühlsmäßig wie ein Magnet auf ihn gewirkt hatte. In seiner Darstellung war einzig die Erkenntnis, dass das Bild auf dem Medaillon PaDorkis zeigte, für seine weiteren Handlungen relevant. „Es ist ihnen natürlich klar“, meinte der Protektor, „dass diese junge Frau nicht als Sklavin behandelt werden darf. Wenn sie recht haben, ist sie eine Bürgerin der Föderation mit allen Rechten einer solchen.“
Tjonre nickte abermals. „Soweit das nicht meine Tarnung riskiert, behandle ich sie als Gleichgestellte. Mehr kann ich im Augenblick nicht tun. Sicherlich will die Föderation nicht, dass unsere bedeutende Mission auf Ivarn gefährdet wird?“ Er konnte sich diese Spitze einfach nicht verkneifen.
„Das ist natürlich nicht nötig“, gab ihm der Protektor recht, erweckte dabei aber bei Tjonre den Eindruck, als hätte er keine Ahnung von dieser Mission. Sobald sie Näheres wissen, informieren sie mich bitte.“
„Das werde ich tun, Protektor.“ Der Mann verschwand schlagartig und gleichzeitig erschien Talira auf dem Sessel, wobei sie intensiv in eine Strickerei vertieft war, man hörte deutlich das Klappern der Nadeln, während sie mit atemberaubender Geschwindigkeit einige Wollknäuel in einen bunten Pullover verwandelte, den allerdings nie jemand tragen würde, weil er nicht „echt“ war. Sie und Tjonre unterhielten sich noch eine Weile über Belanglosigkeiten. Gleichzeitig aber sprach Talira mit dem Protektor, für Tjonre nicht wahrnehmbar.
„Erzähl mir ein wenig von Commander SoErgen, Talira.“ Tief unter der Oberfläche von Itirana, in der eisigen obersten Kruste des Planeten stand ihre Vision in dem grünen, anschmiegsamen Kleid und ein nicht existierender Wind fuhr durch ihr Haar und bewegte sanft ihre Locken. Irgendwo im Mutterschiff aber analysierte ein gewaltiger Computer diesen Befehl und interpretierte ihn.
„SoErgen ist kein Mann, der bereit wäre für ein Ideal zu sterben, sagen wir Freiheit oder etwas Ähnliches. Genauso wenig ist er bereit für eine imaginäre Gruppe, z. B.: die Föderation, sein Leben zu lassen. Seine militärische oder allgemein soziale Verwendbarkeit ist deshalb als sehr gering eingestuft worden. Er folgt nicht ohne weiteres einem Befehl, weil stets sein eigenes Moralempfinden oberste Instanz für seine Handlungen darstellt. Für eine Person, die ihm sehr viel bedeutet, würde er hingegen jedes Opfer bringen.“
Der Protektor dachte eine Weile nach. „Es ist mir sehr wichtig, dass die Frage nach dem Schicksal von PaDorkis geklärt wird. Sieh zu, dass SoErgen alles in seiner Macht stehende dazu beiträgt. Wenn nötig, manipuliere ihn!“
Talira lächelte verschmitzt, was ihre spitzen Eckzähne entblößte: „Gerne!“


***


Yssar


Die zentrale Bergbaustation war eine beeindruckende Kuppel, die strahlenförmig vier große Tentakel in die Himmelsrichtungen aussandte, die ihrerseits in kleineren Kuppeln endeten. Dort waren die Eintrittspforten, die Schleusen, durch die sie eingedrungen waren. Die Station hatte sich nicht gewehrt und ihr Eindringen nicht gemeldet, dafür hatte der Patrouillencode gesorgt. Aber Franak war sich dessen gar nicht so sicher gewesen und deshalb konnte er das beeindruckende Schauspiel, das die steil aufragenden Kraterwände ihnen allen bot nicht so richtig würdigen – er hatte Angst gehabt, wenngleich er natürlich nie an seinem Erfolg zweifelte. Auch der Weg über den Kraterboden, den sein Team ohne Sichtschutz zur Süd- bzw. Ostpforte zurücklegen musste würde ihm lange in Erinnerung bleiben und so manchen Albtraum bescheren. Die Zeit die sie in der Schleuse verbleiben mussten, bis die für Menschen tödliche Atmosphäre vertrieben war und gegen atembare Luft ausgetauscht wurde, schien ihm ewig zu währen. Die Helme mussten sie allerdings aus Sicherheitsgründen sowieso anbehalten. Als sich das innere Tor schließlich öffnete, erwartete er einen Trupp schwer bewaffneter Piraten zu sehen, aber da war nur ein dunkler Gang. Sitha war bei ihm zusammen mit drei weiteren Teammitgliedern; Relav führte den zweiten Trupp an, der durch die andere Schleuse kommen sollte. Als sie die Südschleuse passierten, schickte Franak wie abgemacht einen kurzen, scheinbar sinnlosen Code ab, ein Signal an Araissa, dass alles nach Plan verlief.


***


„Sie haben den Code geschickt, wie besprochen!“, schrie Araissa, „das heißt sie sind drin – und offenbar bis jetzt unbemerkt. Galaxis! Wie dumm doch dieser Commander ToÖren ist!“
„Du kannst eben sehr überzeugend sein, Prinzessin!“, meinte der muskulöse, dunkelgewandete Glatzkopf, der ihr gegenüber auf einem Sofa lümmelte und ein Glas Nijem-Wein in der Hand hielt. Der Tatsache, dass er mit seinem harten Schädel bereits zahllose Nasenbeine zertrümmert hatte, verdankte er seinen Beinamen „Rammbock“. Er war ein überall gefürchteter Pirat und stolz darauf. Er wollte bekannt sein, ganz im Gegensatz zu seiner Gespielin, die gerne die Identität wechselte. Die Schauspielerei lag ihr im Blut, ebenso wie Skrupellosigkeit. Wer sie trotz ihrer wechselnden Rollen kannte, wusste, dass sie das Kosewort „Prinzessin“, das ihr Liebhaber so gern verwendete und das sich schließlich allgemein durchgesetzt hatte, nicht verdiente. Sie war ein Biest. Aber es war unklug, ihr das zu sagen. Außerdem konnte man schließlich auch beides sein – eine Prinzessin und ein Biest.
„Eigentlich“, fand sie, „hätte die Mannschaft der Besatzung mitkriegen müssen, dass sich zwei Schleusen geöffnet haben. Eine nachlässige Bande!“ Sie zog einen Schmollmund.
Der „Rammbock“ grinste, was seine Fratze noch hässlicher erscheinen ließ. „Hilf ein bisschen nach! Wenn Du sie jetzt warnst, haben sie gerade noch Zeit, nach ihren Handfeuerwaffen zu suchen. Viel nützen wird es ihnen nicht mehr, aber es macht die Sache spannender. Meine Mannschaft hat Wetten abgeschlossen. Ich habe gewettet, dass die Stationsleute zwei von der Patrouille erwischen. Ich verliere nur ungern Geld!“
Araissa lächelte. „Dem Wunsch komme ich gerne nach. Es würde gar nicht zu meinen Plänen passen, wenn Franak auf eine Horde harmloser, Blümchen gießender Stationsarbeiter stieße“. Sie zog die Augenlider zusammen und blickte bösartig wie eine Giftschlange. „Nein, ich stelle mir die Szene ganz anders vor.“ Sie hob die Arme. „Gewalttätig! Bluttriefend! Sie müssen überzeugt sein, dass sie Piraten gegenüberstehen.“


***


Ivarn


Elina lag bäuchlings nackt auf dem großen, runden, kitschig roten Bett wie eine üppige Spinne in ihrem Netz, die auf ihren Bräutigam wartet, um ihn nach der Paarung zu verspeisen. Die Vereinigung hatte allerdings schon stattgefunden und sie gab sich gar nicht aggressiv, sie spielte auf harmloses Kätzchen, fächelte mit den abgewinkelten Beinen, ihre Arme stützten sich mit den Ellenbogen ab, ihre Finger spielten mit ihren Locken und sie zog einen Schmollmund. „Musst du wirklich schon gehen? Trinken wir doch noch eine Flasche Nijem zusammen.“
Raft stand neben dem Bett in dem Raum, der den Schein erwecken sollte, prunkvoll zu sein, tatsächlich aber bloß geschmacklos war, und zog sich gerade an. Er blickte auf das ungewöhnliche, halbmondförmige Muttermal zwischen ihren Brüsten und grinste, hob dann seinen Blick zu ihren Augen: „Leider mein Schatz habe ich noch zu tun. Ein Erntewagen ist heute zu Bruch gegangen. Die Vorderachse. Mittlerweile sollte er repariert sein und ich muss ihn zurückbringen. Unsere Leute brauchen ihn. Wenn Evwam weiterhin Nijem von uns beziehen will, den du dann trinken kannst, musst du mich jetzt gehen lassen. Aber keine Sorge, ich komme bestimmt bald wieder.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Nimm doch mal deinen Gutsbesitzer mit“, meinte sie, „den hab’ ich hier noch nie gesehen, amüsiert sich der denn nie?“
„Jedes Mal wenn ich komme, fängst du von Tjonre an! So schön langsam werde ich eifersüchtig“, scherzte er. Er küsste sie. „Das brauchst du nicht, mein Schatz.“
„Ist er verheiratet? Hat er eine Freundin? Interessiert er sich überhaupt für Frauen? Ist er vielleicht schwul?“ Ihre Stimme klang jetzt gereizt. Tjonre war ihre Zielperson. Ihn wollte sie eliminieren, falls sich die Information bestätigen sollte, dass er der gesuchte Agent der Magellanschen Föderation wäre, aber wie sollte man jemanden aushorchen und anschließend ermorden, an den man nicht heran konnte? Immerhin waren Rafts Interessen an den Belangen der OrPhons mehr als verdächtig, hinreichend verdächtig nach ihrer Meinung und der ihrer Mörderfreunde. Daher war ihre Mission inzwischen auch auf seinen Statthalter ausgedehnt und das wenigstens würde kein Problem werden. Raft fraß ihr ja förmlich aus der Hand! Nur der Zeitpunkt für die Aktion musste noch festgelegt werden.
Raft lachte. „Lass ihn doch! Er ist ein Langweiler. So eine Art Mönch oder Hamlet.“
„Von Mönchen habe ich schon gehört. Das sind Männer, die sich auf einen Planeten zurückziehen, wo es keine Frauen gibt. Nicht einmal solche wie mich gibt es dort.“ Sie schauderte ob dieser berufsschädigenden, abartigen Vorstellung. „Aber was ist ein Hamlet? Ist das ansteckend? Oder irgendeine Art Perversion?“
„Lass gut sein. Selbst wenn er zu Evwam kommt, käme er nicht zu dir. Er hält dich für ein Biest!“
„Mich?“ Sie tat als wäre sie aufgrund dieser Behauptung schockiert. „Warum?“ Innerlich verfluchte sie diesen Gutsherrn, der offensichtlich über gute Menschenkenntnis verfügte.
„Das verstehe ich auch nicht, mein Herz.“ Er küsste sie, hinterließ eine ansehnliche Summe auf einem Beistelltischchen, wandte sich dann noch einmal ihr zu. „Wir sehen uns bald wieder. In einer Woche oder so.“ Dann verließ er den Raum.
Elina stand auf und ging hektisch auf und ab. Schade, sie hätte ihre Aufgabe gern selbst erledigt. Das heißt - Raft war nett, freigiebig und hatte einen so kraftvollen Körper. Ihn umzubringen würde keinen Spaß machen, war eigentlich Verschwendung. Aber diesen hageren Gutsbesitzer, der sie als Biest bezeichnete, hätte sie gern eigenhändig ins Jenseits befördert. Möglichst langsam und qualvoll wollte sie ihn dahinscheiden sehen. Leider war das nicht möglich. Sie musste also das Assassinenteam, das zu ihrer Verfügung stand, benachrichtigen, sobald sie den Befehl erhielt in Aktion zu treten. Ihre sonst so ebenmäßigen Züge verzogen sich vor Zorn, als sie sich an Tjonres Bemerkung über sie erinnerte. Sie – die Prinzessin - ein Biest!
Yssar, Bergbaustation
***
Sigena FeRina, Stationskommandantin von Yssar war gerade mit dem neuesten Computerspiel der Wigalv-Trade beschäftigt. Die Heldin, Esira, hatte bereits massenweise Raumpiraten eliminiert, aber der Endgegner war wirklich eine harte Nuss. Halb Mensch, halb Maschine und so hässlich, dass Frankensteins Monster liebreizend dagegen wirkte. Die ganze Besatzung fieberte mit, Esira hatte nur mehr zwei Leben, die Spannung war unerträglich, Sigena fluchte phrasenreich in einem halben Dutzend Sprachen, die sie alle nicht beherrschte – bloß die Schimpfwörter hatte sie im Laufe ihre sechzig Standardjahre mitbekommen. Endlich glaubte sie die Schwäche des Monsterpiraten erkannt zu haben, da kam der Anruf. Ein enttäuschtes Raunen ging durch die enthusiastische Menge und niemandem fiel es schwerer, das Holo in sich zusammenfallen zu sehen, als Sigena.
Statt Esira war plötzlich eine wohlgeformte Blondine zu sehen in der Tracht der Raumpatrouille: Schulterpailletten wiesen sie – für die Insiderin, die Sigena war, sofort zu erkennen – als Commander der Raumpatrouille aus. Die junge, hübsche Blondine begann zu sprechen: „Stationskommandantin FeRina?“ Sigena bestätigte die Annahme durch ein Kopfnicken. „Sie sind in äußerster Gefahr! Wie unsere Beobachtungsinstrumente zeigen, ist es einem Trupp Piraten gelungen in die Station einzudringen! Zeigen ihre Instrumente keine Aktivität bei den Schleusen an?“
Der dafür Zuständige blickte nervös auf eine Bildfläche und sah dann betroffen Sigena an. „Schleusenaktivität Süd und Ost!“, meldete er.
Araissa blickte daraufhin Sigena eindringlich an. „Sie müssen sich augenblicklich bewaffnen und die Eindringlinge mit allen Mitteln bekämpfen! Die Piraten sind nicht gekommen, um Gefangene zu machen, sondern um die Station zu übernehmen. Die Patrouille kann ihnen nicht mehr rechtzeitig zu Hilfe kommen“.
Augenblicklich herrschte Panik. Niemand fragte sich, wie es möglich war, dass die hervorragenden Verteidigungsanlagen der Station nicht reagiert hatten. Keiner machte sich bewusst, dass dies nur bei Kenntnis des Patrouillencodes geschehen konnte oder stellte sich die Frage, wie denn Piraten an diesen gut gesicherten Code herangekommen waren. Jeder stürzte nur noch zum Waffenlager an der Wand, um eine Handfeuerwaffe zu ergattern. Die Prinzessin war vergessen, konnte die Szene mit Genugtuung und Wohlgefallen betrachten und beendete schließlich den Kontakt. Der Same der Zwietracht war gesät. Jemand vom Stationspersonal würde zuerst schießen und damit eine verheerende Konteraktion auslösen, bevor der beidseitige Irrtum aufgeklärt werden konnte. Beide Seiten waren nun überzeugt, gegen gefährliche Killer, gegen die innerhalb der Föderation gefürchteten Piraten, zu kämpfen.


***


Ivarn


Nach seiner Rückkehr war Tjonre für einige Tage so vollständig mit den Belangen des Gutsbesitzes beschäftigt, dass er für anderes kaum Zeit hatte. Die Tage verbrachte er im Keller um die Fermentation des Nijem zu überwachen. Stündlich kamen nun Wagen voller Nijemfrüchte, die zunächst zerstampft werden mussten. Das wurde auf traditionelle Art erledigt, indem die Gehilfen des Gutshofs in speziellen Pressbottichen auf den unschuldigen Früchten herum trampelten. Der Press-Saft, der als solches keine verdaulichen Bestandteile enthielt wurde in Fermentationsbottiche erster Stufe umgefüllt, wo ihnen kleine, wurmförmige Lebewesen zugesetzt wurden, die ihn als Nahrung nutzen konnten und als Stoffwechselabfallprodukt verschiedene Zucker und Säuren herstellten. Diese wiederum wurden nach dem Umfüllen in Fermentationsbottiche zweiter Stufe von klassischen Hefen zu Alkohol und einer Vielzahl von Aromasubstanzen umgesetzt. Der Prozess war kompliziert, die Mikroorganismen bedurften eines bestimmten Milieus, Überhitzung während der Gärung war zu vermeiden und insbesondere mussten die Bedingungen so kontrolliert werden, dass schädliche Mikroorganismen keine Chance hatten unerwünschte Beistoffe zu produzieren, die giftig waren oder einfach einen üblen Geschmack verursachten. Diese Kontrolle war Tjonres offizielles Betätigungsfeld, während Raft die Ernte überwachte. Tjonre hatte Spaß an dieser Arbeit, die Genauigkeit erforderte und für die er sehr ausführlich von Spezialisten der Föderation, die ihn auf seine zukünftigen Aufgaben vorbereiteten, ausgebildet worden war.
Nur während seines Frühstücks mit Ma Handor erfuhr er spärliche Neuigkeiten über die junge Frau, die er für PaDorkis Tochter hielt. „Wie tut sie sich mit den Kindern?“
„Prächtig, hervorragend“, antwortete sie, „ zuerst hat sie die Kinder lange und intensiv beim Spielen beobachtet, sie war von Anfang an wirklich an ihnen interessiert. Sie wurde von den Kindern gleich akzeptiert und wusste auch genau, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten musste. Sie hat ganz offensichtlich schon früher Kontakt mit Kindern gehabt.“
„Wirklich? Wo?“
Ma lächelte, wobei ihr anmutiges Gesicht noch runzeliger wurde, als es an sich schon war. „Das, lieber Tjonre, musst du sie schon selber fragen. Das Mädchen ist zwar der reinste Sonnenschein und wo immer sie hinkommt verbreitet sie Fröhlichkeit, aber nichts desto trotz ist sie verschlossen. Sie macht einen bescheidenen, unaufdringlichen Eindruck. Sie ist nach wie vor ein wenig schüchtern. Ich glaube nicht, dass sich das noch gibt, es scheint eher eine Grundeigenschaft zu sein. Aber sie ist jetzt wesentlich ausgeglichener.“
„Glaubst du, dass sie nun soweit ist, dass ich mit ihr über ihre Vergangenheit reden könnte? Vielleicht bei einem gemeinsamen Essen?“
„Ich glaube“, meinte Ma, „dass sie sich darauf freuen würde, von dir eingeladen zu werden. Wenn das Gespräch auf deine Person kommt, sagt sie immer nur positive Dinge. Na ja, sie kennt dich eben nicht näher. Für sie bist du anscheinend eine Art Held, der ihr das Leben gerettet hat. Es ist das Klügste, wenn sie dich besser kennen lernt, damit sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück kommt.“
Solcherart aufgemuntert beschloss Tjonre sie demnächst zu einem Abendessen auf der Veranda einzuladen, wobei er die Einladung bei einem zufälligen Treffen aussprechen wollte, um möglichst den Eindruck zu vermeiden, es handle sich um einen Befehl eines Herrn seiner Sklavin gegenüber. Der Plan hatte allerdings den kleinen Nachteil, dass er sie in den nächsten Tagen nicht zufällig traf. Einmal sah er sie in der Ferne und wollte zu ihr gehen und sie schon ansprechen, aber in dem Augenblick stolperte sie, sah ihn daher nicht und er ging einfach weiter, statt trotzdem sein Vorhaben zu verwirklichen; es würde sich ein günstigerer Moment finden, dachte er.


***


Dieser Moment war dem Durst der Kinder zu verdanken und der Tatsache, dass diese in einem kleinen Anbau spielten und betreut wurden, der keine Wasserzuleitung hatte. Ein oder zwei Kinder gingen also zu Ma und klagten mit jämmerlichem Stimmchen, dass sie demnächst verdursten würden und kurz darauf ging eine schlanke, zierliche junge Frau in einem hellen Kleid von der Art, wie sie die Sklavinnen selbst herstellten, in Richtung Brunnen. Obgleich das Kleid nur aus grobem Stoff war, betonte es doch die grazile Gestalt des Mädchens und hob die sanften Rundungen und die schmale Taille hervor. Sie wäre auch auffällig gewesen ohne die schillernden, bunten Lichtblitze in ihrem Haar. Das Mädchen wirkte fröhlich, sie bewegte sich schwungvoll und lächelte. Sie füllte rasch einen kleinen Kübel mit Wasser und machte sich auf den Rückweg zu „ihren“ Kindern, die sie alle in der kurzen Zeit – war sie wirklich erst wenig mehr als zwei Wochen hier, ihr schien es länger zu sein – sehr liebgewonnen hatte. Jeder Tag erschien ihr wie ein Geschenk und noch schöner, als der letzte. Dies war die wundervollste Zeit ihres Lebens oder zumindest seit ihrem siebenten Lebensjahr und oft dachte sie an den Mann, der das bewirkt hatte. Immer wieder spielte sich in Ihrem Inneren die Szene ab, wie er ihr das Medaillon zurückgab und so wirkte sie oft abwesend und verträumt, wenn sie nicht gerade mit den Kindern spielte und auf ihre Bedürfnisse einging. Weniger gern dachte sie an den Augenblick zurück, als sie in der Auktionshalle stand, nackt, denn im Nachhinein schämte sie sich. Nicht vor den vielen Zuschauern, sondern nur vor einem, vor ihm. Seit dem Abend in der Bibliothek hatte sie ihn nur einmal gesehen, in einiger Entfernung zwar, aber sie hatte seinen Blick gespürt. Da war etwas Merkwürdiges passiert, sie hatte die Kontrolle über ihre Beine verloren, sie ließen sich nicht so bewegen, wie sie wollte und schienen, obwohl sie doch so lang waren, plötzlich nicht mehr bis zum Boden zu reichen. Sie war gestolpert, hatte sich dann aber gleich nach ihm umgedreht, aber er war schon vorbei.
Der Weg zurück ging zunächst leicht bergauf und wandte sich dann auf der Hügelkuppe nach rechts; noch vor der Kurve erkannte sie, dass Tjonre ihr entgegenkam und sie auch bereits erblickt hatte. Da geschah es wieder. Sie wusste, sie müsste jetzt nach rechts gehen, um dem Weg zu folgen, aber ihre Beine fühlten sich wieder so komisch an, übrigens auch ihr Kopf. Ihre Beine gingen gegen ihren Willen einfach weiter, genau auf den rostfarbenen Baum zu und mitten ins Geäst. Tjonre erreichte sie, als sie gerade einen Astwirtel ausspuckte. Diesmal blieb er stehen, reagierte aber so, als wäre nichts Besonderes vorgefallen.
„Wie geht es dir?“, fragte er sie lächelnd. Sie lächelte zurück und in ihren nachtschwarzen Augen lag eine Freude, die ihn seltsam berührte. Sie zeigte so deutlich, wie gerne sie ihn sah und er war glücklich darüber, denn ihm erging es mit ihr ebenso. Dieses Gefühl, dass sich jemand wirklich freut, ihn zu sehen, empfand er mit ungewöhnlicher Intensität. Er kam selten in eine vergleichbare Situation. Sie strahlte ihn an, sagte aber nichts. Das machte ihm nicht wirklich etwas aus, sie anzusehen war genug, war ein außergewöhnliches Geschenk. „Ist es dir recht, wenn wir uns heute abends auf der Veranda treffen? Ich möchte gern ein bisschen mehr von dir erfahren.“
„Ja Herr“, antwortete sie, „ich komme sehr gerne.“
„Gut“, meinte er, „so etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang. Ma wird dich holen.“ Er blickt ihr noch einmal tief in die Augen und stellte für sich fest, dass es eine schöne Beschäftigung war, in ihre wundervollen Augen und ihr reizvolles Gesicht zu sehen. Schließlich ging er aber doch weiter und auch sie erinnerte sich daran, dass es an ihr lag, ein paar Kinder vor dem Verdursten zu retten.


***


Yssar


Franak hatte an – wie ihm schien – unendlich vielen hochrealistischen Simulationen teilgenommen, die der Situation, vor der er jetzt stand, ziemlich ähnlich waren. Er hatte immer gut abgeschnitten und das gab ihm jetzt ein Gefühl der Sicherheit. Sie befanden sich im Gang zur zentralen Kuppel, Sitha war neben ihm, die anderen drei dahinter. Im Laufschritt legten sie die Distanz zur nächsten Schleuse zurück, die ihnen Zugang zur zentralen Kuppel ermöglichen sollte. Kurz bevor sie sie erreichten, ertönte der Alarm, ein durchdringendes Auf- und Abheulen. Gleichzeitig wurde die Schleuse verriegelt.
„Auf den Boden!“, kommandierte Franak und das gut eingespielte Team gehorchte sofort. Er selbst rannte weiter, holte eine halbkugelförmige, handtellergroße Haftmine aus seinem Waffengurt und befestigte sie an dem kreisförmigen Tor. Er stellte den Zeitzünder auf fünfzehn Sekunden und hatte es danach sehr eilig von dem Portal wegzukommen und sich ebenfalls zu Boden zu werfen. Kurz darauf erfolgte die Detonation, trotz Schutzanzugs war die Druckwelle deutlich zu spüren, die ihn zunächst gegen den Gangboden presste, ihn danach aber einige Dezimeter in die Höhe hob. Er blickte zurück und trotz des Rauchs erkannte er, dass der Weg frei war.
„Okay!“, schrie er, „weiter!“ Das Team reagierte sofort und lief die Gangwände entlang zur zerstörten Schleuse.
***
„Wir verteidigen nur die Zentrale. Nera, Efer, zur Südtür, Elroi und Thena zur Osttür. Feuert auf alles was sich bewegt! Haltet sie auf! Meni und Werga zu den Bildschirmen für die automatischen Gewehre. Macht ihnen das Weiterkommen so mühselig und verlustreich wie möglich. Zwei Mann zu mir, die restlichen zu Feher! Wir nehmen sie in die Zange. Feher, du nimmst dein Team und verlässt das Gebäude durch die Nordschleuse und betrittst es wieder durch das Osttor und überraschst so die Angreifer! Damit werden sie nicht rechnen. Wir machen das gleiche mit dem anderen Angreiferteam, Westschleuse und dann Südschleuse zurück.“ Sigena hatte zwar keine offiziellen Nahkampfsimulationen erlebt, wie das bei der Ausbildung der Patrouille gang und gäbe war, aber dafür war sie ein Computergame – As. Trotzdem wusste sie, dass ihre Chancen nur mäßig waren, einfach weil ihr effiziente Schutzbekleidung, wie sie die Angreifer wahrscheinlich trugen, abging. Niemand in der Station hatte eine Waffen- oder Kampfausbildung. Sie konnte daher gar nicht abschätzen, wie gefährlich die Gegner wirklich waren.
Sie rannten los, bewaffnet und mit Atemmaske, so schnell sie konnten und trotz ihres fortgeschrittenen Alters erwies sich Sigena als wieselflink.


***


Der erste Schuss traf Ezza an der rechten Schulter und sie ging überrascht zu Boden. Das ferngesteuerte Plasmaimpulsgewehr schwenkte weiter auf die nächste Person aus seinem Team, traf sie in die Brust – kurz erstrahlte der Schutzanzug silberhell um dann wieder tarnfarben zu werden - und schwenkte abermals weiter. Franak hatte Zeit anzulegen und einen wohlgezielten Schuss abzufeuern, der das Gewehr zerfetzte. Er wunderte sich über den Dilettantismus der Verteidiger, jeder Pirat musste doch wissen, dass man einen Schutzanzug der G-Klasse nur durch ein Dauerfeuer auf einen Punkt durchdringen konnte. Wäre die Waffe auf Ezzas Schulter gerichtet geblieben, hätten drei oder vier Schuss in rascher Folge genügt, um den Anzug zu durchdringen und ihr eine schwere, vielleicht sogar letale Wunde beizubringen.
„Ezza, Orej, seid ihr verletzt?“ Er half Ezza auf, die stumm den Kopf schüttelte.
Orej, ein großer, breitschultiger Mann murmelte: „Nichts Dramatisches passiert“.
„Gut, dann weiter! Wir werden allerdings vorsichtiger sein. Wozu haben wir die Pläne stundenlang studiert, wenn wir dann wie Schafe in die erste Mündung hineinlaufen? Vor dem nächsten Tor befinden sich drei ferngesteuerte Gewehre. Die müssen wir zerstören bevor sie uns treffen. Wir können nicht davon ausgehen, dass die Piraten das nächste Mal auch so freundlich zu uns sind und nur harmlose Schüsse abgeben.“ Sie rannten weiter, immer die graue Wand entlang, Deckung suchend, so gut dies eben ging. Da der Gang völlig gerade verlief, zwangen ringförmige Verbreiterungen sie immer wieder für kurze Zeit die Deckung aufzugeben, andererseits waren es gerade diese Rippen, die sie als Schutz nutzen konnten. Schließlich waren sie nahe genug. Orej lief vorne die linke Wand entlang, Franak die rechte. Franak gab ihm durch Zeichen zu verstehen, dass er sich auf das rechte Gewehr konzentrieren sollte. Er selbst würde auf das linke zielen. Er zählte mit den Fingern für Orej sichtbar bis drei, dann verließen beide kurz die Deckung und schossen. Im gleichen Augenblick wurde Franaks Visier getroffen und obwohl es sich sofort verdunkelte, blendete ein gleißender Blitz ihn. Er schrie auf und zog sich hastig hinter die Deckung zurück. „Verdammt, das dritte Gewehr!“
„Bist du verletzt?“, fragte diesmal Ezza, die hinter ihm stand.
„Nein, aber ich kann nichts sehen, das Licht war dermaßen grell ... Schießt von beiden Seiten auf das mittlere Gewehr! Los!“ Franak hörte das charakteristische Zischen mehrerer Plasmaimpulse und eine Detonation, die wohl die Zerstörung des dritten ferngesteuerten Gewehrs begleitete.
Orej sprintete bereits vor, um die Haftmine am Tor anzubringen, schrie: „runter!“ und alle warfen sich auf den Boden, um vor der Explosion möglichst gut geschützt zu sein. Ezza wollte Franak hochziehen, doch der sah immer noch lauter rote Punkte und sonst nichts.
„Ich kann immer noch nichts sehen. Kümmere dich nicht um mich! Los, erobert die Zentrale!“ Orej und Ezza stürmten los, aber Sitha konnte sich nicht entscheiden. Es widerstrebte ihr, jemanden Wehrlosen zurückzulassen, andererseits hatte sie keinen Grund anzunehmen, dass Franak in Gefahr war. Sie blieb in Sichtkontakt, wohl wissend, dass sie das ganze Unternehmen gefährdete.


***


Ivarn


Der Himmel nahm gegen den Horizont zu langsam einen Goldton an. Sowohl Sonnenauf- als auch Sonnenuntergang konnte man von der in dieser Hinsicht sehr günstig gelegenen Veranda aus bewundern. Ma hatte für sie beide einen Tisch gedeckt und einen leichten Sommersalat serviert, sowie nichtalkoholische Fruchtgetränke. Auch eine Kerze hatte sie hingestellt. Danach hatte sie das Mädchen hergebracht und war anschließend netter Weise verschwunden. Sie saßen sich gegenüber, seiner Meinung nach viel zu weit voneinander entfernt. „Ich habe immer noch keine Ahnung wie du heißt“, begann er, „wie soll ich dich nennen?“
Sie lächelte, senkte dann scheu den Blick. „Ma nennt mich oft ‚Kleine’, obwohl ich größer bin als sie. Sie sagt aber meistens ‚Fünkchen’ zu mir.“
„Wegen deiner schillernden Haare?“
„Nein, sie meint wegen meiner funkelnden Augen. Sie sagt sie strahlen wie Sterne.“
„Das stimmt, das tun sie“, bestätigte er und in seiner Stimme lag dabei Wärme und Zuneigung.
Ihre Wangen färbten sich ein wenig rosa. Ihr Blick war plötzlich in weite Ferne gerichtet. „Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter mich ‚Elri’ genannt hat.“
„Das klingt wie ein Kosename.“
„Ja, das ist er wahrscheinlich auch.“
„Darf ich dich Elri nennen?“ fragte er.
„Ich würde mich darüber freuen“, sagte sie ganz leise.
Sie saßen eine Weile still da, aßen vom Salat und tranken ihren Fruchtsaft. Obwohl Elri immer noch ein wenig nervös war, ging nichts zu Bruch; ein Fortschritt. Wie sie gleich zu Beginn zu ihrer Erleichterung festgestellt hatte, waren die Gläser und auch das Geschirr diesmal von der billigeren Sorte. „Elri“, sagte er, „Elri, Ma hat mir, als du zu uns gekommen bist versprochen, dich zu füttern und sie hat Wort gehalten. Du siehst nicht mehr verhungert aus, obwohl du immer noch sehr schlank bist. Ma ist nett zu dir?“
„Sehr nett. Sie hat mich von Anfang an fast wie eine Tochter behandelt. Sie ist auch zu allen anderen nett – außer vielleicht zu dir?“
Er grinste. „Sie ist auch zu mir sehr nett, nur auf eine sehr ruppige Art. Aber das ist in Ordnung. In einer ungleichen Gesellschaft werden die, die oben sind zum Größenwahn geradezu verleitet. Ma sorgt nur dafür, dass sich der Größenwahn bei mir nicht allzu stark ausprägt. Und das ist gut so.“ Am Philosophieren lag ihm im Moment nichts und daher wechselte er das Thema. „Du warst anfangs bleich wie eine Made.“ ‚Made’ war zu negativ, also ergänzte er: „ ... oder besser: wie ein Raumfahrer, den jahrelang keine Sonne mehr gesehen hat. Jetzt ist das zum Glück anders.“ Sie hatte tatsächlich einen Hauch von Sonnenbräune angenommen. „Warst du viel im All?“
Sie nickte. „Seit meinem siebenten Lebensjahr war ich nicht mehr auf der Oberfläche eines Planeten. Ich weiß nicht wie lange, aber jedenfalls den größten Teil meines Lebens.“ Da sie das Thema offenbar etwas traurig stimmte, wechselte er es vorläufig.
„Du sagst, deine Mutter habe dich ‚Elri’ genannt. Ist sie die hübsche Frau in dem gelben Kleid, die eines der beiden Bilder im Medaillon zeigt?“ Elri nickte wehmütig. „Demnach zeigt das andere Bild deinen Vater?“
„Ja, meinen Vater“, bestätigte sie. „Weißt du wie sie heißen?“
„Mama und Papa“, sagte sie lächelnd, „ich war ein kleines Kind damals, ich habe meine Eltern einfach nur Mama und Papa genannt und gegenseitig haben sie sich in meiner Gegenwart nur mit Kosenamen angesprochen, also weiß ich eigentlich gar nichts über ihre Identität. Nur eines weiß ich noch...“ Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten, „...dass sie tot sind. Sie wurden umgebracht.“
Tjonre ergriff ihre Hände, um sein Mitleid auszudrücken, aber auch um seinem Bedürfnis nach Nähe zu ihr nachzukommen und dachte bei sich, dass dieses Thema auch nicht besser geeignet war. Trotzdem. Er wollte und musste mehr erfahren. „Elri“, sagte er „ich weiß, dass es dir schwer fällt. Aber könntest du mir noch einmal dein Medaillon zeigen? Die Bilder deiner beiden Eltern?“
Sie lächelte ihn an, entzog ihm langsam ihre Hände und griff an den Verschluss des Medaillons, den sie rasch löste. Geöffnet legte sie es vor ihn hin. „Es fällt mir nicht schwer, es dir zu zeigen. Es ist jetzt auch nicht mehr so wichtig, weil ich glücklich bin und nicht mehr verzweifelt.“
Tjonre löste seinen Blick von ihren Augen und betrachtete die beiden Bilder noch einmal genau. Jetzt hatte er ja Zeit. Die Frau in dem gelben Kleid war offenbar sehr hübsch, aber er kannte sie nicht. Er überprüfte das Porträt des Mannes noch einmal im Detail und kam zu der abschließenden Erkenntnis, dass er sich nicht geirrt hatte. Dies war ohne Zweifel ein Foto von Lezart PaDorkis, die strengen Züge des Wissenschaftlers waren unverkennbar. „Ich habe das Medaillon schon als Kind ständig getragen, außer wenn Papa es sich ausgeborgt hat, was gelegentlich vorkam. Das hat mir nichts ausgemacht, ich wusste ja, dass ich es bald wiederbekomme“, erzählte sie und ihren entspannten Zügen sah man an, dass sie an diesen Abschnitt ihres Lebens gerne zurückdachte. Tjonre wurde bei dieser Aussage sehr hellhörig, äußerte sich aber nicht weiter dazu.
„Kannst du dich aus dieser Zeit auch noch an andere Personen erinnern?“
„An einen Onkel. Eigentlich an zwei. Aber vielleicht war der eine gar nicht wirklich mein Onkel. Er war sehr, sehr hässlich und ich war ein kleines Kind und habe mich daher vor ihm gefürchtet, aber er war immer sehr nett zu mir. Er hat mir allerhand Geschenke gemacht und auch an der Herstellung des Medaillons war er irgendwie beteiligt, vielleicht hat er die Bilder aufgenommen. Der andere war nur selten da. Und dann erinnere ich mich an einen Mann, der sehr leicht wütend werden konnte. Ein ungehobelter Kerl, der meiner Mutter oft lästig gefallen ist. Sonst ist mir niemand im Gedächtnis geblieben.“
Tjonre griff nach dem Buch PaDorkis, das er auf die Sitzfläche des Sessels rechts von ihm gelegt hatte, bevor Ma mit Elri gekommen war. „Ich möchte dir etwas zeigen.“ Diesmal wusste er auf welcher Seite das 3D-Holo zu finden war, er brauchte nicht lange zu suchen. Er schlug das Buch auf und legte es auf den Tisch neben das Medaillon.
Elri erstarrte, ihr Blick war von dem Holo gefesselt. Sie riss die Augen weit auf und ihre Oberlippe – die sanft geschwungen war wie die Silhouette einer Seeschwalbe im Gleitflug und daher ebenso wie ihre Augen Objekt seiner Bewunderung war – zitterte leicht. Sie sog hörbar die Luft ein. „Das ist mein Vater!“ Erstaunen und ungläubige Freude lag in ihrer Stimme.
„Dein Vater“, erklärte er ihr, „hieß Lezart PaDorkis und war ein sehr bekannter Historiker, der einige bedeutende Werke über die Geschichte der Erde und des Planeten Historia verfasst hat. Ich kenne allerdings nur dieses eine Buch von ihm. Ich habe es während der Regenzeit gelesen. Daran, dass ich mit dem dicken Schinken fertig geworden bin, erkennst du, wie lange die Regenzeit auf diesem Planeten ist.“ ‚Schinken’ klang abfällig, also korrigierte er sich hastig: „Aber es war sehr interessant zu lesen. Dein Vater hat einen mitreißenden Stil!“ Eine kleine Notlüge hie und da konnte nicht schaden. „Leider erfährt man über ihn selbst und sein Leben fast gar nichts. Es wird nur am Ende erwähnt, dass PaDorkis seit einigen Jahren verschollen ist. Willst du mir erzählen, was passiert ist?“
„Kann ich mir das Buch ausborgen?“ Immer noch starrte sie auf das Bild ihres Vaters.
„Nimm es dir ruhig“, antwortete er.
„Jetzt habe ich schon zwei Dinge, die mich an meine Eltern erinnern“, meinte sie ein wenig wehmütig, aber auch sehr glücklich.
„Du hast gesagt, deine Eltern sind tot?“
Sie begann zu erzählen, mühselig zuerst, denn sie hatte über diese Erlebnisse noch nie gesprochen. „Ich war damals sieben Standardjahre alt. Ich weiß nicht, wie alt ich jetzt bin, aber damals wurden regelmäßig meine Geburtstage gefeiert und es geschah nicht lange nach meinem siebenten Geburtstag. Wir waren damals nicht mehr auf dem Planeten, auf dem meine Onkel gelebt haben und der lästige Mann mit dem harten Gesicht und den vielen Muskeln. Jedenfalls waren wir bereits einige Zeit dort und mein Vater hatte häufig Kontakt mit grauenvollen Wesen. Das heißt, ich bin mir nicht sicher ob es Lebewesen waren oder eher Roboter. Jedenfalls waren sie ganz schwarz, größer als ein Mensch, aber insgesamt menschenähnlich mit schrecklichen glühenden Augen. Ja, glühend. Ich erinnere mich, dass sie in der Dunkelheit leuchteten. Eines Tages waren die Wesen wieder zu Besuch, während ich im Garten spielte. Dann hörte ich meine Mutter schreien. Ich hatte solche Angst! Ich hätte vielleicht davonlaufen sollen, aber wohin? Ich weiß gar nicht, ob es auf dem Planeten andere Menschen gegeben hat. Stattdessen bin ich zu meinen Eltern gerannt und da sah ich sie.“ Die Erinnerung trieb ihr Tränen in die Augen und sie begann heftig zu zittern. Tjonre hätte sie gerne fest gehalten, aber der Tisch war im Weg. Dann erzählte sie weiter. „Überall war Blut. Meine Eltern sind da gelegen, im Zimmer, mit offenen Augen und überall war Blut. Ihr Blut! Zuerst habe ich das schwarze Monster gar nicht wahrgenommen, erst wie es mich am Handgelenk gepackt hat. Warum hat es mich nicht auch umgebracht? Lange Zeit habe ich gedacht, das wäre besser gewesen. Aber wie auch immer; stattdessen hat mich die finstere Kreatur an Sklavenhändler verkauft.“
„Kannst du dir vorstellen, warum deine Eltern umgebracht wurden?“
„Nein“, antwortete das Mädchen, „aber andere haben in der Wohnung gehaust und alles zerschlagen. Sie haben etwas gesucht! Die wertvollen Dinge haben sie aber gemeinsam mit mir verkauft.“
„Hast du eine Ahnung, was sie gesucht haben?“ Tjonre hatte eine Ahnung, die er aber im Augenblick nicht überprüfen konnte.
„Nein“, meinte sie, „ich hatte ja keinen Einblick in die Arbeit meines Vaters. Was kann ein Historiker schon besitzen, das einen Mord wert wäre?“
„Bist du jemals wieder solchen Kreaturen begegnet? Die Art, von der die Mörder waren?“
Sie schüttelte den Kopf und blickte verängstigt. „Nein, zum Glück nicht.“
Tjonre hatte während sie über das Schicksal ihrer Eltern sprach wieder ihre Hände ergriffen und überlegte in der nun entstehenden kurzen Pause, ob er sie wieder loslassen sollte. Da ihm kein zwingender Grund einfiel, warum er das tun sollte, entschied er sich dagegen. Er blickte kurz zum Horizont. Die Sonne war im Untergehen begriffen. „Was geschah dann?“
„Die Sklavenhändler brachten mich zu einer illegalen Siedlung der Wurift, das sind Menschen, die seit sehr vielen Generationen einen Planetoidengürtel besiedeln. Sie leben in fast völliger Schwerelosigkeit, haben daher einen langen schwachen Körper entwickelt und enorm dürre, spinnenartige Gliedmaßen. Sie empfinden das aber als sehr schön und halten uns für unerträglich hässlich.“
„Was wollten diese Menschen von einem Kind, das in ihren Augen hässlich war?“
„Die Wurift sind unter anderem Piraten. Diejenigen, die mich kauften, hatten vor Jahren ein Raumschiff der Kewelda gekapert. Die Kewelda aber sind sehr klein, so klein wie die Kinder, um die sich Ma und ich hier sorgen. Die Instandhaltungsgänge des Raumschiffs waren an die Keweldagröße angepasst und konnten daher von den spinnenartigen Wurift nicht betreten werden. Auch nicht von erwachsenen Menschen der meisten anderen ethnischen Gruppen. Also haben sie sich für die Instandhaltung Kinder besorgt. Sie selbst blieben in den zentralen Aufenthaltsräumen, die sehr geräumig waren.“
„Hattet ihr denn Gravitation?“
Sie nickte. „Im peripheren Wartungsbereich, wo wir Kinder untergebracht waren schon, erzeugt durch Rotation. Etwa ein g. Sonst wäre ich heute ganz muskellos und könnte wohl nicht mehr auf einem Planeten leben.“
„Und wo bist du hingekommen, nachdem du zu groß geworden bist?“ fragte Tjonre.
„Ich bin bis vor kurzem auf dem Schiff geblieben. Es stimmt, dass die meisten Sklaven weiterverkauft wurden, nachdem sie nicht mehr in die engen Gänge konnten und damit nutzlos wurden. Aber wie gesagt sind wir in den Augen der Wurift sehr hässlich und daher wollten sie mit den Kindern so wenig wie möglich zu tun haben. Deswegen haben sie immer einige der älteren Mädchen für ihre Betreuung behalten.“
„Daher also deine Erfahrung im Umgang mit Kindern.“
„Ja, genau. Es war eine schöne Beschäftigung in einer tristen Umgebung. Ich habe meine Kinder geliebt. Über alles! Und die Wurift waren mit meiner Tätigkeit auch sehr zufrieden, deshalb bin ich länger geblieben, als alle anderen Mädchen. Aber dann ... Als das andere Piratenschiff andockte war mir klar, dass es diesmal mich treffen würde und dass ich von meinen Kindern getrennt werden würde. Es waren meine Kinder, verstehst du? Ich war sehr verzweifelt, bin in einen dunklen Abgrund gestürzt. Von einem Augenblick auf den anderen habe ich meine Familie verloren. Zum zweiten Mal!“
Es wurde langsam dunkel. Tjonre zündete die Kerze an. Im flackernden Kerzenlicht sah ihr vom dunklen Haar umrahmtes Gesicht mit den großen Augen noch bezaubernder aus, fand er. Falls eine Steigerung hier überhaupt möglich war. „Danach bist du zu Ivarn gekommen?“
„Ja, ein Pirat namens Tevarn brachte uns in seinem Schiff zum Raumhafen von Newi und dort wurde ich dann verkauft an Arem SiVender, einen feisten und sadistischen Kerl. Er wurde mein neuer Herr. Er ist ganz, ganz anders als du, Herr.“
Tjonre nahm abermals ihre Hände, die er ja losgelassen hatte, als er die Kerze anzündete und antwortete: „Tjonre, ich heiße nur Tjonre, ohne Titel, ohne ‚Herr’. Ma nennt mich nur dann ‚Herr’, wenn sie mich ärgern will. Aber ja, er ist anders. Ich habe die vielen bläulichen Striemen an deinem Körper gesehen. Weshalb hat er dich geschlagen?“
„Ich war noch sehr traurig, weil ich von meinen Kindern getrennt wurde.“ Eine Träne kullerte über ihre Wange. „Ich konnte nichts essen. Das hat ihm nicht gepasst, weil er mich natürlich möglichste gewinnbringend verkaufen wollte. Aber selbst wenn er mich gezwungen hat zu essen, wollten die Speisen nicht in mir bleiben. Ich habe mich häufig erbrochen, was ihn noch wütender gemacht hat. Die Situation ist dann noch schlimmer geworden, als Elina zu uns kam. Sie ist genauso grausam wie SiVender, aber raffinierter.“
„Wie ist Elina zu euch gekommen?“, fragte er.
„Ich war zufällig dabei, als ein sehr nobler Herr mit Spitzbart mit Elina gekommen ist. SiVender hat sich ihm gegenüber sehr kriecherisch benommen, als fürchte er um sein Leben, wenn er etwas falsch machte.“
Tjonre war alarmiert. Der Spitzbart sprach für Ephram OrPhon, wenngleich es natürlich genug andere Männer in Newi geben mochte, die ein Spitzbart zierte. „Wie hat SiVender Elina behandelt? So wie den Rest seiner Sklavinnen?“
Elri schüttelte den Kopf. „Nein, er schien Angst vor ihr zu haben oder Respekt. Jedenfalls hat er sie sehr höflich behandelt. Da sie mich nicht mochte, war das schlecht für mich.“ Sie verzog den Mund.
Während sie das erzählt hatte, war Tjonre sehr bleich geworden. Natürlich war es möglich, dass Ephram seinen Todesengel jemand anderem geschickt hatte, aber nicht sehr wahrscheinlich. Die Frage war, ob sich Ephram sicher war, dass er und Raft Agenten der Föderation waren, oder ob Elina diese Sicherheit erst schaffen musste. Dass Raft und er noch lebten, sprach für zweiteres. Möglich war aber auch, dass Elina auf eine Gelegenheit gewartet hatte, sie beide gleichzeitig zu eliminieren. Dann lebten sie bloß deshalb noch, weil Tjonre seit der Versteigerung Evwams Taverne mied. Wie viel wusste sie? Und woher, verdammt, hatte sie ihre Informationen? Es musste irgendwo eine undichte Stelle geben. Raft, so vermutete er, war gerade bei Elina, wie so oft in letzter Zeit. „Was du mir da erzählt hast“, meinte Tjonre, „ist sehr wichtig.“ Er blickte entsetzt. „Es bedeutet, dass Raft in Gefahr ist. In großer Gefahr sogar. Und nicht nur er, wir alle.“
„Ich hätte dir das früher erzählen müssen“, sagte sie, „ich wusste nicht, dass es wichtig ist.“ Die Furcht, wieder alles zu verlieren, schlich sich in ihr Herz. In einem kurzen Moment wurde aus dieser Furcht fast Sicherheit. Aber sie hatte nicht um sich selbst Angst, sondern um Tjonre, um Ma und die Kinder. Sie hatte wieder dieses grauenhafte Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit, ein Gefühl als griffe eine eiskalte Hand an ihr Herz, das sie jedes Mal verspürte, wenn auf dem Schiff der Wurift eines ihrer Mädchen von ihr getrennt wurde, um verkauft zu werden.
„Das konntest du nicht wissen Elri!“ beruhigte er sie, „dieses eine Mal hätte ich nicht auf Ma hören sollen. Ich hätte dich gleich befragen müssen.“ Er überlegte einen Moment, was er ihr erzählen könnte und kam zu dem Schluss, dass er ihr unbedingt vertraute. Eher hätte er noch angenommen, dass Raft oder Ma Handor Spione Ephram OrPhons wären, als Elri. „Elri“, begann er, „die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Ich bin nicht einfach ein Gutsherr und Raft ist nicht bloß mein Statthalter. Wir sind Agenten der Föderation und die Mächtigen dieses Planeten betrachten uns als Todfeinde. Wenn Elina wegen uns hier ist, bedeutet das, dass unsere Tarnung aufgeflogen ist. Wie das möglich ist, ist mir schleierhaft! Jedenfalls wird sie uns eliminieren, wenn sie kann. Wenn sie es nicht schafft, werden andere kommen. Das heißt wir müssen den Planeten verlassen.“
„Kannst du Raft warnen?“, fragte Elri.
„Nicht ohne ihn gleichzeitig damit in Gefahr zu bringen. Raft war in letzter Zeit öfter bei Elina, ohne dass etwas passiert ist. Vielleicht genügt es, wenn ich ihn warne, wenn er wieder zurückkommt. Andererseits besteht aber die Gefahr, dass er nicht mehr kommt. Ich kann ihn über einen implantierten Kommunikator erreichen, aber diese kleinen Geräte sind nicht abhörsicher und können jedenfalls geortet werden. Wenn sie unser Gespräch orten, ist das wahrscheinlich sein sofortiges Todesurteil. Mehr Beweise brauchen sie dann nicht.“
Elri starrte ihn aus großen, verängstigten Augen an. „Was sollen wir tun?“, fragte sie.
„Ich denke, wir müssen uns auf den Ernstfall vorbereiten. Und ich muss zu Evwam.“
„Ich komme mit!“ rief sie.
Tjonre lachte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Willst du Elina einen Besuch abstatten? Sie wird sich sicher freuen, dich auch noch umzubringen. Nein, das geht nicht. Zu gefährlich“, meinte er.
„Bitte, ich möchte dich nicht allein lassen“, flüsterte sie und der ängstliche Blick aus ihren wundervollen Augen hätte ihn wohl dazu gebracht nachzugeben, wäre er nicht wirklich davon überzeugt gewesen, dass Lebensgefahr drohte.
„Du kannst mir hier helfen, willst du?“ Sie nickte, ein wenig enttäuscht. „Wir müssen zunächst zu meinen Privaträumen.“
Sie liefen durch den Speisesaal, dann den langen, erhellten Gang entlang, vorbei an der Bibliothek zum Eingang zu Tjonres privaten Räumen, bestehend aus seinem Schlaf- Bade- und Arbeitszimmer. Vom Gang her erreichte man das Arbeitszimmer zuerst. Man musste es durchqueren, um in die anderen beiden Räume zu gelangen. Während Elri in der Raummitte stehen blieb, hastete Tjonre am massiven Schreibtisch vorbei zu einem Bild an der Wand, dass eine wunderschöne Abendstimmung mit über dem Meer untergehender Sonne zeigte; die Landschaft wirkte fremd und Ivarn unähnlich. Tjonre hatte jedoch keinen Blick für sie, sondern klappte das Bild beiseite. Dahinter befand sich offenbar ein Safe, den er rasch öffnete. Er enthielt Geld in der lokalen Währung, eine Handfeuerwaffe; beides nahm Tjonre an sich, wobei er die Waffe am Rücken hinter den Gürtel schob. Weiters entnahm er noch einen Stapel Papiere, den er auf den Arbeitstisch legte. Bevor er den Safe wieder schloss, griff er noch nach zwei jener „Schnupfharzdosen“, die außer Schnupfharz auch noch eine komplizierte Elektronik enthielten. Er drehte sich zu Elri und überreichte ihr eine davon. „Nimm das da, dann kann ich dich erreichen. Es ist ein Kommunikator, leider mit sehr begrenzter Reichweite, weil es auf Ivarn keine Verstärker oder Satelliten dafür gibt. Außerdem kann er leicht geortet werden. Dafür haben die Herrscher dieses Planeten nämlich schon Satelliten, sogar eine ganze Menge. Ich werde dich daher nur im äußersten Notfall damit kontaktieren.“
„Wie funktioniert das?“
„Trag ihn am Körper oder halte ihn in der Hand, dann verstehe ich was du sagst und du verstehst, was ich sage. Mehr musst du im Augenblick nicht wissen.“
‚Zum Glück sehr einfach’, dachte sie, technische Geräte machten ihr Angst, obwohl sie bei den Wurift mit der Wartung komplexerer Maschinen zu tun hatte.
Er deutete auf den am Schreibtisch liegenden Papierstapel. „Ich habe mich auf den Tag, an dem ich Ivarn ungeplant verlassen müsste vorbereitet. Der Aufbruch sollte nicht überhastet geschehen und nicht zum Nachteil für die Menschen sein, für die ich jahrelang verantwortlich war. Ich möchte auf diesem Gut keine Sklaven zurücklassen. Diese Papiere belegen für fast alle meine unfreien Mitarbeiter, dass ich sie aus der Sklaverei entlasse. Es handelt sich um Freibriefe, die du bitte Ma geben sollst, damit sie sie an meine Sklaven verteilt. Sie sind alle ...“, er zögerte, „fast alle frei. Was mit dem Gut passiert, vermag ich nicht zu beeinflussen, aber das wenigstens kann ich tun. Eine Kopie aller Freibriefe liegt beim Notar in der Stadt; für alle Fälle.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Für eine einzige Sklavin habe ich keinen solchen Brief.“ Während er das sagte, ergriff er sie an den Oberarmen.
Elri ahnte, von wem er sprach. „Für mich“, stellte sie ernüchtert fest.
„Ich hatte ursprünglich vor, dich mitzunehmen.“
Sie verstand das so, dass er seinen diesbezüglichen Plan geändert hatte und wurde daher sehr traurig. Schließlich fragte sie: „Und warum geht das jetzt nicht mehr?“
„Ich habe immer vorausgesetzt, dass du mit mir mitgehen möchtest. Aber nachdem du mir erzählt hast, wie schwer es für dich war, von ‚deinen’ Kindern getrennt zu werden ... Ich möchte dir das nicht noch einmal antun.“
„Aber Tjonre“, ein Schluchzen lag in ihrer Stimme, „diese Kinder hatten niemanden außer mir. Sie sind praktisch zu Waisen gemacht worden. Die Kinder, die ich jetzt betreue, haben ihre Eltern. Ich bin für sie nicht wichtig. Bitte Tjonre, bitte, wenn du gehen musst, nimm mich mit. Ich möchte bei dir bleiben.“ Den letzten Satz flüsterte sie.
Tjonre nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Stirn. „Wenn du das möchtest, liebend gerne. Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.“ Sie lächelten sich an und empfanden tiefe gegenseitige Zuneigung. Für einen Augenblick waren sie glücklich. Dann aber erinnerte sich Tjonre an die Gefahr in der Raft schwebte. „Ich muss mich jetzt um Raft kümmern“, sagte er. „Ich komme mit ihm sobald als möglich zurück. Wie gesagt benütze ich den Kommunikator nur im äußersten Notfall, mach dir also keine Sorgen, wenn ich nicht anrufe.“ Er ließ sie los, hastete den Gang entlang und wenig später sah man ihn in Richtung Stadt reiten.


***


Yssar


Sigena öffnete mit ihrer Sicherheitskarte das Südtor. Sie und ihre beiden Begleiter, ein kleiner, feister Mann namens Keren und eine rundliche Frau mit Namen Lesera, hatten nicht viel Zeit und deshalb erschien ihr der Luftaustausch ewig zu dauern. Ein wenig zu früh riss sie die Atemmaske von Nase und Mund, sie atmete schwer und ihr Herz begann zu rasen. Aber dann war es vorbei, die zweite Tür öffnete sich und sie liefen den Gang entlang, vorsichtig aber doch schnell. Sie rechnete damit, dass der Kampf bereits an den Türen zur Zentrale tobte und hoffte auf den Überraschungseffekt. Schnell passierten sie die erste zerstörte Tür und hasteten weiter. Sie stolperte ungeschickt über noch glühende Metallteile – in einem ihrer Computerspiele wäre ihr das nicht geschehen. Ihre Schritte hallten den Gang entlang, eigentlich viel zu laut, aber weiter vorne hatte das Gefecht begonnen und würde wohl den Lärm übertönen, den sie verursachten – dachte sie. Dass diese Annahme irrig war, erkannte sie, als ein Plasmaimpuls haarscharf an ihrer linken Schulter vorbei in eine Gangrippe fuhr und dort beträchtliche Verwüstung verursachte. Schneller als sie denken konnte, schoss sie zurück und traf die Person, die gefeuert hatte. Diese schrie auf und taumelte hinter eine Rippe, nur von dem Schutzanzug gerettet. Da kam ein weiterer Plasmaimpuls von weiter hinten und traf den Mann neben ihr in die Schulter und riss ihm den Arm ab. Sigena ging augenblicklich in die Knie und schoss im Dauerfeuer auf die zweite Person, die ungeschützt dastand. Von ihren Spielen her wusste sie, dass dies die einzige Strategie war, um den Schutzpanzer zu durchdringen. Währenddessen war Keren, der Chemiker der Station, ohnmächtig zu Boden gesunken. Als er wieder das Bewusstsein erlangte, wunderte er sich über den ätzenden Geruch verbrannten Fleisches, bis er merkte, dass dieser von den Resten seines Armes herrührte. Dann schrie er aus Leibeskräften, aber nicht mehr lange, denn das Blut trat trotz des Schocks in Strömen aus der Wunde aus, bis der Leichnam in einer gewaltigen roten Pfütze lag. All das geschah, ohne dass Sigena Zeit hatte, darauf zu achten oder darüber entsetzt zu sein. Auch die wenig kampfaktive Lesera, Kommunikations- und Ethikexpertin des Teams, war innerlich kaum berührt – in ihrem Fall lag das aber an einem chronischen Mangel an Einfühlungsvermögen.
Das nur Sekunden währende Dauerfeuer hatte schließlich Erfolg. Abrupt wurde der schillernde Anzug matt und der Strahl durchdrang ihn und bohrte sich in Sithas Herz, die augenblicklich leblos zu Boden sank.
Franaks Sicht hatte sich inzwischen wenigstens so weit gebessert, dass er seine Gegner als Konturen ausmachen konnte. Er sprang hinter der Deckung hervor und feuerte auf Sigena, die er als die Gefährlichere erkannt hatte. Der Strahl durchbohrte sie förmlich im Nabelbereich und trennte die obere und die untere Körperhälfte. Beide berührten fast gleichzeitig den Boden. Dann wandte er sich der unfähigen Lesera zu, traf sie im Halsbereich, sodass der Kopf wie der Korken einer Sektflasche in die Höhe schoss und ihr Blut aus dem Halsansatz hervorsprudelte, während der Körper steif nach hinten kippte. All das interessierte Franak aber nicht mehr. Er lief zum Leichnam Sithas und stieß einen gequälten Schrei aus. Er blickte auf das kleine Loch im Schutzanzug, etwa im Herzbereich und wusste, dass es vorbei war. Warum ausgerechnet sie? Warum Sitha, zu der er sich so hingezogen gefühlt hatte?


***


Es war vorbei. Franak stapfte in die Zentrale, über ganze Leichen und Leichenteile, immer noch mit getrübter Sicht, was, wenigstens im Augenblick, ganz gut war. Alle Piraten waren tot, von den Leuten der Patrouille hatte es nur eine erwischt, Sitha. Verletzte gab es keine, dank der Schutzanzüge, aber alle waren sehr erschöpft. Es war mehr eine seelische, denn eine körperliche Erschöpfung. Triumphgefühl wollte jedenfalls keines aufkommen und nicht nur deshalb, weil eine aus ihrem Team den Tod gefunden hatte. Sie gehörten alle ganz bestimmt nicht zu den Menschen, in denen das Töten Euphorie auslösen konnte und die unmittelbare Lebensgefahr brauchte auch keiner von ihnen, um sich wohl zu fühlen; im Gegenteil.
Keinen Moment kam es Franak in den Sinn über das Missverhältnis zwischen den Toten auf ihrer Seite und jener der Piraten nachzudenken, zu überlegen, warum die Piraten dermaßen schlecht bewaffnet waren und im Umgang mit den Waffen so ungeübt. Wieder nahm er die eigene Kompetenz unkritisch als gegeben hin. Er blickte zu den anderen, Ezza, Orej, Relav’s Team, die alle müde oder traurig wirkten oder geschockt. Da war es gut, dass sich plötzlich das Com einschaltete, das Holo einer von einem Schutzanzug umhüllten Araissa erschien. Sie blickte Franak an und schaltete dann innerlich auf den Text, den sie für den Sieg der Patrouille vorgesehen hatte: „Franak, wir haben euer Signal erhalten. Wie geht es euch? Gab es Verluste? Gibt es Überlebende bei den Piraten?“
Franak blickte sie trüb an. Er machte sich inzwischen Sorgen, ob die Sehstörungen dauerhaft sein würden. Er würde das später von Relav, dem Schiffsarzt und zweiten Offizier untersuchen lassen. „Keine Überlebenden, nein. Und leider ja. Eine Kameradin ist gestorben.“
Araissa blickte entsetzt. „Oh wie schrecklich, das tut mir aber leid.“ In Wahrheit tat es ihr überhaupt nicht leid, es interessierte sie eigentlich gar nicht, obwohl sie automatisch mitzählte, wie viele noch übrig waren. Was sie als wichtig empfand war die Tatsache, dass das Stationsteam vollständig eliminiert worden war. Also konnte keiner mehr reden.
„Wie ist es euch ergangen?“, wollte Franak wissen.
„Nun, äh, wir haben sie tatsächlich beim Aufladen erwischt und sind ohne Verluste davongekommen.“
„Gibt es überlebende Piraten?“
„Ja, einige“. Endlich konnte sie einmal die Wahrheit sagen. Nicht dass sie darauf besonderen Wert legte. „Franak ich schlage vor, dass wir rüberkommen und dann gemeinsam den Bericht an die Föderation verfassen“. Das war ihm ganz recht, jetzt einen Bericht zu verfassen, war eine Qual, er konnte Unterstützung gebrauchen.
„Ja bitte, du wärst mir wirklich eine Hilfe. Komm.“ Sie winkte, dann war der Kontakt unterbrochen.
‚Gut’, dachte sie, ‚dann werden sie die Föderation nicht informieren, bevor ich bei ihnen bin und danach – wird es zu spät sein’. Alles entwickelte sich prächtig, sie war bester Laune.


***


Sie stand vor der Ostschleuse, wie er auf dem Bildschirm sehen konnte und winkte lässig mit der einen Hand, in der anderen hatte sie etwas, das wie eine große Flasche aussah. „Lass mich rein.“ Er öffnete. Sie passierte den Luftaustauschbereich und öffnete den Helm. Mit großen Augen wie ein Kind zu Weihnachten registrierte sie die Verwüstung. ‚Mein Werk‘, dachte sie. Sie war sehr stolz auf sich. Als sie gar die herumliegenden Leichenteile erblickte und sah, wie schwierig es war, den Blutpfützen auszuweichen, erfüllte sie ein reines Gefühl der Freude, eine Glückseligkeit, wie man sie nur selten im Leben empfindet. Sie stapfte weiter, verträumt, wie durch ein Zauberland und wich zerstörten Stromleitungen aus, an deren Enden gelegentlich Funken sprühten. Sie näherte sich der Zentrale. Gleich, das wusste sie, würde ihr Gesicht eine Mischung aus Mitgefühl und Entsetzen widerspiegeln, das ging ganz automatisch, sie musste gar nichts dazu tun. Auch dieser Raum bot ein sehr desolates Bild, aber wie durch ein Wunder waren die wichtigsten Instrumente heil geblieben. Die kleine Menschengruppe sah nicht besser aus als der Raum. In einer Ecke stapelten sich die Schutzanzüge, jeder war froh gewesen ihn los zu sein. Apathisch hockten die Patrouillenleute auf den Stühlen, zwei sogar auf dem Boden. Sie hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, dass diese elende Gruppe nichts Eiligeres zu tun hatte, als Bericht zu erstatten. Nur Franak stand und blickte in ihre Richtung. Als er ihren Gesichtsausdruck sah, meinte er einfühlsam: „Ich hätte dich vorwarnen müssen. Du hättest das Gebäude durch das Nord- oder Westtor betreten sollen. Die einzigen Bereiche, die noch im Originalzustand sind. Den Südgang habe ich noch nicht gesehen, aber er sieht sicher nur wenig besser aus als der Ostgang. Wenn überhaupt.“
„Ihr habt ganze Arbeit geleistet, ihr könnt stolz sein.“ ‚Auf eure Dummheit“, ergänzte sie in Gedanken.
„Wo sind deine Leute?“
„Die kommen nach.“ Sie hob die Flasche mit der smaragdgrünen Flüssigkeit. „Ich hab’ einen Nijem-Wein mitgebracht, ich denke, den können wir jetzt alle gut gebrauchen.“
„Uns ist nicht gerade nach feiern“, entgegnete Franak müde.
„Ich weiß, mir auch nicht“, meinte Araissa mit traurigem Unterton, „aber nach so einer Tragödie ist es gut, wenn man sich entspannen kann. Nichts wirkt da so gut wie Nijem. Wenn ihr nur ein paar Gläser besorgen könntet?“
Franak nickte zu Orej, der in die angrenzende Küche ging und bald mit einem Tablett zurückkehrte, auf dem zehn Gläser standen. Araissa öffnete die Flasche und schenkte randvoll ein. Wegen der Größe der Flasche brauchte sie beiden Hände dazu. Sie stellte sie ab, reichte jedem ein Glas, Franak das erste, und nahm selbst das vorletzte. Nach dem letzten griff Orej, dann erst stellte er das Tablett auf einen Tisch. Die meisten genehmigten sich zunächst nur einen Schluck, aber das Getränk erfüllte sie sofort mit Wärme und dem Gefühl der Leichtigkeit, sehr angenehm. Alle wurden schnell entspannt, fühlten sich wohler und tranken jetzt schneller. „Wow!“, Franak war überrascht. „Sieht giftig aus, wirkt aber phänomenal! Nijem heißt das Zeug?“ Araissa nickte und ließ ihn reden. „Stammt das nicht von diesem Planeten der Gesetzlosen, wie heißt der gleich?“ Er grübelte, dann erhellte sich seine Mimik. „Ivarn. Richtig. Das weiß ich, weil einer, mit dem ich gemeinsam die Ausbildung begonnen habe, dort stationiert ist. Ein ziemlicher Versager. Unsere Wege haben sich dann bald getrennt, er ist sozusagen in der Ausbildung stecken geblieben.“ Franak lachte und Araissa fiel ein. In Gedanken registrierte sie: ‚Männlich und wahrscheinlich vom gleichen Planetensystem wie Franak’, denn die Ausbildung wurde immer dort begonnen, wo die Registrierung stattgefunden hatte. Also meist am Heimatplaneten. Es war Grundgesetz innerhalb der Patrouille, dass niemandem, auch nicht Kollegen, ja nicht einmal engsten Freunden, etwas über die Karriere von verdeckt ermittelnden Patrouillenangehörigen erzählt wurde. Ezza hatte diesen Fauxpas mitbekommen, gab daher Franak einen Tritt auf das Schienbein und blickte ihn finster an. Der blickte ebenso finster zurück. Araissa stellte fest, dass er verstanden hatte. Es hatte also keinen Sinn mehr, nach dem Namen zu fragen, aber wahrscheinlich hatte er sowieso eine falsche Identität angenommen. Sie musste indirekt fortfahren. Sie blickte ihn lächelnd und scheinbar interessiert an, kräuselte mit der freien Hand eine ihrer blonden Locken.
„Von welchem Planeten stammst du eigentlich?“
„Wägan“, antwortete er.
‚Wägan’, dachte sie, ‚der Verräter stammt also von Wägan. Das kann ja nicht schwierig werden, den aufzuspüren, mehr als ein Dutzend Wäganer werden sich ja kaum auf Ivarn aufhalten. Wägan - was ist das überhaupt für ein Planet? Den lernt man ja nicht einmal in der Schule.’ Nicht dass sie je eine Schule besucht hätte. Laut meinte sie: „Ich weiß leider kaum etwas über deine Heimat. Wie ist Wägan so?“
„Oh Galaxis! Langweilig! Warum glaubst du bin ich zur Patrouille gegangen?“ Er lachte und nahm noch einen Schluck. Die meisten hatten inzwischen ihre Gläser geleert und aufgehört, Trübsal zu blasen. Es herrschte eine gedämpft fröhliche Stimmung. Franak fuhr fort: „Überall Wasser. Der Planet prägt einen. Da, schau!“ Franak hielt ihr die Hand entgegen und spannte die Schwimmhaut zwischen den Fingern.
Araissa blickte überrascht und amüsiert. „Habt ihr das alle?“
„Klar.“
„Auch zwischen den Zehen?“
„Besonders zwischen den Zehen.“
„Hast du auch irgend was besonderes?“, fragte er sie, „vielleicht eine meterlange Zunge oder so was? Von wo stammst du eigentlich?“
Sie wollte gerade eine hübsche Lüge erzählen, als das Schleusensignal blinkte. Sie blickte auf den Bildschirm und lächelte. „Ah, meine Leute sind da. Lasst sie bitte rein!“ Jemand kam dem Wunsch nach und die Ostschleuse öffnete sich. Vier Personen in Schutzanzügen traten ein. Franak, der auf den Bildschirm blickte, registrierte das und noch ein paar andere aus seinem Team, aber die meisten waren inzwischen in einer zu heiteren Stimmung, um sich noch für unbedeutende Ereignisse zu interessieren.
„Na ja, ein bisschen Nijem ist ja noch da“, meinte Franak, der über den Gedanken, den Inhalt zu teilen, nicht glücklich war. Araissa begann, ihm eine spannende und völlig frei erfundene Geschichte über ihre Kindheit auf einem wenig bekannten Planeten der Föderation zu erzählen, so lange, bis ihre vier Kameraden die Zentrale betraten. Franak stellte mit Erstaunen fest, dass sie ihre Visiere nicht aufgeklappt hatten. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch Araissa ihren Schutzanzug noch anhatte. „Kommt rein!“, rief er, „wollt ihr nicht eure Schutzanzüge ausziehen? Du auch Araissa?“
„Nein“, antwortete sie, wobei sie plötzlich auf eine ganz eigentümliche, ja beängstigende Weise lächelte, „die brauchen wir noch.“
Franak bemerkte, dass sie plötzlich eine Pistole in der Hand hielt. Hatte Nijem eine halluzinogene Wirkung? Auch Araissa’s Kollegen hatten ihre Pistolen ergriffen und richteten sie auf Franak’s Leute. Etwas Unerwartetes und Bedrohliches ging vor sich, das wurde ihnen jetzt trotz ihres trüben Zustandes schlagartig klar.
„He, was soll das?“, fragte Franak, wobei er die Arme seitlich wegstreckte, die Handflächen zu Araissa gedreht, um Harmlosigkeit zu demonstrieren. „Wir sind von der Patrouille, genau wie ihr!“ ‚Kann es sein’, dachte er, ‚dass sie uns für Piraten halten?’
Araissa blickte ihn sichtlich belustigt an. „Na ja, nicht genau wie wir. Vielleicht sollte ich uns vorstellen. Zunächst zu mir. Mein Name ist nicht Araissa SeFrin. Die ist tatsächlich Kommandantin der Patrouille, aber weit, weit weg. Ich heiße Reja OrPhon vom Planeten Ivarn.“
Franak schüttelte entschieden den Kopf. „Das ist völlig unmöglich. Deine Identität ist mit Sicherheit gleich beim ersten Kontakt überprüft worden.“
Reja lächelte ihr bezaubernstes Lächeln. „Aber wenn ich’s dir doch sage! Ich bin wirklich Reja. Mein Cousin hat überall in der Föderation Agenten. Es gibt sooo viele geld- und machtgierige Menschen, die leicht zu bestechen sind. Die Daten von Commander SeFrin zu manipulieren, war einfach, sie arbeitet nicht verdeckt. Eigentlich wollten wir ja den Sicherheitscode der Station. Rammbock“, sie zeigte auf den größten ihrer Begleiter, „hatte die Idee, dass wir uns den Code besorgen, weil wir gegen die Sicherheitseinrichtungen der Station keine Chance gehabt hätten und wir wollten das seltene Metall, Eleftrin, das hier abgebaut wird unbedingt. Yssar hat einzigartige Lagerstätten. Leider konnte mein Cousin an den Stationscode nicht herankommen. Ihr schützt ihn ziemlich gut, wie leider auch eure verdeckt ermittelnden Agenten. Na ja, jedenfalls hatte ich dann die Idee, wie wir nicht nur den Code bekommen könnten, sondern uns auch die Arbeit ersparen.“
„Was?“, Franak war entsetzt, wie auch alle anderen seinen Teams, „Die Leute, die wir erschossen haben waren gar keine Piraten?“
Sie lachte. „Du bist ganz schön schlau! Ihr habt gedacht, sie sind die Bösen und ich hab’ ihnen eingeredet, dass ihr die Piraten seid. Ihr seid mir beide auf den Leim gegangen. Das war ziemlich lustig, weil nämlich wir die Bösen sind!“ Der Mann, den Reja als „Rammbock“ bezeichnet hatte, hob sein Visier an und offenbarte nebst einem grausamen Gesichtsausdruck eindrucksvolle Tätowierungen. „Hast du dich nicht gefragt, warum ich bei unserer ersten Konferenz alleine aufgetaucht bin?“, wollte Reja wissen und gab gleich selbst die Antwort, „mit all den Tätowierungen hättet ihr meine Freunde nie für Angehörige der Patrouille halten können.“
„Und was jetzt, Araissa – ich meine Reja“, wollte Franak wissen, nachdem er sich vom schlimmsten Schock zumindest teilweise erholt hatte, „wollt ihr Lösegeld für uns verlangen?“
Reja schüttelte den Kopf. „Jetzt ... seid ihr überflüssig.“
„Du wirst uns nicht erschießen!“ Franak sprach dies mit dem Brustton einer durch enormes Selbstbewusstsein verursachten Überzeugung aus.
Reja zog die Augenbrauen hoch und blickte ihn amüsiert an. „Doch!“ Zehn Schüsse fielen – drei zu viel, weil die Piraten sich vorher nicht abgesprochen hatten, wer wen umbringen sollte – und sieben Menschen hauchten ihr Leben aus. Franak wurde von nur einem Plasmaimpuls niedergestreckt, der aus Reja’s Pistole stammte. Die Prinzessin lächelte, sehr zufrieden mit sich selbst und hob mit der freien Hand die Nijem-Flasche. „So Jungs, jetzt will ich feiern! Und dann – kümmere ich mich um diesen verräterischen Mann von Wägan, der auf Ivarn spioniert!“


***


Ivarn


Elina war zur Abwechslung bekleidet, wenn auch nur spärlich. Das kurze, rote, schulterfreie Kleid war hauptsächlich durchsichtig und ließ der Phantasie des Betrachters nicht allzu viel Spielraum. Raft hockte am Rand des großen, runden Bettes und schüttelte sein mächtiges Haupt in der Hoffnung, er könne damit die Lethargie vertreiben, die ihn langsam – nach und nach – befallen hatte. Sein Avon hatte nicht anders geschmeckt, als sonst auch und daher hatte er keinen Verdacht geschöpft. Die Droge, die sich darin befand, raubte ihm zwar nicht die Besinnung, wohl aber seinen freien Willen. Elina hockte in der Mitte ihres Bettes und sah zu. „Nun, Raft, Raftilein“, gurrte sie, „wie fühlst du dich?“ Raft blickte sie aus trüben Augen an, sagte aber nichts. „Ah, du kämpfst noch! Wie du willst, aber lass dir gesagt sein, dass du gegen die Wahrheitsdroge keine Chance hast. Du wirst mir im Endeffekt alles sagen, was ich wissen will.“ Sie lachte ihr perlendes, falsches Lachen. „Und dann ... nun, wir werden sehen.“ Sie spielte mit der Phiole, die das tödliche Gift enthielt, das sie ihm injizieren würde, sollten die Antworten so ausfallen, wie sie das erwartete.
Raft bemühte sich, etwas zu sagen, brachte aber kaum mehr den Willen dazu auf. Schließlich keuchte er mühevoll: „Wieso ...“.
Elina zog ihren Schmollmund. „He, das ist unfair. Nicht du sollst mich fragen. So gehen die Spielregeln nicht! Aber immerhin, die eine Frage kann ich dir ja beantworten.“ Ihre Wimpern klimperten und sie verzog ihren Mund zu einem bösen Lächeln. „Du musst wissen, Tjonre hatte recht. Ich bin ein Biest! Aber ich habe auch meine guten Seiten. Zum Beispiel die, dass sich mein Liebhaber auf mich verlassen kann, zumindest solange er mich nachher reich beschenkt. Willst du den Namen meines Liebhabers wissen? Den sage ich dir nämlich gerne. Er ist kein so unbedeutender Mann wie du. Sein Name ist ... Ephram OrPhon!“
Trotz des Zustandes in dem Raft sich im Augenblick befand, wurde ihm klar, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckte. Es gelang ihm nur nicht, sich deswegen Sorgen zu machen. Der eigene Wille war ihm völlig abhanden gekommen, nur gelegentlich, für Sekundenbruchteile, tauchte er auf. Raft war sich sicher, dass das so nicht beabsichtigt war. Es bestand also ein wenig Hoffnung.
„So“, meint Elina, „wir müssten jetzt eigentlich soweit sein.“ Sie zückte ein kleines Aufnahmegerät und schaltete es ein. Ephram war kein sehr vertrauensseliger Mensch. „Nun, Raft, beginnen wir gleich einmal mit der alles entscheidenden Frage: Ist Tjonre, dein Gutsherr, ein Agent der Magellanschen Föderation?“
Raft blickte sie finster an, verfügte darüber hinaus aber über keinen weiteren Widerstand, da ihn das Gespür dafür, was gefährlich oder was wichtig war, völlig verlassen hatte. Er betrachtete alles mit Gleichmut, alles war gleichgültig. Er war froh, eine Frage beantworten zu können, ohne nachdenken zu müssen. Nachdenken war nämlich sehr anstrengend und musste unbedingt vermieden werden. Je schneller er eine Frage beantwortete, desto weniger lange musste er über die Antwort nachdenken. In dem trüben Zustand in dem er sich befand, war Nachdenken eine fürchterliche Qual. Sich zu konzentrieren war äußerst schwierig. Daher antwortete er schnell: „Na klar Mädchen, du sagst es.“ Dann dämmerte er wieder vor sich hin – die einzige Verfassung, in der sich die Neuronenbrühe, die die Droge aus seinem Gehirn gemacht hatte, wohl fühlte.
„Na fein, es funktioniert!“ Elina freute sich wie ein Kind. „Du musst wissen, ich verwende diese Droge zum ersten Mal. Ich war mir wegen der Dosierung nicht ganz sicher. Nächste Frage: Bist du ein Agent der Föderation?“ Raft nickt langsam mit seinem Kopf. „Ich will es hören – Ephram will es hören“, sagte sie, „antworte mit ja oder nein!“
Raft nickte weiter mit dem Kopf und brummte jedes Mal, wenn er ihn hob: „Ja“. Nach einer Weile ging Elina das ja – ja – ja - ja ... auf die Nerven. Sie fuhr mit der Befragung fort. „Gibt es außer euch noch andere Agenten der Föderation auf diesem Planeten?“
„Weiß ich nicht. Schon möglich. Wahrscheinlich.“
„Habt ihr zu sonst jemanden Kontakt?“
Jetzt schüttelte Raft den Kopf. „Nein – nein – nein ...“
„Wer hat noch gewusst, dass ihr Agenten seid?“
Raft blickte sie mit weit aufgerissenen Augen an, zögerte kurz. „Niemand“, flüsterte er schließlich.
„Welches war eure Aufgabe?“
„Spionieren, hä, hä, hä“, antwortete er.
Elina wurde wütend. Sie fauchte: „Das ist mir schon klar! Etwas genauer!“
Raft war aber im Augenblick zu langwierigen Gedankengängen nicht in der Lage. „Einfach nur schauen was sich so tut und Gefahr für die Föderation abschätzen. Der zurückgebliebene Planet ist den ganzen Aufwand nicht wert, wenn du mich fragst“, brummte er.
„Wem habt ihr Meldung gemacht?“
„Talira.“
„Talira? Wer ist Talira? Hattest du nicht gesagt, es gibt hier keine weiteren Agenten, die du kennst?”
„Kein Agent. Talira!“ Und in erklärendem Tonfall ergänzte er, wobei er ihr direkt in die Augen sah: „Kleiner Vampir.“
Elina wurde aus Unzufriedenheit immer wütender. Sie schäumte inzwischen. „Verdammt was ist das für ein Zeug? Ich dachte die Droge ist das neueste am Markt! Was der sagt ist doch alles Schwachsinn!“ Sie beschloss, in Zukunft vor der Verwendung von neuen Giften und Drogen doch zunächst die Gebrauchsanweisung zu lesen. Rafts stupider Gesichtsausdruck wurde – wütend wie sie war - für sie schließlich zuviel. „Was solls!“, giftete sie, „ich weiß genug! Ich hol die Spritze, erledige ihn und überlass den Rest den Gebrüdern GnErwan!“ Raft starrte sie weiter dümmlich an. „Du blödes Vieh!“, zischte sie verärgert, holte mit der Rechten aus und schlug ihm damit so heftig wie möglich ins Gesicht. Das erwartete klatschende Geräusch blieb aus. Der Bart diente als Schalldämpfer. Die gesamte Aktion erwies sich, was ihr Vorhaben betraf, als äußerst negativ. Hätte sie die Gebrauchsanweisung sorgfältiger gelesen, wäre ihr vielleicht die Stelle aufgefallen, wo stand, dass man das Opfer nicht heftig – am besten gar nicht – berühren sollte, da dies für einige Augenblicke die Wirkung der Droge aufheben konnte. Tatsächlich wurde Rafts Blick für einen Moment klar; und kurz darauf sah Elina eine mächtige Pranke auf sich zukommen. Ihr blieb keine Zeit mehr auszuweichen oder auch nur zu erschrecken. Sie segelte wie eine kleine Puppe mehrere Meter vom Bett weg um schließlich in einem Eck des Raumes vor der Tür zum Gang bewusstlos und aus dem Ohr blutend liegen zu bleiben. Raft blickte staunend auf seine gewaltige Hand und versank schließlich wieder ins Delirium.


***


Tjonre betrat raschen Schritts die Taverne, die zu dieser Tageszeit gesteckt voll war. Der Lärm einer ausgelassenen Menschenmenge brandete ihm entgegen, Rauch brannte in seinen Augen und biss in seine Nase, die zusätzlich durch Schweißgeruch und Alkoholdunst beleidigt wurde. Aus dem Augenwinkel erkannte er Evwam, einen mittelgroßen, trotz bombastischer Kleidung unauffällig wirkenden, braunhaarigen Mann der ihn zunächst kurz anstarrte, aber sofort wegsah, als er den Blick von Tjonre auf sich spürte. ‚Du bist also in diese Geschichte eingeweiht’, dachte Tjonre und wertete das als weiteren Beweis für drohende Gefahr. Raft hatte ihm erzählt, dass sein Stelldichein mit Elina stets in dem großen Zimmer mit dem runden Bett in der Mitte stattfand, auch der Weg zu diesem Zimmer war ihm von früheren Gesprächen her bekannt, er brauchte also nicht erst zu suchen. Er drängte sich rücksichtslos durch die Menge, was einige Empörung hervorrief, gelangte schließlich zu den Stufen die er hinauf hastete. Er rannte den Gang entlang zur letzten Tür und versuchte sie zu öffnen, aber wie erwartet war sie abgeschlossen. Dann rief er laut Rafts Namen, immer noch hoffend, dass er sich unnötig Sorgen gemacht hatte. Erst als dieser nicht antwortete, zögerte er nicht mehr länger, griff hinter seinen Rücken zur Handfeuerwaffe, einem mittelgroßen Plasmaimpulsstrahler, entsicherte ihn und schoss auf das Türschloss, von dem kaum etwas übrig blieb. Der Lärm der von unten kam, überdeckte den dumpfen Knall fast vollständig. Er trat gegen die Tür, in der Erwartung, dass sie aufschwingen würde, doch diesen Gefallen tat sie ihm nicht. Irgendetwas blockierte sie. Er presste die Schulter dagegen und schob sie auf. Ihm bot sich ein erstaunlicher Anblick. Auf dem Boden liegend sah er die üppige und blutende Gestalt Elinas, die sich nicht rührte. Neben ihrem rechten Arm lag eine Phiole in der sich eine klare, aber trotzdem bedrohlich wirkende Flüssigkeit befand. Am Bettrand saß der massige Raft und blickte trüb und teilnahmslos vor sich hin.
„Raft, was ist geschehen?“
Mechanisch antwortete der Angesprochene, der sich immer noch unter der Wirkung der Wahrheitsdroge befand: „Elina hat mich befragt. Ob wir Agenten der Magellanschen Föderation sind.“
„Und was hat du geantwortet?“
„Die Wahrheit natürlich, hä, hä, die Wahrheit.“
Tjonre fluchte in einem wäganischen Dialekt. „Wir müssen hier fort und zwar schnell!“ Er untersuchte rasch Elina, stieß sie mit dem Fuß an, wobei er stets die Waffe auf sie gerichtet hielt. Er kam zu dem Schluss, dass sie entweder bewusstlos war oder tot, möglicherweise hatte sie einen Schädelbasisbruch. Währenddessen hatte sich Raft nicht gerührt. Tjonre schrie deshalb: „Los, steh auf!“ Raft rührte sich nicht, was Tjonre ziemlich nervös machte, denn er war sich dessen bewusst, dass er ihn nicht tragen konnte. Er lief zu ihm und schüttelte ihn so heftig, wie ihm das möglich war. Das wirkte. Raft gab ein würgendes Geräusch von sich und übergab sich. Ein Schwall halb verdauter Nahrung ergoss sich auf das Bett. „Uuuuh“, machte Tjonre und wich vor dem Geruch zurück. „Immerhin. So gefällt mir das Bett wesentlich besser.“ Raft schien halbwegs aus der Trance zu erwachen. „Wir müssen zum See! Komm jetzt!“ Er zog ihn am Arm und langsam und mühselig raffte sich der Bärtige auf. „Um Himmels willen! Stütz dich nicht auf mich! Du zerquetscht mich!“ Raft trottete mühselig hinter Tjonre her. Er kam langsam wieder zu sich.
„Wir müssen Elina erledigen“, meinte er.
„Die ist hinüber“, antwortete Tjonre. „Wie hast du das gemacht?“ Aber zu einer längeren Erklärung war Raft noch nicht imstande. Sie verließen schwankend das Zimmer. Tjonre stützte den kleineren, aber erheblich schwereren Mann, indem er dessen Arm um seine Schulter legte. So gingen sie den Gang entlang und die hölzerne Treppe hinunter. Tjonre hielt nach Evwam Ausschau, doch der hatte sich unsichtbar gemacht. Evwam war wahrscheinlich für ihn nicht gefährlich, spielte bei dem Komplott wohl keine aktive Rolle, aber er duldete es. Natürlich. Für einen Geschäftsmann war es sehr unklug, den OrPhons in die Quere zu kommen und allzu viel Gewissen konnte man sich sowieso nicht leisten, wollte man erfolgreich sein. Tjonre hatte befürchtet, dass es äußerst mühselig sein würde, mit dem zusätzlichen Gewicht des halb betäubten Raft durch die Menge zu kommen. Aber dessen Reflexe funktionierten bereits wieder ganz gut. Wer immer ihm im Weg stand, wurde rabiat zur Seite gestoßen, sodass der Weg für die beiden bald frei war. Allerdings begleiteten sie ungehaltene Schmährufe. Rafts Droschke parkte zum Glück in der Nähe des Eingangs. Tjonre hatte seine Harpyie an die Rückwand der Droschke gebunden, um eine rasche Flucht zu gewährleisten. Unter großer Mühsal hievte er den nun wieder passiven Raft auf den Sitz, band die Zugtiere los und setzte sich neben ihn. Tjonre war klar, dass Elina nicht allein agierte. Die Mörder würden kommen, die Frage war nur, wie viel Zeit ihnen noch blieb und mit welchem Waffenarsenal sie rechnen mussten. Er trieb die Tiere an, fuhr jedoch nicht in Richtung Gutshof. Seine jahrelange Heimat würde er wohl nie wieder sehen. Er wusste, dass es für alle am wenigsten gefährlich war, wenn er jetzt Elri kontaktierte, solange er sich noch in der Stadt, die vor Leben nur so brodelte, befand. Das Getümmel würde einen Angriff auf ihn und Raft erschweren und Elri musste so schnell wie möglich den Gutshof verlassen. Er nahm den Kommunikator zur Hand und versuchte den Kontakt herzustellen. Dass ihm das nicht sofort gelang, bereitete ihm erhebliche Sorgen. Seine Phantasie spiegelte ihm die wildesten Bilder vor: der zerstörte Gutshof, rauchende Trümmer, in ihrer Mitte die schwer verletzte oder tote Elri und „ihre“ Kinder, jammernd, ebenfalls verletzt und versehrt. Es war für ihn daher eine Erlösung, als er ein zögerliches „Ja?“ vernahm.
„Elri! Geht es dir gut?“
„Jetzt ja! Ich habe mir Sorgen um dich gemacht! Ich hatte Angst, dass dir etwas passiert ist.“ Erleichterung schwang in der Stimme der sonst so Scheuen mit.
„Mir geht’s gut. Elri, hör mir zu! Ich hätte dich nicht angerufen wenn ich nicht recht gehabt hätte. Elina war gerade dabei, Raft zu verhören und wollte ihn anschließend sicherlich umbringen. Irgendwie hat er sie allerdings erledigt. Aber sie ist sicher nicht alleine! Deshalb müsst ihr so schnell wie möglich den Gutshof verlassen und zwar alle! Gib nicht Ma sonden dem Aufseher SvErin die Urkunden. Er ist zuverlässig und wird sie den anderen morgen geben. Die Leute sollen sich zerstreuen. Dann bilden sie kein gutes Ziel. Nimm zusammen mit Ma eine Droschke. Nehmt den Weg nach Westen zum alten Steinbruch. Ma kennt ihn. Wir fahren ebenfalls dorthin und treffen euch dort. Alles weitere später. O. k.?“ Elri bestätigte.


***


Ihr Schädel summte wie ein Bienenschwarm und es handelte sich offenbar um sehr aggressive Bienen. In ihrem Ohr klang ein reiner Ton nach, so laut, dass sie kaum etwas anderes hörte. Zum Geruch des Blutes - ihres Blutes, wie sie empört feststellte – gesellte sich der übelkeitserregende Gestank von Erbrochenem. Selbst die Schmerzen in ihrem Kopf konnten ihren Zorn über die Niederlage nicht dämpfen. Aber verloren war lediglich die Schlacht, nicht der Krieg. Die beiden hatten einen Fehler gemacht, den sie noch bereuen würden, dass schwor sie sich. Sie hatten sie am Leben gelassen. Sie rappelte sich auf und wankte mühselig und fluchend zum Bett wo sie voller Ekel das Aufnahmegerät aus dem Erbrochenen fischte. Dann ging sie weiter in Richtung Bad, schwemmte es am Waschbecken ab und verstaute es in ihrer Handtasche, die neben dem Becken auf einem Kästchen lag. Elina hatte ihr technisches Spielzeug getarnt, als Schmink - Accessoire. Sie griff abermals in ihre Handtasche und entnahm ihr die vermeintliche Puderdose. Wenig später meldete sich eine Stimme. „Ist er erledigt?“ Einer der Brüder GnErwan, Melor, war am Apparat.
„Verdammt, nein!“, zischte sie. „Aber sie sind definitiv Agenten der Föderation und damit vogelfrei. Kommt und holt mich ab. Nehem soll den Hubschrauber hinter den Sklavengehegen landen. Wir treffen uns dort. Ich habe mehr als nur eine Rechnung offen.“ Sie entledigte sich ihrer zerfetzten und bluttriefenden Spitzenkleidung, wusch sich das blutende Ohr und die Nase, sehnte sich dabei nach einer richtigen, ausgiebigen Dusche; hastig korrigierte sie ihr aus den Fugen geratenes Make-up; dann wählte sie robustere Kleidung, Jacke und Hose ganz in schwarz und aus Leder, die ebenfalls schwarze Bluse aus exotischer Seide. Sie entschied sich für praktische Schuhe, die allerdings farblich dazu passen mussten. Schließlich kann niemand über seinen Schatten springen. Sie nahm die Handtasche und eilte durch das runde Zimmer, betrat den Gang und verließ schließlich ohne von jemand gesehen zu werden Evams Taverne durch einen Hintereingang.
Schnell ließ sie die Lichterflut der Stadt hinter sich. Vorbei am Auktionshaus ging sie den schmalen Pfad zwischen Bestien- und Sklavengehege entlang; beide waren jetzt leer. Sie hatte ihrer Handtasche eine kleine Lampe entnommen, die sie einschaltete. Die Nacht war tiefschwarz; man sah keine Sterne, auch keiner von Ivarns sieben Monden war zu sehen. Außerhalb des schmalen Lichtkegels war die Finsternis undurchdringlich. Der Lärm der Stadt verebbte; nur ein kaum wahrnehmbares Rauschen und tiefes Brummen blieb. Elina fühlte sich in der Einsamkeit nicht wohl. Sie war für den Trubel und Menschenmassen geschaffen. All ihr Interesse war auf Menschen, Macht, Machtmissbrauch und Manipulation gerichtet. Das Gefühl des Unbehagens erlosch erst, als der gleißende Strahl ihrer Handlampe ein menschliches Wesen erfasste: Melor. Gleich dahinter stand ein überaus eleganter, stromlinienförmiger, nicht allzu großer, schwarzer Helikopter. Am Steuer saß der zweite der GnErwan – Brüder, Nehem. Beide waren dunkel gekleidet, wie das in ihrer Zunft üblich war. Beide verfügten über keine Mimik – Elina hatte sie noch nie lächeln gesehen; aber auch noch nie zornig, ängstlich, erfreut oder sonst irgendeinen Gefühlszustand wiedergebend. Beide waren mittelgroß und durchtrainiert, der eine hager, mit wallendem dunklen Haar und glattrasiertem Gesicht; der andere athletisch, mit Glatze und einem dichten braunen Bart.
„Wie man sieht, hast du deine Aufgabe brillant gemeistert!“ In Melors Stimme, nicht aber in seinen starren Gesichtszügen lagen Hohn und Spott.
„Meine Aufgabe war, die beiden der Spionage zu überführen!“, giftete sie, „und das ist mir gelungen. Ich habe ein Mem des Verhörs. Eure Aufgabe ist es, die beiden ins Jenseits zu befördern!“
„Du hättest uns das aber erheblich vereinfachen können. Wie konnte er entkommen?“
Elina hatte nicht vor, die für sie peinlichen Einzelheiten zu enthüllen; schlimm genug, dass Ephram die Aufnahme abhören würde. Die beiden hingegen mussten nicht so genau Bescheid wissen. „Im ungünstigsten Augenblick ist der andere dazugekommen; SoErgen, unser Primärziel. Er hat übrigens eine Handfeuerwaffe.“
„Wie? Du hast beide entkommen lassen?“
„Wollen wir hier herumstehen oder die Sache endlich erledigen? Wenn du weiter so herumtrödelst entkommen die beiden noch wirklich!“
Der Hagere ließ Elina den Vortritt; danach kletterte er selbst in den Helikopter und schloss hinter sich die schwarz gerahmte, sonst aber durchsichtige Tür. Sie setzten sich in die Sitzreihe hinter dem Pilotensitz. Die wie Insektenflügel transparenten Rotorblätter begannen sich überraschend lautlos zu drehen; immer schneller. Elegant erhob sich die überdimensionale Libelle nahezu senkrecht in die Luft. Erst als sie bereits in doppelter Höhe des Zauns der Sklavengehege waren, schaltete Nehem die Scheinwerfer ein und blickte nach rückwärts. „Wo soll’s hingehen?“ fragte er mit ausdrucksloser Miene.
„Sie sind wahrscheinlich in Richtung Gutshof unterwegs. Folge dem Bach im Norden der Stadt“, meinte Elina, „dann können wir sie nicht verfehlen.“ Rasch hob sich der düstere Helikopter und steuerte in geringer Höhe in die angegebene Richtung, wobei die Suchscheinwerfer die vor ihnen liegende Vegetation erleuchteten und ein Muster bizarrer Schatten entstehen ließen. Eben diese wandernden Schatten gaukelten ihnen Bewegung vor, wo keine war. Trotzdem die Fluggeschwindigkeit nicht sehr hoch war, vermeinte Elina mehrere Male die Droschke mit den beiden Fliehenden zu sehen, musste aber stets feststellen, dass sie sich täuschte. Immer weiter nach Norden flogen sie, ohne Erfolg. Schließlich musste Elina erkennen, dass die Droschke in der kurzen Zeit unmöglich so weit gekommen sein konnte. „Verdammt, wo sind sie?“ Sie presste diese Worte ungehalten hervor und starrte mit einer Intensität in das weiße Licht, als könnte allein ihr Wille die Flüchtenden herbei zaubern.
„Vielleicht sind sie schlicht und einfach in der Stadt untergetaucht“, meinte Melor.
Elina schüttelte den Kopf. „Ich hörte, wie SoErgen sagte, sie müssten zu einem See. Außerdem können sie sich in einer so kleinen Stadt nicht lange verstecken. Sie sehen beiden nicht gerade wie Einheimische aus, besonders Raft AkRovaar nicht. Nein! Ihnen ist klar, dass sie so bald wie möglich diesen Planeten verlassen müssen. So viel ist bei der Befragung doch herausgekommen, dass sie alleine agieren und hier auf dem Planeten keine Organisation haben, die ihnen beim Untertauchen hilft. Also haben sie entweder ein geeignetes interplanetares Transportmittel irgendwo versteckt oder eine abhörsichere Kommunikationsstation, mit deren Hilfe sie ein solches herbeiholen können. Dieses Ziel müssen sie erreichen und ich gehe jede Wette ein, dass es sich in der Nähe eines Sees befindet.“
„Ich habe übrigens vor kurzem einen Funkspruch geortet“, warf Nehem ein. „Leider war er kodiert, über den Inhalt kann man daher nichts Genaues sagen, wir haben an Bord keinen effizienten Dekodierer. Aber Quelle und Ziel waren lokalisierbar. Rate mal, von wo aus das Gespräch geführt wurde!“
„Aus der Nähe von Ephrams Taverne?“, riet Elina.
„Genau.“
„SoErgen also. Und der andere Gesprächspartner, wo befand der sich?“
„Irgendwo auf dem Gutshof.“
„Also doch!“ Elina spitzte die Lippen. „Ich wusste es! Es gibt noch einen dritten Agenten, obwohl Raft das geleugnet hat! Vielleicht diese Talira, die Vampirlady!“
Melor blickte bedeutungsvoll zu Nehem: „Jetzt ist sie übergeschnappt.“
„Bin ich nicht“, fauchte Elina wütend und sie ruckte dabei ihr Gesicht so energisch in Richtung Melor, dass ihr voller, größtenteils unbedeckter Busen eindrucksvoll wogte. „Was kann ich dafür, wenn diese blöde Droge nicht besser funktioniert und Raft nur Schwachsinn von sich gegeben hat!“ Sie beruhigte sich. „Egal, das bringt uns nicht weiter. Im Gegenteil. Wir haben jetzt eine Person mehr, die wir auffinden und eliminieren müssen.“
„Vielleicht sollten wir uns zuerst um diese dritte Person kümmern. Sie muss noch auf dem Gutshof sein, einer der Angestellten oder Sklaven.“
„Und wie sollen wir sie finden unter all den Menschen?“
„Notfalls exekutieren wir eben alle. Oder, noch besser wir befragen die Leute auf herkömmliche Weise – ohne Drogen, mit schlichter Folter - solange bis wir einen entsprechenden Hinweis bezüglich der Identität des Agenten erhalten. Und dann foltern wir den – Nehem ist ein wahrer Künstler auf diesem Gebiet – bis wir in Erfahrung bringen, wo die anderen beiden sind, bzw. wo der Transporter oder die Kommunikationsstation ist.“
Elina dachte darüber nach. „Zu langwierig“, urteilte sie. „Eigentlich müsste man annehmen, dass die dritte Person ebenfalls den Gutshof verlässt und versucht ihr jämmerliches Leben zu retten. Vielleicht haben wir dort mehr Glück.“ Nehem beschleunigte den Helikopter und steuerte auf direktem Weg in Richtung Gutshof. „Wir sollten möglichst unauffällig sein“, argumentierte Elina, „Nehem, schalt um auf Ultraviolettlicht, lass aber ein wenig Innenbeleuchtung. Melor, du hast doch sicher eine Karte von der Gegend. Schau nach, ob irgendwo in der Nähe ein See eingezeichnet ist.“ Nehem zog sich eine Nachtsichtbrille mit breitem Farbspektrum – Ultraviolett und Infrarot wurde im sichtbaren Spektralbereich abgebildet - über den Kopf und schaltete den Scheinwerfer um. Melor griff in ein Fach und entnahm ihm nach kurzer Suche das Gewünschte. Er entfaltete die Karte teilweise. „Nördlich vom Gutshof ist tatsächlich ein See in einer Hochebene vor dem Gebirge. Vom Gutshof führt ein Pfad den Bach entlang, der aber klein ist und wohl auch ziemlich mühselig. Höchstens für Wanderer oder allenfalls für einen Reiter geeignet. Ein breiterer Weg, den man auch befahren kann, geht vom Gutshof aus gesehen zunächst nach Westen und dann in großem Bogen nach Nordosten. Verglichen mit dem Pfad ist er etwa die doppelte Wegstrecke lang.“
„In der Dunkelheit tippe ich eher auf den Weg“, meinte Elina. Nehem schaltete die Bordbeleuchtung aus und reichte eine Nachtsichtbrille nach hinten, die Elina in Empfang nahm. Ungeschickt zog sie sie über den Kopf und richtete sie anschließend. Die undurchdringliche Dunkelheit wich, die Außenwelt erschien jetzt heller, dank der Restlichtverstärkung. Besonders gut konnte man im Reflexionsbereich der Scheinwerfer sehen, die ohne Brille jetzt scheinbar kein Licht mehr abgaben. Plötzlich erfasste das Fernlicht die imposanten Mauern des Gutshofes. Rasch wurde das Anwesen größer und nach kurzem Flug befanden sie sich genau über ihm, über dem Brunnen, der das Zentrum des Hofes bildete. Alles war dunkel. Er wirkte, ebenso wie die angrenzenden Gebäude verlassen. Die einzige Bewegung wurde durch die Luftmassen, die die Rotorblätter nach unten drückten verursacht. Wie im Sturm bogen sich kleinere Bäume zur Seite; Staub wirbelte allseits auf. Halb und halb hatten die Brüder mit einem Angriff gerechnet, doch es erfolgte keiner. Offenbar standen keine geeigneten Waffen zur Verfügung. Der Anruf hatte demnach nicht der Mobilmachung gedient, was längerfristig auch ein sinnloses Unterfangen gewesen wäre, sondern der Flucht.
„Soll ich landen?“, fragte Nehem nach hinten.
„Nein die sind alle ausgeflogen“, meinte Elina, „sehen wir uns besser ein bisschen in der Umgebung um.“ Auch Melor griff jetzt zu einer Nachtsichtbrille, die mit feinen Infrarotsensoren ausgestattet war und daher jedes warmblütige Lebewesen sichtbar machte, besonders deutlich in der Nacht, wo die Umgebung kühl war. Sie stiegen höher und flogen in einer nach auswärts gerichteten Spirale um den Gebäudekomplex herum. Nehem schaltete die Scheinwerfer auf Impulsbestrahlung und bald konnte Elina in den Dunkelphasen einzelne helle Punkte in der sonst rabenschwarzen Umgebung wahrnehmen. Einzelne Menschen, Menschengruppen, gelegentlich auch in Begleitung einer Harpyie, die wahrscheinlich zum Lastentragen verwendet wurde. Zumindest in unmittelbarer Umgebung des Gutshofs befanden sich keine Reiter, Droschken oder Fuhrwerke mehr. Verstreute Gruppen konnten sie in allen Richtungen erkennen, ausgenommen nach Süden zur Stadt hin. Offenbar waren die Bediensteten darüber informiert, dass von dort die Gefahr drohte. Zwischen den Nijemplantagen gab es eine Unzahl von kleinen Wegen, so schmal, dass ein Helikopter nicht landen konnte. Elina fluchte leise. „Fein ausgedacht. Wie sollen wir unter all diesen Menschen den Agenten der Föderation finden?“
„Gar nicht“, meinte Melor, „wenn du mit der Seegeschichte recht hast. Konzentrieren wir uns auf den Weg nach Westen?“
„Es bleibt uns ohnehin nichts anderes übrig. Entweder das, oder wir warten beim See auf sie.“
„Bist du dir ganz sicher, dass SoErgen wirklich von einem See gesprochen hat? Du warst nicht gerade in bester Verfassung. Vielleicht hat er bloß irgendetwas gesehen?“
Elina konnte Kritik und Zweifel an ihrer Person überhaupt nicht ertragen. Sie verzerrte ihr Gesicht zu einer wütenden Maske, bis ihr einfiel, dass sie niemanden damit beeindrucken konnte, solange sie die Nachtsichtbrille davor hatte. Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte, sagte sie: „Ich bin mir sicher. Aber es ist auf alle Fälle klüger, wenn wir den Weg entlang fliegen.“
Nehem schaltete wieder auf UV-Dauerlicht und flog mit etwas größerer Geschwindigkeit als zuletzt den schmalen Weg entlang. Die Vegetation zu dessen Seiten wirkte dank des Falschlichteffekts blaugrau und monotoner als am Tag. Er schien leer und verlassen. Elina überlegte bereits, ob sie die Suche entlang der Weststrecke abbrechen sollten, als sie plötzlich durch einen unerwarteten, gleißenden Lichtreflex geblendet wurde. Sie stieß einen Schrei aus und auch Nehem verlor für einen kurzen Augenblick die Herrschaft über das libellenartige Flugobjekt. Schnell korrigierte er. „Was ist das? Eine UV-Lichtquelle? Oder eine Art Spiegel?“ Die Lichtintensität wuchs beim Näherkommen, blieb aber nicht konstant, das Licht flackerte unruhig.
Elina dachte eine Weile nach und erinnerte sich schließlich an eine Sklavin, die zu quälen ihr stets besondere Freude bereitet hatte. „Weder noch“, überlegte sie schließlich laut und ein böses Lächeln nahm Gestalt an. „Das sind Haare. Ganz besondere Haare allerdings! Dreh den UV – Scheinwerfer ab.“ Nehem kam der Aufforderung nach und sobald sich ihre Augen an die geringere Helligkeit gewöhnt hatte, nahmen sie drei Wärmequellen wahr: Zwei Menschen in einer Droschke und eine einzelne Harpyie, die diese zog. Vor Aufregung wurde Elinas Stimme schrill: „Melor, erschieß die Harpyie!“ Bald befand sich der Helikopter seitlich gleichauf mit der Droschke. Melor öffnete die Schiebetür, zielte sorgfältig mit dem Plasmaimpulsgewehr und drückte ab.
***
Viel zu schnell rasten sie durch die nahezu völlige Dunkelheit. Elri hielt die Zügel in den Händen und rechnete jeden Augenblick mit einem Unfall. Ma Handor neben ihr schien aber völlig ruhig. Sie hatte ihr den Rat gegeben, sich auf das überlegene Nachtsichtvermögen der Harpyie zu verlassen und bislang recht behalten. Nichts war passiert, außer dass ihr kleines Herz vor Schreck einige Male ein paar Takte ausgesetzt hatte. Wenn ein Stein gegen ein Rad schlug, bei jeder Erschütterung rechnete sie mit dem Schlimmsten. Erst langsam wuchs ihr Vertrauen in das seltsame Tier. Dennoch verließ sie nicht die Angst, sie empfand die Dunkelheit als entsetzlich und drohend; keinen Augenblick ließ ihre Aufmerksamkeit nach.
Deshalb nahmen ihre empfindlichen Ohren auch sofort das leise Brausen hinter ihnen wahr. Davor war es windstill gewesen, jetzt erreichte sie ein Hauch; mehr war es nicht. Im gleichen Augenblick umrahmte ein grelles, dunkelblaues Licht ihr zartes Gesicht. Sie wunderte sich einen Augenblick darüber; sie wusste, dass ihre prachtvollen dunklen Haare Licht nicht nur in seine spektralen Komponenten zu zerlegen vermochte, sondern auch die Wellenlänge des reflektierten Scheins ein wenig veränderte. Trotzdem dachte sie nicht an UV-Strahlung, assoziierte aber das Phänomen sofort mit Gefahr. „Ma, was ist das?“, rief sie.
„Gib mir den Kommunikator, schnell!“, antwortete die Angesprochene und ihre Stimme verriet plötzliche Furcht.
Rasch holte Elri das Döschen aus der Tasche ihres einfachen Kleides und überreichte es Ma, einen Augenblick ruhte es in ihrer knochigen Hand, danach warf sie es zu Elris großem Entsetzen in die Finsternis. „Ma, warum?“, gelang es ihr noch zu sagen, dann überschlugen sich die Ereignisse im buchstäblichen Sinn: das Brausen war rasch lauter geworden, der Wind zu einem Sturm angewachsen, beides traf sie nun von der linken Seite. Unvermutet kreischte die Harpyie, an eine Kreissäge gemahnend auf, sie strauchelte, wurde langsamer, sodass die Droschke auffuhr. Mit einem Röcheln fiel sie schließlich der Länge nach hin, der Wagen kippte über sie, das rechte Rad hob sich über die Deichsel, sodass das Gefährt über die bereits tote Harpyie seitlich und nach vorne kippte. Beide Insassen wurden herausgeschleudert, sonst hätte die fallende Droschke sie zermalmt. Selbst im Fallen galt Elris Sorge der alten Ma Handor. Aus dem Augenwinkel sah sie, mit welcher Wucht sie nach vorne fiel; sie selbst hatte mehr Glück. Nach einem Salto landete Elri verhältnismäßig weich in der dicht bewachsenen Böschung, während Ma mehrere Meter weiter auf der staubigen Straße liegen blieb.
Elri rappelte sich fast sofort auf und rannte voll Furcht auf jene Silhouette in der Dunkelheit zu, die wohl der zerschundene Körper von Ma sein musste. Wie eine achtlos weggeworfene Puppe lag sie da, die Glieder in unnatürlicher Lage völlig verrenkt vom Körper wegstehend. In der Finsternis konnte Elri von Ma’s Gesicht wenig erkennen, gerade soviel, dass ihre Augen geschlossen waren und ausgehend von ihrem Mundwinkel Blut ein schmales Rinnsal bildete. Elri kniete sich neben sie und begann in völliger Verzweiflung so hemmungslos zu weinen, wie noch nie zuvor in ihrem Leben, nicht einmal beim Tod ihrer Eltern. Sie ergriff die kleine, schmale Hand von Ma und benetzte sie mit ihren Tränen. Dann hörte sie eine ihr wohlbekannte Stimme: „Sieh da, eine alte Bekannte! Freust du dich, mich zu sehen?“ Der Unterton war zynisch und bösartig. Einen Moment setzte Elris Herzschlag aus, fassungslos stand sie der Niederträchtigkeit von Elina gegenüber. Dann empfand sie ein für sie völlig neuartiges Gefühl. Trauer, Scham, Erniedrigung, Schmerz kannte sie sehr gut, nicht aber diese Empfindung: abgrundtiefen Hass.
„Was meinst du“, fragte Melor, der hinzugekommen war, „ist eine von den beiden Frauen eine Agentin?“
Elina warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Die alte Vettel vielleicht? Oder meine liebe Freundin da? Glitzerköpfchen? Das Glitzern ist außen! Innen glitzert da nichts. Sie ist das perfekte Opfer. Zu dumm um sich zu wehren. Aber für alle Fälle ist es wohl besser, wenn du sie beide durchsuchst. Dann fesselst du das Mädchen. Wir nehmen sie mit. Es hat mir immer sehr viel Spaß gemacht, sie zu quälen. Das Vergnügen möchte ich noch eine Weile genießen.“
Melor tastete Ma und Elri oberflächlich ab, ohne etwas von Bedeutung zu finden. Kurz betrachtete er das Papier, das Ma noch in ihrer rechten Hand hielt, kam aber zu dem Schluss, dass es ohne Bedeutung war. Dann riss er die Arme der jungen Frau brutal nach hinten; vor Schmerz schrie Elri laut auf; mit einer kurzen Schnur band er ihre Handgelenke hinter dem Köper zusammen.
„Steh auf!“, fuhr Elina sie an und bestärkte die Aufforderung mit einem Tritt. Sie lachte, sehr zufrieden mit sich selbst: „Wie in alten Zeiten, nicht? Nur dass ich mich jetzt nicht mehr zurückhalten muss. Offen gesagt, ich bin ein wenig sadistisch veranlagt.“ Sie packte sie am Oberarm und Elri taumelte auf den Hubschrauber zu.
„Weiter den Weg entlang?“, schrie Nehem vom Pilotensitz aus, als die Gruppe noch ein Stück vom Helikopter entfernt war.
„Das ist wohl Zeitverschwendung!“, antwortete Elina ähnlich laut, „wir warten am See auf sie!“
Unbemerkt von allen anderen rührte sich wenige Meter entfernt etwas. Ma war zäh, dennoch wusste sie, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte. Sie sah oder erahnte, wie Elri unsanft in den Helikopter geworfen wurde, wie Elina und Melor einstiegen und die Schiebetür schlossen während sich die Rotoren bereits drehten. Dann erhob sich das düstere Fluggerät und entfernte sich rasch. Danach bis auf einige mühselige Atemzüge nur noch Stille.
***
Die Droschke stand unter einer Gruppe mächtiger Bäume oberhalb des Steinbruchs; eine strategisch günstige Position, konnte man von dort aus doch nicht nur den Himmel gut einsehen ohne selbst gesehen zu werden. Außerdem hatte man gute Sicht auf alle zum Steinbruch führenden Wege. Jetzt in der Nacht bei bewölktem Himmel nützte das alles nur wenig, da man die Landschaft nur schemenhaft erahnen konnte. Ein ankommendes Gefährt wäre allerdings zu sehen und wohl auch zu hören gewesen. Raft saß lethargisch in der Droschke, während Tjonre nervös auf und ab ging.
„Wo bleiben sie? Sie sollten längst da sein!“ Die Nacht währte nicht mehr all zu lange. Sie sollten möglichst tief im Wald sein, wenn der Morgen graute.
Der Rotbärtige hob sein Haupt. „Wir sollten von hier verschwinden und zwar sofort. Die Killer sind bestimmt schon unterwegs, mittlerweile müssen sie die Leiche von Elina gefunden haben. Außerdem, dein Mädchen kommt schon klar und Ma sicherlich auch.“
„Ma ist alt und braucht uns“, meinte Tjonre. „Und ohne Elri verlasse ich den Planeten sowieso nicht. Wir haben vier Plätze in der Fähre, also fliegen wir auch zu viert.“
„Du kennst unsere Order für den Fall, dass unsere Tarnung auffliegt. So schnell wie möglich das System verlassen. Ist das so schnell wie möglich?“
„Ich lasse niemanden zurück“, antwortete Tjonre, mittlerweile ein wenig ärgerlich. „Dich nicht, Ma nicht und Elri schon gar nicht. Aber du kannst ja in der Droschke vorfahren, wenn du willst.“
„Schon gut“, lenkte Raft ein. Die Sache war einen Streit nicht wert. Außerdem stand er immer noch unter dem Einfluss der Droge. „ Was soll’s! Ein kleines Gerangel mit ein paar bis an die Zähne bewaffneter Assassinen wird meine Laune bestimmt heben! Ich bin träge, langsam und fett geworden auf diesem Planeten. Meine Stammesbrüder würden sich für mich schämen. Statt auf dem Schlachtfeld habe ich mich in Betten herumgetrieben, besonders in einem.“ Er grinste. „Was war sie doch für ein rassiges Weib! Schade um sie. Na ja, war nicht zu vermeiden.“
Tjonre war immer wieder verblüfft über die enorme Gefühlstiefe, zu der Raft fähig war. „Sie hätte dich umgebracht, das ist dir wohl klar.“
„Und ich habe sie umgebracht! Aber das ändert doch nichts an dem wonnigen Gefühl, dass es in mir auslöst, an ihre Kurven zu denken! Und wie sie sich bewegen konnte.“ Er blickte versonnen in die Dunkelheit. „Du kannst das nicht verstehen. Dich interessieren Frauen eben nicht besonders.“
„Solche wie Elina bestimmt nicht!“ Ihn schauderte. „Brrr, nein, wirklich nicht.“ ‚Aber eine andere’, dachte er, ‚und das auf eine Weise, die du nicht verstehen kannst.’ Laut sagte er: „Wir verplempern Zeit. Wenn sie bis jetzt nicht gekommen sind, hat sie irgendetwas aufgehalten.“ Tjonre ging zur Rückseite der Droschke und band sein Tier los. „Ich reite ihnen entgegen. Wenn ich innerhalb einer Stunde nicht zurück bin, ist es besser, wenn du losfährst, sonst wird es wirklich zu spät.“ Er schwang sich auf den Rücken der Harpyie und ritt so rasch wie möglich durch die Nacht. Trotz seiner verhältnismäßig guten Nachtsicht blieb ihm nichts anderes übrig, als seinem Reittier zu vertrauen, dessen Sehvermögen bei Dunkelheit unvergleichlich besser war, als das eines Menschen. Während des gesamten Ritts zurück in Richtung Gutshof hoffte er die charakteristischen Geräusche einer entgegenkommenden Droschke zu vernehmen; vergeblich. Mit jedem zurückgelegten Kilometer wuchsen Angst und Verzweiflung. Schließlich – er hatte etwa die Hälfte des Wegs zum Gutshof zurückgelegt – scheute plötzlich die Harpyie und warf ihn fast ab. Akrobatisch hielt er sich am Rücken des Tieres und versuchte, es zu beruhigen. Vor ihm war ein unerwartetes Hindernis, das er nur schemenhaft wahrnahm. Er stieg ab und griff zur Taschenlampe, die sich in der Satteltasche befand.
Im grellen Lichtkegel nahm er die Gestalt einer verkrümmt daliegenden Harpyie wahr – unbewegt und voller Blut; hinter und teilweise auch über ihr lag eine Droschke mit dem simplen Zeichen des Gutshofs – eine einzelne Nijem-Frucht. Die Erkenntnis fraß sich in ihn, dass dies die Droschke war, mit der Ma und Elri ihm entgegen geeilt waren. Voll Entsetzen leuchtete er die Sitzbank ab, die aber leer war. In Panik rief er den Namen der beiden, zunächst vergeblich. Dann erst vernahm er ein schwaches Husten hinter sich, drehte sich um; leuchtete in die entsprechende Richtung und erkannte den kleinen zarten, gebrochenen Körper von Ma. Er lief zu ihr, setzte sich mit Tränen in den Augen neben sie. „Ma, was ist passiert?“
Sie flüsterte. Er musste das Ohr ganz nahe an ihren blutenden Mund halten, um die Replik zu verstehen. Das Sprechen bereitete ihr offenbar Qualen. „Sie sind gekommen ... haben das Tier erschossen ... wir wurden herausgeschleudert.“
„Was ist mit Elri? Ist sie ...“
„Elri lebt. Die Frau hat sie mitgenommen, mit dem Helikopter ... sie kannte Elri ...“
„Elina! Diese Teufelskreatur!“
Ma öffnete ihre glasigen Augen und starrte ins Leere. Noch einmal strengte sie sich an, angesichts ihrer schweren Verletzungen fast übermenschlich. Sie verzog den Mund und blickte ihn kurz so zynisch an, wie er es von ihr gewöhnt war: „Hör mir gut zu. Ich lebe nicht mehr lange, also halt jetzt den Mund! Eine Frau und zwei Männer. Sie glauben, dass ihr zu einem See unterwegs seid. Sie warten dort auf euch.“ Sie blickte ihn eindringlich an. „Fahrt nicht dort hin! Sie bereiten eine Falle vor.“
„Ma, ich muss dort hin! Ich muss Elri befreien, ich muss es doch versuchen, auch wenn ich dabei umkomme!“ Tjonre blickt sie unter Tränen an. „Aber zuvor bringe ich dich zurück zum Gutshof! Ich richte die verdammte Droschke wieder auf und spanne mein Reittier an. Dann hole ich Hilfe aus der Stadt ...“
„Spar dir die Mühe“, entgegnete Ma, „ich habe nur noch durchgehalten, um dich zu warnen ... jetzt kann ich gehen ... ich gehe als freie Frau!“ Leicht bewegte sie den Daumen der Hand, die die Befreiungsurkunde hielt. Sie lächelte ihn kurz an, dann erstarrten ihre Gesichtszüge. Ihr Blick richtete sich in die Unendlichkeit.
Tjonre begriff erst nach einer Weile, dass sie tot war. Er ergriff ihren schwachen zerbrechlichen Körper und umarmte ihn kurz. Dann hob er sie auf und trug sie zu Droschke, wo er sie gegen die Sitzbank lehnte. Mehr konnte er nicht tun. Die Sorge um Elri verschleierte die Trauer, die sonst übermächtig, lähmend gewesen wäre. Sollte er riskieren, zum Gutshof zurückzukehren und sich besser zu bewaffnen? Wer sagte, dass die drei alleine waren, vielleicht wurde er von einer zweiten Mörderbande empfangen? Sein Ende würde bedeuten, dass Elri endgültig in den Fängen dieser Psychopathin gefangen war, dass sie ihr auf Gedeih und vor allem Verderb ausgeliefert war. Das konnte er nicht riskieren. Ma war tot. Sie jetzt zurückzubringen half ihr nicht mehr. Aber er musste mit jeder Faser seines Willens dafür kämpfen, dass Elri frei kam und in Sicherheit. Immerhin lebte sie, wenn er auch nicht wusste, wie schwer sie verletzt war. Dass sie den Sturz ohne Folgen verkraftet hatte, wagte er nicht zu glauben.
Mit dem Gefühl ein ohnmächtiger Spielball eines übermächtigen Schicksals zu sein verließ er den Ort. Nach einem letzten Blick auf Ma’s schmächtige Gestalt wendete er sich seiner Harpyie zu, die auf ihn wartete obwohl er sie nicht angebunden hatte und trotz des intensiven Geruchs von Harpyienblut. Mit beruhigenden Worten näherte er sich ihr, ergriff die Zügel, schwang sich auf den Sattel, wendete und ritt den Weg zurück zum ehemaligen Steinbruch. Nicht nur wegen der Dunkelheit nahm er bei diesem Ritt seine Umwelt kaum wahr. Zu beschäftigt war er damit, die Rettung von Elri zu planen, seiner kleinen Elri. Alle Trümpfe hatten Elina und ihre Begleiter in der Hand: bessere Waffen, ein überlegenes Transportmittel und eine Geisel. Einzig die Sicherheit, dass ihre Opfer ins offene Messer rennen würden, dass sie ahnungslos waren; einzig die letzten Worte einer Sterbenden konnten das Blatt noch zu ihren Gunsten wenden. Elri war keine Kämpferin und wahrscheinlich verletzt. Er selbst war zumindest kein Mörder und wahrscheinlich ebenfalls nicht einmal ein Kämpfer. Raft hingegen war ohne Zweifel für jeden Feind gefährlich, aber nur in gesundem Zustand. Niemand der es nicht selbst gesehen hatte konnte sich vorstellen wie rasch er seinen auf 1,5 g angepassten Körper in um ein Drittel geringerer Gravitation bewegen konnte. Doch er war angeschlagen, aber wie stark?
Langsam erschien der Hauch einer Dämmerung am Horizont und die Silhouette des Steinbruchs kam näher. Er galoppierte auf eine Kreuzung zu und nahm den rechten, nach oben führenden Weg. Jetzt erkannte er bereits die mächtigen Bäume, unter denen Raft in der Droschke auf ihn wartete. Erst als er abrupt vor der Droschke stoppte und sein Reittier beinahe zusammenbrach erkannte er, dass er es nahezu bis zur völligen Erschöpfung getrieben hatte. Diese Art Hast konnte Elri nichts nützen; was er jetzt brauchte war Besonnenheit und kühles Blut. Er stieg ab, band die Harpyie hinten am Wagen an und ging nach vor, um sich neben Raft zu setzen, der ihn stumm beobachtete, nichts Gutes ahnend. Tjonre ergriff die Zügel. „Fahren wir los“, war sein einziger Kommentar, dann lenkte er zu dem Weg, der sich zwischen uralten Baumriesen schlängelte, die sie selbst für Infrarotsicht unsichtbar machen würden.
Jetzt achtete er darauf, die Harpyien nicht zu stark zu beanspruchen. Rasch, aber nicht zu eilig bewegten sie sich auf dem schmalen und holprigen Weg fort. Erst als er sich einigermaßen beruhigt hatte, begann er das Gespräch: „Ma ist tot.“ Raft blickte ihn betroffen an. „Und Elina, die Bestie, lebt.“
„Ich sagte dir doch, dass du sie erledigen sollst“, meinte Raft.
„Es ist nicht so leicht für mich, jemand zu ermorden, der wehrlos ist. Ich wollte das nicht tun und deshalb war es für mich einfacher als gesichert anzunehmen, dass du sie getötet hattest. Glaube mir, ich bereue das jetzt! Das Biest war nicht nur nicht tot, sie war auch bei Bewusstsein. Sie hat offenbar gehört, wie ich davon sprach, dass wir zum See müssen. Jedenfalls warten sie jetzt dort auf uns.“
„Woher weißt du das?“
„Ma war noch am Leben, als ich sie gefunden habe. Sie hatten die Harpyie erschossen und Ma ist aus der Droschke geschleudert worden.“ Seine Stimme brach, als er das erzählte.
„Und die dürre Sklavin? Wie hast du sie vorhin genannt, als du über den Kommunikator mit ihr gesprochen hast?“
„Sie heißt Elri und sie ist nicht mehr dürr. Elri ist ebenfalls aus dem Wagen geschleudert worden, lebt aber noch. Sie haben sie mitgenommen. Ich beabsichtige sie zu befreien.“
„Natürlich! Und dafür bist du auch bereit mein Leben zu opfern. Für dieses hässliche Entlein. Deshalb also beeilen wir uns so, dorthin zu kommen wo unsere Häscher auf uns warten! Das ist übel, dass sie wissen, wo wir hin müssen.“
„Ja, aber dank Ma wissen wir das und sie wissen nicht, dass wir wissen, dass sie wissen. Das ist unser Trumpf! Übrigens ist sie wunderschön. Bedenke auch, dass du Elina wiedersehen wirst. “
Raft blickte tatsächlich begeistert. „Ich freue mich schon darauf, ihr den Hals umzudrehen. Aber leicht wird das nicht. Ich nehme an, dass sie besser bewaffnet sind als wir und wenn sie jetzt schon beim See sind, sind sie offenbar geflogen.“
Tjonre nickte. „Sie haben sicher Plasmaimpulsgewehre und Ma hat mir erzählt, dass sie einen Helikopter haben. Sie sind zu dritt. Wo werden sie sich positionieren um uns herzlich zu empfangen? Du bist der Stratege. Sag es mir. Denk gut darüber nach. Elri’s Leben steht auf dem Spiel!“
„Unseres übrigens auch. Wenn dir das egal ist – mir nicht“, antwortete Raft, jetzt bereits sehr lebhaft, seine Augen sprühten voll Tatendrang und Energie. Tjonre erkannte das mit einer gewissen Genugtuung. Er würde Rafts Kriegerfähigkeiten jetzt sehr nötig brauchen. Selbst zwischen den mächtigen Baumriesen gelang es Tjonre mittlerweile klare Konturen wahrzunehmen, die Dämmerung hatte eingesetzt. Zu dieser Zeit wirkte der Waldboden besonders bizarr, war er doch mit oft mannshohen, verkrümmt wachsenden Pilzen bedeckt. Nicht nur der Boden, sondern auch tiefhängende Äste waren dicht von Myzel umwuchert, das manchmal mit den bodenständigen Pilzen zu einer grotesken Einheit zusammenwuchs und fast unvermeidlich erkannte man in diesen zufälligen Strukturen allerlei Gestalten; merkwürdige Menschen und fabelhafte Wesen, auch abscheuliche Monster. Sie brachten Tjonre auf eine Idee. Unweit des Weges fanden sich zwei für seinen Plan geeignete Skulpturen. Tjonre hielt und bat Raft um seinen Dolch.
„Wozu brauchst du den?“, fragte Raft.
„Das wirst du gleich sehen! Sieh dir einmal diese zwei Riesenpilze an mit ihren seitlichen Auswüchsen und dem runden Fruchtkörper ganz oben.“ Tjonre betastete den schlankeren. Er fühlte sich zwar schwammig an, hatte aber doch eine erstaunlich feste Konsistenz. „Benutze deine Phantasie! Angenommen ich schneide diesen Fortsatz ab. So! Woran erinnert dich dieses Ding?“
„Hm“, meinte Raft, „oben eine eiförmige Struktur, dann eine Art Hals. Das könnten Schultern sein, die zwei nach unten gerichteten Fortsätze dünne Arme ... der Rest ein schmächtiger Rumpf. Irgendwie erinnert mich das Ganze an dich!“
„Sehr gut!“, lobte Tjonre, „und jetzt dieser massige Pilz. Hm. Die drei Fortsätze müssen weg. Weg! Weg! Weg! Also?“
„Du willst doch nicht behaupten, dieses unförmige Etwas gleiche mir?“
„Aus der Distanz und mit deinen Kleidern? Doch, ja. Wie eine wägansche Kröte der anderen.“ Tjonre schnitt beide Pilze an der Basis ab und transportierte sie mit Rafts Hilfe auf die Sitzbank der Droschke, wo es jetzt etwas eng wurde. Er reichte Raft seinen Dolch, der ihn wegsteckte. Jeder hielt sein Double fest und Tjonre schnalzte leicht mit den Zügeln, worauf die Harpyien sich zunächst gemächlich, aber dann immer schneller in Bewegung setzten.
Raft begann das Ganze Spaß zu machen. „Sehr gut! Was planst du noch?“
„Das hängt davon ab, was sie tun werden. Wo sie in Stellung gehen, vor allem. Also? Jetzt bist du dran!“
„Nun, ich habe vor allem eine Frage: kann man die essen? Ich habe einen enormen Hunger.“
„Prinzipiell ja, aber du wirst es nicht tun! Ich kann verstehen, dass du hungrig bist, immerhin liegt dein Mageninhalt auf Elinas Bett in Evwams Taverne. Trotzdem! Wir brauchen unsere Doubles noch. Zurück zum Thema!“
Raft konzentrierte sich sichtlich. „Wenn sie beim See angekommen sind, werden sie als erstes die Hütte sehen. Also werden sie dort landen, um sie sich genauer anzuschauen. Die Fähre entdecken sie sicher nicht, weil man durch das dunkle Wasser nichts erkennen kann. Wollen sie uns lebend? Ich glaube nicht. Warum auch. Die Fähre können sie später durch einen Suchtrupp aus Spezialisten ausfindig machen. Elina wollte mich sofort ins Jenseits befördern. Ich denke also wir können davon ausgehen, dass sie uns so schnell wie möglich eliminieren wollen. Sie erreichen das am besten, indem sie unsere Ahnungslosigkeit ausnützen. Am Klügsten von uns wäre es natürlich, einfach nicht zu kommen. Irgendwann verlieren sie die Geduld, bezweifeln, dass wir überhaupt zum See wollten und verschwinden. Natürlich kommen sie mit einer kleinen Armee wieder. Aber bis dahin ...“
Tjonre entgegnete ungeduldig: „Das geht nicht wegen Elri.“
„Dachte ich mir“, fuhr Raft seufzend fort, „sie suchen sich also einen strategisch günstigen Punkt, von dem aus sie die Stelle im Auge behalten können, wo wir erstmals aus dem Wald hervorkommen, von dem aus sie selbst aber nicht gesehen werden können. Rund um die Hütte herrscht offenes Gelände vor und es ist überall ziemlich flach. Wo der Wald abrupt aufhört ist aber ein größerer Hügel, von dem aus man gut zum Weg sehen kann. Dort liegen sie mit ihren Plasmaimpulsgewehren und warten auf uns. Sobald wir einige Meter aus dem Wald herausgefahren sind, werden sie aus der Deckung heraus das Feuer eröffnen.“
„Wird jemand den kleinen Pfad bewachen, der von Süden kommt?“
„Ich würde es tun, wenn ich eine Dreiergruppe zur Verfügung hätte“, meinte Raft, „aber einer muss jedenfalls in der Nähe des Hubschraubers bleiben, das gebietet der gesunde Menschenverstand. Hinter der Hütte ist ein kleiner Hügel. Wenn sie den Helikopter richtig landen, befindet er sich genau hinter dem Hügel, vom Pfad aus gesehen. Außerdem ist er natürlich auch eine prächtige Warte von der aus man alle abknallen kann, die vom Pfad her kommen und das noch bevor irgendjemand die Gefahr ahnt.“
Tjonre überlegte. „Sieht man denn den Helikopter nicht von der Stelle, wo der Weg den Wald verlässt?“ Und antwortete sich gleich selbst: „ Nein, erst wenn man um den Hügel herumgefahren ist. Du hast also recht. Wenn sie geschickt sind, positionieren sie ihn so, wie du gesagt hast.“
„Sie sind geschickt! Glaub mir, du hast es mit gut ausgebildeten Assassinen zu tun.“
Eine beunruhigende Erkenntnis. Umso wichtiger war gute Vorbereitung. Tjonre versuchte, sich die Konfrontation weiter vorzustellen: „Wir kommen vom Westen, es gibt dort eine Schießerei, die sicherlich bis zur Hütte gehört wird. Läuft die Person, die dort wartet zur Kampfstätte oder bleibt sie?“
„Diese Leute haben natürlich Kommunikatoren. Aber egal ob sie eine positive oder negative Nachricht erhalten oder auch keine ist es in jedem Fall am günstigsten zu warten“, meinte Raft nach kurzem Zögern, „aber jedenfalls richtet sie ihr Augenmerk jetzt von Süden nach Westen. Warum interessiert dich das? Wir kommen nun mal vom Westen.“
„Weil ich dann eben aus einer anderen Richtung kommen muss.“
„Kannst du nicht.“
„Doch! Der Weg läuft zuletzt entlang des Sees. Ich muss vom Wasser her kommen.“
„Das ist dir doch immer zu kalt.“
„Wir haben jetzt Hochsommer, ein bisschen wärmer wird es schon sein. Außerdem - glaube ich - bleibt mir keine andere Wahl. Damit rechnet sicherlich niemand. Die Hütte bietet mir Sichtschutz, ich kann dort das Wasser verlassen.“
Raft lachte. „O.k. versuchen wir’s. Es könnte klappen! Wenn nicht, sehen wir uns im Jenseits wieder.“
Tjonre entgegnete: „Es muss klappen. Aber vielleicht irren wir uns auch völlig. Vielleicht tauchen sie hinter einer Kurve plötzlich auf und knallen uns nieder.“
„Setz dich so hin, dass du jederzeit rasch von der Droschke springen kannst. Was auch passiert, es wird jedenfalls ein großer Spaß.“ Tjonre erkannte nicht zum ersten Mal, dass Raft und er einen völlig unterschiedlichen Humor hatten.


***


Tjonre hielt in einem kleinen Schnupfharzbaumwäldchen unweit des Sees, aber noch in jenem Bereich, der ihnen Deckung bot. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Er war kein Held und die Vorstellung, Menschen töten zu müssen oder – noch schlimmer – selbst in Gefahr zu geraten getötet zu werden ließ ihn zittern und ein Film kalten Schweißes bildete sich auf seinem Körper. Dann erinnerte er sich an Elri, die gefangen war und wehrlos einer Bestie gegenüberstand. Das machte ihn nicht ruhiger, nahm ihm aber die Angst und ersetzte sie durch Zorn. Nicht denken! Handeln.
Die Bäume rundherum gaben bei der kleinsten Verletzung eine klebrige Flüssigkeit ab, die schnell trocknete. Fein gerieben wurde dieses Harz zum Schnupfen verwendet. Tjonre interessierte sich aber für die klebrige Form. Er legte sein Double nach vorn, stieg ab und begann sich seiner Oberkleider zu entledigen.
„Was wird das?“, fragte Raft überflüssigerweise, denn er ahnte sehr genau, was Tjonre vor hatte.
„Los, mach mit!“, antwortete Tjonre, „wir müssen unsere Doubles ankleiden.“
„Soll ich in Unterhose in die Schlacht ziehen?“ maulte Raft, begann dann aber ebenfalls, die reich verzierte Jacke, das rüschenbesetzte Hemd und sogar seine mit allerlei feinen, goldenen Stickereien verzierte Hose auszuziehen und löste dabei den Dolchgurt – den würde das Double wohl weniger brauchen, als er. Beide begannen unter Fluchen und leisem Geschimpfe die Doubles in die Oberkleider zu stopfen, was ihnen zunächst nicht allzu gut gelang. Schließlich schnitzten sie die Riesenpilze noch etwas zurecht; jetzt ging es etwas besser. Dann hob Tjonre den Deckel der Sitzbank hoch, griff in die schmale Kiste und entnahm ihr zwei breite Sonnenhüte, wie sie die Pflücker oft trugen und einen langen, schmalen Dolch mit Scheide, die er an seinem Gürtel befestigte, den er zuvor von seiner Hose gelöst hatte. Dort steckte bereits die Plasmaimpulspistole. Bevor er den Deckel wieder zuklappte fand er in einer Ecke auch noch ein schmales Seil, das er ebenfalls an sich nahm. Danach beschmierten sie die Hosen noch mit Harz, um die einfachen Puppen an der Sitzbank der Droschke festkleben zu können. Sie stellten den weiten Kragen der Jacken so auf, dass der Fruchtkörper der Pilze, der den Kopf mimen sollte, so gut wie es eben ging verdeckt wurde. Schließlich wurden die Sonnenhüte mit einem schmalen Band am Fruchtkörper befestigt. Weil der Fruchtkörper kein Kinn hatte wurden die Bänder noch zusätzlich mit jeweils einem kleinen, zugespitzten Aststück an den lebensgroßen Puppen befestigt. Mit dem Seil wurden die Doubles noch an der Sitzlehne festgebunden.
„Fällt darauf jemand rein?“ fragte Raft mit einem überaus zweifelnden Gesichtsausdruck. „Sieh nur wie meine Kleider an dem Double schlottern! Wir hätten einen imposanteren Pilz nehmen sollen.“
„ Na ja, deine Puppe ist ähnlich genug, aber meine?“, meinte Tjonre unsicher, „ich konnte die Knöpfe der Jacke gar nicht alle zukriegen.“
„Was soll’s, Elina hat dich erst einmal gesehen, nämlich bei der Auktion. Bei eurem zweiten Treffen hatte sie die Augen zu.“ Raft hielt kurz inne. „Von hier ist es nicht allzu weit zum Hügel. Ich nehme deine Harpyie und reite so lange es geht durch den Wald. Die letzten fünfhundert Meter oder so krieche ich dann durchs Unterholz, nähere mich der Stelle wo der Schütze liegen müsste von hinten und versuche in Schussposition zu kommen. Gib mir zwanzig Minuten. Dann jage die Harpyien den Weg entlang ins Freie. Der Schütze wird uns vermeintlich erledigen. Wenn er sich dann sicher fühlt und hoffentlich aufsteht, schieße ich. Ach ja, gib mir deine Plasmaimpulspistole.“
„Gern“, entgegnete Tjonre und händigte das Gewünschte aus. Er löste die Zügel seiner Harpyie von der Droschke und reichte sie Raft. Der schwang sich unelegant auf das Reittier, das unter dem Gewicht einzusacken drohte, sich schließlich aber doch fing. Ohne ein weiteres Wort ritt er weg von dem Weg durch den zunächst lichten Wald. Weiter vorne, wo die Baumriesen weniger wurden, begann dann das Unterholz zu wuchern und würde dem kleinen, aber sehr breit gebauten Raft Schwierigkeiten beim Fortkommen bereiten. Mit Harpyie würde es dort unmöglich sein weiterzukommen. Tjonre konnte Raft schon bald nicht mehr sehen, warf zunächst einen Blick auf das Chrono an seinem Armgelenk, nahm schließlich die Zügel der Kutschentiere in die Hand und führte sie langsam vorwärts. Er musste sich am Waldesrand in Position stellen. Dies war, das wusste er, alles andere als ungefährlich. Nachdem er Raft die Handfeuerwaffe gegeben hatte, war er bis auf den Dolch unbewaffnet, der keine geeignete Waffe gegen ein Gewehr darstellte. Falls Raft sich geirrt hatte und die Assassinen einfach im Wald entlang des Weges auf sie warteten, würde ihm kaum die Zeit bleiben zu fliehen. Deswegen bewegte er sich so langsam und vorsichtig vorwärts, wie dies die Ungeduld der beiden Harpyien erlaubte. Aber nichts passierte. Er befand sich vor Ablauf der zwanzig Minuten in Position, beschloss aber länger zu warten. Zu spät konnte er die Aktion kaum starten, wohl aber zu früh. Zumindest wenn Raft sein Ziel unbemerkt erreichte. Ängstlich und unsicher starrte er auf das Chrono und änderte seine Meinung. Er würde Rafts Schätzung trauen. Langsam kroch die Zeit dahin, aber schließlich waren 20 Minuten vergangen. Er zögerte noch kurz, dann befestigte er die Zügel an den Puppen, ergriff einen großen Ast vom Boden und schlug damit kräftig auf die Seite der Kruppe eines der Zugtiere. Dieses war eine derartige rüde Behandlung nicht gewohnt und erschrak daher entsprechend. Es tat einen Satz nach vorne, riss die zweite Harpyie mit sich und galoppierte den Weg entlang und aus dem Wald hinaus in jenen Bereich, wo die Droschke vom nahen Hügel aus gut gesehen werden konnte.


***


Melor lag hinter einem Felsen, die Waffe nach vorne gerichtet. Sie war an den Kommunikator angeschlossen; alles was auf dem Display zu sehen war, konnte Elina im Hubschrauber auf ihrem Bildschirm ebenfalls wahrnehmen. Die Sonne stand tief im Osten, aber hoch genug, um den Weg unter ihm auszuleuchten. Er hatte wahrlich hervorragende Sicht. Die Luft hatte eine angenehme Temperatur, ein schwacher Wind bewegte träge die rostfarbenen Blätter. Ideale Bedingungen an einem idealen Tag. Ideal für einen Mord.
Melor war ein sehr geduldiger Mensch. Bewegungslos, aber hellwach lag er nahe der Spitze der Felserhebung, die ohne jeden Übergang aus der Hochebene emporragte. Der Weg schlängelte sich zwischen ihr und dem nördlicher gelegenen See. Gegen Westen zu verwuchs die Erhebung mit dem Urwald, nach Osten hingegen bildete sie einen scharfen Kontrast zu einer steppenartigen Landschaft, die auf den Betrachter eher karg wirkte. Dort waren sie neben einer kleinen Hütte gelandet, die sich nach eingehender Untersuchung als völlig uninteressant entpuppt hatte. Trotzdem waren sie mit ihrem Landeplatz äußerst zufrieden, war er doch in dieser Ebene ziemlich die einzige Stelle, die weder von dem Weg aus dem Westen, noch von dem vom Süden her kommenden Pfad einsichtig war. Nach kurzer Besprechung waren sie übereingekommen, dass Melor die natürliche Warte am Rande des Dschungels nutzen würde, um die Agenten zu überraschen. Nehem würde in der Nähe des Helikopters in Position gehen, auf einem nahegelegenen sanften Hügel, von dem aus man hervorragende Sicht auf den Pfad hatte. Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass Elina im Hubschrauber bei jener Sklavin bleiben sollte, die sie ‚Glitzerköpfchen’ nannte. Elina war natürlich einverstanden gewesen; der Gedanke, mit ihrem teuren Gewand durch die Vegetation zu robben, missfiel ihr. Die Bluse könnte zerreißen, die Hose staubig werden, eine grässliche Vorstellung! Ohne Zweifel würde allerlei Getier durchs Buschwerk krabbeln, einzig mit dem Ziel, sie zu quälen. Es gab überhaupt keinen Grund sich dieser Unbilden auszusetzen; dank der Kommunikatoren war sie stets nahe am Geschehen. Sie hatte ihrem Accessoire einen Gegenstand entnommen, der als kleiner Klappspiegel getarnt war, tatsächlich aber über zwei Bildschirme verfügte, die ihr zeigten, was die Sucher von Melors und Nehems Gewehren erspähten. Noch allerdings waren diese Ansichten so langweilig, dass sich ihr Interesse auf die gefesselte Sklavin zu ihren Füßen konzentrierte. Elri lag auf dem Boden, die Arme hinter dem Rücken und zusätzlich an einen der vorderen Sitze gefesselt. Auch ihre Beine waren kunstgerecht verschnürt.
„Jetzt kann es nicht mehr lange dauern“, meinte Elina, „das wird ein beeindruckendes Schauspiel, glaub mir das! Hast du je gesehen, was ein Plasmaimpuls mit einem Menschen macht? Er wird buchstäblich atomisiert! Das darfst du dir nicht entgehen lassen. Keine Angst, ich werde die Bildschirme so hinstellen, dass du mitschauen kannst. Sie haben eine sehr gute Auflösung.“ Während sie das sagte blickte sie so unschuldig hinter ihrer blonden Lockenpracht hervor, als würde sie mit der am Boden liegenden Frau über Kochrezepte plaudern. Diese allerdings machte ihr nicht die Freude, ihr irgendeine Beachtung zu schenken. Elri war in einer Welt des seelischen Schmerzes gefangen; Trauer um Ma und Angst um Tjonre bewegten sie, aber diese Gefühle lähmten sie nicht. Sie wartete auf ihre Chance. Mochte sie noch so klein sein, sie würde sie nützen.


***


Nehem lag auf der Hügelkuppe gut im niedrigen Buschwerk versteckt. Seine Glatze hatte er mit einem grauen Hut bedeckt. Er hatte freien Blick auf den Pfad, der von Süden her entlang des Baches direkt vom Gutshof zum See führte. Der Pfad lag allerdings im Schatten und der Wald weit weg. Sollten seine Opfer tatsächlich diesen Weg gewählt haben, würde er geduldig warten müssen, bis sie in sichere Schussnähe kamen. Nehem hatte auch berücksichtigt, dass die beiden Zielobjekte unbemerkt an Melor vorbeikommen könnten. Deshalb lag er auch gegen Westen zu in Deckung. Einzig vom Norden, vom See her, wäre er deutlich auszumachen gewesen, aber mit einem Boot würden sie ja wohl kaum kommen – schon deshalb, weil offenbar keines am Seeufer ankerte, sonst hätten sie es vom Helikopter aus bei einer Runde über dem See gesehen. Sicherlich konnten sie sich so auch nicht leise genug nähern, um ihn zu überraschen.


***


Zunächst hörte Melor einen hohen, klagenden Laut. Leise, weit entfernt, metallisch, wie von einer nerinischen Trompete. Das unheimliche Geräusch kam näher und war schließlich als das Protestgeschrei einer Harpyie zu identifizieren. Gleich darauf vernahm er das charakteristische, rhythmische Trommeln galoppierender Harpyien. „Sie kommen“, verkündete er sehr leise, war sich aber dennoch sicher, dass ihn Elina hören konnte. Melor richtete das Fadenkreuz auf die Stelle, wo der Weg in den Wald mündete und wo die Droschke gleich erscheinen musste. Dann war sie auch schon da; die beiden Zugtiere galoppierten wie wild geworden dahin, wirbelten eine Menge Staub auf. Dennoch konnte man die Insassen der Kutsche ausmachen: ein schlanker, hochgewachsener und ein kleiner, sehr breiter, beide in die absurde Tracht der Gutsherren gekleidet, mit tiefgezogenen Hüten, die ihr Gesicht verdeckten. „Sind sie das?“
„Ja!“, klang es begeistert vom in das Gewehr integrierten Kommunikator, „Schieß! Schau zu!“ Der letzte Befehl war offenbar nicht an ihn gerichtet aber nur zu gerne befolgte er ersteren mit der emotionalen Intensität aller Lauerjäger, die lange ruhig ausharren müssen, um dann plötzlich mit hoher Geschwindigkeit zuzuschlagen. Er zielte kurz und drückte ab. Mit einem hässlichen, schleifenden Geräusch löste sich der Plasmaimpuls von der Gewehrmündung, zu rasch für menschliche Augen, um Sekundenbruchteile später am Oberschenkel eines der Gutsherren aufzutreffen. Abermals vergingen lediglich Bruchteile einer Sekunde, dann zerfetzte eine gewaltige Detonation Droschke und Insassen, fast weiß und enorm grell wirkte das Licht der Explosion auf den Betrachter; wenig später erfüllte ein ohrenbetäubendes Krachen die Luft, auf das zahllose Stimmen im nahen Dschungel angstvoll und erregt antworteten.
Melor hatte während der Explosion die Augen teilweise geschlossen, aber auch durch die Augenlider war der grelle Schein für einen Moment wahrnehmbar gewesen. Jetzt war von der Droschke gerade noch ein Rad übriggeblieben, das offenbar noch einige Meter weitergerollt war, um dann umzukippen. Auch die Deichsel existierte noch; sie wurde von den beiden allem Anschein nach nicht schwer verletzten Harpyien durch den Sand gezogen. Aber von den Zielobjekten fehlte jede Spur, zumindest jede, die größer als einige wenige Kubikzentimeter war. Melor blickte befriedigt zu der Verwüstung, die er angerichtet hatte. „Zufrieden?“
„Sehr“, lautete die Replik aus dem Kommunikator.
„Auftrag erledigt“, meinte Melor, „ich komme jetzt zu euch, Nehem soll für alle Fälle noch in Position bleiben. Der Weg von diesem Felsen herunter ist mühselig, es wird also ein Weilchen dauern, bis ich bei euch bin.“ Dann schaltete er den Kommunikator aus, erhob sich und war im Begriff sich umzudrehen, als er aus dem Augenwinkel eine groteske Gestalt wahrnahm: einen rothaarigen, unglaublich muskulösen Zwerg, der bis auf eine rüschenbesetzte Unterhose nackt war und auf einem breiten Gesicht ein noch breiteres Grinsen aufgesetzt hatte. Noch ein Detail war dem wohltrainierten Melor nicht entgangen: der Zwerg hatte die rechte Hand in seine Richtung gestreckt und in dieser Hand befand sich eine Pistole. Noch ehe Melor etwas tun konnte, ehe er in der Lage war sein Gewehr in eine nützliche Position zu bringen, krümmte diese Hand ihren Zeigefinger.
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Elina war kein sehr geduldiges Wesen; wenn andere sie warten ließen, empfand sie das als äußerst unhöflich. Diese verdammten Gutsbesitzer sollten sich gefälligst beeilen. Sie hatte keineswegs vor, den ganzen Tag hier zu verbringen. Deshalb war ihr Entzücken groß, als sie Melors „Sie kommen“ vernahm. Der Bildschirm, der mit dem Sucher seines Gewehrs verbunden war zeigte nun zwei aus dem Dunkel des Waldes hervor preschende Harpyien plus Anhang, zu dem auch zwei Gestalten in Gutsherrenkleidung gehörten. Trotz des aufgewirbelten Staubes waren die Konturen der beiden deutlich zu erkennen und sowohl Elina als auch Elri, die ohne es zu wollen fasziniert auf den Bildschirm blickte, war sofort klar, um wen es sich handelte. „Sind sie das?“, klang es aus dem Kommunikator und Elina bejahte die Frage enthusiastisch. Da riss sich Elri von dem Anblick los, wendete den Kopf. Sofort griff ihr Elina ins Haar und drehte ihren Kopf brutal zurück. „Schieß“, schrie sie und zu ihr gewandt mit einer Mimik, die krankhafte Begeisterung verriet: „Schau zu!“ Elri sah und hörte, wie der letzte Mensch, der gütig zu ihr gewesen war in einer mächtigen Explosion zerfetzt wurde; der letzte; alle starben sie durch Gewalt. Ihr war, als würde ein Messer in ihre Brust gerammt und umgedreht, aber trotz der Schmerzen die sie empfand blieb sie starr, während Elina sich mit Melor unterhielt. Sie wollte sterben – aber sie hatte beschlossen, das nicht alleine zu tun. Elina indessen hatte sich in ein irres Lachen hineingesteigert, das einfach nicht aufhören wollte.


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Der grauenerregende Schrei eines Zerkano-Flugwardlers zerriss die Luft, ein Geräusch, das man in den Wäldern Ivarns im Frühling häufig zu hören bekommt, aber es war nicht Frühling. Tjonre wusste, wer diesen Laut perfekt nachahmen konnte. Der Verursacher stieg gerade über die Leiche Melors und näherte sich gefährlich dem Abgrund. Doch blieb er stehen und wartete. Tjonre hatte das Signal vernommen das besagte, dass Raft erfolgreich gewesen war. Wie ausgemacht verließ er die Deckung des Waldes und rannte auf die Felsen zu. Dabei sah er wie Raft einen Gegenstand so weit wie möglich von sich weg und zu ihm hin schleuderte. Die Plasmaimpulspistole landete wenige Meter vor ihm im Gebüsch, das den Weg säumte; Raft brauchte sie nicht mehr, er besaß jetzt ein Gewehr. Tjonre musste sich kurz durch die Vegetation quälen, bevor er die Waffe an sich nehmen konnte. Dann wendete er und lief rasch zurück in den Wald. Dort verließ er den Weg und bewegte sich unter dem Sichtschutz des Waldrandgebüsches zum Seeufer; er war sich nämlich nicht sicher, ob der Waldrand nahe beim Seeufer vom Helikopter aus gesehen werden konnte. Das Überraschungsmoment war alles was sie hatten, es zu gefährden wäre äußerst dumm gewesen. Noch waren die Häscher im Vorteil, denn Raft würde einige Zeit brauchen, um den schmalen Abstieg westlich des Rückens der Felsnase – der Felsen hatte tatsächlich die Form der Nase eines Riesen, wobei die Nasenwurzel im Urwald entsprang - entlang hinunter zu schreiten. Danach ohne Deckung die Ebene zu überqueren, während die Mörder sich in geschützter Position befanden, wäre wohl Selbstmord gewesen. Raft musste also um den Felsen herum gehen, und dort eine geeignete Stellung suchen, um einerseits Deckung zu haben und andererseits freie Sicht auf den Helikopter und den Hügel, auf dem sich voraussichtlich ein weiterer Killer befand. An der Spitze des Felsens war es nämlich nicht möglich, auf die östliche Seite zu kommen, die allein Blick auf ihre Feinde erlaubte.
Tjonre erreichte das steil abfallende Ufer und beschloss, den Sichtschutz, den ihm tief hängende Äste gewährten zu nutzen, um garantiert ungesehen in das bernsteinfarbene Wasser zu gelangen. So vorsichtig wie möglich rutschte er den Hang hinab und durchbrach schließlich die Oberfläche des Sees fast ohne ein Geräusch zu verursachen. Das Wasser war zu kalt und stach wie tausend Nadeln auf seiner Haut. Er achtete nicht darauf. Noch einmal atmete er tief ein, spannte die Schwimmhäute und tauchte dann in einige Meter Tiefe ab, wobei er sich darauf konzentrierte, den Puls seines kräftig und spürbar schlagenden Herzens zu beruhigen. Dieser verlangsamte sich so weit, dass man nur mehr wenige Schläge pro Minute zählen konnte. Gleichzeitig wurde die Blutversorgung der Körperperipherie stark zurückgenommen; dort sank auch die Temperatur um einige Grade. Nur Menschen des Planeten Wägen vermochten in so kurzer Zeit eine dermaßen drastische Änderung ihres Metabolismus hervorzubringen.
Mit langsamen und gleichmäßigen Schwimmbewegungen kam er erstaunlich rasch in Richtung Osten voran. Er hielt dabei die Augen offen. Dabei legte er tauchend eine Strecke von so beträchtlicher Länge zurück, wie es einem Nichtwäganer niemals möglich gewesen wäre. Die Kälte fraß sich langsam in seinen Körper; Tjonre war in höchster Gefahr. Das Ende durch Unterkühlung kam plötzlich und ohne jede Vorwarnung; man verlor das Bewusstsein schlagartig, so als würde ein Ausschalter gedrückt. Auch der Sauerstoffmangel begann zum Problem zu werden, aber gerade da, als das Bedürfnis an die Oberfläche zurückzukehren und Luft einzuatmen übermächtig zu werden drohte, erblickte er die in den Wellen treibenden, meterlangen Lianen der Wasserreben. Im Seeboden verwurzelt wuchsen sie senkrecht bis zum Wasserspiegel hinauf und weiter; Dort bildeten sie eine Insel aus gewaltigen Blättern und Stängelbürsten, die zuverlässig Sichtschutz bieten konnten. In ihrer Mitte tauchte er auf, um schnell Luft zu holen. Er hatte keine Zeit zu verweilen – die Gefahr der Unterkühlung war zu hoch.
Er überprüfte seinen Kurs, tauchte wieder ab und schwamm so rasch wie möglich weiter in Richtung Hütte. Erst als er ihre Silhouette durch das Wellenspiel an der gläsernen Seeoberfläche sehen konnte, tauchte er in ihre Richtung aufwärts und steckte äußerst vorsichtig die Nase aus dem Wasser. Niemand war zu sehen und umgekehrt konnte man auch ihn vom Hubschrauber oder dem dahinter liegenden Hügel aus nicht wahrnehmen. Jetzt kroch er so schnell es ging – in Wahrheit aber elend und langsam - aus dem Wasser ans Ufer, legte sich an die Rückseite der Hütte und zog die Gliedmaßen eng an den Körper. Er fühlte sich sterbenselend und begann am ganzen Körper zu zittern. Diese unwillkürliche Muskelbewegung sorgte dafür, dass er so rasch wie möglich zur normalen Temperatur zurückkehrte, verhinderte aber fürs erste nicht, dass er erbärmlich fror. Er blickte auf die Waffe, die sich die ganze Zeit in seiner linken Hand befunden hatte. Er beschwor sich selbst noch etwas Geduld zu haben; überhastetes Handeln würde Elri nichts nutzen und so zitternd wie jetzt wäre er unfähig zu zielen und somit selbst eine Gefahr für sie. So vergingen die Minuten quälend langsam, da er zur Untätigkeit verdammt war und andererseits wusste, dass er nicht mehr lange Zeit hatte bis das Fernbleiben des Killers, der ihnen am Waldrand aufgelauert hatte, verdächtig erscheinen musste. Schließlich war er soweit; er streckte seinen haselnussbraunen, sehnigen Körper, strich sich mit der Hand die nassen Haare aus der Stirn, ging die wenigen Schritte zur Ostseite der Hütte und spähte vorsichtig über die Kante. Von hier war aber nichts Relevantes zu sehen, weder die Spitze des Hügels noch der Helikopter, also pirschte er die Ostseite entlang und blickte wachsam um die Ecke; er sah als erstes das libellenförmige Fluggerät mit den gläsernen Flügeln; nicht nur der Dachrotor sondern auch der kleinere, senkrecht gestellte Heckrotor war durchsichtig. Da auch die Schiebetüren fast zur Gänze transparent waren konnte Tjonre sowohl Elina, als auch die am Boden liegende, gefesselte Elri erkennen. Es bereitete ihm seelische Schmerzen, sie so hilflos zu sehen. Sein Mitleid hätte ihn beinahe zu Unachtsamkeit bewogen, denn für einige Augenblicke vergaß er völlig, dass noch eine dritte, schwer bewaffnete Person anwesend sein musste, wahrscheinlich am Hügel. Dann erblickte er den Mann, so wie Raft es erwartet hatte. Allerdings spähte der schwarz Gekleidete nicht nach Süden in Richtung Pfad sondern nach Westen, wo der zweite Killer langsam erscheinen sollte. Hätte er zufällig nach Norden geblickt, wäre Tjonre, der sich zu sehr hatte ablenken lassen, jetzt tot, aber der Mann war sich zu sicher, dass aus dieser Richtung keine Gefahr drohte. Tjonre nahm die Pistole in die rechte, trat ein wenig hinter der Deckung hervor, legte an, zielte sorgfältig, versuchte nicht daran zu denken, was er gerade tat, dass er gerade im Begriff war, seinen ersten Mord zu begehen und schoss. Plasmaimpulse lösten sich in rascher Folge von der Waffe – der dritte traf den Gegner an der Schulter, der mit einem lauten Schrei, der weniger Schmerz, als vielmehr Überraschung und Empörung verriet, aus seiner halb aufgerichteten Position nach hinten fiel. Tjonre verlor keinen Augenblick mehr. Die Waffe fest in der Hand begann er so schnell wie möglich in Richtung Helikopter zu laufen.


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Elina wurde abrupt aus einem Zustand höchster Selbstzufriedenheit gerissen. Nicht nur hatte sich Melor verspätet – sie blickte schon eine Weile immer wieder ungeduldig nach Westen, kontrollierte aber auch noch den Bildschirm, der die Welt aus der Sicht von Nehems Gewehr zeigte. Und eben dieser veränderte unvermutet den Blickwinkel, während gleichzeitig ein empörter Aufschrei zu hören war; überrascht und gehetzt blickte sie sich um und sah von der Hütte her einen bewaffneten, hageren, spärlich bekleideten Mann mit bronzefarbener Haut auf sie zulaufen; seine Gesichtszüge konnte sie noch nicht erkennen, dazu war er noch zu weit weg. Aber sie konnte sich denken, dass sie nichts Gutes verhießen und wahrscheinlich hassverzerrt waren. Das Erste was ihr einfiel war Flucht. Sie wusste im Prinzip, wie man den Hubschrauber lenkte, wenngleich sie schon sehr lange nicht mehr im Pilotensitz Platz genommen hatte. Schnell stand sie auf, um sich nach vorne zu begeben.


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Elri hörte den Schrei und erkannte die Panik im Gesicht ihrer Peinigerin. Sie war mit den Armen an die Bodenverankerung des Frontsitzes geschnürt und auch ihre Beine waren aneinander gefesselt und daher nur sehr eingeschränkt beweglich. Aber sie war äußerst elastisch und biegsam. Als Elina an ihr vorbei zum Pilotensitz wollte, klammerte sie sich an dessen Verankerung, hob ihren Körper schwungvoll wie eine Kobra und schnellte ihre Unterschenkel in die Kniekehlen der blonden Frau, die daraufhin das Gleichgewicht verlor und mit einem unschönen Fluch auf den Lippen mit der Stirn gegen die Armaturen prallte. Blut spritzte. Elina heulte auf. „Darüber reden wir noch!“ schrie sie, rappelte sich auf, setzte sich und drückte auf den Knopf der den Rotor in Bewegung setzte. Immer schneller drehten sich die Blätter, bald schnell genug, dass sich der Helikopter vom Boden erheben konnte. Der bronzefarbene Mann mit den blonden Haaren war bereits gefährlich nahe, da startete das düstere Fluggerät. „Du kommst zu spät!“, triumphierte Elina, doch sie irrte. Tjonre ließ die Schusswaffe fallen und hechtete mit erstaunlicher Sprungkraft nach der Kufe, ergriff sie und zog sich hoch, so dass er ein Bein um sie legen konnte. Elina war nicht dazu gekommen, die Schiebetüren des Hubschraubers zu schließen. Sie musste ihn loswerden! Sie flog in Richtung See, ganz nahe über das Dach der Hütte, war aber nicht selbstmörderisch genug veranlagt, um einen ernsthaften Versuch zu starten, ihn hier wie eine lästige Fliege abzustreifen. Sie würde es über dem See versuchen.


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Nehem stand noch unter Schock und spürte keine Schmerzen. Aus einer klaffenden Wunde an der Schulter floss zu viel Blut; er würde sich darum kümmern müssen. Zuvor aber wollte er den Mann eliminieren, der ihm das angetan hatte. Er stand auf, riss das Gewehr hoch und zielte auf die Kufe des Hubschraubers an welcher der Mann hing, wobei ihm völlig egal war, dass er auch das Leben von Elina und das des gefesselten Mädchens gefährdete. Aber das Zielen bereitete ihm unerwartete Mühe – er war schwerer verletzt, als er gedacht hatte, er musste das Plasmaimpulsgewehr einhändig nachführen und das Ziel war beweglich. Er drückte ab und abermals ertönte jenes hässliche, schleifende Geräusch diesmal scheinbar mit Echo. Unmittelbar darauf geschahen zwei Dinge: der Heckrotor des Hubschraubers detonierte in einer Feuerwolke, ebenso wie Nehems Kopf. Als dieser aufgestanden war, bot er Raft endlich ein Ziel. Der zögerte nicht lange und schoss fast gleichzeitig; die kopflose Leiche Nehems kippte merkwürdig steif wie ein Brett nach hinten. Der Helikopter begann sich indessen ohne die stabilisierende Wirkung des Heckrotors über dem dunklen See unkontrollierbar immer schneller zu drehen. Dabei sank er auf die Wasseroberfläche zu. Tjonre fühle sich wie auf einem Ringelspiel. Auf der Oberfläche des Sees bildeten vom Rotorenwind erzeugte Wellen ein feines, gischtiges Muster, das immer näher kam. Kurz bevor er aufschlug, wurde Tjonre weggeschleudert und versank nach hartem Aufprall halb betäubt im kalten Nass.


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Elina versuchte nur kurz nach der grauenvollen Explosion die Herrschaft über das Fluggerät wiederzuerlangen. Sie sah die Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens bald ein. Wenn sie den Helikopter nicht rasch verließ, würde sie mit ihm auf den Seeboden absinken und ihre Leiche würde Nahrung sein für die ohne jeden Zweifel abscheulichen Kreaturen, die dort hausten. Sie wurde durch die Zentrifugalkraft gegen die Frontscheibe gepresst, konnte sich aber seitlich in Richtung der offenen Tür schieben. Sie schien dafür unendlich lange zu brauchen. Tatsächlich vergingen aber nur Sekundenbruchteile. Währenddessen dachte sie nicht an die gefesselte Elri und selbst wenn sie das getan hätte, wäre es ihr nicht einmal im Traum eingefallen, sie loszubinden oder ihr sonst in irgendeiner Weise beizustehen. Wenige Sekunden vor dem Aufprall war sie bei der Tür und ließ sich hinausfallen.


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Elri war sich bewusst, dass sie in unmittelbarer Todesgefahr schwebte. So sehr sie auch gegen ihre Fesseln ankämpfte, es war vergebens. So nah war die Freiheit, ihre Füße hingen aus der Tür hinaus, und doch war sie unerreichbar. Der Aufschlag war entsetzlich. Sie hatte ihren Kopf nur wenige Zentimeter über dem Boden gehabt und dennoch schlug er mit einer derartigen Wucht auf, dass sie aus einer Wunde an der Schläfe blutete. Wasser drang plötzlich in einem Schwall durch die Türöffnung der tiefer gelegenen Seite ein und verstärkte noch das Kippen des Hubschraubers. Sie drohte abzurutschen, in das rasch steigende Nass, dann aber gelang es ihr einen Fuß in den Türrahmen zu stellen und sich hoch zu stemmen. Die Fluten drangen ungehindert durch den Eingang, das Wasser stieg schnell, Elri bekam Todesangst, sie schrie. Nun stand es ihr schon bis zum Kinn, sie holte noch einmal tief Luft, das allerletzte Mal, dann war sie gänzlich unter Wasser. Der Helikopter lag nun seitlich, sodass alle Luft ungehindert entweichen konnte und er rasch in der brodelnden Flut versank. In wenigen Augenblicken, die Elri dennoch unglaublich gedehnt erlebte, tauchte ihr düsteres Grab mehrere Meter in die Tiefe, sie blickte nach oben und kämpfte nicht mehr gegen ihre Fesseln, aber immer noch gegen die Panik an. Es wurde ruhig, ihr Herzschlag war das lauteste Geräusch. Sie blickte nach oben und genau über ihr konnte sie in einem kleiner werdenden Kreis den Himmel sehen, hell und bewölkt. Lichtstrahlen tanzten in der Dunkelheit um sie, Reflexionen der welligen, bewegten Oberfläche. Manchmal schwangen feine, dunkle Fäden wie Tang in ihr Sichtfeld, schwankten träge von einer Seite zur anderen. ‚Meine Haare’, stellte sie merkwürdig nüchtern fest, die Haare einer nahezu Toten. ‚Das ist das Ende’, dachte sie. Ob die Legenden der Alten wohl stimmten? Würde sie bald mit denen, die sie liebte und die alle schon von dieser Welt gegangen waren, vereint sein? Mit ihrer Mutter, mit Ma Handor und mit Tjonre? Tränenflüssigkeit mischte sich mit dem kalten Wasser um sie. War das alles was letztlich von ihr bleiben würde? Ein bisschen Salz in einem dunklen See?
Etwas Großes geriet plötzlich in ihr Blickfeld. Es näherte sich rasch. Der Schattenriss nahm fast menschliche Konturen an. Arme und Beine liefen allerdings in Flossen aus und ermöglichtem dem Wesen im nassen Element anmutige Bewegungen, wie sie das keinem Menschen zutraute. Wollte es sie töten? ‚Wenn ja, dann bitte schnell’, hoffte sie, bevor ihr der Atem ausging. Sie sehnte es herbei und tatsächlich schwamm es direkt auf sie zu, berührte sie mit Händen die Schwimmhäute hatten, tastete sich ihre Arme entlang, fand die Schnur, die ihr alle Hoffnung auf ein Weiterleben nahm. Kurz sah sie die schwarze Silhouette eines Dolchs. Sie hatte keine Angst, beobachtete nur. Alles ging wahnsinnig schnell. Plötzlich war sie nicht mehr an den Sessel gebunden, dennoch aber nicht frei. Ihre Arme und Beine waren immer noch gefesselt.
Das fremde Wesen ergriff sie und schwamm mit ihr fort, so schnell, wie sie selbst niemals hätte schwimmen können. Langsam breitete sich ein Glühen in ihrer Lunge aus, das akuten Luftmangel verriet. Sie kämpfte gegen das übermächtige Bedürfnis an, einzuatmen. Lange, das wusste sie, würde sie der Versuchung nicht mehr widerstehen können. Die Kreatur allerdings brachte sie nicht zur Oberfläche. Ein letzter Funken Hoffnung in ihr erlosch. Dennoch blieb sie ruhig und überließ sich dem Wesen ohne Gegenwehr. Rasch tauchten sie dahin, bis sie mächtige dunkle Konturen von etwas Künstlichem erahnen konnte. Sie tauchten darunter. Dann sah sie einen schwachen Schein, auf den sie zusteuerten. Schließlich waren sie genau unter einer kreisrunden Öffnung. In allerhöchster Eile schwammen sie aus der Finsternis in das Licht.


***


Nass und zerzaust und übel gelaunt. Ihr Make-up zerstört. Die Haare klatschten auf ihre Haut, nahmen ihr die Sicht. Die Seidenbluse arg in Mitleidenschaft gezogen. Die schwarze Jacke und die Hose vollgesaugt. So stakste sie zum Ufer, mit letzter Kraft, denn lederne Jacke und Hose waren schwer und sie war eine erbärmliche Schwimmerin. Diese Versager! Sie hatte sich auf die GnErwan Brüder verlassen! Hatte ihre Plasmaimpulspistole in ihrer Tasche liegen lassen und dann in Panik nur noch an Flucht gedacht. Sie war nicht fähig gewesen sich vorzustellen, dass der bewaffnete Mann, der Nehem erledigt hatte, nicht auch als nächstes auf sie schießen würde und ihr gar Zeit lassen würde, die Waffe zu suchen. Denn rückblickend wurde ihr klar, dass sie dazu wahrscheinlich genug Zeit gehabt hätte. Weshalb hatte er das getan? Sie kam nicht auf die Idee, dass jemand um das Leben einer Sklavin Angst haben könnte und deswegen nicht sofort schoss.
Sie stapfte mühselig weiter zum Ufer hin, frierend und erschöpft. Da hörte sie vor sich Schritte und blickte auf. Vor Staunen und Grauen blieb sie stehen: „Du bist tot!“ rief sie in anklagendem Ton. Der Rote stand nur wenige Meter vor ihr, sein Mund zu dem für ihn typischen schaurigen Grinsen verzerrt. Außer der spitzenbesetzten Unterhose trug er noch einen Dolch und Tjonres Pistole am Gurt, sowie zwei Trophäen in den Händen: die Gewehre von Melor und Nehem. Die Mündungen beider zielten genau auf sie. „Ich habe es gesehen. Du und dieser Gutsherr sind tot!“
„Tut mir leid dich enttäuschen zu müssen“, konterte er, „deine beiden Killer sind es, die tot sind. Ich lebe noch und habe außerdem vor, das noch eine Weile zu tun.“
Das letzte bisschen verbliebene Kraft wich aus Elina. „Wieso musst du mir das antun?“ Ihr wurde bewusst, dass sie in einer nicht gerade rosigen Situation war. „Und? Was hast du jetzt vor? Bringst du mich um?“ Er antwortete nicht, blickte sie nur stumm an. „Wenn du noch lebst, lebt SoErgen auch noch.“ Sie korrigierte sich: „Lebte noch. Dann war er also dieser halbnackte Irre, der auf Nehem schoss und dann auf den Helikopter zulief! Warum hat er nicht auch auf mich geschossen?“
Raft zuckte mit den Schultern. „Tjonre ist ... oder war ein bisschen merkwürdig. Offenbar liebt ... oder liebte er das Mädchen mit dem Regenbogen im Haar.“ Und entschuldigend fügte er hinzu: „Seine Worte, nicht meine. Er hatte wahrscheinlich Angst, sie zu verletzen.“
„War“, antwortete sie, „er ist nicht wieder aufgetaucht. Und was den Regenbogen, Glitzerköpfchen, betrifft – die füttert jetzt die Fische. Sie war an den Pilotensitz gefesselt. Und der liegt jetzt mit dem ganzen Gerät am Seegrund.“ Sie blickte ihn mit großen Augen an, die kein bisschen Bedauern zeigten. „Na ja, wenigstens einen von euch hab ich erledigt. Ohnehin den Wichtigeren. Was jetzt?“
„Zieh die Jacke aus und wirf sie rüber.“
Sie entledigte sich des nassen Kleidungsstücks und warf es ihm vor seine Füße. „Die wird dir zu klein sein.“
Er tastete sie mit einem Fuß ab. „Wo ist dein Kommunikator? In deiner Hosentasche jedenfalls nicht, deine Hose ist zu figurbetont, das würde man sehen.“
„In meiner Tasche.“
„Und wo ist die?“
„Im Hubschrauber. Wenn du willst, kannst du nachsehen. Musst nur ein bisschen tauchen.“
„Keine Lust. Ich glaub‘ dir also.“
Sie ging ein paar Schritte weiter, ans Ufer, und öffnete dabei ein paar Knöpfe ihrer Bluse. Sie versuchte verführerisch auszusehen, was ihr aber misslang; sie sah eher aus wie eine ersoffene Ratte. „Willst du wirklich diesen phantastischen Körper verunstalten?“ Sie wusste um den Effekt nasser Blusen; dass sich die Konturen ihrer Brüste an dem auf der Haut klebenden Kleidungsstück deutlich abzeichnen würden.
„Lass das!“ Er wirkte jetzt ärgerlich. „Du hättest verdient, dass ich dich abschlachte, bei der Galaxis, das hättest du! Aber warum sollte ich das tun, wenn ich es anderen überlassen kann? Du hast keinen Kommunikator mehr, die beiden deiner Killer habe ich zusammen mit ihren Gewehren. Dir wird also nichts anderes übrigbleiben, als zu Fuß zur Stadt zurück zu gehen. Wirst du das schaffen, bevor die Dunkelheit anbricht, wirst du? Wenn nicht werden sich die Smilons sicherlich für dich interessieren! Du hast keine Waffe und selbst wenn du eine hättest, siehst du nichts in der Finsternis. Warum sollte ich dich erschießen, wenn sie dich zerreißen! Und selbst wenn du durch den Wald kommen solltest, zum Gutshof kannst du nicht. Die Leute sind was dich betrifft informiert. Sie haben mittlerweile Ma sicherlich gefunden und werden dir ihre Ermordung nicht verzeihen. Weitere Kilometer, die du in der Nacht gehen musst. Trotzdem; du hast eine winzige Chance, wenn du dich beeilst.“
„Raft, du kannst doch nicht ...“, begann sie.
„Ich kann! Los, verschwinde!“ Sie sah in seinen Augen, dass sie verspielt hatte, stolperte von ihm weg in Richtung Hügel. Sie würde dem schmalen Pfad folgen. Und sie würde überleben, beschloss sie, das tat sie immer. Ja, da war sie sich sicher. Sie folgte dem Pfad, ging so rasch sie konnte und blickte nicht mehr zurück.


***


Sie schwammen zu auf die Helligkeit, sehr schnell, ein Glück, denn sie konnte nicht mehr. Sie fühlte, dass ihr Bewusstsein im Schwinden begriffen war. Da durchbrachen sie die Oberfläche. Sie schnappte gierig nach Luft, etwas zu früh, bekam auch Wasser in die Lunge und musste Husten und Spucken, nichts desto trotz war das Einatmen köstlich. Sie füllte ihre Lungen ganz tief, atmete dann etwas ruhiger aus und begann sich für ihre Umgebung und ihren Retter zu interessieren. Sie war in einer Art kleinem, rundem Schwimmbecken mit einer Leiter an der Wand in einem Raum, dessen Größe sie aus ihrer Position nicht abschätzen konnte. Er schwamm mit ihr zur Leiter hin, zog sie nach, sie sah nur seinen Arm, der sie unter den Achseln gefasst hielt. Dann tauchte er unter, legte sie sich über die Schulter und kletterte – mühelos, obwohl er sie mit einem Arm hielt – empor, stieg über den Rand und legte sie vorsichtig hin. Erst jetzt erkannte sie sein Gesicht. Tränen stiegen ihr abermals in die Augen, aber diesmal waren es Tränen der Freude. Sie blickte ihn ungläubig an. „Tjonre“, flüsterte sie, als ob sie ihn für eine Erscheinung hielt, so erschien es ihm jedenfalls. Er war nicht unbedingt besonders erfolgreich gewesen in seinem bisherigen Leben, aber sie hier zu sehen, atmend und mit diesem verblüfften und glücklichen Ausdruck und zu wissen, dass dies sein Werk war, dass es ihm – wenn auch nicht alleine – gelungen war, sie zu retten; gerade noch rechtzeitig zu kommen, wo er doch normalerweise gerade noch zu spät kam; das machte das alles wett. Ihr Anblick erstaunte ihn ebenso wie seiner sie.
‚Zurück in die Wirklichkeit’, mahnte er sich in Gedanken, legte den Kommunikator beiseite und zog den Dolch aus dem Halfter. „Vorsicht jetzt. Ich muss deinen Fesseln durchschneiden.“ Er strich mit der Linken beruhigend über ihr Haar und wandte sich dann ihren auf den Rücken gefesselten Armen zu. Sie war brutal und viel zu fest gebunden worden, sie würde Schmerzen haben, wenn das Blut wieder ungehindert zirkulieren konnte. Ganz vorsichtig schnitt er die Fesseln durch, keinesfalls wollte er, dass sie auch nur den kleinsten Kratzer ab bekam. Dann waren ihre zerschundenen, aufgeschürften Arme frei; sie keuchte vor Schmerz, als das Blut wieder ohne Widerstand fließen konnte. Danach wandte er sich den Beinen zu. Bei denen ging es schneller. Er legte den Dolch weg und blickte wieder in ihre tränenverschleierten Augen. Er hob sie ein wenig hoch und zog sie zu sich. Sie umarmte ihn und so saßen sie da, eng umschlungen, wie zwei Kinder die sich gegenseitig trösten. Elri weinte leise vor sich hin und Tjonre vermutete, dass einige der Tränen auch durch die schmerzenden Handgelenke verursacht waren. Aber hauptsächlich waren es Tränen der Erleichterung, die seine Brust hinunter rannen und zuverlässig verhinderten, dass sie trocknete. Er ließ sie gewähren, bis sein unseliger Hang, sich im falschen Augenblick über die Situation lustig zu machen, die Oberhand gewann. „Ich hab’ heute schon gebadet“, sagte er ganz leise neben ihrem Ohr.
Sie lachte und schluchzte und antwortete dann: „Tschuldigung“. Sie brachte dieses eine Wort kaum heraus, weil sie begonnen hatte unwillkürlich mit den Zähnen zu klappern; nicht nur als Reaktion auf die Unterkühlung, sondern ebenso als Folge der lebensbedrohenden Ereignisse denen sie nur so knapp entronnen war. Außerdem zitterte sie jetzt am ganzen Leib und atmete ruckweise. Er streichelte ihr über die Haare und den Rücken in der Hoffnung sie damit zu beruhigen, dabei war er selbst in kaum besserer Verfassung. Nur das Bewusstsein sie beschützen zu können und der Stolz, einmal alles zum Guten gewendet zu haben, bewirkte dass er ruhig blieb und nicht selbst zu heulen anfing und mit den Zähnen zu klappern. Dabei verdrängte er die Bilder der totgeweihten Ma aus seinem Inneren, die ihm sagen wollten, dass er eben doch nicht alles gut gemacht hatte. Er verdrängte auch die mahnende Erkenntnis, dass Raft noch da draußen war und vielleicht noch kämpfen musste oder auch schon tot war. Er sollte ihm zu Hilfe eilen, aber ihm fehlte die Kraft.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber schließlich begann sie ruhiger zu atmen und nur noch ganz leicht zu zittern. Er küsste sie ganz sanft auf die Stirn. Sie blickte ihm tief und immer noch erstaunt in die Augen. „Ich dachte du bist tot. Ich habe gesehen, wie der eine Assassine auf euch geschossen hat, ich habe auf dem Bildschirm mitbekommen, wie sich die Droschke in einen Feuerball verwandelt hat ... Oh Tjonre, ich war mir sicher, dass niemand das überleben kann!“
„Es waren nur Puppen, hergestellt aus Riesenpilzen, die unsere Kleidung anhatten und auf der Droschke festgebunden waren. Wir waren nicht in Gefahr.“
„ Aber ... aber wie konntet ihr wissen, dass sie euch hier auflauerten?“
„Ma hat es mir gesagt“, flüsterte er.
Sie blickte ihn aus weit aufgerissenen, verweinten, aber dennoch wunderschönen Augen an. „Dann lebt sie noch?“
Er schüttelt den Kopf. „Sie ist gestorben, nachdem sie mich gewarnt hat. Sie hat nur noch auf mich gewartet. Als ihr nicht gekommen seid, bin ich zum Gutshof zurück geritten. Auf dem Weg dorthin habe ich sie gefunden. Sie hat mir erzählt, wo Elina und die anderen hin wollten, wie viele es waren, dass sie dich mitgenommen hatten; alles Wesentliche. Ohne sie wären wir in die Falle getappt und sie hätten leichtes Spiel mit uns gehabt. Wir verdanken ihr unser Leben. Du verdankst ihr deine Freiheit.“
„Auch ich verdanke ihr mein Leben. Hätten sie den Kommunikator bei mir gefunden, hätten sie mich wohl gleich umgebracht. Ma hat ihn rechtzeitig weggeworfen. Oh Tjonre, warum ist die Welt so? Warum musste sie sterben?“
„Es gibt auch andere Orte. Orte an denen Friede herrscht. Ich möchte dich zu einem friedlichen Planeten mitnehmen, meine Heimat. Wenn du das willst.“
„Du fragst mich was ich will?“
„Du bist auf einer Raumfähre der Föderation. Dein Vater war Bürger der Föderation. Du bist jetzt keine Sklavin mehr. Du bist eine freie Bürgerin. Ja, ich frage dich was du willst. Denn von jetzt ab ist dein Wille entscheidend.“
Dieser Gedanke war ihr noch sehr fremd. Sie legte ihr Köpfchen an seine Brust, dachte nach und schwieg eine Weile. Dann meinte sie: „Warum glaubst du, dass ich vielleicht nicht will, dass du mich mitnimmst?“
„Na ja“, antwortete er nach kurzem Zögern, „auf meiner Welt gibt es viel Wasser. Ganze Ozeane voll Wasser, um ehrlich zu sein. Und es könnte ja sein, dass du nach dem heutigen Tag genug von Wasser hast. Oder vielleicht hast du ja einfach was anderes vor ...“
Sie lachte und zitterte dabei. „Ja, bestimmt. Mir stehen alle Möglichkeiten offen, bloß weil ich keine Sklavin mehr bin.“ Sie blickte ihn durch den Schleier ihre Wimpern an und lächelte versonnen. „Ich mag Wasser! Wirklich! Auch nach heute. Als ich ein kleines Kind war, war ich öfter am Meer. Auf wunderschönen Sandstränden, gemeinsam mit meinen Eltern. Sandtempel bauen, und so. Ich höre immer noch das Rauschen der Brandung und empfinde den typischen Geruch, wenn ich an damals denke. Dann bin ich glücklich und innerlich ganz ruhig. Ich würde sehr gerne wieder ein Meer sehen, einen Strand entlang wandern, vielleicht in Begleitung, wenn du magst. Einen Sonnenuntergang über dem Meer erleben, wäre sehr schön.“
„Das sollte sich einrichten lassen – bis auf die Sandstrände. Auf Wägan gibt es nur ganz wenige davon. Hauptsächlich haben wir Felsküsten. Aber es ist auch wunderbar, Felsküsten entlang zu klettern. Vielleicht nicht ganz so romantisch. Aber die Sonnenuntergänge sind jedenfalls traumhaft.“
„Gut. Dann komme ich mit.“ Sie wirkte enthusiastisch und fröhlich, als sie das sagte. Sie nahm Tjonres Hand in ihre eigene. „Jetzt sieht man gar nichts mehr davon“.
Er blickte sie erstaunt an. „Was meinst du? Was sieht man nicht mehr?“
„Ich dachte du hast Flossen oder Schwimmhäute. Ich habe ganz deutlich welche gesehen.“
Er spreizte die Finger und spannte die dazwischenliegende Haut bis zur Mitte der zweiten Fingerglieder. „Meinst du so?“
„Ja genau“. Sie blickte fasziniert.
„Nicht so schön wie deine schillernden Haare, aber sehr nützlich.“
„Ja, das sind sie“, meinte sie, „das hast du heute bewiesen“.
So sehr er auch ihre Nähe genoss, machte er sich zunehmend Sorgen um ihr Wohl. Ihr Kleid war triefend nass und es war kalt. „Du holst dir den Tod, wenn du weiterhin in dem nassen Kleid herumsitzt. Du hast nicht die schlimmsten Gefahren überstanden, um dann an Erkältung zu sterben! Ich bringe dir ein Handtuch und einen Bordoverall. Wir haben zwei Größen zur Auswahl, Rafts und meine. Welche ist dir lieber?“
Sie ließ kurz ihrer Phantasie freien Lauf, stellte sich vor, wie sie in Rafts Sachen aussehen würde und wie in Tjonres. „Hm, schwere Entscheidung. Wie sehe ich wohl lächerlicher aus?“ Sie lächelte ihn verschmitzt an. „Ich denke, ich wähle einen von deinen.“
Er nickte, setzte sie ab, stand auf und ging zu den Regalen, nahm einen seiner Overalls, zwei Handtücher und stellte fest, dass er bei seinem letzten Besuch das nasse Handtuch einfach auf einem leeren Regal liegen gelassen hatte. Er drehte sich um. „Besser zwei Handtücher, eines für deine Haare. Wenn sie nass sind, schillern sie übrigens nicht.“ Zurückgekehrt übergab er ihr Handtücher und Kleidung.
„Ich weiß“, stellte sie fest. „Mein Kleid hat hinten beim Hals zwei Knöpfe. Könntest du sie öffnen?“ Sie stellte diese Frage völlig unbefangen. „Dann kann ich leichter raus schlüpfen.“
„Gerne“, antwortete er wahrheitsgemäß. Sie strich die Haare beiseite und er stellte sich beim Aufmachen nicht einmal besonders ungeschickt an, obwohl er mehr auf ihren zarten Nacken achtete, als auf die ziemlich uninteressanten Knöpfe. Unterhalb ihres Halsansatzes glänzte etwas golden. Er ergriff das Kettchen. „Dein Medaillon!“, rief er erfreut, „dann hat sie es dir diesmal gelassen.“
Sie drehte sich zu ihm. „Sie hat es nicht gesehen, das Kleid hat keinen Ausschnitt. Und sie hatte keinen Grund es zu suchen; sie wusste ja nicht, dass du es mir wiedergegeben hast. Sie hat sicherlich nicht einmal mitbekommen, dass du es hattest.“
„Ja natürlich, das stimmt.“, antwortete er. Er lächelte sie an. „Ich dreh mich um, damit du dich umziehen kannst.“ Seinen Worten folgte sogleich die Tat; nicht ohne ein gewisses Bedauern seinerseits, sie gefiel ihm wirklich sehr. Aber wichtiger als sein Vergnügen war ihm ihr Vertrauen. „Ich glaube, dein Medaillon birgt ein bedeutendes Geheimnis. Bedeutend ist vielleicht übertrieben, vielleicht auch nicht.“
„Wie könnte das sein?“
„Form und Größe der Bilder. Es könnte gut sein, dass es sich um Meme handelt. Dann deine Beobachtungen. Dein Vater hat es sich immer wieder von dir ausgeliehen. Und; die schwarzen Monster haben etwas gesucht, aber wahrscheinlich nicht gefunden. Wenn ich recht habe, haben sie das bis heute nicht.“
Er hörte förmlich, wie sie nachdachte. „Meinst du wirklich? Ich habe immer gedacht, dass es nur für mich einen besonderen Wert hat – als Erinnerung an sehr schöne Zeiten, an Geborgenheit und Liebe, an Glück ... aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch für andere einen Wert hat, oder dass dafür sogar jemand einen Mord begehen würde. Du kannst dich jetzt umdrehen.“
In dem wenig körperbetonten, dunkelblauen Overall sah sie entzückend, aber wenig sexy aus und der hohe, rosa Handtuchturban tat ein Übriges, um sie ziemlich komisch wirken zu lassen. Außerdem musste sie die Ärmel umschlagen, um nicht in dem Einteiler verloren zu gehen. Die Hosenbeine hingegen passten leidlich; sie hatte ja sehr lange Beine. Tjonre musste unwillkürlich schmunzeln, verkniff sich aber jede Bemerkung, da sie ohnehin ziemlich verunsichert und angesichts seiner Reaktion vielleicht sogar ein wenig ärgerlich dreinblickte. Ihre Augen funkelten. „Und was ist mit dir? Willst du dich nicht umziehen?“
„Oh doch, gerne! Aber wenn Raft nicht gleich kommt, muss ich noch mal ins Wasser. Er ist schon viel zu lange da draußen und offenbar habe ich einen der Psychopathen nicht gut erwischt. Um ehrlich zu sein mache ich mir langsam um Raft Sorgen.“
Wie auf ein Stichwort begann es im Schleusenbecken zu brodeln und ein prustender Raft tauchte auf. Er hielt die Gewehre, von denen er sich nicht hatte trennen können in die Luft. „Da, nimm!“, brüllte er.
Tjonre stöhnte innerlich. „Musstest du die mitnehmen? Was sollen wir denn an Bord mit denen?“ Er ergriff die beiden am Lauf und zog sie aus dem Becken, um sie gleich darauf lieblos in eine Ecke zu werfen. Er mochte keine Waffen.
Raft kletterte behände die Leiter hinauf. „Das sind Trophäen! So was wirft man nicht einfach weg. Ich hätte mir auch noch die Skalps besorgt, aber der eine hatte eine Glatze.“ Tjonre war sich nicht ganz sicher, ob das ein Scherz war. Raft war jedenfalls nicht zu bremsen. „Dachte ich mir doch, dass ihr noch lebt! Unkraut vergeht nicht. Aber sicher war ich mir nicht.“
„Du wirst dir doch keine Sorgen um uns gemacht haben?“, meinte Tjonre.
„Nein, das nicht, wieso? Notfalls kann man die Fähre ja auch alleine fliegen.“ Er grinste sein grauenvolles Grinsen und ging zu den Handtüchern und Bekleidungsstücken.
„Äh, Elri“, wandte sich Tjonre an das Mädchen, „es ist besser, wenn du jetzt in den Kommandoraum gehst. Was jetzt kommt, willst du bestimmt nicht sehen. Unterhalte dich kurz mit Talira.“
„Talira?“
„Der Avatar der Fähre. Du weißt doch, was ein Avatar ist?“
„Natürlich. Die Schiffe der Wurift hatten auch einen. Wir haben ihn häufig gesehen, weil die Wurift jeden direkten Kontakt mit uns mieden. Wir waren ja unerträglich hässlich für sie.“ Sie dachte an eine spinnenbeinige Gestalt und ging auf die eine der beiden Türen des Raumes zu, diejenige, die ins Schiffinnere führte. Sie öffnete sich automatisch und als Raft damit begann, sich die attraktive Unterhose auszuziehen, floh sie schnell in den Kommandoraum. Dieser war kreisrund und die Einrichtung bestand im Wesentlichen aus vier einfachen, aber bequemen Sesseln, die zentral zu einer Sitzgruppe geordnet waren. An den Wänden blinkten Lichter aller Größen und Farben. Zwischen den Sitzen stand oder vielmehr schwebte einige Zentimeter über dem Boden eine Frau, die etwa so groß und ebenso schlank war, wie sie. Damit endete aber die Ähnlichkeit gleich wieder, hatte sie doch langes blondes Haar und leicht schräg gestellte, goldene Augen mit senkrechten Pupillen. Ihre Haut war sehr bleich und ihre Lippen blutrot. Sie lächelte und entblößte dabei feine, ausnehmend spitze Eckzähne. Sie trug ein weit ausgeschnittenes, weinrotes Kleid, an der Taille gegürtet mit einem breiten schwarzen Stoffband.
Elri erschrak; mit dem Begriff „Avatar“ hatte sie etwas Spinnenartiges assoziiert und hatte sicherlich keine so ungewöhnliche, aber dennoch sehr schöne Frau erwartet, die sie einschüchterte. „Du bist Talira?“, fragte sie unnötigerweise.
„Und wer bist du?“, lautete die Gegenfrage.
„Nur eine Sklavin.“ Diese Selbsteinschätzung war ihr bereits herausgerutscht, bevor ihr einfiel, dass das gar nicht mehr stimmte. „Du bist sehr schön“, ergänzte sie. „Hat Tjonre dein Aussehen gestaltet?“
„So ist es“, antwortete Talira. Betrübt stellte Elri fest, dass sie ein völlig anderer Typ war als Talira und daher wohl kaum Tjonres Geschmack entsprechen konnte. Vielleicht war es vermessen von ihr mehr von ihm zu erwarten, als Freundlichkeit. Der Gedanke machte sie unglücklich.
„Setz dich doch“, bot ihr Talira an und mit einem Seufzer ließ sie sich in den nächsten Sessel sinken. Jetzt merkte sie die Anspannung der letzten Stunden und den Schlafmangel. Ihre Hand- und Fußgelenke schmerzten und sie wurde sehr müde. Talira beobachtete sie scheinbar still und unbeteiligt, in Wahrheit nahm sie ihre physiologischen Parameter wahr und untersuchte ihre Gesundheit. Das Ergebnis war nicht allzu zufriedenstellend. „Deine Handgelenke müssen versorgt werden, sonst entzünden sie sich. Die Fußgelenke sind nur in wenig besserem Zustand. Du bist übermüdet und brauchst dringend Schlaf.“ Talira war inzwischen in den Vis a Vis Sessel geschwebt und blickte sie unverwandt an. „Ich wette, die beiden Herren kommen gleich ins Zimmer geströmt und verkünden mir, dass wir so rasch wie möglich aufbrechen müssen. Stimmt das?“
Elri nickte. „Ja, wir müssen fliehen. Mittlerweile weiß wahrscheinlich der ganze Planet, dass sie Agenten der Föderation sind. Können wir bald aufbrechen?“
Mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür zum Einstiegsraum. Raft und Tjonre betraten die Zentrale und setzten sich auf die freien Stühle. Tjonre blickte Talira direkt an. „Talira, wann können wir starten?“
„Soll es ein besonders rascher, oder ein besonders heimlicher Aufbruch sein?“, fragte sie mit unergründlicher Miene.
„Dass Elinas Mission ein Fehlschlag war, dürfte noch nicht bekannt geworden sein, wir haben also ein bisschen Zeit“, mutmaßte Tjonre, „aber sicherlich nicht allzu viel“.
Talira runzelte ihre imaginäre Stirn. „In etwa eineinhalb Stunden können wir starten, ohne dass einer der Kontrollsatelliten das mitbekommt. Das schließe ich aus den Daten über deren Flugbahnen. Die nächste Gelegenheit wäre dann erst wieder in sieben Stunden. Wenn du begründeten Verdacht hast, dass die OrPhons ohnehin schon wissen, dass wir demnächst starten, sind unsere Chancen hingegen besser, wenn wir das auch gleich tun. Wenn wir nicht heimlich starten können sind sie aber in jedem Fall mies. Was meinst du?“
Raft schaltete sich ins Gespräch ein: „Elina war sehr selbstsicher, fast schon größenwahnsinnig. Sie hat ganz sicher mit ihrem Erfolg gerechnet. Also ich denke, dass du recht hast, wir haben noch Zeit. Sie hat sich bei ihrem Auftraggeber sicher nicht gerührt, weil sie das erst tun wollte, wenn sie ihm über unsere Vernichtung hätte berichten können.“
„Was ist eigentlich aus ihr geworden?“ wollte Tjonre wissen, „hast du sie ...“
„Nein, ich habe sie losgeschickt, ohne Waffe, ohne Kommunikationsmittel, zu Fuß. Ich denke die Smilons werden diese Nacht fette Beute machen.“
So sehr Elri Elina auch hasste, war ihr bei dem Gedanken nicht wohl, dass sie von einem Smilonrudel zerfetzt werden würde. Trotzdem hatte sie Verständnis für die Entscheidung, die Raft getroffen hatte. Zuletzt war Elina wehrlos gewesen - und eine Wehrlose zu erschießen, war nicht jedermanns Sache. Ihr wäre das bestimmt nicht möglich. Zudem hatte Raft nicht nur ihre schlechten Seiten kennen gelernt. Ganz im Gegensatz zu ihr.
„Gut“, meinte Tjonre, „triff alle nötigen Vorbereitungen zum Aufbruch in eineinhalb Stunden. Ich denke wir werden uns bis dahin ausruhen, ein wenig schlafen vielleicht, wenn wir das können.“
„Ich nicht! Ich habe einen grauenvollen Hunger“.
Tjonre erinnerte sich an den halb verdauten Mageninhalt auf dem runden Bett und grinste. Dann wandte er sich Elri zu, seine Stimme wurde weich. „Wie fühlst du dich?“
Elri schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, erfreut über die immer noch ungewohnte Erfahrung, dass jemand um sie besorgt war. „Danke, es geht. Ein bisschen müde und erschöpft. Eigentlich sogar ziemlich.“
Er strich mit seiner Rechten über ihre Wange. „Kein Wunder, du hast ziemlich viel mitgemacht. Komm mit, ich mache eine Führung durchs Haus und zeige dir deine Koje.“ Er sprang auf, ergriff sie an der Hand und zog sie hinter sich her in Richtung zu einer Tür gegenüber dem Schleusenraum, die sich ebenfalls automatisch öffnete. Ein kurzer Gang wurde sichtbar, mit zwei Türen an jeder Seite und einer am Ende. Tjonre legte seine Hand an eine kreisförmige Markierung an der Wand neben der ersten Tür rechts, die daraufhin zur Seite glitt und den Zugang zu einem kleinen Raum öffnete, der vor allem ein schalenförmiges Bett enthielt. „Der Kojenraum“, erklärte Tjonre, „spartanisch eingerichtet: Bett, kleines Sofa, Regale, man kann Musik hören und 3D-Videos betrachten. Zum Essen und Trinken muss man in den Aufenthaltsraum am anderen Ende des Ganges gehen – Raft wird wohl gleich dort hin stürzen. Dort ist auch der einzige größere Tisch und das einzige Mehrpersonensofa.“ Er deutete mit der freien Hand. „Die Tür da hinten führt zu den Sanitäranlagen. So, das war im Wesentlichen die Führung, den Aufenthaltsraum zeige ich dir später. Das Bett ist übrigens nicht nur zum Schlafen da, sondern schützt dich auch vor der Beschleunigung. Talira wird dich kurz vor dem Start wecken und dir dann sagen, was du weiter tun sollst. In dem Schrank da hinten findest du einen Pyjama, falls du einen brauchst.“ Er blickte zu ihr hinunter, ihre Augen waren halb geschlossen, sie hatte sich gegen ihn gelehnt und war gerade dabei, im Stehen einzuschlafen. „Ach was, vergiss das mit dem Pyjama, leg dich einfach hin. Hast du noch Fragen?“ Elri schüttelte müde den Kopf. Tjonre lachte, brachte sie noch bis zum Bett, gab ihr einen kurzen, aber sehr liebevollen Kuss auf die Stirn, dann schloss sie die Augen vollständig, kippte samt Turban nach hinten, zog die Beine an den Körper und noch bevor Tjonre die Kabine verlassen hatte, war sie eingeschlafen.


***


Sie schwamm durch einen düsteren Tangwald, breite organische Schleier bewegten sich synchron im Spiel der Wellen. Sie wusste, sie musste zur Oberfläche, hinauf zu dem hellen Fleck über ihr, aber eine seltsame Trägheit hielt sie zurück. ‚Du musst hinauf, sonst ertrinkst du‘, dachte sie und dieser Gedanke riss sie aus der Apathie. Sie drängte jetzt nach oben, schlug im weiten Bogen die Arme nach hinten, aber sie kam nicht weiter; da blickte sie nach hinten und sah eine gewaltige, krallenbewehrte Hand, die ihre Fessel umspannte.
Elris Herz pumpte wie wild, sie schlug die Augen auf – und blickte in ein Vampirgesicht unmittelbar über ihr, mit großen, goldenen Augen mit senkrechten, geschlitzten Pupillen, mit einem blutroten, leicht geöffneten, lächelnden Mund der feine, äußerst spitze Eckzähnen offenbarte. Einen Moment spielte ihr ihre Phantasie die Szene vor, wie sich jene scharfen Zähne in ihre Kehle gruben. Sie erschrak heftig und zuckte zurück. Talira richtete sich wieder auf. ‚Können Avatare eifersüchtig sein?’, der Gedanke zuckte durch Elris Kopf. ‚Absurd!’, schloss sie.
„Du hast geträumt“, meinte Talira, „kein schöner Traum, glaube ich.“
„Träumst du manchmal?“, fragte Elri, die noch ein wenig benommen war.
„Nein, niemals, aber ich habe eine Menge Daten über die Eigenschaft des Menschen zu träumen.“ Sie machte eine Pause. „Wir starten gleich. Wenn du dich noch frisch machen willst, deine Haare föhnen vielleicht, dann bitte jetzt. Deine Handgelenke müssen jedenfalls versorgt werden. Kannst du das selbst, oder soll ich Tjonre holen?“
Sie zögerte kurz, weil sie Tjonre sehen wollte, schüttelte dann aber den Kopf. „Es geht schon“. Sie stand auf und ging unsicher in Richtung Bad. Neben der Tür befand sich eine handflächengroße, kreisförmige Markierung, die sie so berührte, wie sie das bei Tjonre gesehen hatte. Die Tür glitt in die Wand. Immer noch müde löste sie das rosa Handtuch und schüttelte ihren Kopf. Die Haare bewegten sich dabei in Wellen und ordneten sich zu einem Ganzen, keine Strähne blieb zurück. Auch dies war eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft ihres Haars, dass es sich stets wie eine organische Einheit bewegte. Elri vermutete ein elektrostatisches Phänomen als Ursache.
Talira war mitgeschwebt und wies sie auf den Arzneischrank hin. „Öffne ihn bitte“. Sie wies auf ein Döschen links oben. „Schmier das auf die wunden Flächen“. Elri kam dieser Aufforderung gleich nach. „Und jetzt leg diesen durchsichtigen Verband darüber“. Er schien augenblicklich mit der Haut zu verschmelzen und bot einen hervorragenden Schutz. Das brennende Gefühl verebbte sofort.
Elri war begeistert. „Danke, Talira. Könntest du mich jetzt ein wenig alleine lassen? Ich muss einiges erledigen ...“. Talira verschwand übergangslos.
Als Elri wenig später wieder die Kajüte betrat, saß sie am Bettrand. „Wir starten in einer Minute. Während wir uns aus dem Gravitationsbereich Ivarns entfernen, erreichen wir enorme Beschleunigungswerte, denen dein Körper nicht gewachsen ist. In dieser Zeit musst du dich auf das Bett legen, nur dort bist du geschützt. Verlass es nicht, bevor wir in die ein g Phase eintreten!“
Elri nickte, setzte sich auf den Bettrand und ließ sich so nach hinten fallen, dass sich ihre Füße durch Talira durch bewegten, eine Geste plötzlichen Übermuts. Dann legte sie sich entspannt hin und bald war sie wieder eingeschlafen.


***


Gebirgssee und Ufer waren meist sehr ruhig, ja geradezu idyllisch. Nichts hatte im Morgengrauen jenes Tages darauf hingewiesen, dass es heute anders kommen würde. Auch jetzt bei Sonnenuntergang war der Platz wieder einsam und ruhig, kaum dass der Wind einige Halme und Zweige bewegte; nur zwei Leichen in ihrem Blut und Reste einer Droschke gaben stummes Zeugnis ungewöhnlicher vorangegangener Ereignisse.
Und doch wurde die Stille nun abermals gestört, zunächst nur durch ein undefinierbares, leises Rauschen. Zugleich schien sich der See an einer fast kreisförmigen, viele Meter durchmessenden Stelle unweit des Ufers zu heben. Wenig später begann hier die Oberfläche zu brodeln, als würde der See an dieser Stelle kochen. Etwas erhob sich aus den Tiefen wie ein urzeitliches Ungetüm und es musste nach menschlichen Maßen gerechnet gewaltig sein. Ein elliptischer, schattenhafter Umriss wurde sichtbar, verdrängte schließlich erfolgreich und endgültig das Wasser und erhob sich über den spiegelnden See. Das Ding flog auf die Berge zu, gewann dabei zunächst langsam, dann immer rascher an Höhe, ließ den See zurück, gleich darauf auch die Gebirgskette an deren Hängen nun ein mächtiger Donner erklang. Und immer noch beschleunigte die langgezogene fliegende Untertasse, nahm weiter an Geschwindigkeit zu. Steil stieg sie jetzt von der Nordhalbkugel empor, durchdrang Atmo- und Stratosphäre, um letztlich die Anziehungskraft des Planeten zu überwinden und war schließlich frei, in ihrem eigentlichen Element, dem Vakuum zwischen den Planeten.
***
Mit einem leisen Zischen glitt die Tür zum Aufenthaltsraum zur Seite; Elri trat ein. Auf dem Sofa saß Tjonre und blickte auf eine etwa einen Meter durchmessende Kugel die vor ihm schwebte.
„Hallo“, grüßte Elri lächelnd, ‚guten Morgen’ schien ihr an Bord eines Raumschiffs nicht passend, wenngleich sie erst vor kurzem aufgestanden war. Talira hatte sie darüber informiert wo sich ihre beiden Begleiter aufhielten; Raft war im Kommandoraum, sie bevorzugte die Gesellschaft Tjonres, Raft war ihr ein wenig unheimlich.
„Hallo Elri! Wie geht es deinen Handgelenken?“ Sie sah in ihrem Overall mit den aufgekrempelten Ärmeln auf eine lustige Art atemberaubend aus. Ihre Haare gleißten selbst im künstlichen Licht vielfarbig. Ihr Gesichtsausdruck verriet schüchterne Zuneigung. Sie winkte mit den verbundenen Gelenken, um zu signalisieren, dass alles in Ordnung war. Er strahlte sie an. „Gut geschlafen?”, erkundigte er sich.
„Mhm, munter und hungrig.“
„Das trifft sich, ich habe mit dem Essen auf dich gewartet.“ Am Tisch stand ein ihr unbekanntes Gebäck und zwei Tassen mit einem dampfenden Gebräu, das auch nicht so aussah, als hätte sie etwas Ähnliches schon einmal getrunken. Sie setzte sich an den Tisch, an einen Sessel, der den Eindruck erweckte, als wäre er mit dem Boden verwachsen; frei stehende Möbel gab es nicht. Tjonre stand auf, die schwebende Kugel verschwand und er nahm ihr gegenüber Platz. Tjonre reichte ihr eines der Gebäckstücke. „Knusperhelix, wägansche Spezialität, koste! Schmeckt gut“, machte er Werbung.
Sie biss vorsichtig ab und ihr wenig verwöhnter Geschmacksinn fand die Helix akzeptabel, ein wenig gewöhnungsbedürftig zwar, aber sie war sich sicher, dass sie sie nach einer Weile ganz gern essen würde. „Gut!“, murmelte sie. Tjonre schien sehr erleichtert, offenbar wollte er, dass ihr alles gefiel, was mit seinem Heimatplaneten zusammen hing. Sie würde ihm den Gefallen tun, hatte sie schon längst beschlossen. „Wohin fliegen wir eigentlich?“
„Zum Mond von einem von Ivarns sieben Monden. Eigentlich ist es nur ein größerer Felsbrocken, der um den fünften Mond herumeiert, aber auf einer Bahn, die die nächsten tausend Jahre oder so stabil ist. Lange genug, um ein Raumschiff in einem der Löcher zu verstecken. Das Ding sieht ein wenig aus wie ein Käse. Es hat buchstäblich tausende Löcher, von duzenden Metern bis zu Kilometergröße. Dort ist das Mutterschiff durch ganz schwache Kraftfelder stabilisiert. An der Oberfläche des Mondmonds haben wir ein paar kleine Antennen angebracht, die den periodischen Kontakt zwischen Fähre und Mutterschiff durch die letzten Jahre gewährleistet haben.“
„Bestand nicht trotzdem Entdeckungsgefahr? Zehn Jahre sind immerhin lang.“
Er wiegte sein Haupt hin und her. „Sicher kann man sich natürlich nicht sein, aber eigentlich interessieren sich die Ivarner nicht für ihre Monde. Sie sind keine Forscher, kommerziellen Nutzen haben sie nicht und abgesehen vom innersten gibt es auch keine Landebasen. Dort allerdings haben die Piraten eine Zwischenbasis. Vielleicht warst du ja dort, als du hergekommen bist?“
Elri schüttelte den Kopf. „Das Schiff ist in Ivarns Orbit geblieben und die Fähre ist gleich von dort zum Flughafen geflogen. Die meisten Piraten, die Ephram nahe genug an den Planeten heranlässt, machen das so.“
„Uns hätte er jedenfalls nicht so nahe herangelassen, deshalb ist unsere Fähre außergewöhnlich raumtauglich.“
„Dauert unser Flug lange?“
„Nicht lange, ein paar Standardtage.“
Sie machten eine Sprechpause, um die Knusperhelices zu bewältigen und Elri kostete das dunkle Getränk. Es schmeckte ein wenig süß, aber auch ein bisschen bitter und adstringierend. „Kommt das auch von Wägan?“ Tjonre nickte. Also war das auch gut; sie seufzte innerlich. „Schmeckt interessant“, sagte sie.
Tjonre lachte. „Du musst nicht alles gut finden, was von Wägan kommt.“
Ihre Wangen färbten sich rosa wie der erblühende Morgen und sie fühlte sich durchschaut. „Natürlich nicht. Aber ich finde es wirklich gut.“ Die Farbe ihre Wangen wurde intensiver, sie war eine schlechte Lügnerin. Hastig suchte sie nach einem anderen Thema. „Was war das für ein großer Ball, den du vorher angestarrt hast. Sah aus wie ein Planet.“
„Genau! Das ist Wägan in klein sozusagen. Auf dem Holo habe ich mir Lage und Größe eines Gutes angesehen, dass derzeit versteigert wird, Talira hat mich darauf hingewiesen. Sie weiß, dass ich an Besitz auf Wägan interessiert bin“
Sie war verblüfft. „Willst du es kaufen? Kannst du das überhaupt?“
„Na ja, ich hoffe. Das Anbot, das ich abgegeben habe, verschlingt ziemlich alles, was ich in den letzten zehn Jahren im Föderationsdienst verdient habe, aber das ist das Gut wert. Mein Anbot ist derzeit das höchste. Hoffentlich ändert sich das nicht bis zum Ende der Versteigerung.“
„Aber wie kannst du wissen, dass das Grundstück wirklich hält, was du dir davon versprichst? Müsstest du dazu nicht dort gewesen sein?“
„Das war ich! Es gehörte dem Vater eines Bekannten, der ebenfalls für die Föderation arbeitet. Wahrscheinlich ist sein Vater inzwischen gestorben, seine Mutter war bereits tot, als ich noch auf Wägan war, Geschwister hat er keine und er selbst muss wohl beschlossen haben, nicht zurückzukehren. Jedenfalls habe ich das Gut gelegentlich besucht, obwohl wir uns nicht besonders gut leiden konnten. Es ist mittelgroß, liegt sehr schön und ist ausgesprochen reich an Sirenen.“
„Sirenen?“ Elri war verwundert.
„Nicht das was Lärm macht. Es ist ein Begriff aus der terranischen Mythologie, singende Meerjungfrauen oder so ähnlich.“
Die Antwort verblüffte Elri noch mehr. „Ihr habt Meerjungfrauen?“ Offenbar war es gut, möglichst viele Meerjungfrauen zu haben. Gab es da doch etwas über die Lebensweise der männlichen Wäganer, das sie besser so früh wie möglich wissen sollte?
„Ich glaube, ich sollte dir das zeigen. Setzen wir uns dazu aufs Sofa?“ Tjonre stand auf, ging auf das Sitzmöbel aus beigem Imitatleder und nahm den Platz ein, den er schon innegehabt hatte, als Elri den Raum betrat. Sie folgte ihm und setzte sich daneben. Tjonre legte wie selbstverständlich seinen Arm um ihre schmalen Schultern, wobei seine Hand sie nur ganz leicht berührte. Als Zeichen stummen Einverständnisses rückte sie eine Spur näher – trotz der Sache mit den Meerjungfrauen. Er bemerkte es. Die Berührung wurde intensiver.
„Talira, die Versteigerung bitte.“ Sofort erschien wieder der blaugrüne Ball. Der Planet bestand hauptsächlich aus Ozeanen, wie ihr Tjonre bereits erzählt hatte. „Auf Wägan“, begann Tjonre, „gibt es viele längliche, meist zerfranste und oft verzweigte Inseln oder Minikontinente. Viele umschließen große Lagunen. Das sind diese türkisfarbenen Flecken, hier zum Beispiel, die meist nur wenige Meter tief sind. In ihnen wachsen die Sirenen, zu denen wir hinuntertauchen.“
„Zu den Meerjungfrauen?“
Er lachte, obwohl er sich nicht sicher war, ob er leichte Besorgnis in ihrer Stimme wahrnahm oder sie ihn einfach nur mit zur Schau gestellter Eifersucht necken wollte. „Nein. Weil es keine größeren Kontinente gibt, hat die Evolution hauptsächlich im Wasser stattgefunden. Es gibt hochentwickelte Pflanzen, deren Befruchtung nicht von der Strömung abhängt, weil sie ihre Pollen an Gliedertiere abgeben können, die sie zur nächsten Pflanze transportieren. Auf der alten Erde hat es etwas Ähnliches gegeben, nur an Land. Flugfähige Kerbtiere haben den Pollen von einer Pflanze zur anderen getragen. Diese nannte man Blumen, sie haben durch schöne Farben und wohligen Duft auf sich aufmerksam gemacht und so die Tiere angelockt. Sie haben ihnen sogar einen Trunk spendiert, alles nur um bei der Befruchtung nicht vom Wind abhängig zu sein.“
„Und was hat das mit der ... Befruchtung von Meerjungfrauen zu tun?“
‚Aha’, dachte er, ‚sie will mich aufziehen’. Das war ein bisher unbekannter Aspekt ihres Charakters, der ihm aber durchaus gefiel. „Vergiss die Meerjungfrauen, es geht um die Pflanzen. Weil im Wasser Schall weiter trägt als Licht, selbst wenn es noch so klar ist, haben die wäganschen Meeresgewächse eine andere Methode zur Anlockung der Tiere erfunden, als die Blumen der Erde. Sie erzeugen wunderschöne Melodien und das Erstaunliche ist, dass nicht einfach jede für sich singt, sodass ein Geräuschchaos die Folge wäre. Sie stimmen ihre Lieder aufeinander ab und es entsteht ein harmonisches Konzert der Natur.“ Er blickte versonnen. „Wenn man das hört, ganz früh, wenn die Sonne über dem Meer aufsteigt, möchte man hineinspringen und hinuntertauchen. Für die ersten Wäganer muss das ziemlich gefährlich gewesen sein. Jedenfalls“, beendete er seine Erklärung, „haben sie diese Gewächse als ‚Sirenen’ bezeichnet.“
Elris Vorstellung spiegelte ihr einen Sonnenaufgang am Meer, wunderschöne Musik begleitet vom Rauschen der Brandung, vor. Sich selbst sah sie von Tjonre umarmt. Als die Phantasie schließlich verblasste, kuschelte sie sich noch etwas näher an ihn. Sie empfand für ihn eine sehnsuchtsvolle Liebe, sehnsuchtsvoll, weil sie sich eine Familie wünschte und Menschen, die sie liebte und von denen sie wieder geliebt wurde. So war das, seit sie ihre Eltern verloren hatte und das Gefühl war noch stärker geworden, als sie von ‚ihren’ Kindern getrennt wurde und abermals, als sie Ma’s Tod akzeptieren musste und dachte, Tjonre sei ebenfalls gestorben. Jetzt war er ihre Familie und Zentrum ihrer Zuneigung. Elri wünschte sich Sicherheit, Geborgenheit und Schutz, Werte, die sie seit dem Tod ihrer Eltern zutiefst vermisste. Sie wollte ein Teil von seinem Leben werden, war sich aber der Möglichkeit bewußt, dass er für sie vielleicht nur eine vorübergehende Rolle vorgesehen hatte.
„Und ihr lebt von dieser Musik?“
Tjonre lachte abermals. „Nein, obwohl viele Musiker, hauptsächlich Komponisten nach Wägan kommen, um den Gesang der Sirenen zu erleben und sich von ihm inspirieren zu lassen.“ Er machte eine kurze Pause. „Als die ersten Menschen nach Wägan kamen, stellten sie fest, dass der Anteil an ultravioletter Strahlung im Sonnenlicht sehr hoch ist – gefährlich hoch.“ Elri dachte an ihre verglichen mit Tjonre recht blasse Haut und sah ihre Zukunftsträume zerplatzen. „Die Menschen der ersten Generation waren vorsichtig und trugen Kleidung, die den Körper fast vollständig verhüllte. Aber schon in der nächsten Generation wurden sie unvorsichtiger. Mittlerweile hatte sich herausgestellt, dass viele Tiere des Meeres und die Früchte der Sirenen essbar waren und teilweise auch wohlschmeckend. Ein Teil der Siedler ging zu einheimischer Kost über, während die in dieser Hinsicht vorsichtigeren, die zuerst die Langzeitwirkungen abwarten wollten, sich von terrestrischen Pflanzen ernährten, die in UV – geschützten Glashäusern gezogen wurden. Im Freiland starben sie nämlich.“ Abermals pausierte er, fuhr dann aber mit seinem Bericht fort: „In dieser Zeit starben viele Menschen an Hautkrebs, aber natürlich die ganz vorsichtigen, die weiterhin verhüllt blieben, nicht. Das überraschte niemanden. Verblüffend war allerdings, dass auch von den anderen ein Teil nicht an Krebs erkrankte. Man rätselte eine Weile darüber, woran das liegen mochte. Schließlich wurde klar, dass diejenigen, die dazu übergegangen waren, einheimische Kost – insbesondere die Früchte einiger Sirenen – zu essen, gesund blieben. Man ernährte daraufhin auch bereits an Hautkrebs Erkrankte mit diesen Früchten und binnen weniger Wochen verschwanden alle Symptome und sie wurden gesund. Weitere Versuche zeigten schließlich, dass die Früchte auch bei anderen Krebsarten Genesung oder zumindest eine Verbesserung des Zustandes brachten. Damit wurden sie natürlich zu einem Verkaufsschlager. Bis jetzt weiß man nicht genau, wie diese Wirkung zustande kommt, obwohl man alle möglichen Inhaltsstoffe getestet hat, daher können wir diese Früchte auf alle Planeten der Föderation verkaufen, sowohl zu medizinischen Zwecken, als auch als Delikatesse.“
Elri blickte auf den Globus. Auf einer fünffingrigen, stark zerfransten Insel leuchtete ein Punkt auf dem kürzesten Finger. Das war das zur Versteigerung anstehende Objekt. „Wo warst eigentlich du zu Hause?“
Tjonre wies auf die Spitze des längsten Fransenfingers, der sich praktisch um die gleiche Lagune krümmte wie der kürzeste. „Meine Eltern und Geschwister und wir werden praktisch Nachbarn sein. Wir liegen einander gegenüber.“
Elri überlegte. „Das heißt aber, dass du vorhast, nicht mehr allzu lange für die Föderation zu arbeiten. Geht das überhaupt? Müsstest du nicht desertieren oder so?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe mich für zehn Jahre verpflichtet. Und diese zehn Jahre sind in ein paar Wochen vorüber. Ich kann’s dir auch genau auf die Stunde sagen wie lange noch, wenn du willst.“
Sie ging nicht darauf ein. „Das klingt aber so, als wärst du nicht sehr glücklich gewesen mit deiner Arbeit für die Föderation.“
„Versteh mich bitte nicht falsch, Elri. Ich bin sehr glücklich. Ich bin sehr glücklich, dass ich dich kennen gelernt habe. Wirklich. Das hätte ich nie, wäre ich auf Wägan geblieben.“ Er blickte ihr bei diesem Geständnis tief in die Augen. „Aber sieh mich doch an! Sieht so ein Abenteurer aus? Ein Agent vielleicht? Jemand, der gern tötet? Oder auch nur gerne Befehlen gehorcht? Das ist mir ziemlich zuwider, weißt du? Ich bin eine totale Fehlbesetzung! Ich bin ja noch nicht mal gerne von Wägan weg. Mich interessieren all die tollen Abenteuer und all die phantastischen Planeten nicht. Auch nicht die machtgierigen Menschen, wie die anderen Gutsherren oder die OrPhons, um deren Ränke ich mich hätte kümmern sollen. Zehn Jahre! Jetzt will ich nur noch nach Hause und zwar mit dir!“ Er schwieg eine Weile und auch sie sagte nichts. „Raft ist da völlig anders. Er hatte wenigstens etwas von den vielen Frauen, die wir kennen gelernt haben. Aber ich ...“
Das war ein Thema, das Elri auch interessierte. „Ja, es ist mir aufgefallen, dass er oft in die Tavernen gegangen ist. Zu vielen Frauen, nicht nur zu Elina, stimmt’s?“ Sie blickte sehr nachdenklich. „Darf ich dir eine Frage stellen?“
„Warum nicht?“, entgegnete er achselzuckend.
Sie atmete betont aus. „Also gut, dann ... Du hättest das auch tun können. Warum hast du nicht? Sie wären zu dir sicherlich genauso nett gewesen, wie zu Raft.“
Er starrte sie verblüfft an. „Hätte ich das auch tun sollen? Findest du das besser?“ „Nein, nein, das nicht. Ich will nur verstehen. Männern scheint das doch Spaß zu machen. Und du hattest doch die Möglichkeit. Da war niemand, der dich zurückgehalten hätte.“ Sie ruderte ein wenig hilflos mit den Armen. „Keine Freundin, keine Ehefrau – soweit ich weiß.“
„Niemand“, bestätigte er. Er überlegte eine Weile. „Warum handelt man so wie man es nun einmal tut? Hat man eine Wahl? Ein bisschen vielleicht, aber nicht allzu viel. Mein Problem ist ...“ Er machte eine Pause, fuhr dann fort: „wenn ich mit einer Frau schlafe, fühle ich mich für sie verantwortlich. Wenn ich mit ihr schlafe, dann bin ich ihr gegenüber verpflichtet. Eigentlich – so fühle ich das - bin ich dann mit ihr verheiratet. Nicht wegen irgendeiner absurden öffentlichen Zeremonie, sondern im Gegenteil, wegen einer sehr intimen. Elri, verstehst du, dass diese Art zu empfinden nicht dazu führt, dass man ständig seinen Partner wechselt und Liebes- oder Sexbekanntschaften auf die leichte Schulter nimmt? Vielleicht ist das dumm und es ist vernünftiger, die Dinge so zu sehen, wie Raft das tut.“
„Nein“, meinte Elri ganz leise, „ich glaube, dass es besser ist, so zu fühlen, wie du es tust.
„Besser!“ wandte er ein, „es gibt kein besser; nur ein anders. Was Raft macht ist - glaube ich - objektiv gesehen genauso gut und genau so richtig, wie das was ich mache. Seine Sichtweise erleichtert ihm das Leben doch sehr.“
Elri schüttelte den Kopf. „Objektiv gesehen vielleicht. Aber subjektiv finde ich, dass es so richtiger ist, wie du es empfindest.“ Sie blickten sich gegenseitig in die Augen. Nach einer Weile bemerkte Tjonre lapidar: „Ja. Das dachte ich mir schon.“
Für einen kurzen Moment erschien es Tjonre, als würde er von ihren klaren Augen in ihr Inneres gezogen, als wäre ihre Seele für ihn deutlich zu erkennen. Er sah einen Gebirgsteich, gespeist von Quellwasser, das so rein war, dass es beinahe durchsichtig wirkte. Da gab es nirgends trübe Stellen noch Tiefen, überall konnte man den mannigfaltigen Gewässergrund sehen, mit allem was in diesem Gleichnis die Vielfalt des menschlichen Charakters repräsentierten mochte. Seine Phantasie spielte ihm Wasserpflanzen, ebenso wie verschieden große, runde Kiesel und dunkle Erde, auch Wurzelwerk vor und ließ sie ihn interpretieren. Alles, was er erspähte war wundervoll. Er sah nicht zum ersten Mal ein Gewässer als Spiegel eines menschlichen Charakters, z. B. war das auch bei Elvinia der Fall gewesen. Aber was für ein Unterschied, glich ihre Seele doch einem zwar größeren See, voller tiefer Stellen, die zusätzlich zu dem trüben Wasser einen Blick auf den Grund nicht nur unmöglich, sondern auch unerfreulich wirken ließen.
Als hätte Elri seine Gedanken gelesen, stellte sie eine Frage, die ihn abermals an Elvinia erinnerte. „Wenn du Wägan so liebst, warum bist du fort von dem Planeten? Warum hast du dich bei der Patrouille gemeldet?“
Tjonre seufzte. „Ich war damals mit einem Mädchen zusammen, das meine Ansichten über die Dinge, die wir gerade besprochen haben – gelinde gesagt – nicht geteilt hat. Damals habe ich feststellen müssen, dass es besser ist, wenn man Liebe und Sex leicht nehmen kann. Sie hat es getan, ich konnte es nicht. Verpflichtung oder das Gefühl der Zusammengehörigkeit, weil man gemeinsam Sex gehabt hat, das war ihr völlig fremd. Sex hatte für sie nicht mehr Bedeutung als ...“ Er suchte nach einem Beispiel, „als sich die Nase zu putzen. Ich habe natürlich versucht mich dem anzupassen, unerfahren wie ich war, aber … als ich ihr alles gegeben hatte, was sie von mir wollte, bin ich uninteressant geworden. Ich bin damit schlecht fertig geworden und wollte einen Schlussstrich ziehen und irgendetwas Neues anfangen, möglichst weit weg von ihr. Natürlich ist die Sache etwas komplizierter gewesen. Ich habe bald gemerkt, dass wir nicht zusammenpassen und war eigentlich froh, dass sie sich einen anderen gesucht hat. Aber leicht nehmen konnte ich das Ganze trotzdem nicht. Es war eine Flucht vor ihr und dem Gefühl der Perspektivenlosigkeit.“
„Du bist doch eigentlich gar nicht der Typ, der leicht flieht“, meinte Elri.
„Wieso glaubst du das?“, wollte er wissen.
„Na ja, als Ma dich gewarnt hatte, hättest du doch einfach zu eurer Fähre tauchen können oder warten bis sie die Geduld verlieren. Ich meine, du hättest nicht mit Elina und den beiden anderen kämpfen müssen, aber du hast es getan, wofür ich sehr dankbar bin. Aber wieso eigentlich?“
Tjonre stutzte. War ihr ihre Bedeutung für ihn wirklich so unklar? War ihr Selbstbewusstsein tatsächlich so nichtexistent? „Na wegen dir natürlich! Ma hatte mir doch erzählt, dass Elina dich gefangen hat. Glaubst du wirklich, ich hätte den Planeten ohne dich verlassen? Das hätte ich unmöglich machen können. Glaube mir, wärst du nicht in Gefahr gewesen, wäre ich jedem Kampf aus dem Weg gegangen. Ich bin doch ein Feigling! Aber so hatte ich keine Wahl.“
Elri hatte akzeptiert, dass Tjonre sich wegen ihr in Lebensgefahr begeben hatte, als er sie bedroht gesehen hatte. Da hatte er – so dachte sie – gleichsam im Affekt gehandelt. Aber dass er die Menschen die ihn töten wollten aktiv gesucht hatte, ‚nur’ um sie zu retten, das überstieg doch ihr Vorstellungsvermögen. Sie blickte ihn groß und erstaunt an und tat dann etwas, was sie sich selbst nie zugetraut hätte – sie schlang ihre Arme um ihn und presste ihre Lippen auf die seinen, fast mit der gleichen Inbrunst, mit der sie am Vortag als beinahe Ertrunkene nach Luft geschnappt hatte. Tjonre war von der ungestümen Aktion genau so überrascht wie Elri selbst und riss die Augen weit auf, während sie die ihren geschlossen hatte. Ihre Reaktion verblüffte und amüsierte ihn derart, dass er zunächst vergaß zu reagieren. Aber dann erwiderte er ihren unbeholfenen, ersten Kuss mit nur wenig mehr Erfahrung, dafür aber mit dem gleichen ehrlichen Gefühl der Zuneigung und dem Wunsch, ihr dieses auch zu zeigen. So vergingen Stunden in inniger Umarmung, und körperlicher und seelischer Nähe, die beide sehr genossen, obwohl der Kuss aus Unerfahrenheit etwas feucht war. Sie schmiegten sich aneinander und liebkosten sich schüchtern und vorsichtig.
Schließlich war aber beiden klar, dass es Zeit wurde, wieder etwas anderes zu tun, denn beide wollten über dieses erste Kennenlernen noch nicht hinausgehen, aber sie wussten auch nicht wie sie aufhören sollten und ob überhaupt. Tjonre streichelte gerade ihren Nacken, ein Finger verfing sich im Kettchen und erinnerte ihn an die Existenz des Medaillons. Er legte seine Hände sanft auf ihre Schläfen und zog ihren Kopf etwas von sich weg. Da öffnete sie ihre Augen, blickte ihn an und lächelte. „Hallo“, sagte sie. Er antwortete gleichermaßen und lächelte zurück. Sie blickte ihn verliebt an, weswegen er ein schlechtes Gewissen hatte: denn er beabsichtigte, sie von der Wolke herunter zu holen.
„Ähm, Elri, borgst du mir noch einmal dein Medaillon?“
„Genau so gerne, wie ich es meinem Vater gegeben habe“, war ihre Antwort. Sie legte ihren Kopf nach vor und strich ihre wundervollen Haare zur Seite, öffnete dann selbst das Kettchen und legte das kleine, muschelförmige Ding in seine geöffnete Hand. Er klappte es auf und gemeinsam betrachteten sie die beiden Porträts von Elri’s Eltern.
„Kann man die Bildchen herausnehmen?“
„Mhm, ziemlich einfach sogar, man muss nur leicht gegen die Außenseite der Medaillonhälfte schlagen. Mit der Fingerspitze genügt. So.“ Sie demonstrierte ihm das. Ein Bildchen fiel heraus, das ihrer Mutter. Er fing es in seiner Handfläche auf.
An einer Wand befand sich eine schmale, hüfthohe und transparente Säule, auf die er jetzt zuging. Er legte das Bildchen in eine kleine Ausnehmung in der Mitte der oberen Säulenfläche, die etwas größer war als das Porträt und auch nicht die gleiche Form hatte. Das Bildchen schwebte hinab. „Talira bitte!“ Die gläserne Säule erstrahlte in einem matten dunkelblauen Licht. Talira manifestierte sich neben ihr, diesmal in einem hautengen, weißen Kleid. Vor der Säule erschienen in rascher Abfolge bunte, völlig abstrakte, hochkomplexe Muster.
„Es handelt sich nicht um Bildinformation“, erklärte Talira.
„Aber das Bildchen ist doch ein Mem, das mehr zeigt, als Elris Mutter?“, wollte Tjonre wissen. Elri verfolgte das Geschehen mit Spannung.
„Oh ja!“, bestätigte Talira, „der Speicherumfang ist enorm. Aber es handelt sich dabei offenbar um ein dynamisches Positionsleitsystem für das Interuniversumareal, die Enigma, übrigens hervorragend kopiergeschützt. Es gibt seine Information nur stückchenweise preis, und zwar interaktiv. Folgt nicht die richtige Antwort, bricht es den Kontakt ab.“
„Ein Positionsleitsystem? Ist bekannt, wohin es uns leitet?“, wollte Tjonre wissen.
„Ja, das ist bekannt.“
„Talira, mach’s nicht so spannend! Wohin leitet es uns?“
Talira blickte die beiden an, während sie eine Kunstpause einlegte. Mit einem Lächeln verkündete sie dann: „Zum Planeten Historia.“
Sowohl Elri als auch Tjonre waren verblüfft. „Tjonre, du hast mir doch erzählt, dass mein Vater dort gewesen ist und über den Planeten geschrieben hat!“
„Ja“, bestätigte dieser, „aber was ich dir nicht erzählt habe ist, dass der Weg zu Historia mittlerweile nicht mehr bekannt war, die IU – Koordinaten sind verlorengegangen. Es handelt sich bei dem Bildchen also wirklich um ein einzigartiges Dokument!“ Enthusiasmus lag in seiner Stimme.
„Verlorengegangen?“, fragte Elri, „wie kann das geschehen? Es gibt doch so viele Bibliotheken.“
„Eben! Dieser Verlust war kein Zufall, sondern wurde sicherlich absichtlich herbeigeführt. Und dank dir können wir der Föderation dieses Wissen nun wieder zurückbringen. Der Protektor wird begeistert sein!“
„Soll ich ihn informieren?“, wollte Talira wissen.
„Lass gut sein“, meinte Tjonre nach kurzem Nachdenken, „unser nächstes Ziel ist ohnehin Itirana, wir können es ihm also persönlich sagen. Und die Information auf dem Plättchen kann sowieso nicht kopiert werden, hast du gesagt. Schauen wir besser nach, was auf dem anderen Mem gespeichert ist.“
Das Plättchen wanderte in der Säule nach oben, Tjonre ergriff es und übergab es an Elri, die währenddessen das andere Bildchen aus dem Medaillon gelöst hatte und nun im Gegenzug an Tjonre weitergab. Er verfuhr damit in der gleichen Weise wie mit dem anderen Bildchen. Talira dokumentierte. „Der Inhalt dieses Mems ist nicht kopiergeschützt, dafür aber verschlüsselt.“
„Kannst du es dekodieren?“, wollte Tjonre wissen.
Talira schüttelte ihr anmutiges Haupt. „Leider verstehe ich nicht allzu viel von Kryptographie. Aber so viel ist klar: es handelt sich keineswegs um ein einfaches Verschlüsselungssystem; im Gegenteil, es ist höchst komplex. Selbst die Computer von Itirana werden damit sehr lange zu tun haben, falls der Code nicht bekannt ist.“
„Vielleicht besitzt ihn ja der Protektor“, mutmaßte Tjonre, „naheliegend wäre es, PaDorkis hat für ihn gearbeitet.“
„Wir werden sehen“, meinte Talira. Das Mem stieg in der Säule auf, Tjonre nahm es entgegen und übergab es an Elri, die es vorsichtig in das Medaillon integrierte und dieses danach wieder um den Hals legte. Währenddessen verschwand Talira.
„Es würde mich nicht wundern, wenn die Information, die auf diesem Mem aufgezeichnet ist, wichtiger ist als alles, was Raft und ich während der letzten zehn Jahre auf Ivarn herausgefunden haben“, folgerte Tjonre und dachte dabei: ‚das ist leicht, das wäre wirklich kein Wunder’.
Traurig blickte ihn Elri an. „Ich fürchte, du hast recht. Wegen dem, was diese beiden Bildchen enthalten, sind meine Eltern ermordet worden. Was kann an diesem Planeten nur so wichtig sein? Warum wird jemand ermordet, nur damit niemand von der Föderation nach Historia kommt?“
„Das wird wohl erst das Team erfahren, das der Protektor nach Historia schickt. Ich würde mich nicht wundern, wenn das bald der Fall ist“, meinte Tjonre. „Nur - zu diesem Zeitpunkt arbeite ich nicht mehr für die Patrouille und wir werden daher sicher nicht über die Ergebnisse informiert. Wetten sie sind streng geheim?“
Elri seufzte. „Ja natürlich. Da hast du sicherlich recht. Aber ich möchte selbstverständlich wissen, was und wer hinter dem Mord an meinen Eltern steckt. Ich werde es wohl nie erfahren. Vielleicht ist es auch besser so“, sagte sie schließlich resigniert. „Ich sollte mich mehr mit dem Leben und der Arbeit meines Vaters beschäftigen. Leider habe ich sein Buch auf dem Gutshof zurück lassen müssen.“
„Oh das ist kein Problem“, antwortete Tjonre, „die Schiffsbibliothek enthält bestimmt sein Werk.“ Ein Druck auf einen kleinen Kreis an der Wand öffnete eine Nische. Tjonre entnahm ihr ein schmales Doppelblatt von der Größe eines aufgeschlagenen Buches und legte es in Elris Hände. Sie schlug es auf und er murmelte: „Das Bibliotheksverzeichnis bitte.“ Text erschien auf den beiden Blättern. „Wenn du den Titel eines Werkes kennst, genügt es, wenn du ihn erwähnst. Oder du nennst Suchbegriffe“, erklärte er ihr, „Das Verzeichnis auf der linken Seite gliedert die Bibliothek nach Themen. Das auf der rechten Seite ist hauptsächlich für Romane. Du findest dort Einheiten, die nach besonderen antiken Autoren benannt sind und je nachdem, wie du diese wählst, schränkst du die Suche ein.“
„Wie ist ein Howard definiert?“, wollte Elri wissen.
„Also ganz genau weiß ich das nicht“, antwortete er, „aber die Einheit gibt wohl ungefähr die Anzahl der gespaltenen Schädel pro Seite an.“
Elri erschauderte. „Und ein Meyer?“
„Kann ich dir auch nicht genau sagen. Aber wahrscheinlich ‚Schmalz pro Zeile’, oder so ähnlich. Neben anderem sind Gewalt und Liebe beide wichtig in einem Roman – im richtigen Leben kann ich aber auf Gewalt verzichten.“
Elri stimmte zu, was das „richtige Leben“ betraf, fand aber nicht, dass Gewalt in einem Roman eine bedeutende Rolle spielen sollte. Sie verschwieg ihre Meinung und wählte probehalber eine sehr geringe Menge Howards und viele Meyers. Sie wurde mit einer beträchtlichen Anzahl von Titeln belohnt. Dann überprüfte sie, ob das Buch ihres Vaters tatsächlich in der Bibliothek enthalten war. Sie wurde fündig. Mit zwei Knöpfen am Rand oder durch Berühren der Bildschirmfläche ließ sich das Buch bequem durchblättern. Sie seufzte. Es würde Wochen dauern, das Werk durchzulesen, selbst wenn sie nichts anderes zu tun hatte und sie wollte doch so viel Zeit wie möglich mit Tjonre verbringen; sie liebte ihn doch so sehr. Es fiel ihr immer noch schwer dies vor sich selbst einzugestehen. Sie fühlte sich so minderwertig, immer noch als Sklavin und konnte sich daher nicht vorstellen, dass ihre Liebe erwidert wurde und selbst wenn, empfand sie sich als unwürdig.
Taliras plötzliches Erscheinen riss sie aus ihren melancholischen Gedanken. Talira beachtete sie jedoch gar nicht und wandte sich an Tjonre: „Raft bittet dich, in die Zentrale zu kommen. Es ist dringend.“
Tjonre wartete auf weitere Erklärungen, die aber nicht kamen. Er blinzelte. „Okay, warum nicht? Elri, willst du mitkommen?“
„Danke, ich denke ich werde mich der Lektüre da widmen. Papas Buch. Es geht bei euch sicher um technischen Kram, davon habe ich nach meinen Erfahrungen bei den Wurift für die nächsten Jahrzehnte genug.“
Tjonre hetzte durch den Gang und betrat den Kommandoraum. „Was ist los?“, wollte er wissen.
Raft blickte auf eine 3D-Animation, die zeigte, wie zwei Punkte einem dritten folgten. Sie kamen ihm immer näher. Raft wirkte ungewöhnlich blass. „Wir werden verfolgt. Talira sagt es handelt sich um unbemannte Abfangjäger. Den Typ habe ich vergessen. Entscheidend ist, dass sie schneller sind als wir.“
„Schlecht“, entgegnete Tjonre mit Entsetzen in der Stimme, „ganz schlecht. Talira, haben wir irgendeine Möglichkeit uns zu verteidigen?“
Talira, die sich mitten im Raum materialisierte, antwortete: „Die Fähre hat praktisch überhaupt keine nennenswerten Verteidigungsmöglichkeiten. Alles ist auf Tarnung ausgelegt.“
„Eben! Wie können sie uns geortet haben? Und wie konnte sie uns so rasch folgen? Sie müssen gewusst haben, dass wir da sind. Aber woher?“, wollte Tjonre wissen. Talira schien zu zögern, was äußerst ungewöhnlich für sie war.
„Jemand will euch sprechen“, erwiderte sie schließlich. „Jemand von Ivarn. Nehmt ihr das Gespräch entgegen?“
Tjonre setzte sich neben Raft „Das wird wohl der Absender der beiden Geschenkpakete sein. Nur zu.“
Die Luft flimmerte kurz, dann saß ihnen eine blonde Frau gegenüber, die ein wenig verhüllendes, halbdurchsichtiges schwarzes, körperbetontes Kleid anhatte, das ihre üppigen Formen betonte. Sie lächelte süffisant und auch ein wenig höhnisch.
„Elina!“, keuchte Raft, „wieso lebst du noch?“
Die Brauen der Frau zogen sich kritisch zusammen und eine steile Falte erschien zwischen ihnen. „Was ist das für eine Begrüßung? Gar nicht nett! Wo ich mir extra die Mühe mache, mich nach euch zu erkundigen.“ Sie spann Rafts Gesprächsfaden weiter. „Tja, das könnte ich euch auch fragen, nicht? Eine Panne, die ich jetzt endlich beheben werde! Die beiden Angriffsraketen – nennen wir sie Melor und Nehem - habe ich losgeschickt!“ Und dann ergänzte sie melodramatisch: „Euch zum Verderben! Eure Zeit ist jetzt gekommen! Diesmal seid ihr endgültig dran.“
Raft blickte immer noch verdattert drein und schüttelte den Kopf, als könnte er damit diese Fata Morgana loswerden. „Du konntest nicht rechtzeitig in der Stadt sein – nie! Wie ist das möglich?“
„Zunächst, mein Schatz, gebührt dir ein wenig Erläuterung und Aufklärung.“ Sie grinste. „Jetzt, wo ihr tot seid. Na ja, so gut wie. Also, nennt mich nicht mehr Elina. Ihr dürft Prinzessin Reja zu mir sagen. Oder auch Durchlaucht. Oder auch Euer Hochwohlgeboren.“ Sie machte eine Pause. „So was in der Art jedenfalls“
Verblüfft sprachen Raft und Tjonre gleichzeitig: „Reja, die Cousine Ephram OrPhons?“
„Prinzessin?“, entfuhr es Tjonre, „Seit wann gibt es auf Ivarn eine Monarchie? Ich dachte, die haben dort ein Gaunerregiment.“
Reja funkelte Tjonre aus schmalen Augenschlitzen an: „Ah der unhöfliche Exgutsherr! Das eine schließt das andere nicht aus. Man kann ja schließlich auch Spitzel und Gutsherr sein, nicht? Warum also nicht auch Freibeuterin und Prinzessin? Und was dich betrifft, Raft: Ja, ich bin Ephrams Cousine, Ephrams Geliebte, Ephrams Widersacherin in Fragen der Macht und Herrschaft, alles in einer Person. Ich liebe das Spiel der Intrigen. Wir haben einen gemeinsamen Feind, die Föderation. Um ihr eine Schlappe zu verpassen, arbeiten wir auch zusammen, wenn es sein muss. Ephram hat erfahren, dass ihr möglicherweise Spitzel seid – und zwar durch mich! Eure Elimination hat er mir überlassen. Er weiß, wie großen Spaß mir so was macht und ich gehe nicht so phantasielos an die Sache, wie er. Rohe Gewalt! Bei euch geht es aber nicht anders, ich bin jetzt auch davon überzeugt.“ Sie wedelte mit der Hand. „Diese beiden Raketen sind unromantisch, aber effizient, also was soll’s." Sie ignorierte jetzt Tjonre und wandte sich ausschließlich Raft zu. „Es stimmt, du hattest mir alle Kommunikationsmittel genommen. Soweit waren deine Gedanken richtig. Aber du hast mich für eine unbedeutende Sklavin gehalten. Du hast mich unterschätzt. Das war ja auch Sinn der Tarnung. Ich achte sehr darauf, dass keine Bilder von mir in Umlauf kommen, die mir derartige, schöne Spiele verderben könnten. Ich will, dass mich jeder kennt, aber niemand genau weiß, wie ich aussehe. Jedenfalls – mein Team bestand nicht nur aus den beiden Trotteln, die ihr ausgetrickst habt. Ich hatte noch ein paar Leute im Hintergrund, bei denen ich mich alle acht Stunden meldete, nur zur Sicherheit. Diesmal aber konnte ich mich nicht melden und daher sind sie losgeflogen, mich zu suchen. So war ich nur wenige Stunden nach eurem Aufbruch in der Lage, euch verfolgen zu lassen. Und die Verfolger kommen immer näher.“ Letzteres sagte sie mit hämischer Freude in der Stimme.
„Du Ausgeburt der Finsternis!“ rief Raft aufgebracht, „ich hätte dich töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Mit Menschen wie dir sollte man niemals Mitleid haben.“
Tjonre unterbrach ihn: „da wir deiner Meinung nach schon tot sind könntest du uns vielleicht verraten, woher dein Cousin wusste, dass ich Agent der Föderation bin.“
„Ah, das interessiert dich natürlich! Wir wussten nur, dass der Spion von Wägan sein musste, der Name war uns natürlich nicht bekannt, sonst hätten wir nicht so viel Federlesens gemacht.“ Sie zog sich mit dem Finger der rechten Hand von links nach rechts über ihren schönen Hals. „Aber es gab doch ein paar andere, die in Frage kamen ... Wie auch immer, einer von deinem Planeten hat uns den Tipp gegeben. Nett, nicht?“
„Und sein Name?“ Sie grinste ihn an, sagte aber nichts und Tjonre konnte nicht sagen ob deshalb, weil sie ihn selbst nicht kannte oder aber bloß nicht sagen wollte. Eigenartig, dass Tjonre in diesem Moment an Franak denken musste, der ihm schon jahrelang nicht mehr in den Sinn gekommen war.
„Warum meldest du dich überhaupt?“, wollte Raft wissen. „Wir haben auch ohne deine Hilfe mitgekriegt, dass wir verfolgt werden.“
„Nun“, zwitscherte Reja jetzt ausgesprochen freundlich, „ich hätte da eine kleine Bitte!“
„Die wäre?“, fragte Tjonre, etwas verärgert über ihre unpassende Fröhlichkeit.
„Nun ja ...“ fing sie in gespielter Scheu an. „Seht mal, in ein paar Stunden ist hier die Hölle los. Die letzten Augenblicke meiner beiden sehr zähen Widersacher. Zäh, das seid ihr! Niemand sonst hat mir so viele Schwierigkeiten bereitet. Und im erhebenden Moment eures Endes, kurz bevor ihr atomisiert werdet und nur noch ein Häufchen Staub von euch bleibt, der bis in alle Ewigkeit durch den Weltall treibt ..“, sie atmete tief ein, ergriffen von ihrer Rede, „soll ich nicht dabei sein? Soll ich nicht zuschauen können? Mich nicht an eurer Angst und Panik weiden? Das wäre nicht fair! Jungs, kurz gesagt, ich werde mich, sagen wir eine halbe Stunde vorher melden und es wäre nett, wenn ihr dann auf Empfang geht, so dass ich zuschauen kann wie ...“.
„Talira!“, schrie Tjonre, „mir reicht’s!“ Die Gestalt der blonden Frau verblasste augenblicklich und zurück blieben nur die beiden Männer und das Holo, das zeigte, wie die Raketen sich ihnen langsam aber unaufhaltsam näherten. Tjonre starrte kurz hin und rief dann ungehalten: „Mach das auch aus!“
„Talira“, erkundigte sich Raft, wobei seine Stimme ruhig wie immer klang, „haben wir irgendeine Chance?“
Völlig emotionslos antwortete sie: „Nüchtern betrachtet und auf das Wesentliche reduziert: Nein.“ „Ich verstehe ... wie viel Zeit bleibt uns noch?“ „Etwa zwölf Stunden.“ Raft und Tjonre blickten sich eine Weile wortlos an. Beide fühlten sich leer und antriebslos. Sollten sie einfach nur so auf das Ende warten? „Übrigens ... Tjonre, gratuliere!“, meldete sich Talira überraschend zu Wort.
Völlig perplex schwieg der Angesprochene einen Augenblick, einfach deshalb weil er nicht wusste was er sagen sollte. „Äh ... wozu?“
Talira lächelte enthusiastisch. „Du hast die Versteigerung gewonnen! Das Gut gehört dir!“ Ihre Stimme vermittelte Fröhlichkeit.
„Oh! Danke!“ Er lächelte sarkastisch. „Dann ist das ja doch kein so schlechter Tag. Pech nur dass ich nichts mehr davon habe.“ Dann wandte er sich an Raft: „Ich gehe rüber zum Aufenthaltsraum.“
„Wirst du es ihr sagen?“, wollte Raft wissen.
„Dass ich gewonnen habe?“
„Nein! Das andere.“
Tjonre zuckte mit den Schultern. „Wozu? Wenn wir nichts daran ändern können? Sie kriegt es früh genug mit.“ Er drehte sich um, verließ die Zentrale, ging rasch durch den Gang und betrat den Aufenthaltsraum. Elri hatte mittlerweile die anstrengende Lektüre aufgegeben und einen Roman mit vielen Meyers gewählt, den sie aber sofort weglegte, als sie ihn kommen sah. Sie lächelte ihn hingebungsvoll an.
„Gibt es etwas Neues?“
„Nun ja ...“ Er zögerte, weil er noch gar nicht dazu gekommen war darüber nachzudenken, was er ihr erzählen sollte. Dann fiel ihm Taliras Bemerkung wieder ein. „Ich habe die Versteigerung gewonnen und bin jetzt stolzer Besitzer einer mittelgroßen Farm auf Wägan.“ Er versuchte Begeisterung zu mimen, die er unter anderen Umständen sehr wohl gefühlt hätte.
Elri flog ihm förmlich entgegen und umarmte ihn. „Oh Tjonre, das ist phantastisch!“
Er erwiderte die Umarmung und presste mit einer Hand ihr Köpfchen gegen seine Brust. Das tat gut. „Ja wirklich, phantastisch!“, meinte er und versuchte den traurigen Unterton zu unterdrücken. „Dort werden wir gemeinsam den Rest unserer Tage verbringen und unser Leben wird so langweilig und einfach sein, dass kein Buchautor auf die Idee kommen wird unser Schicksal als Vorbild für seine Romanfiguren zu wählen.“
Elri lachte und wie alles an ihr war auch ihr Lachen entzückend. „Das wäre schön. Ich werde eine Farmersfrau!“ So simpel diese Zukunftsperspektive auch klang war sie doch weit mehr als Elri in den letzten Jahren zu erhoffen gewagt hatte. Mehr wollte sie nicht, das genügte ihr. Tjonre wusste, dass es viel mehr war, als ihnen das Schicksal oder Reja tatsächlich zugestand. „Habe ich da sehr viel zu tun?“, fragte sie.
„Schon einiges; hängt natürlich von der Anzahl Kinder ab, die du einplanst. Aber bei einer vernünftigen Anzahl sollte sich hie und da ein gemeinsamer Strandspaziergang bei Sonnenuntergang ausgehen.“ Tjonre begann die Schönheit des Meeres in der Abenddämmerung so eindringlich und farbenprächtig zu schildern; die Glut der See wenn sich die rote, riesige Sonne auf der Oberfläche widerspiegelte, sodass man den Eindruck bekam eine feuerrote Straße würde vom staunenden Betrachter direkt zur am Horizont verweilenden Sonne hinführen. Und ohne dass er das wollte nahm seine Schilderung einen wehmütigen Ton an, so als würde er all das nie wieder sehen. Intuitiv erkannte die feinfühlige Elri, dass etwas nicht stimmte. Aber sie wollte Tjonre nicht traurig machen und auch selbst nicht traurig sein. So spielte sie ihm die Ahnungslose vor und sie besaß weit mehr schauspielerische Begabung als er. Sie wirkte von seiner Schilderung fasziniert und stellte immer zum richtigen Zeitpunkt einfache Fragen, die seine Darstellungen immer weiter in die Tiefe führten. In ihrer Welt der Phantasie sprangen sie gemeinsam in die Wellen, tauchten zusammen in die Tiefe und erlebten die vielfältige Unterwasserlebewelt eines jungen Planeten. All das eng umschlungen am Sofa sitzend. Sie hatten nicht wirklich viel Zeit für ihre Zukunft. So begannen sie bald das Gutshaus gemeinsam einzurichten, was ihnen gelang ohne zu streiten. Auch Kinder wurden eingeplant, die alle ausnahmslos unrealistisch nett, hilfsbereit, fröhlich, kooperativ, intelligent, ewig jung waren, mit schillernden Haaren und Schwimmhäuten und stets sehr, sehr gesund. All das war fast zu viel um sich des Damoklesschwertes, das über ihnen schwebte nicht ständig bewusst zu sein. Und dieses Bewusstsein führte schließlich dazu – nach Stunden, die sie ihrem Tod immer näher brachten - dass sie verstummten und sich nur noch eng umklammert hielten.


***


Talira erschien – leise wie es ihre Art war – aber auch ungewöhnlich unspektakulär in der großen Kristallkuppel auf Itirana. Ihr einfaches graues Kleid dämpfte ihre aparte Erscheinung, wenngleich es ihm nicht gelang, den Eindruck von Mittelmäßigkeit aufkommen zu lassen. Der Miene des Protektors konnte man jedoch nicht ansehen, ob ihn das Ungewöhnliche an ihrem Auftritt beeindruckte. Auch seine Stimme war kalt wie Eis und wirkte gefühllos. „Talira, was verschafft mir die Ehre?“ Seine roten Augen hefteten sich auf die Erscheinung.
„Es gibt einige Dinge, die du wissen solltest.“
Er seufzte. „Es wäre schön, wenn du etwas Positives zu berichten hättest. Das wäre mal eine Abwechslung.“
„Wie man’s nimmt“, meinte sie. „Die Sklavin die Tjonre gekauft hat – sie ist wirklich Lezart PaDorkis Tochter. Tjonre hat herausgefunden, dass die beiden Bildchen in ihrem Medaillon umfangreiche Meme sind. Eines davon enthält die Koordinaten Historias, das andere eine verschlüsselte Botschaft.“
Der Protektor war begeistert, ein Gefühl, das er nur sehr selten empfand. „Endlich! Endlich wird das Rätsel um PaDorkis und den Planeten Historia gelüftet. Schick mir eine Kopie der Meme!“
„Tja“, meinte sie, „jetzt kommt die schlechte Nachricht. Das Mem, das die Koordinaten enthält, ist interaktiv und kopiergeschützt. Man müsste mit seiner Hilfe im Enigma zum Planeten Historia navigieren und erst dann könnten wir die Borddaten kopieren und zu dir schicken.“
„Und das zweite Mem?“
„Das habe ich an Achela geschickt, damit sie es dekodiert. Aber bislang hatte sie noch keinen Erfolg. Wenn sie keinen Dekodierungscode erhält, kann es Jahre dauern oder ist vielleicht sogar gänzlich unmöglich, meint sie.“
Enttäuschung zeichnete kurz die Gesichtszüge des Protektors. „Dann haben wir also bislang noch nichts. Aber ... na gut. Bring mir das Koordinatenmem so bald als möglich.“
„Es gibt da ein kleines Problem“, entgegnete sie, „zur Zeit sind wir im Beiboot zum Mutterschiff unterwegs. Wir werden von zwei Raptor-G-II Raketen verfolgt. Sie sind schneller als wir und wir werden daher das Mutterschiff nicht mehr erreichen. Eine Flucht ins Enigma ist also nicht möglich.“
„Ich verstehe“, seufzte der Protektor, „wenn du doch irgendeine Möglichkeit siehst ... diese Daten sind von enormer Bedeutung und ihr Erhalt hat absolute Priorität.“
„Leider“, meinte Talira lächelnd wie immer. Sie wurde fadenscheinig und verschwand schließlich. Der Protektor blieb mit einem ihm nur zu gut bekannten Gefühl zurück: nämlich dem der Frustration.


***


Elri war schließlich in seinen Armen eingeschlafen. Tjonre konnte es ihr nicht gleichtun und bemühte sich, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Was hätte es für einen Sinn gehabt sie zu wecken? Lieber betrachtete er sie still und streichelte ganz sanft ihre Haare. So verging die Zeit und seine innere Uhr verriet ihm, dass er wohl nur noch wenige Minuten zu leben hatte. Er wurde innerlich immer unruhiger und schließlich flüsterte er: „Talira – wie lange noch?“
Talira erschien in einem perlmuttfarbenen Gewand und starrte ihn aus großen Katzenaugen an. „Nun ...“, auch sie flüsterte, „die beiden Raptor–G-II hätten uns eigentlich vor etwa einer halben Stunde erreichen und eliminieren sollen. Sie sind offenbar langsamer als erwartet.“
“Tjonre starrte sie entgeistert an. „Und das sagst du mir erst jetzt?“
„Ich wollte nicht stören“, antwortete sie gleichmütig.
„Wie kann das sein?“, wollte er wissen.
„Nun – ihr schient sehr mit euch beschäftigt und da ...“
„Nein! Das meine ich doch nicht! Wie kann es sein, dass diese Raketen, die Raptordinger, langsamer sind, als du erwartet hast?“
„Tja, ich habe nicht ausreichend Daten, um das mit Sicherheit sagen zu können, aber – so rein aus dem Bauch heraus – würde ich sagen, dass sie schlecht gewartet wurden. Sehr schlecht sogar! Eine Schande ist das!“
„Eine verzeihliche würde ich sagen. Ändert das unsere Situation?“
„Wenn sie weiterhin so langsam näherkommen ... könnte das durchaus sein. Im Augenblick sieht es so aus, als würden sie uns kurz bevor oder kurz nachdem wir das Mutterschiff erreichen, einholen.“
„Inwieweit macht das einen Unterschied?“
„Nun, das Mutterschiff verfügt über die nötige Abwehrbewaffnung, um es mit den beiden Raptor-G-II aufzunehmen – zumindest sind unsere Chancen ganz gut. Aber wie gesagt: vielleicht erwischen sie uns auch vorher oder zumindest eine davon. Eine nähert sich nämlich etwas schneller.“
„Wann wird sie uns in etwa erreichen?“
„Voraussichtlich in einer halben Stunde.“
Tjonre drehte sich vorsichtig unter Elri weg und legte sie sanft auf das Sofa. Dann verließ er den Aufenthalts- und betrat kurz darauf den Kontrollraum. Raft blickte immer noch fasziniert auf den Wettlauf zwischen den drei Punkten, hatte jetzt aber auch die raumfüllende Panoramasicht aktiviert. Tjonre ging scheinbar durch die Leere des Alls zu einem der Sessel. Die Krater übersäte Oberfläche des fünften Mondes Ivarns rückte langsam näher und auch das zerfressene Antlitz des Mondmonds stieg gemächlich hinter ihm empor. Wenn sie ihn rechtzeitig erreichen konnten würden sie vielleicht überleben.
Raft blickte auf. „Hat Talira dich informiert?“
„Sie hat gemeint wir hätten noch eine Chance“, antwortete Tjonre.
„Wenn wir knapp genug am Mutterschiff vorbei fliegen und dann noch weit genug von den Raptoren weg sind, kann Talira angreifen. Es gibt da aber noch ein weiteres Problem.“
„Nur eines?“, meinte Tjonre, „welches?“
„Die beiden Raketen sind mittlerweile so weit voneinander entfernt, dass die zurück liegende Rakete nach dem Angriff auf die vordere noch reagieren kann. Die Frage ist, wie der Bordcomputer reagieren wird. Talira meint, dass der zweite Raptor wahrscheinlich den Kurs wechseln wird und dann das Mutterschiff angreift. Talira sagt, sie kann zwar nahezu mit Sicherheit beide Raptoren eliminieren, dabei könnte aber das Mutterschiff vernichtet oder zumindest beschädigt werden.“
Tjonre wusste, dass Taliras Kalkulationen in dieser Hinsicht sehr zuverlässig waren. Ihre Kenntnisse über Waffensysteme und Strategiemodule waren auf dem neuesten Stand. Das Antlitz des Mondmonds füllte nun bereits einen beträchtlichen Teil des Raums und immer mehr Details seiner bizarren Oberfläche wurden erkennbar. Sie war von Kratern und Gruben übersäht, viele davon bildeten Eingänge zu gigantischen Hohlräumen, die sich tief in das Innere des Himmelskörpers erstreckten. Irgendwo in diesem Wirrwarr versteckte sich das Mutterschiff, Talira wusste genau wo und würde sie in einer Bahn knapp an diesem vorbeiführen, ohne die Geschwindigkeit der Fähre im Geringsten zu mindern.
Tjonre fand den Anblick des sich nähernden Körpers erschreckend. Er blickte nach hinten, wo er die angreifenden Raketen vermutete. Aber da war noch nichts. Lediglich Ivarn konnte er ausmachen, einen kleinen, blaugrünen Planeten. Irgendwie hatte er angenommen, dass die beiden Verfolger riesengroß erscheinen mussten, obwohl ihm klar war, dass ein Abstand von wenigen Kilometern ausreichte um sie unsichtbar zu machen.
„Wann werden wir in den Einflussbereich des Mutterschiffs kommen?“, fragte er in den Raum hinein und Taliras Stimme erschallte aus dem Nichts – sanft und ruhig.
„Gleich Tjonre, gleich – nur noch ein wenig Geduld.“ Die Ruhe, die die Stimme ausstrahlte, erschien ihm unpassend.
Tatsächlich näherte sich der Himmelskörper jetzt rasend schnell und seine Erscheinung wurde geradezu übermächtig. Sie flogen knapp über spitze, zerklüftete, eigentümlich farblose Gebirge und finstere Tiefen, die wohl nie von den Strahlen der Sonne berührt wurden. Das Bild wurde beunruhigend, ja geradezu erschreckend in seiner Dynamik und Tjonre konnte nicht mehr hinsehen, ohne dass sein Gleichgewichtssinn revoltierte und ihm übel wurde. Noch dazu war die Oberfläche über seinem Kopf – subjektiv verkehrt. Aber noch viel beängstigender war die kleine Grafik, denn sie zeigte, dass der Abstand zwischen der Fähre und der näheren Raptor-G-II nicht mehr größer war als der zwischen den beiden Raptoren. ‚Wenn noch etwas passieren soll, dann bitte bald’, dachte Tjonre, ‚sonst ist es zu spät für uns’. Die Fähre wurde nicht langsamer, im Gegenteil, sie nutzte noch die Anziehung des fünften Mondes, um weiter zu beschleunigen, aber die Raptoren hielten mit und verringerten den Abstand weiter, langsam aber doch, ein tödlicher Wettlauf.
An so vielen spektakulären Kratern und Höhlensystemen waren sie schon vorbeigeflogen, immer knapp über der Oberfläche, so dass er das kleine, unauffällige Höhlensystem nicht weiter beachtete. Unpassend ruhig kommentierte Talira: „Nun sind beide Raketen im Einflussbereich des Mutterschiffs. Es ist soweit.“
Der Blitz war so hell, dass er Tjonre kurz blendete, der Plasmaimpulsstrahl schoss knapp am Beiboot vorbei und erzeugte weit hinter ihnen ein rotes Glühen, das zunächst nur dumpf war, aber mit jedem weiteren Energieimpuls heller erstrahlte und endlich – scheinbar nach einer kleinen Ewigkeit – zerbarst etwas. Es gab eine gewaltige Explosion, heller noch als der Strahl, der vom Mutterschiff ausgegangen war, auf der kleinen Grafik erlöschte einer der Punkte, der nähere.
Mittlerweile befand sich die Fähre auf der Höhe des Mutterschiffs und ließ es hinter sich zurück. Abermals züngelte ein Plasmaimpulsstrahl durch das All und fand sein Ziel, weiter weg von der Fähre diesmal, aber dem Mutterschiff bedenklich nahe und immer näher kommend und immer noch hielt die Rakete dem vehementen Angriff stand. Es war offensichtlich, dass die Raptor-G-II im Begriff war ihren Angreifer zu attackieren. Während sie unter der hochenergetischen Wucht des Angriffs litt und hellglühend wurde, kam sie immer noch näher und Tjonre verlor die Hoffnung, dass das Mutterschiff der Rakete entkommen konnte. Da gab es die zweite mächtige Detonation, nahe, viel zu nahe am Höhlensystem, welches das Mutterschiff beherbergte.
Eine Weile noch flogen glühende Raketenteile auf den Himmelskörper zu und explodierten auf seiner Oberfläche: Er schien jetzt wieder kleiner zu werden, denn die Fähre entfernte sich bereits von ihm; zum ersten Mal nahm Tjonre den fünften Mond Ivarns bewusst wahr, der nun mehr und mehr in den sichtbaren Ausschnitt des Himmels fiel. Tjonre blickte zu Raft, der dem Schauspiel mit Begeisterung – ein breites Grinsen verunstaltete sein hässliches Gesicht zusätzlich - und scheinbar ohne Furcht gefolgt war. Dann erinnerte er sich an das Mutterschiff.
„Talira, was ist passiert?“ Die erwartete Antwort kam nicht, es blieb still. Das beunruhigte nun doch auch Raft. „Talira! Antworte!“, befahl er. Doch es blieb weiterhin still.
„Schon wieder läuft etwas schief“, meinte Tjonre, „kann nicht einmal einen Augenblick lang alles klappen sodass man sich darüber freuen kann, dass man noch lebt? Was bedeutet es, wenn Talira sich nicht rührt?“
„Ich glaube das weißt du“, antwortete Raft, „es bedeutet, dass das Mutterschiff zerstört ist. Talira ist das Mutterschiff!“
In dem Moment öffnete sich die Tür zum Verbindungsgang und Elri wankte verschlafen sich die Augen reibend in den Kontrollraum. „Hallo Jungs, hab’ ich was verpasst?“ Dabei lächelte sie die beiden unschuldig und ahnungslos an. Das Lächeln verbreiterte sich, als ihr Blick auf Tjonre haften blieb. Er stand auf und nahm sie schützend in die Arme. „Nein“, antwortete er.
„Tjonre, was erzählst du da!“ Raft schien wütend. „Zwei Raptor – Angriffsraketen verfolgen uns, erwischen uns beinahe; beide werden zerstört, aber eine vernichtet dabei das Mutterschiff – und du sagst es ist nichts passiert?“ Betreten blickte Tjonre zu Boden. „Du kannst jetzt nichts mehr verheimlichen“, ging die Moralpredigt weiter, „es ist an der Zeit ihr reinen Nijem-Wein einzuschenken. Wir sind nämlich verdammt noch mal im A...“
„Kein Grund zum Fluchen“, unterbrach Tjonre schnell. „Die Situation ist ein bisschen schwierig, zugegeben.“
„Ein bisschen schwierig? Du leidest unter Realitätsverweigerung! Was bleiben uns jetzt noch für Möglichkeiten? Na, sag schon! Richtig! Wir können gerade einmal zurück nach Ivarn in die Arme von Elina – Verzeihung; Reja. Und? Was denkst du wird sie mit uns machen?“
Bevor Tjonre antworten konnte – er hätte ohnehin nicht gewusst was, rührte sich Elri: „Bitte streitet nicht meinetwegen“, sagte sie mit besänftigendem Tonfall, „Tjonre hat nicht ganz unrecht“, sagte sie zu Raft, „immerhin ist die Situation in der wir jetzt sind besser als die, in der wir noch vor kurzem waren, nicht?“ Raft schnaubte und verdrehte die Augen. Und an Tjonre gewandt: „Darf ich eine Frage stellen?“
„Natürlich“, meinte Tjonre, „was willst du wissen?“
„Na ja, ich hab’ so ziemlich alles verschlafen. Oder verlesen. Also seid nicht böse, wenn meine Frage dumm ist.“ Niemand antwortete, daher fuhr sie schließlich fort: „Woher wisst ihr eigentlich, dass das Mutterschiff zerstört ist, konnte man das irgendwie sehen?“
„Nein das nicht“, gestand Tjonre, „aber Talira antwortet nicht mehr und sie ist der Computer des Mutterschiffs. Und die Explosion war nahe am Mutterschiff. Also ...“
„Aber ... vielleicht ist bloß die Kommunikation gestört oder unterbrochen! Die Möglichkeit besteht doch! Oder?“
„Nun ...“, gab Raft fast widerstrebend zu, „möglich ist das schon. Nach dem was wir gesehen haben ist es zwar unwahrscheinlich, das noch viel vom Mutterschiff übrig ist, aber immerhin müssen wir die Möglichkeit ins Auge fassen.“
„Gibt es noch einen anderen Weg mit Talira zu kommunizieren?“
„Wenn wir direkten Sichtkontakt zum Mutterschiff haben und nicht alle Außenkameras ausgefallen sind und selbst dann ...“. Raft überlegte. „Da wir ohnehin keine Alternativen haben ... und überhaupt ist es sowieso eine gute Idee nach Talira zu schauen.“
Tjonre blickte Elri anerkennend an. Sie hatte diplomatisches Geschick. „Gut“, meinte er, „dann umkreisen wir den fünften Mond einmal und bremsen dabei ab. Wir nähern uns dem Mutterschiff ...“
„Oder seinen Überresten“, warf Raft ein,
„ ...soweit das möglich ist“, beendete Tjonre seinen Satz. „Das Beste an dem Ganzen ... das ist genau der Kurs, den wir sowieso nehmen wollten und den Talira für uns in den Bordcomputer eingegeben hat. Also können wir uns hinsetzten und warten.“ Raft schnaubte. Warten und generell Untätigkeit waren nichts für ihn. Er zog Initiative und Aktivität bei weitem vor. Deshalb beauftragte er den Bordcomputer, ihn über alle wesentlichen Ereignisse auf dem Laufenden zu halten. Eine Menge 3D-Holos erschienen vor seinem Sitzplatz und informierten ihn über den Abstand zum Ziel, die Geschwindigkeitsreduktion, Flugbahn und Vertikaldistanz zum fünften Mond Ivarns. Tjonre hingegen bemerkte jetzt, wie übermüdet er war und beschloss daher schlafen zu gehen. Immerhin drohte ihnen ausnahmsweise keine unmittelbare Gefahr. Auch Elri war noch müde und zog sich zurück.


***


Elri ging gleich in den Kommandoraum, denn sie hatte weder Hunger noch Durst. Raumfüllend und beängstigend war der zerfressene Brocken zu sehen, der Mondmond und er näherte sich. Der Anblick machte sie schwindelig. Bald würde man das Mutterschiff sehen können und bis dahin lebte die Hoffnung. Sie erwartete nicht wirklich, dass das Schiff noch soweit intakt war, dass sie es zur Flucht nutzen konnten. So war das Schicksal nicht zu ihr. Zu ihr nicht. Wenn man das Leben einer Sklavin führen musste, gewöhnte man sich das Hoffen ab. Hoffen war tödlich. Resignation, sich ergeben in sein Schicksal bedeutete Überleben. Überleben bedeutete wiederum nicht viel. Oft hatte sie gehofft, es wäre endlich vorbei. Als ihre Eltern zu Tode gekommen waren, als sie sich erstmals an ihr Sklavendasein gewöhnen musste, als sie sich immer wieder von „ihren“ Kindern trennen musste und – nicht zuletzt – als sie Elina und SiWender ausgeliefert war. Dass sie jetzt mit jemandem zusammen war, der sie liebte, war einfach schön. Auch wenn es bald aus war, auch wenn es keine gemeinsame Zukunft auf Wägans Inseln geben sollte; was sie seit dem Tod ihrer Eltern nicht mehr erlebt hatte, wenngleich niemals vergessen, war jetzt wieder da und dafür war sie dankbar.
Tjonre drehte sich in einem der Sessel zu ihr und lächelte sie an. Sie huschte die paar Schritte zu ihm und setzte sich auf seinen Schoß. Nach einem kurzen Begrüßungskuss wandten sie sich wieder dem imposanten Szenario zu, das ihnen der zerfressene Himmelskörper bot.
„Gleich müsste das Mutterschiff in Sicht kommen“, meinte Raft, der tief im Nebensessel gehockt und Elris Aufmerksamkeit dadurch entgangen war. Tatsächlich tauchte jetzt ein winziges spindelförmiges Objekt in einem der Käselöcher auf. Sie näherten sich, die Spindel wurde größer und geriet immer mehr ins Zentrum des Holos.
„Sieht eigentlich ganz gut aus“, meinte Tjonre mit verhaltenem Optimismus. „Kannst du Schäden ausmachen?“
„Leider ja; im äquatorialen Bereich, etwas nördlich davon“, antwortete Raft nach kurzem Zögern. „Aber ob das schlimm ist? Jedenfalls haben wir jetzt Sichtkontakt und können mittels Laser eine primitive Kommunikationsbasis erstellen. Steinzeitmethoden, aber was soll’s“.
Tjonre blickte gebannt auf das Schiff. „Am besten du zielst auf den Äquator, wo die meisten Sensoren sind.“
„Klar. Gut. Also starten wir einen Versuch. Folgende Botschaft: ‚Talira, kannst du mich hören?‘.“
Zunächst geschah gar nichts. Aber nach ein paar bangen Augenblicken formte sich etwas, das schließlich einer menschlichen Gestalt nahe kam. Die Figur wurde dichter und erinnerte schließlich tatsächlich an die alte Talira ohne aber in irgendeiner Form lebensecht zu wirken. Die Erscheinung sah aus und bewegte sich wie eine hölzerne Puppe und wurde zudem manchmal noch fadenscheinig. „Talira!“, rief Tjonre, „du siehst grauenvoll aus. Wie geht es dir?“
„Recht gut“, antwortete sie, „entschuldige mein Erscheinungsbild, das sehr einfach sein muss, weil der Kommunikationskanal äußerst eng ist, die Übertragungsrate ist jämmerlich.“
„Talira, wir sehen auf unserem Holo, dass das Schiff getroffen ist. Wie groß sind die Schäden?“
„Ich musste zwei Treffer hinnehmen, der eine ist oberflächlich, der zweite tiefergehend. Beide haben Ausfälle verursacht“. Talira sprach ohne Mimik und mit völlig starrem Blick. Tjonre fand das sehr irritierend.
„Welcher Art?“
„Die oberflächliche Zerstörung verursacht Kommunikationsprobleme. Kommunikation über das Enigma ist derzeit nicht möglich. Wir sind also von der Föderation getrennt, haben daher auch keinen Kontakt zum Kommando oder zum Protektor.“
„Damit kann ich leben.“ Raft grinste breit. Tjonre stimmte ihm insgeheim zu. Sein Grundstück auf Wägan hatte er ja bereits, alles andere war nicht so wichtig.
„Und der zweite Treffer?“
„Ein Teil der detonierenden Rakete hat einen meiner Erinnerungsblöcke getroffen….“
„Welchen?“, wollte Tjonre wissen, „ich meine, wofür ist er zuständig?“, präzisierte er.
„Für Transferadressen“, antwortete sie.
Tjonre blickte Raft fragend an. „Ist das schlimm? Offenbar funktionieren alle Lebenserhaltungssysteme, wir können also ins Schiff. Die Transfermodule funktionieren im Prinzip auch, wir können also ins Enigma fliehen …“
„Ja schon“, entgegnete Raft säuerlich, „aber ohne Adressen landen wir irgendwo. Und wir wissen dann nicht einmal wo wir sind. Talira, ist irgendeine Adresse erhalten geblieben? Egal welche, solange sie nur innerhalb der Föderation liegt!“
„Bedaure, leider nein“, war die frustrierende Antwort.
„Hm, also lass mich zusammenfassen“, konstatierte Tjonre: „ Adressen von zivilen Zielen haben wir nicht, weil dein Speicher dahin ist. Und an militärische Adressen, die wir sowieso nicht gespeichert hatten, kommen wir nicht ran, weil die Kommunikation über das Enigma nicht möglich ist. Richtig?“ Talira bestätigte das durch Kopfnicken. „Wir sind also praktisch hier gefangen?“
„Na ja, wir haben noch die Adresse von Historia …“, warf Elri schüchtern ein und nestelte am Kettchen ihres Medaillons.
„Stimmt!“ Tjonres Miene erhellte sich schlagartig. „Talira, siehst du außer einer Flucht nach Historia oder dem Verbleib in Ivarns System noch eine andere Möglichkeit?“
„Nein, Tjonre, außer diesen beiden Möglichkeiten bietet sich uns nicht gerade viel.“
„Es kann nicht mehr lange dauern, bis Reja weiß, dass wir noch am Leben sind und den nächsten Versuch startet uns zu eliminieren. Ich denke wir sollten an Bord des Mutterschiffs weiter diskutieren“, ließ sich Rafts laute Stimme vernehmen. „Talira, hol uns an Bord.“
„Kein Problem“, bestätigte sie.
Augenblicke später öffnete sich der Hangar des spindelförmigen Mutterschiffs wie ein mächtiges gähnendes Maul und nahm das langsam vorwärts treibende Beiboot auf. Gewaltige Klammern bewegten sich auf es zu und ergriffen und positionierten es; eine zylindrische, ausziehbare mobile Schleuse näherte sich dem Boot und dockte an. Dies war erforderlich, da im Hangar Vakuumbedingungen vorherrschten. All das konnte die Besatzung beobachten, denn der Hangar war nun in diffuses, weißes Licht getaucht und die Außenbordkameras weiterhin aktiv. Raft voran verließ die kleine Mannschaft den Kommandoraum und betrat abermals den Schleusenraum. Sie gingen an der zentralen Ausnehmung vorbei, durch die sie das Beiboot betreten oder vielmehr ‚ertaucht‘ hatten, Elri und Raft vor wenigen Tagen, Tjonre viele Male in den letzten zehn Jahren. Dem Kommandoraum gegenüber liegend befand sich ein kreisförmiges Tor, das sich nun blendenartig öffnete und den Blick auf einen hellen Gang freigab; diesen schritten sie entlang, Raft zuerst, Tjonre zuletzt. Am anderen Ende war eine ähnliche Türe, die sich öffnete, sobald sich die andere, durch die sie den Gang betreten hatten, geschlossen hatte. Dann waren sie im Mutterschiff und in Sicherheit. Dennoch eilten sie weiter, um möglichst schnell den gewaltigen Kommandoraum zu erreichen. Talira erwartete sie bereits – nicht mehr hölzern und blass sondern lebhaft wie sie es gewohnt waren, mit leuchtenden goldenen Augen, karminroten Lippen, geschmeidigen Bewegungen, die in Gemeinschaft mit dem hellblauen Kleid ihre feminine Ausstrahlung betonten und einer wachen Mimik. Ihr „Willkommen“ klang in ihren Ohren wie wundervoll tönende Glocken.
„Schön, dass du noch da bist“, meinte Tjonre, „wir haben uns ernsthaft Sorgen gemacht – um dich und um ehrlich zu sein – um uns ... ach ja; und um unsere Mission.“ Doch die kannten sie gar nicht, denn von den Gesprächen zwischen dem Protektor und Talira wussten sie nichts; auch nicht davon, dass der Protektor Talira den Befehl gegeben hatte nötigenfalls Tjonre zu manipulieren, um die Frage nach dem Schicksal PaDorkis zu klären. Tjonre hoffte immer noch, nach kurzem Aufenthalt auf Historia nach Wägan zurückkehren zu können, nachdem er seinen Dienst quittiert haben würde. Er musste dazu nicht einmal aktiv werden, er erlosch automatisch, wenn er nicht um Verlängerung ansuchte.
„Es ist besser, wir verschwinden so bald als möglich aus dem System“, fand Talira, „Elri, gib mir doch bitte das Mem aus deinem Medaillon, das die Enigmakoordinaten Historias enthält.“ Lächelnd ging Elri zu der schmalen, leuchtenden Säule beim Kommandopult. Sie ergriff ihr Medaillon und öffnete es, entnahm das kleine Bildchen und legte es auf die Säule, die es gleich darauf schluckte. Das Mutterschiff war nun für einen Sprung über viele Lichtjahre bereit, alle waren ausgelassen und fröhlich.
Da verkündete Talira, dass ein Kontaktversuch stattgefunden hatte. Unter den gegebenen Bedingungen konnte diese Person nur aus Ivarns System stammen. „Das wird wieder Reja sein“, mutmaßte Raft, „sollen wir uns melden?“
„Also ich will sie nicht mehr sehen, aber ich möchte sowieso Elri das Schiff zeigen. Ganz wie du willst.“
Raft war völlig anders als Tjonre. Ein ruhiges Leben, so wie Tjonre es plante, wäre wohl sein Tod. Er scheute keine Auseinandersetzung und liebte ernstzunehmende Gegner. Reja hatte er als einen solchen eingestuft. Als Tjonre und Elri den Raum verlassen hatten, wandte er sich an Talira: „Wollen mal sehen, was unsere Lieblingsfeindin von uns will. Bis jetzt war sie immer noch amüsant, also verbinde uns.“
„Gut“, meinte sie, „aber bedenke, dass Kontakt derzeit nur mit Lichtgeschwindigkeit erfolgen kann, du musst also etwa vierzehn Sekunden auf eine Antwort warten.“
„Galaxis! Auch das noch!“. Und nach einer Weile: „Egal.“
Reja erschien. Ihrer Mimik nach hatte sie gerade in etwas sehr Saures gebissen. Sie begrüßte ihn aufs Freundlichste: „Ihr lebt noch? Verdammt, bist du schwer zu vertilgen!“ Dann wartete sie offenbar irritiert und er sah, dass sie mit jemanden sprach, wahrscheinlich mit ihrem Avatar, der sie wohl darüber informierte, dass eine Kommunikation über die Enigma nicht möglich war.
„Du musst Geduld mit uns haben, Schätzchen, wir verfügen derzeit nur über lichtschnelle Kommunikation. Besser also du sagst alles was du auf dem Herzen hast auf einmal und wartest nicht erst eine Antwort ab“, meint er, „Was willst du?“
Nach einer Ewigkeit antwortete sie: „Ich wollte sichergehen, dass ihr tot seid, aber leider ... Na wenigstens ist euer Schiff beschädigt, sicherlich nicht nur eure Kommunikationsfähigkeit. Wenn ihr keinen Zugang mehr zum Enigma habt, könnt ihr ja auch gar nicht mehr fliehen! Ihr liegt doch hoffentlich völlig manövrierunfähig da, ein leichter, wehrloser Happen für mich, damit ich euch endlich, endlich erledigen kann.“
„Tut mir leid, Schatz, aber den Wunsch werden wir dir nicht erfüllen! Es stimmt, die Kommunikation über die Enigma ist ausgefallen, aber wir haben noch Zugang zu ihr! Wir können hier ganz einfach verschwinden und du kannst nichts tun, um es zu verhindern. Nichts! Wir können zwar noch nicht zur Föderation zurück, weil unser Koordinatenspeicher ausgefallen ist, aber nichts desto trotz ist uns eine Adresse geblieben und die werden wir nutzen. Falls du es wissen willst – wir fliegen zum Heimatplaneten der dürren Sklavin mit den Lichtreflexen im Haar. Ich kann dir das ruhig sagen, weil du keine Ahnung hast wo das ist und wie du hinkommst. Es ist nämlich eines der bestgehüteten Geheimnisse der Galaxis.“
Eine weitere Ewigkeit musste er warten, dann kam die Replik von einer wütend dreinblickenden Reja, die die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengezogen hatte: „Da täuscht du dich Raft! Ich werde euch finden, verlass dich drauf! Und dann seid ihr dran, du, der widerliche Gutsbesitzer und Glitzerköpfchen. Ich werde euch jagen solange ich kann!“
Raft beendete den Kontakt und lächelte. Wütend, fand er, war Reja besonders hübsch. Sie hatte genauso reagiert, wie er gehofft hatte. Sein Leben würde auch weiterhin nicht langweilig werden. Er hatte bestimmt nicht vor so wie Tjonre Farmer zu werden. Er wandte sich an Talira: „Lass uns abhauen. Auf ins Enigma und ab nach Historia!“

Zweites Buch: Die Göttin


Prolog
Angstvoll kauerte sie in der hintersten Ecke des kleinen Raums, der einige Jahre ihr Zuhause gewesen war. Sie wusste, dass es Nacht war und dass der Mann, der im Eingang stand eine Kerze in der Hand hielt, aber der Schein war für ihre Augen fast unsichtbar. Sie erkannte nur einen verschwommenen, etwas helleren Fleck. Nur mehr wenige Tage, ja vielleicht nur Stunden, trennten sie von ewiger Finsternis. Anfangs hatte sie nicht glauben wollen, dass sie langsam erblindete, aber mittlerweile war kein Zweifel mehr möglich. Ihre Augen veränderten sich, wurden milchig.
„Warum hast du mich gezwungen mit ihm zu schlafen? Ich wollte nicht, dass weißt du! Ich hatte Angst!“ Heiße Tränen liefen ihre Wangen hinab. Der Mann kam einen Schritt näher und betrachtete das schlanke, dürftig bekleidete Mädchen. Sie hatte lange, brünette Haare, die ein hübsches, herzförmiges Gesicht umrahmten, mit großen Augen, die jetzt aber abschreckend wirkten.
„Seit wann können sich Tanzmädchen ihre Freier aussuchen? Er ist reich und hat gut bezahlt. Blind oder nicht, ich kann mir nicht leisten einen Mann von Adel vor den Kopf zu stoßen! Das müsste dir doch klar sein. Hör endlich auf zu jammern, Mädchen! Ich habe zum Mitratempel nach einem Priesterheiler geschickt. Du siehst: für dich ist mir nichts zu teuer!“
„Ich habe in den letzten Jahren für gute Einnahmen gesorgt oder etwa nicht, Kimral?“
„Das hast du, Yasiwi, niemand leugnet das. Natürlich hast du das, sonst hättest du nicht bleiben dürfen! Zweitklassige Mädchen behalte ich nicht...“
Er verstummte plötzlich, als ein hochgewachsener, dunkel gekleideter Mann in der Türöffnung erschien. Obwohl er sich katzenhaft leise genähert hatte und sie ihn nicht sehen konnte, nahm sie ihn dennoch wahr, denn der ganze Raum schien schlagartig kälter geworden zu sein. Sie schauderte und ihre Augen weiteten sich angstvoll. Der Neuankömmling ging an dem kleineren und beleibteren Besitzer des zweifelhaften Etablissements vorbei und Yasiwi sah einen hageren Schemen, der ihr wie der lange Schatten eines Geiers erschien. Beim Näherkommen öffnete der Mann die Faust und ein Licht, heller als hundert Kerzen erschien in seiner Hand, so hell, dass selbst ihre trüben Augen es sehen konnten. Sie wollte sich abwenden, da sprach er zu ihr mit tiefer, fester Stimme: „Zeig mir Dein Gesicht, Mädchen. Zeig mir deine Augen!“ Seine Stimme hatte etwas Zischendes und ihre Phantasie spiegelte ihr vor, dass nicht ein Mann, sondern eine aufgerichtete Schlange vor ihr stand. Vor Angst erstarrte sie. Er musterte sie eine Weile, berührte sie aber nicht. Schließlich wandte sich der Priester von ihr ab und Kimral zu, der gespannt auf seine Worte harrte. „Ich kann nichts für sie tun“, sagte er, „sie wird erblinden. Sorg dafür, dass niemand mit ihrer Tränenflüssigkeit in Berührung kommt, sonst könnte es ihm ebenso ergehen. Wer sie berührt, soll sich mit Newadbaumöl waschen. Am Besten wäre es, sie verließe die Stadt, man wird sie hier nicht mehr dulden, sie ist eine Gefahr für die anderen.“
„Aber ich kann sie doch nicht...“
„Bring sie vor die Stadtmauer, ich sorge für den Rest.“
„Verstehe“, antwortete Kimral achtungsvoll, „trotzdem danke, dass ihr gekommen seid.“ Eine Münze wechselte den Besitzer und kurz darauf war der Priester gegangen.
„Was? Was hat er gesagt? Die Stadt verlassen? Ich kann die Stadt nicht verlassen! Wie sollte ich? Ich kann doch kaum etwas sehen!“ Entsetzen schwang in ihrer zittrigen Stimme. „Kimral“, flehte sie ihn an, „lass mich hier bleiben. Ich gebe dir meinen wertvollen Schmuck; ich habe davon eine Menge unter dem Bett, das weißt du doch. Bitte! Meine schönen Kleider kannst du den Mädchen geben, nur bitte lass mich bleiben.“
„Deinen Schmuck bekomme ich sowieso.“ Der Mann fasste sie unnötig grob am Oberarm und zerrte sie hoch. Das Tanzmädchen schrie vor Schmerz auf, war aber zu schwach und aufgrund ihrer Sehbehinderung zu hilflos um sich zu wehren. Er schleifte sie mit sich, wie eine Puppe und abermals begann sie zu flehen: „Dann lass mich wenigstens meine Sachen mitnehmen. Mein Schmuck! Er gehört mir! Wovon soll ich denn jetzt leben? Kimral, bitte! Du kannst doch nicht so grausam sein!“
Doch da irrte sie sich, er konnte. Er lachte lautstark. „Mach dir um deine Zukunft keine Sorgen, um die kümmert sich der Priester!“ Ohne große Mühe zerrte er sie weiter, die Stufen hinab, durch den Hintereingang des Freudenhauses auf die dunkle, menschenleere Straße. Als er sie weiterschleifte ging ihr Flehen in Wimmern über und, obwohl sie die Stadt gut kannte, verlor sie schließlich die Orientierung. Sie schrie nicht um Hilfe, denn sie wusste, dass zu dieser Tageszeit nur Halsabschneider auf den Straßen der Stadt zu finden waren und keiner sie retten würde. Schließlich blieben sie stehen. Yasiwi horchte in die Nacht hinaus, hörte aber eine Weile nur den Atem des Mannes.
„Was willst du? Mit ihr?“
Yasiwi kannte die Stimme, sie gehörte einem der Wächter der Stadtmauer, Alanrig, der ein häufiger Kunde von ihr war. Er war immer nett zu ihr gewesen, nie zu grob. „Alanrig, oh Alanrig!“, rief sie hoffnungsvoll, „bitte hilf mir!“
„Sieh dir ihre Augen an.“ Das war Kimrals Stimme. „Der Mitrapriester sagt sie wird blind. Es ist ein Fluch, der jeden treffen kann, der sie berührt! Sieh nur was ich für ein Risiko eingehen muss! Der Priester sagt, sie muss die Stadt verlassen.“
Yasiwi hoffte, dass sich der Wächter für sie einsetzen würde, dass er wenigstens ein nettes Wort für sie übrig hätte. Stattdessen öffnete er nur das kleine Tor. Kimral stieß sie so heftig von sich, dass sie viele Ellen weit geschleudert wurde und schließlich außerhalb der Stadt in den Staub fiel. Geschockt vor Enttäuschung und voller Verzweiflung hörte sie noch, wie sich das Tor hinter ihr schloss.
Zur gleichen Zeit befand sich der hagere Priester bereits in den Katakomben unterhalb des Mitratempels. Er kannte diese dunklen Gänge wie kaum jemand; nur einige Ratten, Schaben und Asseln mochten es ihm darin gleich tun. Doch all diese Kreaturen und viele andere, namenlose, die den hellen Tag nie gesehen hatten, flohen jetzt vor dem Licht in seiner Hand. Unheimlich hallten seine Schritte, als er sich einem größeren Gewölbe näherte. Der Zugang wurde durch ein ehernes Gitter versperrt. In dem Raum bewegte sich etwas, größer als ein Mensch, von abartigem und grauenvollem Äußeren, als wäre es direkt einem Albtraum entsprungen. Als der Priester sich näherte zischte es und wich von dem Gitter zurück. „Nun, Gorm, was hältst du von ein wenig Freiheit?“
„Freiheit?“, zischte das Wesen, „als ob ich je frei sein könnte von dir! Nicht solange du besitzt, was eigentlich mir gehört! Mir und meiner Rasse! Öffne diese Türe und doch werde ich nicht frei sein bis zu dem Tag an dem du stirbst und vielleicht nicht einmal dann.“ Resignation lag in der Stimme der Kreatur.
„Gut dass du das einsiehst, du Ahriman, du Dämon aus der Finsternis! Sehr gut, vergiss es nie! Vergiss nie, dass ich dich in der Hand habe!“
„Vielleicht bringe ich dich eines Tages trotzdem um! Kannst du dir sicher sein, dass ich es nicht tue? Glaubst du diese lächerlichen Gitterstäbe könnten mich daran hindern?“
„Das wagst du nicht! Du willst jemanden umbringen? Bitte schön! Tu dir keinen Zwang an. Vor dem kleinen Stadttor wirst du eine wehrlose Beute finden, die dir als Nahrung dienen kann! Friss sie und dann komm zurück. Denn wenn nicht... nun, du weißt was dann passiert!“ Mit diesen Worten sperrte er das Tor auf und als die Kreatur näher kam wandte er sich voller Ekel ab, aber auch voller Triumph; er wusste, dass das Wesen litt und genoss es Macht über es zu haben. In seinen Augen war es nicht mehr als eine Waffe, die man pflegen und beherrschen musste.
***
Tjonre blickte unglücklich auf die ruhige, stahlblaue Oberfläche des Meeres und auf das Wrack des Sonnenwagens, das zu zwei Dritteln unter Wasser lag. „Das war kein Unfall. Bestimmt nicht. Da wollte uns jemand aus dem Weg haben. ‚Beseitigen’ ist wohl die bessere Formulierung. Und ich ahne auch wer.“ Er macht eine kurze Pause und setzte dann seinen Monolog mit bitterem Unterton fort: „Ares, dieser Widerling, dieser bluttriefende Würger, wollen wir wetten? Er hat ein Auge auf Elri geworfen. Alle beide sogar. Offenbar ist er der Meinung, dass sie seinen Annäherungsversuchen eher nachgeben wird, wenn ich weg bin!“
„Warum auch nicht“, ließ sich Raft vernehmen, „er ist ein Gott, sie eine Göttin, ein schönes Paar.“ Tjonre schnaubte wütend. Raft, der neben ihm stand und auf den auf den Kieseln Sitzenden hinunterblickte, ließ sich dadurch nicht beeindrucken. „Warum eigentlich nur Ares? Er kann das doch nicht allein ausgeheckt haben. Hell ist er nicht gerade. Was ist mit Helios, Sohn des Hyperion, dem gehört doch der Sonnenwagen, der uns beinahe in den Tod geflogen hätte. Was mit dem klugen Hephaistos? Glaubst du wirklich, der hatte keine Ahnung? Ich wette, die ganze liebe Familie war dabei beim Ränkeschmieden! Alle! Auch die Mädchen, Zeus blauäugige Tochter Athene, die goldene Aphrodite, seine lilienarmige Frau Hera - und natürlich Zeus Kronion selbst. Den wollen wir nicht vergessen.“ Sie schwiegen eine Weile.
„Was du da sagst ist schrecklich.“ Tjonre saß noch der Schock vom Beinaheabsturz in den Knochen, sonst hätte er nicht so lange gebraucht, um zu erkennen, was das bedeutete. „Das heißt doch, auch Elri ist in Gefahr!“
„Du meinst ‚Anteia’.“
„Du musst Anteia zu ihr sagen, ich darf weiterhin ihren Kosenamen verwenden. Ich bin schließlich ihr Freund. Sie hat ihnen sogar erzählt, ich sei ihr Gemahl.“
„Was dein Todesurteil war.“ Tjonre antwortete nichts, er machte sich Sorgen; und Raft, dem normalerweise der Innenzustand anderer verborgen blieb, oder vielmehr: gleichgültig war, sah es.
„Beunruhige dich nicht, sie tun ihr nichts. Wenn sie das gewollt hätten, hätten sie uns gleich zu Beginn einfach eliminiert. Ich wette sie erzählen ihr, dass es einen Unfall gegeben hat. Höchst bedauerlich natürlich, aber es ist halt passiert, da ist leider nichts mehr zu ändern. Sie haben diesen Weg gewählt uns loszuwerden, aus Rücksicht zu ihr. Sie wollen sie in den Olymp aufnehmen. Ares wird ihr jetzt eine Schulter bieten, an der sie sich ausweinen kann.“
„Das kann er gleich vergessen. Er ist nicht ihr Typ.“
„Woher willst du das wissen?“
„Weil kein Mädchen so beschaffen sein kann, dass sowohl Ares als auch ich ihr Typ sind, ganz einfach. Siehst du irgendeine Ähnlichkeit?“
Raft erinnerte sich an die muskelstrotzende Gestalt des Hünen und verglich sie mit der hageren nur mittelgroßen Tjonres. „Nein, bestimmt nicht“. Er sagte sogar die Wahrheit, denn er konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass eine Frau, die die Wahl zwischen Ares und Tjonre hatte, sich für Tjonre entschied. Das dachte er aber nur. Laut sagte er: „Eigentlich müsstest du glücklich sein ... irgendwie.“
Tjonre schnaubte. „Glücklich! Wieso?“
„Na, immerhin sitzt du an einem Meeresstrand! Heimatgefühle! Na, ist da nichts?“
„Ich mache mir Sorgen, da bin ich nicht glücklich! Außerdem; es stimmt nicht.“
„Was stimmt nicht?“
„Na, es singt nicht. Es müsste singen! Aber das tut es nicht. Kein bisschen. Ohne Sirenen kein Heimatgefühl.“ Tjonre nahm einen platten Stein, bewegte den Arm so rasch nach hinten und wieder nach vorn, dass Raft der Bewegung nicht folgen konnte und schon tanzte der Stein über das Wasser. Immer wieder fiel er auf die Oberfläche und schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Raft blickte ihm nach, bis er endlich versank.
„Erstaunlich.“
„Was ist erstaunlich?“
„Das, was du gerade mit dem Stein gemacht hast.“
„Ach das. Ich war immer der Beste darin, zu Hause auf Wägan.“
„Kannst du nur weit werfen oder triffst du auch?“
„Auch darin war ich der Beste. Ich glaube, das war das Einzige. Sonst war ich nirgends besser als die anderen.“
„Dann nimm ein paar dieser Steine mit, als Waffen. Wir werden welche brauchen, fürchte ich.“
Tjonre sucht sich ein paar flache, handliche Steine aus und verstaute sie in seiner Hose.
„Wo sind wir eigentlich?“, wollte Raft wissen. Tjonre zog die wasserdichte Karte Historias unter seinem Hemd hervor. Er trug sie immer bei sich, seit Talira sie auf seine Anweisung hin kopiert hatte. Die Daten verdankten sie dem Medaillon. Er breitete sie aus. „Wir sind von ‚Homers Zeitalter’ – ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, dass sie hier die Kontinente als ‚Zeitalter’ bezeichnen – nach Westen geflogen und waren eine Zeitlang über einem Kontinent – also offenbar dem ‚Hyborischen Zeitalter’, hier, siehst du – dann wieder über einem Meer, aha, einem Binnenmeer, es heißt das Wilahet Meer; hier begann unser Absturz und wir konnten uns gerade noch an die Westküste dieses Meeres retten, dank dir. Nördlich von uns mündet ein großer Fluss, das hab’ ich von oben gesehen, also müssten wir etwa hier sein.“ Er zeigte auf die Stelle. „Gut, wir wissen jetzt, wo wir sind. Was nützt uns das?“
„Ziemlich viel. Wir müssen jetzt nur noch wissen, wo wir hinmüssen, dann wissen wir auch, wie wir hinkommen, wenn wir wissen wo wir sind. Verstehst du?“
„Noch nicht ganz. Wo müssen wir denn hin?“
„Irgendwohin, wo wir die Möglichkeit haben mit Talira in Kontakt zu treten. Zu einem Radiosender, einem Laser, egal was, solange es kein Enigma – Kommunikator ist“, erklärte Raft.
Tjonre blickte auf die Karte. „Also so was wie den Olymp hatten die im ‚Hyborischen Zeitalter’ offenbar nicht, aber ein paar Sender sind schon verzeichnet. Der nächste steht flussaufwärts in den Bergen östlich des Meeres, siehst du? Ich schätze, einige Wochen werden wir schon unterwegs sein.“
„Ihr Götter!“, fluchte Raft, „du weißt doch, wie ungern ich zu Fuß unterwegs bin!“
„Bitte hör auf, bei den Göttern zu fluchen. Das ist eine Unart. Das hast du dir erst hier auf Historia angewöhnt.“
„Wo gibt es sonst auch noch Götter?“ Raft dachte eine Weile nach, aber nicht darüber, wo es sonst noch Götter geben könnte, dann fuhr er fort: „Wir brauchen jedenfalls Waffen. Das ist sicher kein friedlicher Kontinent. So etwas gibt es auf Historia nicht.“ Tjonre stimmte ihm insgeheim zu. Raft fuhr fort: „Etwas oberhalb und hinter den Sitzen waren, glaube ich, Arzneimittel im Sonnenwagen untergebracht, wenn ich die Beschriftung richtig interpretiert habe und dahinter eine Überlebensausrüstung. Das Zeug brauchen wir jetzt.“
„Du meinst, ich soll da noch mal rein?“
„Warum nicht? Deine Kleidung ist ohnehin noch nass. Also ...“. Das stimmte, Hemd und Hose trieften geradezu. Tjonre war jedoch in Trübsalstimmung und Raft wusste aus Erfahrung, dass er kaum dazu gebracht werden konnte, aktiv zu werden, wenn er einmal seinen Kopf in den mentalen Schildkrötenpanzer eingezogen hatte.
„Wenn du willst, dass ich dir ein wenig Starthilfe gebe ...“ Raft machte eine Bewegung um die eigene Achse wie beim Hammerwerfen und Tjonre verstand. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, denn Raft und Wasser – das passte nicht zusammen. Auf Rafts Heimatplaneten Romjen gab es keine Meere. Mit finsterem Gesichtsausdruck erhob er sich, nachdem er nur die Schuhe abgestreift hatte, die Steine in der Hosentasche beließ und er stapfte auf die sanften Wellen zu. Der Sonnenwagen war nicht weit entfernt, etwas mehr als sechzig Fuß vielleicht, eine der drei Düsen ragte an einer kurzen Tragfläche aus dem stillen, klaren Wasser empor, der Eingang der Personenkabine, der hinter den Düsen gerade unter der glatten Meeresoberfläche lag, war ebenfalls leicht zu finden, da die Tür noch aufgeklappt war. Die beiden hatten erst vor kurzem durch diesen Ausgang den Sonnenwagen sehr hastig verlassen, da sie keine Ahnung gehabt hatten, wie tief er sinken würde. Im Nachhinein wussten sie, dass sie sich mehr Zeit hätten lassen können.
Der Sonnenwagen war nicht groß. Zwei, höchstens drei Personen hatten darin Platz. Die Personenkabine war eiförmig, vorne verglast, mit zwei seitlichen Eingängen mit nach oben klappbaren Türen. Die drei Düsen befanden sich am Ende von drei aerodynamischen Ausläufern die im Winkel von hundertzwanzig Grad zueinander standen und waren vor der Kabine platziert. Wahrscheinlich sollten sie die drei feurigen Rösser des Sonnenwagens symbolisieren. Die Kabine konnte um 90° gekippt werden, sodass der Wagen senkrecht landen und starten konnte, was er normalerweise auch tat. Diese Landung verlief aber nicht so, wie erwünscht. Denn Tjonre und Raft hätten sich eine glatte Landung gewünscht und diejenigen, die den Autopiloten programmiert oder das Fluggerät ferngesteuert hatten, hatten wohl eine Primfaktorenzerlegung vorgehabt; herausgekommen war ein Mittelding und auch das nur, weil Raft mit roher Gewalt mitten im Flug die Konsole zertrümmert hatte – mit der enormen Kraft seiner Fäuste – und damit manuelle Steuerung wieder möglich war. Tjonre hatte dann aus einem „Versenkflug“ einen eher normalen Sinkflug gemacht und war schließlich, da er nicht wusste wie das mit der Senkrechtlandung durchzuführen war, einen küstenparallelen Kurs geflogen, um dann einigermaßen sicher auf der Wasseroberfläche zu landen. Da der Wagen für derartige Manöver nicht gedacht war, war er anschließend in den Fluten versunken, allerdings nicht allzu weit. Tjonre war immer noch überaus froh, dass Raft so rasch und gewalttätig reagiert hatte, als plötzlich die manuelle Steuerung nicht mehr ansprach und gleichzeitig jeder Sendekontakt zum Olymp ausfiel. Er selbst hätte wahrscheinlich zu lange gezögert und Skrupel gehabt, etwas zu zerstören, das ihm nicht gehörte. Außerdem hätte ihm wohl auch einfach die Kraft gefehlt.
Er schritt bis zur Hüfte ins angenehm temperierte Nass, spannte die Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen, sprang und stürzte sich kopfüber in die sanften Wellen. Rasch schwamm er auf die abgerundete Kabinentür zu, die immer noch offen war. Die Kabine hatte sich mit Wasser gefüllt und Tjonre musste daher hinein tauchen. Im Inneren orientierte er sich kurz, klappte die erste Lade auf, griff in das weit gähnende Maul hinein und wurde fündig. Er schnappte sich die Arzneien sowie Notrationen und verfuhr mit der zweiten, wesentlich größeren Lade ebenso. Was er herausholte, war ziemlich sperrig und auch schwer aber schließlich befreite er das Paket, tauchte auf, hob seine Beute über den Rand, kletterte auch selbst elegant aus der Öffnung und schwamm/tauchte zurück zum Strand. Raft ging ihm entgegen und nahm ihm das größere Bündel ab, weniger weil er sah, dass der Transport Tjonre Mühe bereitete, sondern aus Interesse am Inhalt. Die beiden wateten aus dem klaren Wasser und Raft machte sich ans Auspacken. Dabei kommentierte er lautstark seine Entdeckungen: „Sieh da, zwei Schwerter aus Bronze. Gar nicht schlecht. Zwei protzige Schilde, geformt wie eine übergroße Acht. Sollen wir die in der Gegend rumschleppen? Lanzen mit Stiel aus Eschenholz und bronzener Spitze, elf Ellen lang. Bronzene Rüstungsteile. Die Götter spinnen ja! Was sollen wir mit dem Plunder! Ein Plasmaimpulsgewehr mit Dauerfeuerfunktion wäre etwas Brauchbares gewesen, aber das ist natürlich nicht dabei. Was ist das? Schutzwesten.“ Er probierte eine davon an. „Viel zu eng und unbequem!“
Tjonre griff ebenfalls nach einer und legte sie an. Sie passte perfekt und schützte nicht nur den Körper, sondern auch die Oberschenkel und Oberarme. Außerdem war sie leicht und elastisch. Dazu nahm er noch den Waffengurt mit Scheide für ein Schwert und einen Dolch, dazu die beiden Waffen. Raft begnügte sich mit Waffengurt, einem geraden, zweischneidigen Schwert und einem Dolch mit etwa ellenlanger Klinge, die Schutzweste war nicht für ihn geschaffen. Die beiden Eberzahnhelme und andere schwere Rüstungselemente ließen sie liegen. „Die Schutzwesten irritieren mich“, meinte Tjonre, „das ist eine moderne Verteidigungsausrüstung, die auch gegen Plasmaimpulswaffen verwendbar ist. Aber sonst findet sich nur dieses archaische Zeug? Sie müssen die modernen Waffen, die zweifellos normalerweise zur Ausrüstung eines Sonnenwagens gehören, entfernt haben. Natürlich auch die Kommunikationsgeräte. Für alle Fälle, falls wir doch überleben. Das bedeutet aber, dass sie davon ausgehen, dass wir auf diesem Kontinent ohne moderne Waffen nicht überleben werden. Was erwartet uns hier?“
„Jede Menge Spaß!“, antwortete Raft grinsend und wieder einmal wunderte sich Tjonre darüber, was seinem Begleiter Vergnügen bereitete. Es selbst fluchte innerlich darüber, dass die Erstbesiedler von Historia kein Interesse daran gehabt hatten, irgendeine friedliche Epoche auf dem Planeten Erde nachzubilden. Oder hatte es eine solche nicht gegeben? Er schulterte Notration und Arzneimittel.
„Egal. Gehen wir los. Es ist ein langer Weg.“
***
Vom Penthouse des höchsten Gebäudes von Newi hatte man eine atemberaubende Sicht auf den einzigen Raumhafen Ivarns. Der Mann, der diese durch die transparente Nordwand seines Arbeitszimmers – das mehr den Charakter eines Salons hatte – genoss, war der eigentliche Herrscher des Planeten. Aber seine Macht erstreckte sich weit darüber hinaus in die Magellansche Wolke und weiter in die Föderation, als dieser bewusst und lieb war. Das dunkle, wellige Haar, die schwarzen Augen mit dem stechenden Blick und der pechfarbene Spitzbart erinnerten an einen spanischen Granden der Ur- und Erdzeit der Menschheit. Ephram OrPhon besaß die absolute Macht über den Planeten, denn er war ein Psychopath, der jede Opposition im Keim erstickte. Oder fast jede. Denn gerade betrat eine blonde Frau mit beeindruckend großen, tiefblauen Augen, mit langen Wimpern, über die sich zarte, sehr dunkle Brauen wie lange Vogelschwingen legten, den Raum. Ihr voller, sinnlicher Mund erweckte in den meisten Männern den Wusch, ihn zu küssen. Viele hatten das getan, viel weniger es überlebt. Denn trotz der körperlichen Unähnlichkeit hatte sie etwas mit dem Mann gemein: sie war eine Psychopathin. Sie allein konnte es wagen, sich Ephram zu widersetzen, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen.
„Reja, Liebste Cousine! Wie schön, dass du dich meiner erinnerst. Wolltest du mir nicht schon vor geraumer Zeit von der erfolgreichen Beendigung deiner Mission berichten?“ Der Mann hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme. Reja trat näher und setzte sich zu Ephram auf das helle Sofa. Alles in dem Raum war hell, um einen Kontrast zu seinem Besitzer zu bilden. Reja, die das wusste, hatte sich trotzdem für einen kardinalroten Overall entschieden, schlüpfte aus ihren dazu passenden Stöckelschuhen und legte die Beine so auf das Sofa, dass die Zehenspitzen den Oberschenkel des uneingeschränkten Herrschers berührten.
„Das wollte ich, in der Tat. Leider gab es Verzögerungen. Und Verluste, Mensch und Material.“
„Du sprichst von den beiden Raptor – Raketen und ...“
„Und von zwei Mördern, meinen besten noch dazu.“
„Wie ist das möglich? Sagtest du nicht, der andere Commander, den du exekutiert hast, meinte, es handle sich um einen unfähigen Trottel?“
„Ja, Franak erwähnte so etwas.“
„Und nachdem du herausgefunden hast, dass dieser Franak selbst ein Trottel ist, müsste es sich bei dem anderen ...“
„Tjonre…“
„... bei diesem Tjonre doch um einen Obervolltrottel handeln, nicht?“
„Nun, die Einschätzung Franaks war wohl nicht ganz korrekt“, gab sie leise zu, wobei sie scheinbar interessiert die gegenüberliegende Wand musterte.
Ephram schwieg eine Weile. Dann blickte er sie abschätzend an. „Es scheint, du machst Fehler. Das ist ein neuer Zug an dir.“ Rejas Augen blitzten gefährlich, was Ephram nicht beeindruckte. „Du bist wie eine Katze, die mit ihrem Opfer spielen muss. Deine Spielchen sind gefährlich. Sie könnten uns teuer zu stehen kommen.“
„Meine ‚Spielchen’ – wie du das nennst – sind noch nicht aus! Meine Mäuse leben noch. Das ist ärgerlich.“
„Nach dem Material, das du mir zukommen hast lassen, kannst du daran auch kaum etwas ändern. Die Agenten der Föderation sind ins Enigma geflohen.“
„Das stimmt, aber nach allem was Raft mir gesagt hat, war das Ziel dieses Transfers nicht die Föderation.“
„Sondern?“
„Das weiß ich nicht, aber du, mein kluger Cousin, vielleicht.“
„Die beiden wissen nichts, was von Bedeutung ist. Lass sie doch einfach.“
„Das geht nicht. Ich kann nicht verlieren. Wenn ich mir etwas in den Kopf setze, dann muss es geschehen. Und ich will den Tod der beiden. Sieh es doch von der positiven Seite ...“
Er lächelte süffisant. „Es gibt eine für mich positive Seite?“
„Doch, ja. Natürlich gibt es die! Solange ich mit meinen Spielchen gegen die Föderation beschäftigt bin, habe ich keine Zeit, gegen dich zu intrigieren. Das ist doch etwas, oder?“
Er nickte bedächtig. „Zugegeben, deine Nähe zu diesem Vollidioten, diesen ‚Rammbock’ hat etwas Bedenkliches. Deine Aktivitäten in der Silonischen Ebene gefallen mir gar nicht. Tevarn ist deswegen voller Unmut...“
„Siehst du? Also hilf mir, mich anderweitig zu beschäftigen, dann wende ich mich nicht aus Langeweile gegen dich!“
Ephram seufzte. „Was willst du also?“
„Du musst einen Planeten für mich ausfindig machen.“
„Einen Planeten? Das sollte kein Problem sein. Dazu brauchst du doch mich nicht. Sag mir wie er heißt und ich gebe dir die Enigma-Koordinaten.“
„Es ist doch ein Problem, ich weiß nämlich nicht, wie er heißt.“ Sie senkte den Kopf etwas. „Raft sagte, dass dieser Planet eines der bestgehüteten Geheimnisse der Galaxis ist.“
„Geheimnisse sind zwar meine Spezialität, aber ein bisschen mehr Information bräuchte ich schon.“ Er lächelte.
„Alles, was ich sonst noch über ihn weiß, ist, dass er der Heimatplaneten von Menschen ist, wie ich sie davor noch nicht gesehen habe.“ Ephram blickte jetzt interessiert, sie war sich seiner Aufmerksamkeit sicher. „Als du mich in die Sklavengruppe eingeschleust hast, war da eine Sklavin, mit der ich viel Spaß hatte. Sie war das perfekte Opfer, ohne jede Gegenwehr. Aber sie hatte eine merkwürdige Eigenschaft. Ihre Haare – die an sich sehr dunkel waren – reflektierten Licht so, dass sie in allen Regenbogenfarben schillerten. Den Lichtreflexen zuzusehen, war richtiggehend verwirrend. Sonst war sie mager und bleich. Der Planet den ich suche ist ihr Heimatplanet. Kennst du einen Planeten, auf dem Menschen dieses Typs leben?“
Ephram grinste. „Diese Sklavin ist mir durchaus aufgefallen. Von der Föderation ist sie jedenfalls nicht, da gibt es keine solchen Menschen. Und dass sie auch nicht von einer der ‚Freien Welten’ stammt, weißt du ja selber.“
Reja blickte sehr enttäuscht. Sie war nicht gewöhnt zu scheitern. „Nicht einmal auf dich ist mehr Verlass!“
Ephrams Mimik verriet Triumph. Er hatte ein schmales, hartes Lächeln aufgesetzt. „Wer sagt das?“
Jetzt begriff sie. „Du Gauner! Na ja, das bist du ja wirklich. Gauner, Verbrecher, Zuhälter, Mörder, was immer. Was weißt du und woher?“
Ephram streckte sich selbstbewusst auf der Couch. „Du schmeichelst mir nicht einmal. Ist alles die Wahrheit. Wenn du einen Planeten verschwinden lassen wolltest, richtig verschwinden, so dass er einfach weg ist. Dass niemand mehr weiß, wie man hinkommt. Niemand in der gesamten Föderation. Dass alle Aufzeichnungen über das Wo aus allen Archiven aller Planeten gelöscht sind. Auch aus denen der ‚Freien Welten’. An wen würdest du dich dann wenden?“
„Lass mich raten: An den Herrn des organisierten Verbrechens und der Korruption; an Ephram OrPhon. Das hast du getan? Du hast einen Planeten verschwinden lassen? Welchen? Wo liegt er?“
„Nicht so schnell, mein Schatz. Für nichts gibt’s nichts.“
Das war Reja klar gewesen. Er würde sich sein Wissen teuer bezahlen lassen. Trotzdem war sie wütend, zeigte es aber nicht, weil sie wusste, dass ihr das gegenüber ihrem Cousin nur Nachteile bringen konnte. „Also gut, was willst du?“
Ephram sah so zufrieden aus wie eine Zecke, die sich gerade in die zarte Haut eines jungen Hundes gebohrt hatte. „Diesen Unsinn, den du in der Silonischen Ebene aufführst und die Schiffe deines Geliebten, die da in meinem Hinterhof parken. Das gefällt mir nicht. Das könnte ein böses Ende nehmen.“
„Rammbock? Er ist nicht mein Geliebter. Mich interessiert bloß sein Körper, sonst nichts. Du weißt doch, dass ich bloß dich liebe.“ Sie strahlte breit.
„Na klar!“, meinte er, „Also, was ist? Haben wir einen Deal?“
Reja zierte sich, des Effekts wegen. „Solange ich weg bin, kann ich sowieso nicht gegen dich intrigieren. Und Rammi ja auch nicht – er wird mich begleiten. Ich bin einverstanden. Also los – her mit den Informationen!“
„Langsam! Niemand wird dich begleiten! Diese Information gibt es entweder exklusiv für dich oder gar nicht.“
„Allein, ohne männlichen Schutz willst du mich in die Fremde schicken?“ Sie zog einen Schmollmund.
„Seit wann brauchst du Schutz? Und außerdem: ich schicke dich nirgends hin. Schon vergessen? Und ich werde sicher nicht zulassen, dass irgendein dahergeflogener Pirat diesen Planeten überfällt. Wenn es soweit ist, mache ich das persönlich. Deshalb stelle ich für diese Tour ein eigenes Raumschiff zur Verfügung – ein ganz kleines, aber feines. Für eine Person. Du wirst als meine Kontaktperson auftreten. Ich habe nämlich nicht vor mir einen guten Kunden zu vergraulen. Er hat sehr gut dafür bezahlt, dass keiner außer mir den Weg nach Historia kennt und daher muss er wissen, dass du von mir und im offiziellen Auftrag kommst.“
„Historia, ist das der Name des Planeten? Und wer ist er? Und woher weißt du, dass das der richtige Planet ist?“
„Ja, Historia, so heißt diese Welt. ‚Er’ nennt sich Zeus Kronion, der Donnerer, und jetzt rate einmal, was seine Haare machen!“
Reja öffnete Mund und Augen zu drei erstaunten, großen O. Dann strahlte sie über das ganze Gesicht. „Sie schillern in allen Regenbogenfarben!“ Ephram schüttelte den Kopf. „Das nun wieder nicht, aber sie schillern in einem gleißenden Gelbton, fast schon weiß. Der Effekt ist erstaunlich.“ Reja versank in nachdenkliches Schweigen aber nicht allzu lange. Ephram verschwieg Reja, dass er es war, der vor Jahren Elri gekauft und wieder verkauft hatte und dass er daher noch einiges mehr wusste, was er ihr nicht erzählen wollte. „Der Effekt ist trotzdem sehr ähnlich. Du kannst sicher sein, es ist der richtige Planet.“
„Gut. Wann kann ich losfliegen?“
„In einer Woche.“
Das war ihr zu spät. „Warum nicht gleich?“, knurrte sie.
„Weil ich keine Überraschungsbesuche mache. Wir halten Kontakt und das ist nun einmal der verabredete Termin. Sie lieben Besuche nicht besonders oder was glaubst du, warum sie dafür sorgen, dass keiner mehr den Weg zu ihnen kennt? Du wirst als mein Kurier fliegen und ich werde dir genau sagen, was du ihnen erzählen sollst. In Ordnung?“
Sie willigte ein.
***
Als der Morgen im Safrangewande den Wogen des Okeanos entstieg, erwachte Elri aus wohligem Schlummer. „Anteia, dachte sie bei sich, ich bin Anteia.“ Sie lächelte und bewegte ihren zarten Arm anmutig wie eine Vogelschwinge nach vor, in der Erwartung dort Tjonres Schulter zu berühren. Doch sie erfühlte nur das Laken; das Bett war kühl und leer. Erschrocken riss sie die Augen auf. Sie hatte sich so daran gewöhnt neben Tjonre aufzuwachen, dass sie ihr Alleinsein als etwas Unnatürliches, ja Beängstigendes empfand. Sie strich den Vorhang ihrer seidigen Haare zur Seite und blickte sich um. Das Bett und das große Schlafzimmer leuchteten weiß, erhellt von den ersten Strahlen, mit denen die aufgehenden Sonne durch die weiten, offenen Fenster den Raum ertastete. Elri versuchte sich zu erinnern, wie sie hierhergekommen war, was ihr aber sehr schwer fiel. Nur langsam wurde ihr die Merkwürdigkeit dieser Tatsache bewusst. Aber dann, abrupt, kam die Erinnerung doch.
Als sie aus dem Enigma gefallen waren, leuchtete vor ihnen ein wunderschöner, blauer Planet mit einem einzigen, großen Mond, auf den das Mutterschiff zuhielt, um schließlich sein Satellit zu werden. Von hier konnten sie Historia genau beobachten. Der Planet war größer, aber weniger dicht als Terra und hatte mehrere kleine Kontinente. Anhand von PaDorkis Karte konnten sie deren Namen feststellen. Alle waren nach verschiedenen Epochen der irdischen Geschichte benannt.
„Ob es hier Zivilisation gibt? Ich meine so hoch entwickelt, dass sie uns sagen können, wie wir nach Hause kommen?“, wollte Tjonre wissen.
„Der Planet ist arm an komplexerer Technik, aber auf jedem Kontinent gibt es kleine Zentren, in denen offenbar moderne Kommunikationsmittel Verwendung finden. Und die reden auch eifrig miteinander, ganz unkryptisch übrigens. Ob Gespräche übers Enigma stattfinden, kann ich allerdings nicht sagen“, meinte Talira.
„Trotzdem. Das ist gut, vielleicht nützt es uns, dass wir ihre Gespräche verstehen. Gibt es so etwas wie ein globales Zentrum?“
„Das gibt es. Es liegt in einem großen Vulkankrater auf einem runden Kontinent mit Binnenmeer und vielen Inseln. Er heißt Homerisches oder auch Achaisches Zeitalter und der Krater selbst wird Olymp genannt“, erläuterte sie.
„Können wir mit dem Olymp reden? So eingeschränkt wie unsere Kommunikationsmöglichkeiten derzeit sind?“, wollte Raft wissen.
„Ich werde mich bemühen!“, antwortete Talira eifrig.
Zunächst aber tat sich in dem großen Kommandoraum nicht viel, dachte Elri. Lichter blinkten an den Wänden, aber das war hier eigentlich immer der Fall. Dann aber veränderte sich das zentrale Rund des Raumes langsam und wurde zum Abbild einer grünen Parklandschaft, in der alte, wie verkrüppelt wirkende Bäume wuchsen – ein wunderschöner Olivenhain wurde sichtbar. Im Hintergrund stand eine Art Tempel oder Palast, ein wahrhaft zyklopisches Gebäude. Im Vordergrund materialisierte sich ein Mann, der alles andere als vertrauenerweckend wirkte. Sein Gesicht verunzierte eine hässliche Narbe, die es fast in zwei Hälften schnitt, er schien krumm und mit unterschiedlich langen Beinen ausgestattet. Die dunklen Augen lagen tief unter buschigen Brauen, die langen Haare kräuselten sich und hingen ihm weit in die niedrige Stirn; eine verunstaltete Nase und breite Lippen komplettierten die ungewöhnlichen Züge. Was aber am Auffälligsten war, waren die irisierenden, fast weißen Lichtblitze, die sich in seinem Haar verfingen. Elri staunte. Irgendwie kannte sie den Mann. Er war ein Verwandter ihrer Mutter und sie hatte ihn „Onkel“ genannt, als sie noch klein war. Der Mann blickte Tjonre finster an, der Mund öffnete sich langsam und eine Frage entwich ihm: „Wer belästigt uns?“ Dann aber erblickte er Elri und sofort wurde der Ausdruck seines Gesichts weicher, ja fast freundlich bis er schließlich sogar lächelte. „Anteia!“, rief er, „welch ein Glück, du lebst! Tochter meiner Schwester Iphis, wie lange hab‘ ich dich nicht mehr gesehen. Wie schön du bist. Sei willkommen!“
Elri war ganz verdattert, denn trotz ihrer Erinnerungen war er für sie ein Fremder. Sie suchte nach höflichen Floskeln. Sie war die Tochter seiner Schwester, also ... „Onkel, habt vielen Dank für Eure Begrüßungsworte. Verzeiht, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, wie Ihr heißt, aber erst durch Euch habe ich den Namen meiner Mutter erfahren. Iphis.“ Sie lächelte.
„Sie wurde selten so genannt“, antwortete er, „nur von mir. Für die meisten anderen hier im Olymp war sie Eos, die Göttin der Morgenröte.“ Eine Göttin, ihre Mutter war eine Göttin! Natürlich nur auf diesem merkwürdigen Planeten, aber immerhin.
„Und Ihr seid?“, fragte Tjonre, sich Elris Sprachstil anpassend.
„Man nennt mich Hephaistos, den Schmied der Götter“, erklärte er ohne den Blick von Elri zu wenden, „aber eigentlich bin ich für das ganze technische Zeug hier zuständig. Die anderen Götter sind zu dekadent, um sich darum zu kümmern, wo ihre Macht herkommt. Sie nehmen alles als selbstverständlich hin. Fast alle jedenfalls. Mit Ausnahme von Paieon ... und Athene vielleicht.“
„Wer ist das?“, wollte Tjonre wissen.
Diesmal blickte Hephaistos ihn an. „Das ist der Arzt der Götter. Auch Götter können nämlich krank werden oder sich verletzen. Die andere ist Zeus blauäugige, schöngelockte Tochter. Ziemlich klug und hier als Designerin tätig, vor allem für seine Frau. Bevor du fragst: Zeus ist der Chef. Und wer bist du?“ Hephaistos war offensichtlich nicht zu Höflichkeit aufgelegt oder fand, dass sie nur den Göttern zustand.
„Das ist mein Gemahl, Tjonre SoErgen vom Planeten Wägan“, verkündete Elri nicht ohne Stolz. Tjonre freute sich darüber und nach seiner eigenen Definition waren sie ja wirklich verheiratet, wenn auch ohne jedes Dokument. Er ging aber nicht näher darauf ein und fragte stattdessen:
„Und alt? Wenn sie krank werden können, können Götter auch altern?“
Hephaistos blickte ihn jetzt etwas respektvoller an. „Natürlich können sie. Wir leben nicht länger als andere Menschen, aber man sieht es uns nicht an, wir altern scheinbar nicht. Anteia wird in fünfzig Jahren, wenn du ein elender Greis mit schütteren grauen Haaren geworden bist, immer noch genauso taufrisch aussehen, wie heute.“
Das war etwas, das Tjonre erst verdauen musste, aber es war durchaus eine gute Nachricht! „Mir ist aufgefallen“, wollte er weiters wissen, „dass Ihr ganz ähnliche Schillereffekte mit Euren Haaren erzeugt, wie Elri – ich meine Anteia. Ist das ein Familienmerkmal?“
„Es ist ein Merkmal der Götter und soll wohl so eine Art Heiligenschein symbolisieren. Genauso wie die scheinbare Alterslosigkeit ist es ein Produkt der Genmanipulation, der sich unsere Vorfahren vor vielen tausend Jahren unterzogen, um den Eindruck zu erwecken etwas Besonderes zu sein. Aber unsere Haare schillern nur einfärbig – so gesehen ist Anteia ein Unikat, etwas völlig Neues. Du bist sehr neugierig, Tjonre SoErgen.“ Hephaistos Miene war undefinierbar als er das sagte.
„Sollte das unhöflich gewesen sein, bitte ich um Verzeihung. Wir kommen von weit her und haben sicherlich ganz andere Manieren als Ihr.“
„So ist es wohl“, lenkte der göttliche Schmied ein. „Nun, ich freue mich natürlich dich zu sehen Anteia, aber die Götter sind nicht gerade begeistert, wenn sie Besuch von ‚draußen’, von anderen Welten erhalten. Besuch ist inzwischen eher ungewöhnlich. Weshalb seid ihr hier? Was wollt ihr von uns und unserer Welt? Wie habt ihr uns überhaupt gefunden?“ Und speziell an Elri gewandt: „Suchst du deine Vergangenheit?“ Tjonre fand, dass Hephaistos keinen Grund hatte, ihm Neugier vorzuwerfen.
„Ja, natürlich“, stellte sie fest, „das auch. Ich möchte wissen, wieso alles so kam. Wieso meine Eltern umgebracht wurden. Und von wem. Wieso ich viele Jahre lang Sklavin war.“
„Du hast sehr gelitten“, stellte Hephaistos einfühlsam fest.
„Ja, das habe ich. Lange Zeit. Aber jetzt nicht mehr. Ohne das alles hätte ich Tjonre nie kennen gelernt.“ Raft verdrehte die Augen während Elri und Tjonre sich liebevoll anschmachteten. Dann erinnerte sich Elri wieder an ihre Umgebung. „Nein, um ehrlich zu sein, wir sind hier, weil wir keine andere Wahl hatten. Unser Schiff ist defekt. Ein Angriff hat Teile der Bordelektronik außer Funktion gesetzt. Alle Adressen waren gelöscht. Die einzige die wir noch hatten, war die von Historia.“
Hephaistos lachte laut auf. „Das wird Zeus gefallen! Ich meine damit: es wird ihm überhaupt nicht gefallen. Er meint unser Standort sei in Vergessenheit geraten. Ha!“
Der Ausbruch irritierte Elri und ließ Tjonre vorsichtig werden. “Jedenfalls”, meinte er, “brauchen wir die Adresse irgendeines Planeten der Föderation. Mehr wollen wir nicht. Wenn ihr uns die gebt, sind wir wieder weg. Wir müssen nicht einmal auf Eurem Planeten landen.“
Hephaistos nickte. „Ich werde mit Zeus reden. Mal sehen, was wir für euch tun können.“ Der Kontakt brach ab.
Elri erhob sich langsam aus dem großen Bett und schüttelte sich die Müdigkeit aus dem Haupt. Sie hatte ein langes, wallendes, weißes Nachthemd an, das hell aufleuchtete, als sie sich ins Sonnenlicht stellte und einen schönen Kontrast zu ihrem vollen, schwarzen, funkelnden Haar bildete. Merkwürdig, diese Müdigkeit. Irgendetwas stimmte da nicht. Wo war Tjonre? Sie ging in den benachbarten Raum, wo ein tönerner, zweihenkeliger Krug und ein reichverzierter Becher auf einem kleinen Tisch standen. Sie schenkte eine orangenfarbene Flüssigkeit ein. Sie erinnerte sich, dass es Orangensaft war, so hatte man ihr erklärt. Wie war sie auf den Planeten gekommen und warum? Plötzlich fiel ihr wieder das strenge, hoheitsvolle Gesicht des Göttervaters ein, umrahmt von wallendem, schwarzen Haar, das unwillkürlich an eine düstere Gewitterwolke gemahnte – und wie bei einer solchen zuckten blendende, weiße Blitze aus der Dunkelheit hervor. Sie trank den Becher in einem Zug leer, denn sie hatte großen Durst, ungewöhnlich zu dieser Tageszeit. Sie schenkte sich einen weiteren Becher ein, um dann nach einer Feige zu greifen, die neben dem Krug zusammen mit anderem Obst auf einem Teller lag. Er, nämlich Zeus, hatte eine Einladung ausgesprochen „seinen“ Planeten zu besuchen, die sie zunächst sehr höflich und überaus vorsichtig abzulehnen versuchten, doch vergebens.
Letztlich war klar geworden, dass sie die erwünschte Information nur erhielten, wenn sie die Oberfläche des Planeten betreten würden. Außerdem nahm Tjonre an, dass Elri jenen Planeten, auf dem sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, wiedersehen wollte. Also hatten sie sich in ein Beiboot gesetzt und waren auf dem Olymp gelandet; am Rande des Kraters befand sich ein Landefeld, auf dem einige bizarr gestaltete Flugobjekte standen – Sonnenwägen, wie man ihnen später erklärte.
„Steig du zuerst aus“, schlug Raft vor, „dich scheinen sie zu mögen oder wenigsten als gleichwertig zu akzeptieren. Bei uns habe ich dieses Gefühl eher weniger.“ Raft hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Es gab kein Empfangskomitee. Tatsächlich war überhaupt niemand da. Trotzdem war Elri glücklich, als sie den Planeten betrat und den wundervollen Krater betrachtete, der wie ein riesiger Garten vor ihr lag.
„Was jetzt?“ Tjonres Frage war an niemanden Bestimmten gerichtet, aber Elri antwortete.
„Ich glaube, sie wollen uns zeigen, dass wir ihrer Meinung nach nicht als ebenbürtig gelten können. Ich kenne mich da aus, als Sklavin wird man überhaupt nur wahrgenommen, wenn man eine Arbeit erledigen soll.“
Raft fletschte die Zähne. „Sie werden mich schon noch wahrnehmen, keine Angst.“
„Fang bitte keinen Streit an“, entgegnete Tjonre, „wir wollen bloß eine Auskunft und dann so schnell wie möglich weg.“
Raft blickte ihn kriegerisch an. „Ist doch seltsam, dass alle Meme, die den Weg nach Historia verraten, aus den Archiven verschwunden sind. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass dieser Zeus und seine Vorgänger dahinter stecken könnten? Wenn das der Fall ist, können sie uns unmöglich von hier weglassen, denn, wenn wir in der Föderation ankommen, wissen alle, wie man hierher kommt.“ Tjonre war dieser Gedanke auch schon gekommen, war aber davor zurückgeschreckt ihn zu äußern. Elri blickte zweifelnd.
„Aber warum sollten sie sich abschotten wollen?“
„Da habe ich wirklich keine Ahnung, aber vielleicht ist einiges faul an diesem Planeten“, antwortete Raft. Tjonre blickte sich um. Im Zentrum des Kraters befand sich ein dunkler, wunderschöner See, rundum waren Oliven- und Obsthaine zu erkennen, auch viele reichblühende Wiesen. Der Geruch von Thymian wehte von den nahen Weiden bis zu ihnen. Vom Landeplatz ging eine Straße, die von Rosmarin- und Lorbeersträuchern gesäumt wurde, zu einer Ansammlung heller, palastartiger Bauten, aus denen einer besonders hervorragte, vermutlich der Sitz des Herrschers. Tjonre schätzte den Durchmesser des Kraters auf wenigstens zwanzig Kilometer. Über ihm wölbte sich ein tiefblaues, wolkenloses Firmament.
„Was haltet ihr davon, wenn wir zu diesem Palast gehen?“ Er zeigte auf das große, prachtvolle Gebäude. Er ergriff Elris Hand und ging los. Raft, der nicht gerne zu Fuß ging, fluchte hinter ihnen her. „Hier bist du aufgewachsen“, sagte Tjonre zu Elri, „erinnerst du dich“?
Sie lächelte. „Vieles kommt mir vertraut vor; die Wiesen, die merkwürdigen, grauen Bäume ...“. Sie zeigte dabei auf einen Olivenbaum, „die Wälder an den Kraterhängen...“. Ein Pinienwäldchen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Aber an die Gebäude kann ich mich nicht erinnern, ich glaube, ich habe mich als Kind einfach nicht sonderlich dafür interessiert.“
„Und jetzt?“
„Auch nicht. Auch für Menschen – selbst wenn sie Götter sein wollen – scheine ich mich nie besonders interessiert zu haben; ich sehe meine Mutter und meinen Vater vor mir, so als hätte ich sie gestern das letzte Mal gesehen, aber an alle anderen Menschen meiner Kindheit erinnere ich mich nur sehr diffus. Hephaistos ist mir in Erinnerung geblieben, wahrscheinlich wegen seiner Entstellungen. So was imponiert Kindern natürlich.“
„Natürlich“, bestätigte Tjonre.
„Einen Mann habe ich als sehr unangenehm in Erinnerung. Aber sonst - abgesehen von meiner Mutter - keine Frau.“
„Keine nette Tante?“
„Offenbar nicht.“ Elri war aufgefallen, dass der Geruch des Thymians ihr im Gedächtnis haften geblieben war und ihr Inneres anrührte. War Geschmack ähnlich intensiv in ihr verankert? Sie lief zu einem Rosmarinstrauch, pflückte ein paar Nadeln und kostete – die Empfindung wirkte ausgesprochen vertraut und stimmte sie froh. „Kommt mit!“, rief sie. An einem klein- und hartblättrigen Gewächs rankte eine Rebe empor, deren prächtige, blaue Trauben Elri pflückte. Jedem ihrer Begleiter reichte sie eine, eine weitere behielt sie. „Kostet.“ Tjonre und Raft folgten der Aufforderung, nahmen eine große Beere in den Mund und zerquetschten sie zwischen den Zähnen.
Eine Weile waren sie still, dann bemerkte Tjonre: „Schmeckt gut, ein wenig wie erstvergorener Nijem – Saft. Ich glaube, diese Frucht würde sich zur Weinherstellung eignen. Ob wohl schon jemand an diese Möglichkeit gedacht hat? Was meinst du, Elri?“
„Keine Ahnung. Als ich hier war, war ich ein kleines Kind, dem niemand etwas Vergorenes angeboten hat. Ich glaube aber nicht.“
„Jedenfalls schade, dass du deine Hefekulturen nicht dabei hast“, meinte Raft, „dann könnte man diesem Planeten durchaus etwas Positives abgewinnen.“
Elri war glücklich. Sie hüpfte über die Wiesen, gelegentlich eine Beere verzehrend und wirkte dabei wie ein Schillerfalter auf der Suche nach ergiebigen Blüten. Tjonre beobachtete sie amüsiert, Raft indigniert und gelangweilt.
Elri blickte die Straße entlang, die sich den Kraterhang hinabwand und erkannte, dass sich ein Gefährt, noch klein wie ein Insekt und in der Sonne blitzend, rasch näherte. „Seht mal, man nimmt uns doch zur Kenntnis!“ Niemand freute sich darüber so sehr wie Raft, dem die Aussicht auf einen stundenlangen Spaziergang sehr missfallen hatte.
Nach dem dritten Glas Orangensaft und der zweiten Feige beendete Elri ihr Frühstück. Sie ging hinaus auf die Veranda und beobachtete die Sonne, wie sie sich über den Kraterrand hinauf mühte und dabei den Schatten immer mehr verdrängte. Jetzt waren die Sonnenstrahlen gerade dabei, den See zu erobern, der golden aufleuchtete. Sie versuchte weiter Ordnung in ihr Gedächtnis zu bekommen und die Müdigkeit abzuschütteln.
Das eiförmige Gefährt, das sie abholen sollte, war unbemannt gewesen. Sie stiegen ein, Raft sehr gerne, Elri bloß mit Zaudern, sie wäre noch gerne über die Wiesen getollt wie ein kleines Kind, Scharen von Schmetterlingen und Schmetterlingshaften aufjagend und vor sich her treibend. Die Aussicht auf ein Treffen mit ihren Verwandten erfreute sie da weniger. Tjonre war darauf auch nicht gerade erpicht, noch weniger eigentlich, hatte er doch das Gefühl, dass er als nicht standesgemäße Partie eingestuft wurde, aber er hatte nur eines im Sinn: die möglichst rasche Rückkehr in seine Heimat; nach Wägan. Und wenn es dazu nötig war mit ein paar Göttern zu plaudern – warum nicht? Rasch und geräuschlos glitten sie die schmale Straße hinab zum Zentrum des Kraters, zum See, entlang seines Ufers, Ruineneidechsen erschreckend, die sich auf Steinmauern sonnten, bis die mächtigen Prunkbauten immer größer und imposanter vor ihnen erschienen. Vor dem größten und eindrucksvollsten hielten sie: dem Palast Zeus Kronions, strahlend im Sonnenschein, mit einem gewaltigen Portal, das sie magisch anzuziehen schien. Doch bevor sie es durchschreiten konnten, mussten sie eine Menge hoher Stufen erklimmen. Dann war es soweit. Links und rechts flankierten zwei gewaltige Zeusstatuen den Eingang, den sie passierten, Elri in der Mitte, Tjonre zu ihrer Rechten und Raft links von ihr. Unvermittelt betraten sie einen Saal von enormer Ausdehnung an dessen anderem Ende in erhobener Position ein prunkvoller goldener Thron stand, auf dem der Herrscher des Olymps der Ankunft der kleinen Gruppe Sterblicher harrte. Doch nicht er alleine. Am Fuße des Throns und zu beiden Seiten standen weitere Götter und –innen, die meisten mit einem Becher in der Hand und ihre Ankunft betont ignorierend; wenn es überhaupt möglich war, jemanden betont zu ignorieren, sie schafften es. Die einzige Ausnahme war Hephaistos, der um den reich gedeckten Langtisch herum ihnen entgegen hinkte und sich offenbar freute, Elri zu sehen.
„Anteia!“, rief er, kurz bevor sie sich trafen, nahm ihre rechte Hand in die seinen und strahlte sie an. „Die Tochter von Iphis. Welch Freude, ich dachte schon, dass ich dich nie mehr sehen würde! Du warst schon als Kind außergewöhnlich. Fröhlich, zart, liebreizend, bildhübsch und deine Haare schillerten seit jeher prachtvoll in allen Regenbogenfarben, während alle anderen Götter, wie du siehst, bloß ein einfärbiges Glänzen hervorbringen“. Er unterstrich diese Aussage mit einer abfälligen Handbewegung. Die so in den Mittelpunkt Gerückte lächelte ein wenig unsicher – sie liebte es gar nicht im Zentrum der Beachtung zu stehen – aber immerhin lächelte sie. Manche Göttinnen wollten offenbar auch nicht, dass jemand anderes als sie selbst besondere Beachtung fanden und blickten daher ziemlich finster. „Kommt mit, ich stelle euch vor!“ Zu viert näherten sie sich dem Ende des Thronsaals und wurden nun allseits angegrinst. Aber das Lächeln der meisten Götter erreichte die Augen nicht und wirkte daher nicht freundlich, sondern eher wie eine bedrohliche Maske. Elri schauderte. Sie hielten vor dem hohen Thron. „Das, Ordner der Welt, ist Anteia, die Tochter meiner Schwester Iphis, der Göttin Eos, die den Göttern und sterblichen Menschen das Licht bringt. Das“, er zeigte auf Tjonre, „ist ihr Gemahl.“ Nun war es an einigen der männlichen Götter, finster zu blicken. „Und das“, er zeigte auf Raft, „...ist auch irgendjemand.“
„Raft AkRovaar, vom Planeten Romjen“, stellte er sich selbst vor.
„Schade, dass wir dich nicht schon früher kannten – du hättest einen guten Hephaistos abgegeben“, kicherte eine Göttin, die etwas angesäuselt wirkte. Einige der anderen lachten leise. Tjonre beobachtete die Szene und registrierte, dass Hephaistos ein Außenseiter war, gerne die anderen verspottete und gleichzeitig von ihnen verachtet wurde. Raft ließ sich nicht provozieren, schon gar nicht von einer Göttin.
„Nun denn – seid willkommen“, ließ sich der mächtige und hoheitsvolle Donnergott vernehmen, der nicht weniger eindrucksvoll war als seine steinernen Ebenbilder. Seine Miene strafte seine Worte Lügen. Tjonre wusste, dass Raft recht hatte: sie waren alles andere als willkommen. Allenfalls waren sie akzeptiert. Zwar ignorierten sie nicht alle; ein dunkler, martialischer Gott in einer goldenen, reichverzierten Rüstung und mit beeindruckenden Muskeln starrte Elri unverwandt an. Aber da war eher Gier als Freundlichkeit in seinem Ausdruck. Von sich selbst kannte er diese Mimik nicht, wohl aber von Raft, der seine Leibspeisen oft ähnlich anblickte, bevor er sie verschlang. Was hatten diese Menschen, die sich für Götter hielten, vor? Immerhin war offensichtlich, dass dies keine Gruppe, sondern eine Ansammlung von Egoisten war. Ein konzertiertes Vorgehen gegen sie schien also unwahrscheinlich.
„Zumindest du, Anteia“, fuhr der oberste Gott fort, „du bist die Tochter einer Göttin und bist von uns dazu eingeladen die Identität deiner Mutter anzunehmen, die der rosigen Eos, der Göttin der Morgenröte.“ Er blickte sie eindringlich an und deklamierte voll Pathos. „Herrsche mit uns über die Sterblichen, bleibe mit uns auf dieser Welt, die – egal wie ihr sie nennt – für uns ‚Erde‘, ‚Gaia‘ heißt! Deine Begleiter“, er blickte die beiden an wie Kakerlaken, „sind allerdings ein Problem. Sie mögen hier bleiben als deine Diener, deine persönlichen Sklaven, wenn du das wünscht ...“
Während dieser Rede war Raft immer wütender geworden, bis er schließlich brüllte. „Ich bin niemandes Sklave, du Wichtigtuer! Versuche das, was du sagst, in die Tat umzusetzen und ich werde dir zeigen, dass auch du nur ein Sterblicher bist - du Standbild deiner selbst!“
Diese Reaktion wiederum erzürnte einen der Götter, jenen, der Elri die ganze Zeit angestarrt hatte, den Muskelberg mit dem offensichtlichen Hang zum Krieger. Er schrie zurück: „Welch Worte entfliehen dem Gehege deiner Zähne! Du Wurm, knie nieder vor dem Göttervater oder ich, Ares, Gott der Schlachten, werde deinem nichtswürdigen Leben ein Ende bereiten!“ Einige Götter und auch Göttinnen schienen hocherfreut über diese Abwechslung in ihrem faden Alltag.
„Versuchs doch!“, erwiderte Raft kalt blickend, wobei er sein scheußlichstes Grinsen zeigte.
„Du Missgeburt!“, wütete Ares, als er selbstbewusst auf den kaum mehr als halb so großen Raft losging. Viele der Götter lächelten hämisch, denn sie hatten am Ausgang dieses Kampfes keine Zweifel. Aber Ares hatte noch nie gegen einen Mann von einem Planeten gekämpft, auf dem eineinhalbfache Erdgravitation vorherrschte und unterschätzte Raft vollständig. Ares agierte in dem irrigen Bewusstsein überlegener Kraft, versuchte einen Ringergriff, der ihm bald erlaubte einen Arm um Rafts Hals zu legen, mit der Absicht, ihn langsam zu erwürgen. Raft kümmerte sich nicht darum und schmetterte seinen Ellbogen in die Nierengegend seines Widersachers, wobei er dessen Zierrüstung demolierte. Ares bekam Glubschaugen, winselte und ließ Raft los, der daraufhin seine Faust in der Magengegend seines Gegenübers versenken konnte, weil auch hier die zwar sehr wertvolle, aber gänzlich untaugliche Rüstung nachgab. Ares keuchte auf und fiel wie gefällt zu Boden.
„Ende der Diskussion“, meinte Raft.
Zwei Göttinnen schwebten nun auf die beiden Kontrahenten zu, die eine mit strahlend blondem Haar, die andere dunkelhaarig, schöngelockt, aber ebenfalls blauäugig, beide mit vollendeter Figur. Die Blonde, spärlich bekleidete, bewegte sich fast schlangengleich, tanzend und – so erschien es Tjonre – schien überhaupt keine Gelenke zu haben. Die Bewegungen der anderen wirkten hingegen kraftvoller und geradliniger, ohne deshalb weniger weiblich zu wirken.
„Aber, aber“, meinte die Dunkelhaarige, „wollen wir uns nicht wie zivilisierte Götter benehmen?“
Und die andere, wobei ihre Stimme vor Sinnlichkeit geradezu vibrierte: „Wie kann man nur immer an Kämpfen denken, ts, ts, wo es doch sooo viel Schöneres gibt?“ Und dabei schenkte sie Raft einen tiefen Blick, der ihn tatsächlich beruhigte, jedenfalls soweit es seinen Kampfwillen betraf.
„Wer seid ihr, Mädels?“, wollte er wissen.
Die respektlose Anrede schien die beiden nicht sonderlich zu stören und die mit den vielen Locken antwortete ernst: „Ich bin Athene, Zeus Tochter, die man auch Tritogeneia nennt, die Göttin der Weisheit.“
Die Blonde war wesentlich weniger ernst. Jetzt versuchte sie es mit einem Blick, der irgendwo zwischen schelmisch und schmachtend lag. „Ich bin Aphrodite, die ‚Goldene’. Rat mal warum ‚Goldene’“. Sie strich sich keck über ihr blondes Haar, wobei Myriaden goldener Funken empor sprühten. „Auch Kypris nennt man mich. Ich bin die Göttin der Liebe und überhaupt der angenehmen Dinge.“ Dabei klimperte sie mit ihren langwimperigen Augenlidern.
Athene meinte: „Wir wollen doch keinen Streit, jedenfalls nicht hier in der Halle des Zeus! Nicht im Olymp! Unten bei den Achaiern schon ...“ Bei dieser Bemerkung blickte sie ein anderer Gott – es war ihr Bruder Phoibos Apollon - ärgerlich an. „Der Göttervater hat doch nur einen Vorschlag gemacht. Wir wollen hören, was Anteia dazu zu sagen hat.“ Währenddessen zog Aphrodite Ares mit sich fort. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Elri, was ihr sehr unangenehm war. Schließlich blickte sie Zeus an.
„Herrscher der Welt“, begann sie, immer höflich bleibend, „ich war selbst jahrelang Sklavin und das war nicht lustig. Deshalb habe ich kein Interesse an Sklaven. Diese Welt ist wundervoll und reich an Schönem, aber leider kann ich nicht bleiben. Daher kann ich auch nicht in die Fußstapfen meiner Mutter Iphis treten und eine Göttin werden. Ich muss nämlich mit meinem Mann ...“, sie zeigte auf Tjonre, „zu dessen Heimatplaneten, um dort Farmerin zu werden. Ich war sicher keine gute Sklavin, aber eine gute Göttin wäre ich auch nicht. Jedenfalls bitte ich Euch, edle Götter, um Hilfe, denn ohne Euch finden wir den Weg in die Magellansche Föderation nicht mehr. Wir sind hier als Bittsteller. Wir brauchen die Enigma-Adresse irgendeines Planeten der Föderation.“
Darauf wandte sich der Göttervater der Bittstellerin zu: „Nicht gerne höre ich deine Rede, doch werde ich versuchen, deine Bitte zu erfüllen. Zwar haben wir auf diesem Kontinent, auf Homers Zeitalter, keine Adressen mehr, die an unsere Vergangenheit gemahnen, doch lassen sich sicher in einem der Orakel auf einem anderen Kontinent noch solche auftreiben.“ Hoheitsvoll blickte er hinab auf die unwillkommenen Gäste, als wären sie Würmer, bereit, zertreten zu werden.
Nichts desto trotz bemühte sich auch Tjonre um Höflichkeit, einfach weil er wusste, dass er keinen Trumpf in den Karten hatte. „Edler Zeus“, begann er, „wie konnte das passieren? Wieso sind alle Wege zu anderen Planeten verloren gegangen?“
Zeus Kronion wandte sich ihm zu. „Weil wir keinen Kontakt wollten! Jedes landende Raumschiff ist ein imponierendes Ereignis, das den einfachen, tumben Menschen den Eindruck vermitteln könnte, hier kämen Götter. Es gibt aber keine Götter außer uns! Jede Information von draußen könnte das historische Experiment, das unsere Vorfahren begonnen haben, zerstören. Keiner darf an unserer Göttlichkeit zweifeln. Neben uns darf es keine Götter geben!“
Bei diesen Sätzen wurde Tjonre und seinen Begleitern klar, dass Zeus – oder der Mann, der Zeus spielte, aber längst vergessen hatte Phantasiewelt und Realität zu trennen – verrückt war. Und die Begeisterung, die seine Worte bei den anderen Göttern weckte, zeigte, dass offenbar auch sie nicht mehr alle Tassen im Schrank hatten. Und diesen Verrückten waren sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Tjonre begriff die Unerfreulichkeit der Situation, in der sie sich befanden, ohne allerdings alle Hoffnung fahren zu lassen. Noch blieb die Frage, wie gestört – auf einer Skala von z. B. eins bis zehn – die Götter des Olymps eigentlich waren. Gern hätte er gefragt, was denn eigentlich der Sinn dieses Experiments sein sollte, doch war ihm klar, dass es besser war dies zu unterlassen. Stattdessen stellte er die Frage: „Könnt ihr uns helfen? Was können wir selbst tun, um unser Ziel zu erreichen?“
„Eine sehr gute Frage! Wir haben uns beraten und sind zu dem Ratschluss gelangt, dass es das Klügste ist, euch einen von Helios Sonnenwägen zur Verfügung zu stellen, damit ihr möglichst schnell die alten Orakel auf anderen Kontinenten erreichen könnt. Am Aussichtsreichsten sind wohl die des ‚Hyborischen Zeitalters’. Während du und dein rotbärtiger Freund nach einem Weg zurück zur Föderation sucht, mag Anteia unsere Gastfreundschaft genießen.“
Eine Weile reagierte Elri nicht, da sie sich noch nicht an den Namen gewöhnt hatte und es daher dauerte, bis sie sich angesprochen fühlte. Der Gedanke von ihren Begleitern getrennt zu werden, missfiel ihr aber sehr, weil auch sie den Eindruck hatte, die Götter wären nicht ganz normal. Fast hastig antwortete sie schließlich. „Herrscher der Welt, ich danke Euch für Euer großzügiges Angebot, aber ich möchte doch lieber bei meinen Begleitern bleiben und daher mit ihnen nach Enigma - Adressen suchen.“
„Ein Sonnenwagen ist lediglich für zwei Reisende ausgestattet.“
„Nun zur Not“, warf Hephaistos ein, „können auch drei im Cockpit Platz finden.“
Zeus bedachte Hephaistos mit einem sehr unfreundlichen Blick, bevor er meinte: „Es wäre aber sehr unbequem für dich, Anteia.“
„Das macht mir nichts aus, ich danke Euch aber für Eure Fürsorge.“
„Nun denn, dann lasst uns gemeinsam ein Mahl einnehmen und auf Eure Ankunft trinken.“
Sie setzten sich an den Langtisch, Elri neben Tjonre und Hephaistos, der ihr noch am normalsten erschien, Raft abseits neben Aphrodite, bei der er sich offensichtlich sehr wohl fühlte. Dann trugen Sklaven oder auserwählte Gläubige – wo war da schon der Unterschied – auf goldenen Tellern und in ebensolchen Trinkbechern allerlei Speis und Trank auf; nicht nur Nektar und Ambrosia, sondern vielerlei Obst und Früchte, die Elri ebenso wenig kannte wie die unterschiedlichen Arten Fleisch, manche davon fetttriefend und für sie daher wenig appetitlich erscheinend. Sie nahm sich nur spärlich und auch Tjonre bediente sich nur zurückhaltend; Raft machte das wieder wett. Ares erholte sich während des Gelages zunehmend und sein Selbstbewusstsein erblühte zu alter Pracht. Über den Tisch grinste er Elri zu, die diese Aufmerksamkeit unsicher machte. Sie lächelte verhalten zurück, was der Gott als Aufforderung sah, obwohl es als das Gegenteil davon gedacht war. Hephaistos schien sich bei dem Essen zu langweilen und Tjonre versuchte daher ihn in ein Gespräch zu ziehen; über Elri hinweg, die interessiert zuhörte.
„Warum meint ihr, dass auf dem Hyborischen Kontinent – Entschuldigung, Zeitalter – der Weg zur Föderation noch bekannt sein könnte?“
Hephaistos legte eine abgeknabberte Rippe auf einen güldenen Teller zurück. „Wir haben dort einigen Dämonen der Finsternis ein Bleiberecht eingeräumt. Und sie halten noch Kontakt zu ihrem Heimatplaneten, Arkeen. Die Sandarken haben Handelskontakt zur Föderation.“
„Sandarken?“, meinte Tjonre, „ich erinnere mich dunkel daran, diese Bezeichnung schon gehört zu haben.“
„Dunkel ist jedenfalls richtig. Sie sind schwarz wie die Nacht, scheinen alles Licht wegzusaugen. Ihre Gestalt erinnert grob an Menschen, aber an solche aus einem finsteren Metall. Wären sie nicht beweglich, glichen sie ehernen Statuen.“
Bei dieser Beschreibung zuckte Elri zusammen und ein mühsam unterdrückter Albtraum ergoss sich über sie, da war viel Blut, die Körper zweier ermordeter Menschen, geliebter Menschen und dann diese kalten Kreaturen, die Mörder, die sie schließlich ergriffen und in die Sklaverei schleppten. O ja, sie handelten mit Menschen, aber anders als Hephaistos meinte. War das der Preis? Musste sie Kreaturen gegenübertreten, die wie die Mörder ihrer Eltern aussahen, vielleicht sogar ihre Mörder waren, um von hier, von ihrer Vergangenheit weg zu kommen, um endlich ein neues Leben beginnen zu können? Ein Leben in Frieden ohne die Gespenster der Erinnerung? War sie wirklich bereit, diesen Preis zu zahlen? Sie barg ihr anmutiges Haupt in ihren zarten Händen. Niemandem fiel ihre Verzweiflung auf; Tjonre und Hephaistos unterhielten sich weiter angeregt miteinander. Sie spürte auch die Blicke Ares auf sich; bedrohlich und unheilvoll. Was immer er von ihr wollte, er würde es sich mit Gewalt nehmen, wenn sie sich von ihren Begleitern separierte. So befand sie sich in der Zwickmühle; einerseits wollte sie Tjonre bitten auf ihre Begleitung zu verzichten, wenn er im Sonnenwagen zu den Sandarken reiste, andererseits wollte sie hier keinesfalls alleine bleiben. Die Angst vor Ares war konkreter und überwog, daher entschied sie sich dafür, Tjonre und Raft bei ihrer Reise zum Hyborischen Zeitalter zu begleiten.
Mittlerweile wurden neue Becher verteilt und aus Krügen ausgesuchter Wein eingeschenkt und vor die Götter und ihre Gäste gestellt. Ares erhob sich für einen kurzen Trinkspruch: „Auf unserer Besucher aus den Tiefen des Alls!“ und leerte anschließend sein Trinkgefäß in einem Zug; die anderen Götter und die Göttinnen taten es ihm gleich, ebenso Tjonre und Raft und wohl oder übel musste sie mithalten so gut sie konnte. Tjonre war im Gegensatz zu Raft kein begnadeter Trinker, hatte aber ein gewissermaßen berufliches Interesse an dem Getränk. Konnte es mit Nijem mithalten? Es konnte, musste er feststellen und mehr noch, dem Geschmack nach musste es der vergorene Saft jener Trauben sein, die sie auf dem Weg gekostet hatten. Als nächstes wurde Met kredenzt und mit einem ähnlich sinnvollen Trinkspruch wurde auch der Honigwein rasch geleert.
Elri musste feststellen, dass diese eine ihrer letzten Erinnerungen war. Was danach passierte bis zu jenem Augenblick, als sie in dem großen Bett erwachte, entzog sich ihrer Kenntnis.
***
Elri fühlte sich nun kräftig genug, ihre weitere Umgebung zu erkunden. Sie stand auf, öffnete die Tür und blickte in den strahlenden Morgen. Sie blickte auf eine Wasserfläche, die weit größer war als der See, den sie erwartet hatte und am Horizont begrenzten keine Kraterwände ihre Sicht. Sie sah ein Meer, dessen Oberfläche sich spiegelglatt vor ihr erstreckte, nur an wenigen Stellen war sie aufgeraut. Dort erschien sie dunkler, nicht so gleißend. Die Sonne stand noch tief, wärmte aber Elris Haut bereits angenehm; es würde wohl ein heißer Tag werden.
Sie drehte sich um und blickte auf das tempelartige Gebäude aus hellem Marmor, ihr Refugium der letzten Nacht. Wie war sie hierhergekommen? Wo war sie? Ganz bestimmt nicht mehr auf dem Olymp, so viel war sicher. Wo waren Raft und Tjonre? Die Schönheit der Landschaft, die angenehme Empfindung des kühlen Rasens unter ihren nackten Füßen, der warme Wind in ihren Haaren; all das konnte nicht das Gefühl der Beunruhigung von ihr nehmen, das von ihrer Gedächtnislücke verursacht wurde. Bedroht fühlte sie sich nicht, hatte aber ein wenig Angst um Tjonre.
Die Wiese vor dem Tempel wurde durch einen Pinienhain vom Meeresstrand getrennt. Aus den Schatten dieses Wäldchens trat nun ein Mann hervor, der ein Bein ein wenig nachzog und wohl auch einen leichten Buckel hatte. Als er näher kam erkannte Elri Hephaistos. Er winkte ihr fröhlich zu und sie winkte zurück, erleichtert. Von allen Göttern war er der einzige, zu dem sie Vertrauen gefasst hatte. Sie lief ihm ein Stück entgegen, ungeduldig, denn er konnte ihr wohl ihre Fragen beantworten.
„Anteia!“, rief er, „warte.“
Sie jedoch rannte leichtfüßig weiter und rief ihm entgegen: „Wo ist Tjonre? Wo bin ich? Was ist passiert?“ Schließlich erreichte sie ihn und schritt nun langsam neben ihm in Richtung Tempel. „Warum kann ich mich an nichts erinnern?“
„Beginnen wir mit der letzten Frage. Nachdem du den Met zu dir genommen hast, bist du umgekippt wie ein Brett. Tjonre hat dich zum Glück aufgefangen. Ares hat so auffällig betont, dass du wohl keinen Alkohol verträgst, dass wir davon ausgehen können, dass sie dir ein Schlafmittel in deine Getränke gegeben haben.“
„Aber warum nur?“
Er zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht, kann es mir aber vorstellen. Jedenfalls gehe ich davon aus, dass nicht er allein hinter der Sache steckt. Denn die Götter hatten eine Besprechung wegen eurer Ankunft, die sie zu einer Zeit abgehalten haben, zu der sie wussten, dass ich nicht in der Nähe war. Ich erfuhr später trotzdem durch eine befreundete Nymphe davon, weiß aber nichts vom Inhalt des Gesprächs.“
„Was ist passiert nachdem ich ...“.
„Nach dem Festmahl in Zeus Halle schlug Ares vor, dass deine Begleiter in einem von Helios Sonnenwägen aufbrechen sollten, um im Hyborischen Zeitalter nach einer Möglichkeit zu suchen, wie ihr zurückkehren könnt. Tjonre wollte dich nicht alleine lassen. Aphrodite gab zu bedenken, dass die Reise durchaus gefährlich sein könne und Tjonre wolle doch sicher nicht seine Frau in Gefahr bringen? Außerdem würden sich die Göttinnen ihrer annehmen. Tjonre schien eher zu befürchten, dass sich die Götter, insbesondere Ares, deiner annehmen würden und diese Absicht stand dem Kriegsgott deutlich ins Gesicht geschrieben. Tjonre zauderte, worauf hin Zeus selbst meinte, dass das Angebot der Götter, den Flüchtlingen zu helfen, nicht ewig Bestand haben würde. Entweder sie nähmen jetzt das Hilfsangebot an oder ...“ Er blickte sie mit seinem narbigen Gesicht fröhlich an. „Dies war der Augenblick wo ich mich einmischte und meinte, man solle jedenfalls dich zu deiner Schlafstätte bringen, man könne dann immer noch weiter diskutieren. Tjonre und ich sind dann mit dir aufgebrochen, in Richtung zu der Villa, die für dich vorgesehen war und in der schon deine Eltern gewohnt haben. Dein anderer Begleiter ... wie heißt er noch?“
„Raft.“
„Ja, also Raft, blieb bei Aphrodite. Er schien sich bei ihr wohl zu fühlen.“
„Sie ist sicher sein Typ“, meinte Elri, „sie erinnert ein wenig an eine andere Frau, mit der er viel Zeit verbracht hat.“
„Eine gute Freundin von dir?“
„Na ja, eher nicht.“
„Egal“, entschied er, „Tjonre hatte jetzt jedenfalls Zeit, mir seine Sorgen um dich anzuvertrauen, teilte aber auch Aphrodites Ansicht, dass die Reise gefährlich werden könnte. Er hätte dich daher gern in Sicherheit zurück gelassen, aber nicht gerade in der Obhut der Götter. Ich schlug ihm daher vor, dich heimlich aus dem Olymp zu schaffen. Seit ich einen Streit mit Zeus hatte, habe ich mir auf der Insel Lemnos ein kleines Refugium geschaffen. Die Sintier, die hier einheimisch sind, sind mir sehr wohl gesonnen und ich schlug ihm vor, dich zu dieser Zuflucht zu bringen, was ich mit seiner Hilfe schließlich auch getan habe, ohne dass die anderen Götter dies merkten. Dann ist er zurückgekehrt, um gemeinsam mit Raft in einem Sonnenwagen die Sandarken aufzusuchen, möglichst schnell zu dir zurückzukehren und diesen Planeten zu verlassen.“ Plötzlich lachte er zu Elris Erstaunen laut auf. „Bitte entschuldige, aber ich habe mir vorgestellt wie gerade Ares und vielleicht auch Helios bei deiner Villa eintreffen, um ihre Verführungskünste bei dir zu erproben und feststellen müssen, dass das Vögelchen ausgeflogen ist! Und jetzt laufen sie sicher zu Zeus und machen den ganzen Olymp rebellisch. Es gehört sicher nicht zu ihren Plänen, dass du den Planeten verlässt. Es ist offensichtlich, dass Ares dich will.“ Dann machte er eine Pause und blickte in ihre großen Augen. „Und sie haben auch ganz bestimmt nicht vorgesehen, dass deine Begleiter Gaia verlassen, sie wollen nämlich die Isolation. Deine Freunde sind eine Gefahr für sie.“
Elri blickte betroffen. „Warum hilfst du uns? Warum du als einziger? Warum stellst du dich gegen ihre Pläne?“
Hephaistos Gesichtszüge wurden grimmig. „Siehst du mein Bein? Meinen krummen Rücken? Die entstellenden Narben in meinem Gesicht? Sie haben mir das angetan! Als die Rolle des Hephaistos frei wurde, entschieden sie, dass ich der nächste Schmied der Götter werden sollte. Bis dahin war ich ein wohl geratener Jüngling mit geraden Gliedern, aber Hephaistos muss entstellt sein. Also haben sie das getan, sie haben mich entstellt. Keiner hat sich bemüht es zu verhindern. Keiner hatte Mitleid oder hat versucht mich zu verteidigen. Außer einer, meiner natürlichen Schwester, deiner Mutter Iphis, die schon die Rolle der Eos übernommen hatte, die dir jetzt zugesprochen wurde. Sie hatte keine Chance gegen die anderen, aber wenigstens hatte sie Mitgefühl. Was sie für mich getan hat, das gebe ich jetzt an ihre Tochter zurück.“ Er lachte abermals. Es war ein kaltes Lachen. „Die Rolle des Hephaistos ist nicht besonders beliebt, wie du dir vorstellen kannst. Deswegen ergeht sie immer an ungeliebte Einzelgänger wie mich. Für mich war Iphis damals alles, meine Schwester und einzige Freundin. Das ist auch so geblieben, als sie Lezart kennen und lieben lernte. Er war ganz anders als diese Wahnsinnigen. Kein Gott, aber ein richtiger Mensch. Ich denke, dass sie irgendwie auch hinter Iphis' und seinem Tod stecken, wenn ich auch nicht weiß, wie.“ Sie schwiegen eine Weile. Dann stellte sie eine Frage deren Antwort sie eigentlich gar nicht hören wollte.
„Was werden sie mit Tjonre und Raft machen?“
„Ich fürchte, sie werden versuchen die beiden umzubringen.“
„Ich hätte bei ihnen bleiben müssen. Wie konnte ich nur so gutgläubig sein! Meine Nähe hätte sie geschützt.“
„Nein!“, erwiderte er, „das hätte nichts genützt. Glaubst du ich hätte zugelassen, dass man euch trennt, wenn ich gedacht hätte, das könnte ihr Leben retten? Du kennst sie nicht. So wichtig bist du ihnen nicht. Sie bringen einander zwar nicht um, zumindest vermute ich das. Aber zählen sie dich bereits zu den Göttern? Du bist in Gefahr. Und Tjonre weiß das, glaube mir. Er hätte sich nicht von dir getrennt, wäre es nicht zu deinem Schutz gewesen.“
„Hephaistos, gibt es eine Möglichkeit herauszufinden, wie es Tjonre und Raft geht?“, wollte sie wissen. Sie war sehr beunruhigt und voller Sorge. „Können wir irgendwie mit ihnen kommunizieren?“
„Anteia, unter anderem deswegen habe ich dich hierher gebracht. Hinter meinem Tempel gibt es in einer Höhle ein Orakel und dort befindet sich die Technologie, die wir jetzt brauchen – und die mir des Öfteren schon erlaubt hat, eine Nasenlänge vor meinen geliebten Mitgöttern zu sein.“
Sie schritten hinauf zum Tempel und erst jetzt sah sie, dass er an eine Felswand gebaut war, die ihn allerdings nur um weniges überragte. Entlang der Wand schlängelte sich ein schmaler Pfad in den lichten Pinienwald. Sie folgten ihm, bis sie vor dem Eingang einer Höhle standen, in deren Mitte sich ein ungeschmückter, einfacher Opferstein befand. Sie gingen an ihm vorbei und stießen wenige Meter weiter an das Kavernenende. Als Hephaistos seine Hand an eine bestimmte Stelle des Felsen legte, glitt dieser zur Seite und offenbarte eine dahinter liegende Wendeltreppe, die in die Finsternis hinab führte.
Sie stiegen hinunter, immer im Kreis, rundherum nur unbehauene Felswände. Ein Licht folgte ihnen und fing sich in Elris fließendem Haar, violette Funken sprühten. Die Treppe endete an einer Tür, die ebenfalls gesichert war und wohl nur durch Hephaistos persönlich geöffnet werden konnte. Er berührte sie an einer bestimmten Stelle und sie glitt lautlos beiseite. Sie betraten einen großen Raum, dem Kommandoraum des Mutterschiffs nicht unähnlich. Zahllose Lichter blitzten an den Wänden.
„Ein Sonnenwagen ist nicht schwer zu verfolgen. Er ist nicht dafür geschaffen, unauffällig zu sein, im Gegenteil. Er zieht lange Kondensstreifen hinter sich her, es ist leicht für unsere Satelliten sie wahrzunehmen, sobald sie von der Sonne beschienen werden.“ Nach einer kurzen Pause setzte er fort, diesmal nicht an Elri gewandt: „Theano, suche einen Sonnenwagen, der sich in Richtung Hyborisches Zeitalter bewegt; geh mit den Aufzeichnungen einige Stunden zurück und zeige uns im Zeitraffer, was du herausgefunden hast.“
Sofort erschien ein mannsgroßes Abbild Historias im Zentrum des Raums und ein heller, langgezogener Faden bewegte sich vom Homerischen Zeitalter, einem fast kreisrunden Kontinent mit dem zentralen, nach Westen hin offenen Mittelmeer und einem weiteren, nordöstlich davon gelegenen Meer westwärts und näherte sich stetig dem Hyborischen Zeitalter. Dieser Kontinent besaß nur ein vergleichsweise kleines, längliches Binnenmeer, das sich in Nordsüdrichtung erstreckte. Elri sah, dass sich der Sonnenwagen dem östlichen Kontinentalrand näherte. „Sie haben Khitaiy erreicht“, kommentierte Hephaistos.
„Wo wollen sie hin?“, wollte Elri wissen.
„Siehst du das Binnenmeer? Es heißt Wilahet – Meer. Nordwestlich davon liegt ein Gebirgsmassiv, die Schwarzen Berge, in dem früher Paieon seine abartigen Experimente durchgeführt hat. In der Station, die er dort aufgebaut hat hausen nun die Sandarken – oder zumindest einer von ihnen. Sie sehen recht gruselig aus und Dämonen sind im Hyborischen Zeitalter gern gesehen. Wir erlauben daher einigen nichtmenschlichen Intelligenzen den Aufenthalt hier, solange ihre Stationen klein sind; richtige Siedlungen sind hier aber nicht erlaubt. Die Sandarken haben Kontakt zur Föderation und daher sollten sie euch den Enigma – Pfad zurück verraten können.“
„Werden sie uns helfen?“ Elri klang sehr unsicher.
„Ich weiß nicht“, meinte Hephaistos, „wir halten keinen Kontakt mehr zu ihnen, seit damals die Sache mit deinen Eltern passiert ist – und mit dir natürlich.“
Elri wurde hellhörig. Sie schauderte. Ihr Verdacht, dass die grauenvollen Kreaturen ihrer Erinnerung Sandarken waren, erwies sich also als richtig! „Was genau ist damals passiert?“
„Ich weiß nicht. Die Sandarken haben deinen Vater damit beauftragt, Ausgrabungen auf einem Planeten ihres Systems durchzuführen. Dabei soll dann ein Unfall passiert sein, dem deine Eltern zum Opfer gefallen sein sollen. Wir erhielten ihre Leichen. Du galtest als verschollen. Kannst du dich noch an damals erinnern?“
„Oh ja, das kann ich.“ Elris Stimme zitterte, als sie das sagte und eine Träne rollte aus ihrem Augenwinkel. „Es war kein Unfall. Es war Mord! Und die Mörder waren Sandarken!“
„Sie haben eine Göttin ermordet? Das wagen sie?“ Hephaistos schien außer sich. „Und was ist mit dir passiert? Du erzähltest, du seiest Sklavin gewesen?“
„Das stimmt, ich wurde in die Sklaverei verkauft. Viele Jahre war ich Sklavin, bis Tjonre mich gefunden hat.“
Während ihres Gesprächs war die Aufzeichnung weitergelaufen. Der Sonnenwagen hatte inzwischen das Wilahet – Meer erreicht und blieb zunächst auf geradem Kurs. Dann aber geriet er ins Trudeln und Elri konnte im dreidimensionalen Abbild erkennen, dass er rasch an Höhe verlor. „Sie stürzen ab!“, kommentierte Elri entsetzt. Ihr wurde klar, dass das alles bereits passiert war und nicht mehr beeinflusst werden konnte. Auch Hephaistos erkannte, dass der Höhenverlust zu rasch erfolgte. Atemlos folgten sie den Geschehnissen.
„Theano, vergrößerte Abbildung!“, rief er. Wenige hundert Meter trennten den Sonnenwagen noch von der grauen Meeresoberfläche, als das Flugobjekt in eine neue Flugbahn parallel zur Küste einschwenkte und nun weniger rasch tiefer ging. Die letzten Augenblicke konnte Elri fast hautnah erleben, weil der Sonnenwagen nun sehr groß zu sehen war. Das Meer unter ihm zog mit enormer Geschwindigkeit dahin, viel zu rasch für eine Landung. Ein Schrei entfuhr Elri, als sie mit ansehen musste, wie der Sonnenwagen auf der Oberfläche aufsetzte, die nicht nachgeben wollte sondern sich wie eine massive Betondecke verhielt. Eine Düse brach auch sofort ab und wurde weggeschleudert. Der Rest wurde in gewaltiger Gischt begraben und versank nun doch, sich in einem mächtigen Strudel langsam drehend. Außer der schäumenden, turbulenten Meeresoberfläche sah man abgesehen von einer Düse schließlich nichts mehr. Elri zitterte vor Entsetzen und die Tränen flossen einem Sturzbach gleich über ihr wunderschönes Gesicht. Auch Hephaistos war wie gelähmt, fühlte sich ohnmächtig, starrte aber weiter auf die Geschehnisse, die immer noch im Zeitraffer vor ihren Augen abliefen. Die Oberfläche beruhigte sich daher scheinbar rasch und auf der fast glatten See erschien ein Punkt, gleich darauf noch einer, die beide hastig auf das Ufer zuhielten. „Schau doch, oh Anteia, schau nur!“, rief Hephaistos. Zwei Körper fielen auf den Sandstrand, die trotz der Unschärfe deutlich als menschlich zu erkennen waren, der eine klein und kompakt, der andere schlanker und größer. „Sie haben den Absturz überlebt, siehst du?“ Er wies mit dem Finger auf die zwei Flecken.
„Hephaistos, wir müssen ihnen zu Hilfe kommen!“
„Das ist gar nicht so leicht“, meinte er nach kurzem Nachdenken. „Der Helikopter, mit dem wir hierher gelangt sind taugt nur für kurze Strecken. Zu einem andern Kontinent können wir damit nicht kommen.“
„Können wir nicht einen Sonnenwagen nehmen?“, fragte sie ihn.
„Nicht ohne Helios’ Unterstützung. Mein Vorgänger hat sie auf ihn programmiert. Aber ich bezweifle, dass wir seine Einwilligung erhalten werden. Ich glaube kaum, dass das, was wir gerade gesehen haben, ein Unfall war. Da stecken Ares und Helios dahinter! Deswegen wollten sie nicht, dass du mitfliegst.“
„Sie wollten sie ermorden?“
„Zumindest wollten sie sie aus dem Weg räumen. Skrupel hatten sie jedenfalls sicher nicht einen Menschen umzubringen. Das tun sie ständig – sie haben erfolgreich verdrängt, dass sie selber auch nur Menschen sind.“
„Oh Hephaistos, das ist grauenvoll. Was können wir tun?“ Sie verharrte einen Augenblick. Dann erhellte sich ihre Miene. „Die Fähre, mit der wir das Mutterschiff verlassen haben! Talira wird mich sicher hinein lassen und dann können wir Tjonre retten!“ Sie wirkte jetzt energiegeladen und fröhlich.
„Das ist eine Möglichkeit. Theano, zeige uns die Fähre.“ Kurz wurde das Bild unscharf und machte dann einem anderen Platz. Man sah die scheibenförmige Fähre von oben, umgeben von sechs menschenähnlichen Statuen, die riesig wirkten. Der unsichtbare Avatar Theano kommentierte: „Die Landefähre ist von Kyklopen umkreist.“
„Kyklopen?“, fragte Elri verwirrt.
„Zeus’ Söhne, einäugige Riesen“, erklärte ihr Hephaistos, „tatsächlich handelt es sich um anthropomorphe Maschinen, Roboter, die eure Fähre bewachen, sicherlich um zu verhindern, dass jemand Zugang erhält. Das beweist, dass sie den Absturz geplant und auch deine Reaktion darauf einkalkuliert haben. Sie sind uns also einen Schritt voraus, wir können nicht zur Fähre gelangen. Wir können deinen Begleitern nicht helfen. “ Und in einem hoffnungslosen Versuch Elri zu trösten ergänzte er: „Immerhin leben sie noch.“
***
Raft fluchte in einem besonders hässlichen, romjenschen Dialekt und zwar ununterbrochen schon seit Tagen. Seine Füße waren voller Blasen von dem langen Marsch das Flussufer entlang und auch wegen des ungeeigneten Schuhwerks: Zierschuhe nach ivarnscher Mode, die er jetzt in den Händen hielt. Es war heiß bzw. angenehm – das war Ansichtssache. Ihm war jedenfalls heiß und er watete daher mit seinen bloßen Füßen im kühlen ufernahen Wasser des breiten, trägen Flusses. Tjonre spazierte neben ihm und ließ die wortreichen Tiraden geduldig über sich ergehen, wenn er für sich auch dachte, dass es wohl klüger wäre ruhiger und unauffälliger vorwärts zu kommen. Sein Schuhwerk war praktisch, seine Füße blasenfrei. Er ging leichtfüßig; nur das Schwert stellte eine ungewohnte Belastung dar.
„Wie lange dauert das denn noch?“, litt Raft lautstark.
„Wenn wir schneller gehen entsprechen kürzer“, antwortete Tjonre, der gerne eine raschere Gangart eingelegt hätte; die Trennung von Elri beunruhigte ihn die ganze Zeit, die sie schon unterwegs waren. Mehr als eine Woche waren sie die Meeresküste entlang marschiert, bis sie die Flussmündung erreicht hatten und nun gingen sie bereits eine weitere Woche flussaufwärts. Offenbar suchten die Götter nicht nach ihnen und da Elri sicher auf einer Nachforschung bestanden hätte, war sie entweder davon überzeugt worden, dass sie tot wären oder sie wurde mit Gewalt daran gehindert, ihnen zu helfen. Tücke oder Nötigung waren die wenig beruhigenden Alternativen. Tücke passte allerdings besser zu den Göttern. Sie konnten Elri nicht nur von ihrem Tod überzeugen, sondern z. B. an der falschen Stelle suchen lassen oder sie in dem Glauben wiegen, dass der Aufenthalt bei den Sandarken länger währte. Ja, es gab eine Menge Erklärungen dafür, dass niemand kam ohne annehmen zu müssen, dass Elri in Gefahr war, redete er sich ein – erfolglos. Er machte sich weiterhin Sorgen. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein geisterte sogar der Gedanke, dass sie bereits tot sein könnte, aber das hätte er sich selbst gegenüber niemals eingestanden. Da sie so langsam vorwärts kamen, hatte er zuviel Zeit zum Denken. Als Alternative suchte er nach flachen, runden Steinen, hob sie auf und ließ sie über das Wasser tanzen. Auch keine wirklich erfüllende Beschäftigung. Irgendwann griff er in seine Jackentasche, erfühlte das kleine, ovale Gerät, das ihm Zugang zu und Kommunikation mit dem Beiboot ermöglichen sollte, aber dafür war er zehntausende Kilometer zu weit weg. Es nützte ihm gar nichts. Wütend überlegte er, ob er es den Steinen nachschicken solle, ließ es aber dann doch bleiben.
Erst am Abend hielten sie, sammelten etwas Holz für ein Lagerfeuer und begaben sich im Schutz der Flammen zur Ruhe, ohne einschlafen zu können. Der Himmel dunkelte zusehends, die ersten Sterne erschienen und dann immer mehr, bildeten seltsame, ungewohnte Muster. Welche wohl zur Föderation gehörten? Und wo lag Wägan? Tjonre wusste es nicht. Dann tauchte der Mond silbrig über dem Horizont auf. Sein kaltes Licht ließ die Landschaft schattenhaft von neuem erscheinen, er wirkte groß und nah. Da, plötzlich, blitzte es hell an seinem Rande auf, deutlich vor dem Mond und Tjonre war sofort klar, dass diese Erscheinung Folge einer gewaltigen Explosion sein musste. Entsetzen lähmte ihn für kurze Zeit, dann keuchte er wie jemand, der mit knapper Not dem Tod durch Erwürgen entronnen war.
„Was ist los?“, wollte Raft wissen.
„Sieh doch!“ Tjonre zeigte auf den Mond, wo die Lichterscheinung immer noch deutlich sichtbar war.
„Das ist schlecht“, kommentierte Raft trocken.
„Sie haben das Schiff zerstört!“, heulte Tjonre, „diese Verbrecher, diese Bestien! Genügt ihnen der Mordversuch an uns nicht?“
„Beruhige dich. Das bedeutet doch nur, dass das Schiff angegriffen worden ist. Vielleicht hat Talira sich erfolgreich gewehrt. Wäre ja nicht das erste Mal. Und selbst wenn. Ist dir dein Wägan wirklich so wichtig?“
Das beruhigte Tjonre tatsächlich. „Du hast recht. Es wäre schön gewesen, aber ... wichtig ist eigentlich nur, dass ich möglichst bald wieder mit Elri zusammen bin. Doch selbst dieses vergleichsweise bescheidene Ziel ist weit jenseits unserer aktuellen Möglichkeiten.“ Tjonre versank zum ersten Mal in einen Zustand unendlicher Verzweiflung, während die bleiche Mondscheibe für ihn die Gesichtszüge seines geliebten Mädchens annahm.
***
Als Reja aus dem Enigma in die Realität fiel, war sie zunächst ziemlich benommen. Wieder real zu sein war verwirrend und es war klüger sich vorerst ein bisschen Zeit zu lassen. Die Gründe ihres Hierseins wurden ihr langsam wieder bewusst. Das Holo vor ihr zeigte einen prächtigen blauen Planeten mit einem großen Mond, beide im Lichte der Sonne, da sie sich innerhalb der Planetenbahn befand. Historia! Der vergessene Planet. Der Ort der Revanche. Deswegen war sie hier, nicht um den Auftrag ihres Cousins auszuführen. Es ging ihr darum, Tjonre und Raft zu eliminieren und nicht darum Ephrams Reichtum zu vergrößern. Und ob irgendwer in der Föderation oder auf den Freien Planeten den Weg hierher kannte, war ihr schlichtweg egal.
Reja war klar, dass man ihre Ankunft bald wahrnehmen würde. Deshalb war sie nicht überrascht, statt des Planeten das übergroße Gesicht von Göttervater Zeus zu sehen. Er blickte wie üblich finster, Blitze zuckten um ihn herum und wer ihn ansah wusste, dass ein Donnerwetter zu erwarten war.
„Hallo, Herr Gott“, grüßte sie höflich und vorsorglich – die gebührende, korrekte Anrede, die Ephram mit ihr geübt hatte, hatte sie gleich wieder vergessen. Trotz ihrer Höflichkeit blickte Zeus ausgesprochen angeekelt, als er sie sah, was sie ihm übel nahm. Er hatte ihren weiblichen Reizen sofort zu erliegen. Ephram hatte gemeint, sie müsse vorsichtig sein, Zeus sei ebenso verschlagen, skrupellos und psychopathisch wie sie. Sie hatte angenommen, er übertreibe, hielt sie sich doch für in jeder Hinsicht einzigartig. Aber sein angewiderter Gesichtsausdruck mahnte sie zur Vorsicht.
„Sind wir jetzt eine Touristenattraktion? Was suchst du hier? Und wer bist du überhaupt? Und vor allem: wer hat dir verraten, wie du hierher kommst!?“
„Edler Obergott“, begann sie geradezu unterwürfig und natürlich falsch, aber das war ja klar, „ich bin die Cousine von Ephram OrPhon und komme an seiner statt. Dein Geheimnis ist bei mir in guten Händen! Leider gibt es eine Handvoll Leute, für die das nicht gilt. Wie sie den Weg zu euch gefunden haben ist uns schleierhaft. Ephram bedauert das zutiefst und hat mich geschickt, um die Sache zu bereinigen.“
„Bereinigen? Was meinst du mit bereinigen?“
„Nun – ganz einfach. Ich eliminiere die Eindringlinge und sorge damit für das Bewahren des Geheimnisses. Ich zerstöre ihr Schiff, das Landeboot, einfach alles, was euer Mysterium irgendwie gefährdet.“
„Da kommst du ein bisschen spät! Die beiden menschlichen Eindringlinge haben wir bereits eliminiert, was uns einen Sonnenwagen gekostet hat! Damit das klar ist: dein Cousin darf für die Kosten dieser Aktion aufkommen!“
„Und was ist mit dem Mädchen?“
„Die ist uns abhanden gekommen.“
„Dann bin ich gern bereit, euch beim Suchen zu helfen“, erwiderte sie heuchlerisch.
„Gut, warum nicht, aber um das klarzustellen: sie ist eine Göttin. Ihr krümmst du kein Haar. Wir werden dafür sorgen, dass sie hier bleibt und nichts weitererzählen kann.“ Reja willigte zum Schein ein, sie würde Glitzerköpfchen nicht ungeschoren davonkommen lassen. „Was das Raumschiff betrifft“, meinte der Gott, „findest du es in einer Kreisbahn um den Mond. Eliminiere es, falls du das mit deinem kleinen Schiff kannst. Dann darfst du Gaia besuchen.“
„Wen?“
Der Gott blickte noch angewiderter als zuvor, bevor er antwortete: „Historia natürlich, den Planeten.“
Fröhlich blickte sie ihn an. „Du wirst sehen, ich kann! Das ist sogar meine Spezialität.“ Der Gott verblasste und stattdessen erschien Irsa, das Lichtwesen, Avatar des Schiffes. Die strahlend weiße, von innen leuchtende Gestalt, die ihr Cousin gestaltet hatte, wartete auf ihren Befehl.
„Du hast diesen unbedeutenden Dummkopf, der sich für etwas Außergewöhnliches hält, gehört. Wir müssen in das Orbit des Mondes, also los!“ Irsa war ziemlich schweigsam für einen Avatar. Sie nickte bloß und verblasste. Dann wurde der Mond mit seiner zerklüfteten Oberfläche sichtbar, aus ihrer Perspektive zur Gänze von der Sonne beleuchtet, ebenso wie Historia. Von Historia aus beobachtete man ihn derzeit als Halbmond. Das gegnerische Schiff war nicht zu sehen, da es sich gegenwärtig auf der abgewandten Mondseite befand. Irsa erledigte die komplizierten Navigationsmaßnahmen, ohne dass sie von Reja im Schiffsinneren wahrgenommen werden konnten. Sie konnte nichts Bedeutendes tun und beschloss daher schlafen zu gehen, wobei sie Irsa beauftragte sie rechtzeitig zu wecken, wenn sie die Angriffsposition erreicht hatten. Reja schlief sehr schlecht und war daher überaus froh als Irsa meldete, dass das Schiff der Föderation endlich seine Deckung verließ und auf seiner Kreisbahn um den Mond sichtbar wurde. Sofort nachdem sie den Kommandoraum betreten hatte, gab sie den Befehl, fünf Raptor-Raketen loszuschicken. Ephrams Schiff war klein, aber extrem wehrhaft. Sie lächelte. „Was zwei Raptoren nicht geschafft haben, wird fünfen wohl möglich sein!“ Dann verließ sie den Raum in Richtung Hangar, um die Landefähre zu betreten. Von hier konnte sie das Ende des Föderationsschiffs genauso gut beobachten. Sie wollte keine Zeit verlieren und startete sofort. Der Hangar öffnete sich und spuckte die kleine Fähre aus, die Kurs auf Historia nahm. Noch nicht einmal die Hälfte des Weges zum Planeten hatte sie zurückgelegt, als das Schauspiel begann. Alle Raptorraketen griffen gleichzeitig, aber aus unterschiedlichen Winkeln an. Diesmal gelang es dem Föderationsschiff lediglich eine der Raketen abzuwehren. Alle anderen trafen ihr Ziel. Die Explosion war gewaltig und höchst befriedigend.
***
Raft und Tjonre hatten auf diesem merkwürdigen Kontinent bislang noch keine Menschen getroffen. Sie begannen sogar schon ernsthaft zu bezweifeln, dass es hier überhaupt welche gab. Als sie dann jedoch endlich welche trafen, waren sie auch nicht wirklich froh darüber.
Sie stapften weiter den Fluss aufwärts, Tjonre ließ flache Steine über die Wasseroberfläche sausen und Raft fluchte lästerlich.
„Ich verstehe nicht, warum du so jammerst“, meinte Tjonre, „auf Romjen herrschen eineinhalb g, hier nur eins, da muss das für dich doch ein Kinderspiel sein.“
„Wer sagt denn, dass wir auf Romjen viel wandern? Stimmt schon, es würde mir dort noch weniger Spaß machen, aber niemand, der etwas auf sich hält, würde dort weit gehen. Die Traditionalisten reiten einen Seger, ein sechsbeiniges Tier, die Reichen haben ihre Gleiter ...“
Tjonre wechselte das Thema: „Langsam wird es Zeit, dass wir auf eine Siedlung stoßen, die Nahrungsmittel gehen zur Neige.“
„Ob sich hier wohl in grauer Vorzeit die Leute alle gegenseitig umgebracht haben?“, wollte Raft wissen.
„Unsinn! Wir haben doch das Schiff gesehen, als wir noch die Meeresküste entlang wanderten. Erinnerst du dich nicht?“
„Der Punkt am Horizont! Du hast gesagt, dass das ein Schiff ist. Soweit ich gesehen habe, war es nichts anderes, als ein Punkt am Horizont. Er ist ja auch gleich verschwunden.“
„Weil er ... also weil das Schiff eben gerade über den Horizont gefahren ist. Darüber gekippt gewissermaßen. Klar war das ein Schiff.“
Sie gingen eine Weile schweigend weiter, in einer wunderschönen Auenlandschaft, mit uralten Bäumen etwas abseits der Ufer. Tjonre dachte, wie meistens, an Elri. Sie lächelte ihn an und blickte verheißungsvoll mit ihren großen dunklen Augen bis in sein tiefstes Inneres. Er stolperte über einen Felsbrocken und sein Tagtraum zerplatzte wie eine bunte, in allen Regenbogenfarben schillernde Seifenblase. Ärgerlich ließ er einen flachen Kiesel über das Wasser tanzen und hob danach einen größeren auf, der ihm gerade aufgefallen war, ein idealer Wurfstein. Dieses stereotype Verhalten half ihm dabei, sich wieder in seinen Phantasien zu ertränken, ebenso wie die äußeren Umstände. Der Himmel war strahlend blau, die Luft angenehm warm und eine leichte Brise schmeichelte der Haut. Zum Glück war kein Hochwasser, sodass sie bequem entlang der Uferlinie weiterkamen. Manchmal war der Untergrund schottrig, dann wieder sandig oder sogar lehmig, weshalb sie gelegentlich einsanken. Dass der Fluss nicht immer friedlich war sondern manchmal auch ganz anders konnte, bemerkte man deutlich auf ihrer Uferseite, wo er sich im Laufe der Zeit tief ins Erdreich eingegraben hatte, weshalb sie an einer mehr als mannshohen Lößwand entlang gingen, aus der armdicke Wurzeln hervorragten. Hier mäandrierte der Fluss beträchtlich und sein Bett war viel breiter, als seine einzelnen verknäuelten Arme. Sie wanderten gerade um eine Biegung, als sie die Reiter erspähten, die sie fast gleichzeitig ebenfalls wahrnahmen. Es waren fünf und sie saßen auf merkwürdigen Tieren mit einem enorm langen, grotesken Gesicht, einem gestreckten Hals an dem lange Haare herunter hingen und Beinen, die nur Stelzen waren, ohne Hände oder Füße. Der Schwanz schien ebenfalls nur aus sehr langen, geschmeidigen Haaren zu bestehen. Farblich waren sie unterschiedlich, manche rein braun, andere hell und dunkel gefleckt.
Die Reiter waren bedrohlich wirkende Gestalten mit schmutzigen, bärtigen Gesichtern, langen dunklen Mähnen, ihre Körper waren mit einem Kettenhemd geschützt und an ihrer Seite hingen breite Schwerter in groben, unverzierten Lederscheiden. Zwei trugen zusätzlich Bögen, die sie jetzt in eine ihrer Hände nahmen, während sie mit der anderen einen Pfeil aus dem geschulterten Köcher holten. Noch richteten sie ihre Waffen nicht direkt auf sie, doch das würde sich vielleicht ändern, wenn sie näher kamen und sie beeilten sich, so wie ein Rudel hungriger Wölfe, das seine Beute erspäht hat sich sputet, sie zu stellen. Während Tjonre noch darüber nachdachte, ob der große Sack, der über dem Rücken des sechsten Reittiers lag, wohl Nahrungsmittel enthielt, die sie kaufen könnten, erkannte Raft bereits, dass dies keine Händler waren und ihre Absichten nicht friedlicher Art.
Leise und ganz ruhig wies er Tjonre an: „Zurück an die Wand. Wir müssen uns den Rücken frei halten. Wenn sie uns umkreisen, ist es aus mit uns.“ Tjonre reagierte sofort und ging schnell die paar Schritte auf die Lößwand zu. Ein untersetzter, breitschultriger Reiter bleckte die Zähne, ein Grinsen, das nicht freundlich war, wie man an seinen kalten, tiefblauen, unbeteiligt wirkenden Augen sah. Er ritt einige Schritte vor den anderen, die ihm gelegentlich einen Blick zuwarfen. Raft ergriff den Schwertknauf, als er nur mehr einige Körperlängen der eigenartigen Reittiere entfernt war. Der Auftritt der Fremden war entschieden bedrohlich, weshalb sich Tjonre für eine – wie er hoffte – deeskalierende Handlung entschied.
„Seid gegrüßt!“, rief er ihnen entgegen, „wisst ihr, wo die nächste Stadt ist? Wir wollen dort Lebensmittel kaufen.“
„Vielen Dank, dass du ihnen gesagt hast, dass wir Geld haben“, zischte ihm Raft leise zu, „jetzt schneiden sie uns sicher die Gurgel durch.“
„Sie können uns sowieso nicht verstehen, also was soll’s.“
Doch da irrte Tjonre, denn der Fremde antwortete in grässlichem, aber doch verständlichem Standard. „Wozu wollt ihr das wissen? Ihr erreicht die Stadt sowieso nicht lebend!“ Diese Bemerkung erheiterte die anderen, die in grölendes Gelächter ausbrachen. „Ein Zwerg und eine dürre Gestalt! Seid froh, dass wir euch von eurer jämmerlichen Existenz erlösen!“
„Unterschätzt uns nicht.“ Auch Raft grinste nun breit; ein Anblick, der seine erschreckende Wirkung nicht verfehlte. Dennoch wichen die Banditen nicht zurück, ihre zahlenmäßige Überlegenheit gab ihnen ein berechtigtes Gefühl der Sicherheit, ebenso wie der Besitz der Bögen. Der Anführer blickte jetzt auch auf sein wildes Rudel zurück und lachte leise und verächtlich.
„Zwei gegen fünf, das wird ein kurzes Gemetzel“. Bevor Tjonre darauf hinweisen konnte, dass dieser Kampf unfair wäre und daher besser nicht stattfinden solle, geschah etwas Unerwartetes.
„Drei gegen fünf, Ezzra, wir sind zu dritt.“ Alle wandten sich überrascht dem Sprecher zu, der gerade aus der Buschgalerie herausgetreten war und so auf die Szene herabblicken konnte. Er wirkte belustigt, ein wölfisches Grinsen entblößte sein makelloses Gebiss. Er war ungewöhnlich hoch gewachsen, ein kräftig gebauter junger Mann, nur mit einem gegürteten Lendentuch und Sandalen, die bis zu seinen Knien hochgeschnürt waren, bekleidet, sah man einmal von seinen Waffen ab: einem schmucklosen Breitschwert, das in einer Scheide an seiner linken Hüfte baumelte, einem langen Dolch an seiner rechten und einer Streitaxt mit zwei Klingen, die er an seiner linken Schulter trug. Der Mann war tief gebräunt, außergewöhnlich breitschultrig, mit einer kräftigen Brust und muskulösen Armen. Unter seinen buschigen, zerzausten, schwarzen Haaren loderten gefährlich wirkende, blaue Augen.
Der Untersetzte, den der Fremde Ezzra genannt hatte, begann wild zu fluchen. „Granoc, bei allen Dämonen, du bist tot! Ich habe dich persönlich ins Jenseits befördert. Bist du ein Geist?“
„Nein, du Hund! Du hast mich aus dem Hinterhalt angegriffen, weil du die Beute nicht teilen wolltest, elender Schuft!“
Ezzra hatte sich wieder gefangen, denn er hatte erkannt, dass er immer noch im Vorteil war. Er lachte. „Wer so dumm ist, mir den Rücken zuzukehren ist selber schuld. Ich habe dir mit der Keule mit einer solchen Wucht auf den Schädel geschlagen, dass du eigentlich nicht mehr in der Lage hättest sein sollen, jemals wieder aufzustehen. Dein Schädel hätte Brei sein sollen! Stattdessen hattest du bloß eine klaffende Wunde. Deswegen habe ich dich über den Klippenrand gestoßen, weil ich annahm, dass dich der Aufprall sicher erledigt.“
„Du bist von der Zivilisation verweichlicht, Ezzra, dein Schlag war zu schwach. Und der Sturz wurde durch Astwerk abgefedert. Dennoch hat es eine Weile gedauert, bis ich dir folgen konnte. Die Spur war zwar schon undeutlich, doch für die Augen eines Barbaren durchaus noch zu erkennen. Aber du hattest einen Vorsprung und Pferde. Zweimal hätte ich deine Fährte beinahe verloren. Schließlich entschied ich mich, eine Abkürzung durch die Wälder zu nehmen. Und hatte Erfolg wie du siehst. Jetzt hole ich mir die Beute – und dein Herz, du samoranischer Abschaum!“
Ezzra hob die Hand – ein verabredetes Signal - und die zwei Männer, die etwas hinter den anderen zurück geblieben waren, spannten ohne Hast ihre Bögen. In einer geschmeidigen Bewegung, die jedem Panther zur Ehre gereicht hätte, ergriff Granoc unvorstellbar rasch die Streitaxt und schleuderte sie zielsicher. Sie blieb in der Stirn des einen Bogenschützen stecken. Der Mann kippte lautlos nach hinten. Etwas langsamer aber immer noch schnell genug erinnerte sich Tjonre an den flachen aber doch massigen Stein, den er in der Hand hielt und warf ihn mit der für ihn üblichen Präzision. Er traf die Nasenwurzel des zweiten Bodenschützen, der aufschrie und ohnmächtig seitlich vom Pferd rutschte. Granoc nutzte indessen seine erhöhte Position und sprang wie eine Raubkatze auf den überraschten Anführer der Räuberbande zu, dem es allerdings gelang, noch eine Ausweichbewegung durchzuführen. Deshalb traf ihn bloß die mächtige Pranke des Angreifers an der Brust. Die Wucht des Hiebs reichte aus, um den Mann aus dem Sattel zu schleudern. Granoc hatte sich im Sand abgerollt und war federnd aufgesprungen, während sich Ezzra eher unelegant aufrappelte. Beide zogen blitzschnell das Schwert und standen sich nun für einen Augenblick gegenüber. Dann hob Granoc sein Breitschwert und Ezzra konnte nur mit Mühe den mächtigen Schlag mit seiner gekrümmten Klinge ablenken. Was nun folgte war ein Wirbel aus Stahl, der zeigte, dass beide Männer meisterhafte Schwertkämpfer waren. Granoc bewegte seine schwerere Klinge ebenso rasch wie sein Gegner, dem es zunehmend Mühe bereitete, sich der auf ihn herab prasselnden Hiebe zu erwehren.
Währenddessen waren die beiden anderen Angreifer nicht untätig geblieben. Beide suchten den Nahkampf, wegen der wurzeldurchsetzten Lößwand waren die Pferde eher hinderlich. Routiniert sprangen sie daher vom Pferd, zogen das Schwert und stürzten sich blitzschnell auf Tjonre und seinen Begleiter. Tjonre wurde dadurch völlig überrumpelt, konnte noch nicht einmal das Schwert völlig ziehen, da war der an Körperkraft deutlich überlegene Räuber schon über ihm, holte mit seiner gekrümmten Klinge über dem Kopf aus und ließ sie auf das Haupt des Wäganers niedersausen. Dem gelang es gerade noch seinen Kopf zur Seite zu werfen, sodass das Krummschwert auf seiner Schulter landete. In einer instinktiven Abwehrbewegung schmetterte Tjonre den Knauf seines Schwertes gegen die Schläfe des Gegners, der daraufhin ohnmächtig zu Boden sank. Tjonre ging in die Knie und wartete auf den unsäglichen Schmerz der wohl mit einem abgetrennten Arm einherging. Überraschend blieb der aber aus und schließlich wagt er zur Seite zu schauen. Er war unverletzt! Erst jetzt fiel ihm die Schutzweste wieder ein, die er aus dem Sonnenwagen gerettet und seitdem immer getragen hatte. Plötzlich fing er an unkontrolliert zu zittern und erbrach sich auf das Kettenhemd seines betäubten Widersachers.
Raft hatte schneller reagiert als Tjonre und seine Klinge rechtzeitig gezogen, trug jedoch keine Schutzkleidung. Er war kein geübter Schwertkämpfer und auch nicht wendig, aber doch schnell genug, es mit dem untersetzten Mann aufzunehmen und die auf ihn niederregnenden Hiebe rechtzeitig zu parieren, konnte aber selbst keinen Angriff durchführen. Rückwärts gehend lockte er den Angreifer immer näher an die Felswand bis endlich das Ereignis eintrat, auf das er gehofft hatte. Das Schwert des Gegners verfing sich für einen Moment in einer Wurzelschlinge. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte seine Klinge die Wurzel durchtrennt, aber da hatte sich Raft bereits auf seinen Widersacher geworfen und umklammerte mit beiden Armen dessen Brustkorb so fest, dass die Rippen mit einem hässlichen knirschenden Geräusch nachgaben. Der Mann schrie auf, hatte aber nicht die Kraft sich zu befreien. Er versuchte es trotzdem und ließ dabei instinktiv das Schwert fallen, um beide Hände frei zu haben. Aber auch mit beiden Händen war er viel zu schwach und wäre es auch gewesen, wäre er nicht schwer verletzt. Raft drückte wie eine Riesenschlange die letzte Luft aus seinen Lungen und wartete geduldig, bis er erstickte. Dann blickte er sich um. Granoc kämpfte immer noch mit Ezzra. Es war ein Genuss, diesen beiden perfekten Schwertkämpfern zuzusehen und Raft dachte daher nicht daran, sich einzumischen. Granoc war nicht nur größer und stärker – Raft vermutete, dass er der stärkste Mann war, der ihm je auf einem ein-g-Planeten begegnet war, weit stärker, als dieser Angeber Ares – sondern auch ausdauernder, obwohl er aus zahlreichen kleinen Wunden blutete. Ezzras Kettenhemd hatte ihn bislang geschützt, sah aber bereits stark mitgenommen aus. Der Räuber schwitzte und atmete stoßweise. Er musste vor dem Hünen, der sich so geschmeidig wie ein Panther bewegte, immer weiter zurückweichen, bis er schließlich stolperte. Das brach kurz seine Verteidigung und mehr brauchte Granoc nicht. Mit einem gewaltigen Hieb trennte er den Kopf des Räubers vom Körper, der in hohem Bogen in den Fluss geschleudert wurde und mit der Strömung davon trieb. Tjonre hatte sich inzwischen so weit erholt gehabt, dass er das Schauspiel verfolgen konnte. Ihm wurde gleich wieder schlecht. Wenigstens war Ezzras’ Körper nach hinten gekippt, so dass er lediglich die unversehrten Schuhe des Räubers sehen musste und nicht seinen kopflosen Hals. Granoc warf seine schwarze Mähne nach rückwärts und bewegte sich dann geschmeidig auf den Mann zu, den Tjonres Stein auf der Stirn getroffen hatte und der gerade im Begriff war, wieder aufzuwachen. Der Riese hob die blutige Waffe und ließ sie auf den Kopf des Mannes hinabsausen, gerade als der ihn ein wenig hob. Dann trat er mit der Sandale auf den gespaltenen Schädel und zog das Schwert heraus. Auch diese Szene diente nicht zur Beruhigung von Tjonres Magennerven. Mittlerweile hatte er bereits das Gefühl, sein Magen hinge ihm umgestülpt aus dem Mund. Völlig entkräftet wie Tjonre war, konnte er nur mit ansehen, wie Granoc auf ihn zukam, immer noch lächelnd, als wäre das alles der größte Spaß auf der Welt. Hatte der Hüne vor, auch ihm den Kopf abzuschlagen? Aber sein Weg führte ihn ein wenig seitlich und wie eine Kobra schlug die Klinge abermals zu und traf diesmal den Schädel jenes Straßenräubers, den Tjonre mit seinem Schwertknauf betäubt hatte. Wieder spritzte Blut und Hirnmasse und er fühlte sich inzwischen so elend, dass er fast hoffte, er würde von seinen Leiden erlöst, wäre da nicht die Erinnerung an Elri gewesen. Granoc ging wieder zum Fluss, um sein Schwert zu reinigen. Im Vorbeigehen riss er ein Stück Stoff aus Ezzras’ Kleidung, einem Leinenhemd, das er unter dem Kettenpanzer getragen hatte. Nach ausgiebiger Reinigung steckte er sein Breitschwert zurück in die Scheide. Sein nächstes Ziel war der Mann, in dessen Stirn seine Streitaxt steckte; er zog sie mit einem knirschenden Geräusch heraus und säuberte auch sie. Schließlich schien er zufrieden. Er grinste sie an.
„Wer seid ihr? Ihr habt eine merkwürdige Art zu kämpfen, bei Crom!“
Tjonre fühlte sich zu grauenvoll um zu antworten, aber Raft hatte den Kampf durchaus genossen. „Wir sind zwei Wanderer auf dem Weg zur nächsten Stadt, um Lebensmittel zu besorgen. Wisst Ihr wo die nächste Stadt ist?“
Granoc schwappte sich zwei Handvoll Wasser ins Gesicht und prustete. „Einen Tagesritt flussaufwärts.“
„Wir haben keine Reittiere.“
Granoc grinste wieder. „Jetzt schon.“
Raft war neugierig. „Ihr seid ein hervorragender Schwertkämpfer. Wo habt Ihr das gelernt?“
Granoc zuckte mit den Achseln. „Ich wurde während einer Schlacht geboren und habe schon als Junge mehr Kämpfe erlebt als die meisten in ihrem ganzen Leben. Ich stamme aus einem düsteren, barbarischen Land des Nordens, Kimerien, wo Stammesfehden an der Tagesordnung sind und die Sonne kaum je durch die Nebeldecke dringt. Wer dort überleben will, muss sich mit Waffen vertraut machen. Den Umgang mit dem Schwert erlernen wir noch bevor wir die Milchzähne verlieren.“
„Warum seid Ihr von dort weggegangen?“
„Man wollte mir nicht verzeihen, dass ich im Streit dem Häuptling meines Dorfes den Schädel einschlug. Außerdem reizte mich das Abenteuer, bei Crom, schöne, heißblütige Frauen, Gold ... Es gab damals Grenzscharmützel zwischen Achwilonien und Chingara und ich ließ mich als Söldner anwerben, zunächst für Chingara, aber die Achwilonier zahlten besser. Nun, diese Kleinkriege wurden bald langweilig, deshalb zog ich weiter nach Osten. Und Ihr? Eure roten Haare verraten mir, dass ihr aus Hyperborea stammt und euer Begleiter könnte mit seinen blonden Haaren wohl Newedier sein, aber euer Kampfstil passt nicht dazu. Bei Crom, man könnte meinen ihr stammt aus einem Land, in dem es keine Schwerter gibt!“
„Ihr habt recht“, antwortete Raft schnell, „bei Crom, wir stammen aus Hyperborea und Newedien, nur sind wir keine Krieger, mein Begleiter ist ein Weiser und ich diene seinem Schutz, wenngleich ich im Umgang mit Waffen noch eine Menge lernen kann, wie mir jetzt klar geworden ist.“
„Bei Crom?“, warf Granoc ein, „ist der oberste Gott der Hyperboreer nicht der Frostriese Ymir? Und beten die Newedier nicht zu Mitra? Ihr seid merkwürdige Weise, wenn ihr nicht einmal eure eigenen Götter kennt! Und jemand der aus Hyperborea stammt und nicht mit dem Schwert umgehen kann, gibt es wohl genauso wenig wie Weise aus diesem Land.“
„Bei Mitra also“, murmelte Tjonre, für mehr reichte seine körperliche Verfassung nicht und von Göttern hatte er seit seinem Besuch bei den Olympiern ohnehin genug. Raft sagte gar nichts.
„Nun denn“, meinte Granoc nach einer Weile, „dann lasst uns die Beute teilen“.
Tjonre wollte keine weitere Verzögerung, auch wenn er sich fürchterlich schwach fühlte. „Danke, aber wir verzichten auf ...“
„Alles bis auf zwei Reittiere“, fiel ihm Raft ins Wort. Mit diesen komischen Langnasentieren würden sie allerdings schneller vorwärts kommen und soviel schwerer als Harpyien würden sie wohl auch nicht zu reiten sein.
„Oh ja, das wäre uns tatsächlich eine große Hilfe, wir sind doch in Eile“.
„Wohin wollt ihr denn?“
„Zu den Quellen dieses Flusses in den Schwarzen Bergen“, erläuterte Tjonre.
Granoc sah nachdenklich aus. „Dort leben die Grauen Menschenaffen, Wesen mit unmenschlicher Kraft, die uns Menschen hassen. Man sagt, das sei deswegen so, weil sie selbst einmal Menschen gewesen waren und von schwarzen Dämonen, die ebenfalls in diesen Bergen leben, in diese Zerrbilder verwandelt worden sind.“
„Müssten sie dann nicht eigentlich die schwarzen Dämonen hassen?“, meinte Raft logisch, „übrigens sind es diese Dämonen, die Sandarken, mit denen wir sprechen wollen.“
Granoc blickte sehr skeptisch. „Ich glaube kaum, dass sie mit euch sprechen wollen. Eher werden sie irgendwelche teuflischen Dinge mit euch anstellen.“ Granoc begann die Waffen des Anführers einzusammeln. Es würde eine Weile dauern, bis er alles verstaut haben würde, was sich noch verkaufen ließ.
So lange wollte Tjonre nicht warten „Wir nehmen diese beiden Tiere“, meinte Raft, „wie sagtet Ihr, heißen diese merkwürdigen Kreaturen?“
Granoc lachte über die Ahnungslosigkeit seiner Mitkämpfer. „Pferde!“, sagte er, „man nennt diese Kreaturen Pferde!“
Tjonre kletterte mühevoll auf den Rücken eines der Tiere und Raft warf ihm den Rucksack zu, der fast ihr gesamtes spärliches Hab und Gut enthielt. Dann stieg er selbst auf ein zweites Pferd, das protestierend wieherte und unter seinem Gewicht einzusacken drohte. Schließlich erwies es sich aber als stark genug. Dann ritten sie nicht allzu rasch, da sie sich erst an die neuen Reittiere gewöhnen mussten, flussaufwärts und ließen den Hünen, seine Beute und die Leichen der Räuber hinter sich.
***
Die Untätigkeit, zu der sie gezwungen war, machte Elri unglücklich. Zwar wusste Elri jetzt, dass Tjonre den Absturz überlebt hatte, aber was war danach passiert? Wäre diese Unsicherheit nicht gewesen, wäre Tjonre noch bei ihr, hätte sie dieses wunderschöne Fleckchen Erde durchaus genießen können. Lemnos war wirklich eine prachtvolle Insel und die Sintier waren überaus freundlich Menschen, wenngleich sie ihr gegenüber sehr scheu waren. Ihre Haare verrieten, dass sie eine Gottheit war und ihr safranfarbenes Gewand, das sie jetzt immer trug, auch welche. Die Sintier wussten offensichtlich besser Bescheid als sie selbst.
„Erzähl mir mehr von mir“, bat sie deshalb Hephaistos bei einem gemeinsamen Spaziergang durch duftende Wiesen auf kargem, rotem Boden in der Nähe des Orakels. „Wer waren meine Eltern? Habe ich Geschwister? Bin ich, also Eos, böse? Bin ich verheiratet? Habe ich Kinder? Habe ich eine Aufgabe?“
Hephaistos grinste. „Viele Fragen. Nun denn. Deine Eltern waren Titanen, dein Vater hieß Hyperion, deine Mutter Theia. Du hast zwei Geschwister, deine Schwester heißt Selene und dein Bruder Helios.“
„Helios?“ Sie war offenbar überrascht.
“Du bist deswegen nicht sicher vor ihm, er ist ja nicht wirklich dein Bruder.” Sie nahm das schweigend zur Kenntnis. „Du fährst in deinem von zwei Pferden gezogenen Wagen vor deinem Bruder über den Himmel. Deshalb nennt man dich auch die Früherwachende.“
Sie seufzte. „Ich glaube, ich bin eine Fehlbesetzung. Ich stehe gar nicht gern sehr früh auf. Ich bin zwar kein extremer Langschläfer, aber auch keine Frühaufsteherin. Und - ganz ehrlich – ich fühle mich überhaupt nicht als Göttin.“ Sie schwieg eine Weile. „Bin ich verheiratet? Ich meine als Eos.“
„Du hattest viele Männer, Sterbliche wie Unsterbliche.“
Sie empfand und äußerte Unmut. „Stimmt gar nicht. Ich bin wirklich eine Fehlbesetzung!“
„Und du hast viele Kinder.“ Elri blickte ein wenig wehmütig auf das stahlblaue, fast spiegelglatte Meer. „Vielleicht später einmal. Vielleicht ... Bist du eigentlich verheiratet?“
„Doch, ja, mit Aphrodite.“
„Mit Aphrodite!?“ Das erstaunte sie nun wirklich. „Aber ihr passt doch überhaupt nicht zusammen!“
„Wem sagst du das? Weder in der Mythologie noch in der Wirklichkeit haben wir irgendetwas gemeinsam, glaub mir. Im Übrigen geht sie mit Ares fremd – in der Mythologie wie auch in Wirklichkeit.“
„Bist du deshalb unglücklich?“
„Ich fühle mich den anderen Göttern fremd, also bin ich nicht ganz glücklich, aber wegen Aphrodite? Nein, sie ist mir egal.“
Elri musste das erst verdauen. „Gibt es irgendein Buch über eure Mythologie?“
„Wenn wir wieder beim Orakel sind, gebe ich dir eines.“ Den Rest des Weges legten sie naturbetrachtend und schweigend zurück. Beim Tempel angekommen meinte Hephaistos: „Du triffst jetzt häufiger Menschen und früher oder später werden die anderen Götter dich aufspüren. Deshalb wäre es ganz nützlich ...“
„Ja?“
„... wenn du eine Rüstung tragen würdest.“
Elri blickte ablehnend, deswegen beeilte er sich zu sagen: „Kein so ein nutzloses Imponierding, wie Ares es immer trägt. Ich mache für die Götter auch unauffällige Rüstungen, die unter der normalen Kleidung getragen werden können. Sie schützen dich sogar vor Plasmaimpulsen – bis zu einem gewissen Grad, einem Dauerfeuer sind sie natürlich nicht gewachsen – aber jedenfalls bewahren sie dich vor Schlag- und Stichverletzungen. Als Angriffsfunktion könnte ich zwei Armreifen mit Elektroschock-Potential hinzufügen. Das ist nicht viel, aber um geringere Körperkraft auszugleichen, genügt es allemal.“
Elri zögerte nur kurz. „Wenn sie nicht all zu unbequem ist, ziehe ich deine Rüstung natürlich gerne an. Ich fürchte, ich werde sie noch brauchen. Ich fühle mich tatsächlich ein wenig unsicher, weil ich nicht das Gefühl habe, mich verteidigen zu können. Was heißt Gefühl! Ich kann es wirklich nicht.“
„Dem kann abgeholfen werden.“ Sie gingen vorbei am Tempel, zum Orakel, hinter den Opferstein und Hephaistos öffnete die Tür zur Wendeltreppe. Diesmal zeigte er ihr, wie man das macht. Sie folgte ihm die Treppe hinab und in den großen Raum, den sie schon kannte, Theanos Reich. „Ich zeige dir jetzt etwas, das dich interessieren wird, einen sehr alten Raum, zu dem Theano keinen Zugang hat. In diesem Raum hat dein Vater viel Zeit verbracht. Er liebte wohl die altertümliche Ausstattung und die zahlreichen Bücher!“ Sie gingen auf eine massive Wand zu, da war nirgends eine Tür zu sehen. Er nahm ihre Hand und führte sie etwas über Kopfhöhe zur Wand.
„Berühre diesen glatten Stein.“ Kaum hatte sie das getan, schwang ein Stück der Wand zurück. Sie blickte in einen kleinen, dämmrigen Raum, dessen Wände etwa zur Hälfte von Regalen mit Büchern eingenommen wurden. Wo keine Bücher waren, waren die Mauern verspiegelt. Hephaistos ging vor, von ihr weg und kam ihr gleichzeitig entgegen. Dann drehte er sich zu ihr um und von ihr weg. Als sie den Raum betrat, passierte etwas Unerwartetes. Er wurde schlagartig hell, erstrahlte in einem gleißenden, blauen Licht, das sich an den Spiegeln vielfach verstärkte. Erschrocken und geblendet schloss Hephaistos seine Augen. „Deine Haare!“ rief er.
„Sie leuchten“, meinte Elri erstaunt. Die plötzliche Helligkeit schränkte ihr Sehvermögen nicht so stark ein, denn sie war ja die Quelle des Phänomens. „Aber warum? Und warum so hell?“
Hephaistos tastete sich zum Tisch in Zimmermitte und berührte einen Knopf. Das Strahlen verschwand. Kurz darauf füllte sich der Raum mit einem angenehmen, warmen, gelben Licht. „Um die Bücher vor einheimischen Mikroben zu schützen, die sehr aggressiv sind, wird der Raum in UV-Licht gebadet. Offenbar wandeln deine Haare es sehr effizient in sichtbares Licht um“. Elri erinnerte sich, dass das schon einmal geschehen war und musste an Ma Handor denken und wurde kurz traurig. „Du musst das UV-Licht und die andere Beleuchtung händisch einschalten“, erklärte Hephaistos, „mithilfe dieser Schalter, entweder beim Eingang oder hier am Tisch. Theano kann es nicht für dich tun, er kann nicht hierher.“
Elri nickte. „Mein Vater war hier?“
„Ja, er hat seine Aufzeichnungen hier geführt und Literaturstudien betrieben. Du findest in den Regalen eine Menge Bücher über Historias und Terras Geschichte. Der Raum besitzt natürlich nicht nur Bücher, sondern auch viele Meme und Lese- und Schreibgeräte.“ Er lächelte sie an, wie man einen Menschen anlächelt, den man sympathisch findet. Dann ging er auf eines der Regale zu, zog ein dickes, ziemlich zerlesenes Werk heraus und reichte es ihr. „Das, Anteia, ist die Ilias. Ich glaube zum Lesen reicht das für den Anfang.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Oh ja“, bestätigte sie, „das Buch ist ziemlich dick.“ Sie las zwar gerne, war aber noch keine geübte Leserin.
„Gut“, meinte er, „und jetzt bereite ich die Rüstung vor.“ Sie verließen den Raum, wobei Hephaistos das UV-Licht wieder aktivierte. Er nickte ihr zu. „Bis später.“ Sie lächelte und winkte mit dem Buch, sah dem Gott noch zu, wie er eine weitere verborgene Tür öffnete und verließ dann den großen Raum und schritt die Treppe empor, froh wieder ans Tageslicht zu kommen.
In den nächsten Tagen arbeitete sie sich einerseits durch das Buch, andererseits war Hephaistos damit beschäftigt, die Rüstung an ihren Körper anzupassen. Der Rumpfteil wirkte auf sie eher wie ein Mieder, weil er ein wenig starr war, wenngleich nicht zu eng. Auch Arme und Beine waren geschützt. Insgesamt war sie wirklich nicht zu hinderlich, gab ihr das erhoffte Gefühl der Sicherheit und ließ sich unauffällig unter ihren hellen, gelben Gewändern tragen, solange sie nicht die anliegendsten wählte. Bis auf den Helm natürlich. Sie überlegte, ob sie sie wirklich mehr oder weniger ständig tragen sollte. Gefahr kam unerwartet, erklärte ihr Hephaistos, was sie einsah. Außerhalb ihrer Gemächer würde sie also nicht leichtsinnig auf diesen Schutz verzichten. Sie konnte sich aber nicht dazu überwinden, auch den Helm zu tragen, dann würde sie ja aussehen wie eine Kriegsgöttin.
Als sie sich einigermaßen an die Rüstung gewöhnt hatte, offenbarte ihr Hephaistos, warum er so auf ihren Schutz bedacht war. „Ich muss dich allein lassen. Wenn ich mich nicht gelegentlich im Olymp blicken lasse, werden die anderen Götter misstrauisch, wittern eine Verschwörung oder sonst was. Sie sind alle ziemlich paranoid. Außerdem muss man immer wissen, was dieses Gesindel plant.“ Elri sah das ein. Sie würde sich schon die Zeit vertreiben, bemerkte sie.
Mit dem Buch ging es gut voran. Die Rahmenhandlung war nicht sehr überraschend. Es ging um eine Frau, Helena, die von zwei Männern begehrt wurde und sich nicht entscheiden konnte. Oder genauer: sie konnte und entschied sich jeweils für den, der gerade da war. Sie konnte einfach nicht nein sagen. Die Männer waren keine gewöhnlichen Männer, sondern Herrscher und Heroen, weswegen der Konflikt überdimensionale Ausmaße annahm. Außerdem benahmen sie sich gar nicht wie Männer, sondern wie verzogene Kinder, ziemlich kleinlich und neidisch und beleidigt. Frauen spielten – neben Helena - auch eine Rolle, aber hauptsächlich als Kriegsbeute. Auch Götter mischten munter mit, sie waren parteiisch und oftmals ziemlich dumm, spielten gerne mit dem Leben anderer, ihre Gegenstücke auf Historia waren ihnen da ziemlich ähnlich. Zum Schluss starben sehr viele Menschen, wobei genau geschildert wurde, wie.
Elri wunderte sich vor allem über das Verhalten Helenas. Das Grundthema war ihr zwar auch in anderen Büchern, die sie auf dem Weg von Ivarn hierher gelesen hatte, begegnet. In einem antiken Buch stand ein Mädchen zwischen einem Vampir und einem Werwolf, die sie beide liebten und konnte bzw. wollte sich nicht endgültig entscheiden; in einem anderen eine junge Frau zwischen einem Mann, der gut küssen konnte, aber arm war und einem reichen Schlechtküsser. Auch sie schwankte die ganze Zeit hin und her, als hätte sie keinen eigenen Willen. In ihrem letzten Buch fühlte sich eine Halbelfe sowohl von einem menschlichen Räuberhauptmann als auch von einem Elfenprinzen angezogen. Elri fand das ziemlich merkwürdig. In gewissem Sinn war sie auch in der Situation, dass zwei Männer – einer davon ein Gott, was aber eigentlich egal war – sie begehrten, aber das löste bei ihr keine Entscheidungskrise aus. Sie liebte Tjonre, absolut und unzweifelhaft und empfand nichts für den stärkeren, größeren und imposanteren Ares. Tjonre hatte sein Leben für sie riskiert und würde es wieder tun; Ares würde für niemanden auch nur Unannehmlichkeiten auf sich nehmen. Und selbst wenn es anders wäre, käme er einfach zu spät. Das war sie auch bereit, ihm jederzeit kund zu tun. Sie konnte ‚nein‘ sagen. Und sollte er das ignorieren, würde er mit einigen Angriffsfunktionen ihrer Rüstung Bekanntschaft schließen. Irgendwie hatte Elri das Gefühl, dass all diese Frauen in den Romanen nicht wirklich wussten, was Liebe eigentlich bedeutete, obwohl sie oftmals von starken Gefühlen oder tollem Sex faselten.
***
Ares dachte indessen nicht mehr an Anteia, sein Groll, hervorgerufen durch verletzten Stolz, hatte sich inzwischen gelegt und schließlich hatte er ja auch noch Aphrodite. Anteia – Eos – hätte zwar eigentlich in seinen Armen landen sollen, war aber stattdessen untergetaucht, offenbar von seinem prachtvollen, männlich-göttlichem Körper unvorstellbarer Weise unbeeindruckt. Das hatte sein Ego kurz angekratzt. Hatte er nicht gemeinsam mit Helios einige Mühe auf sich genommen, um ihren Ehemann beiseite zu schaffen? Noch dazu auf eine Weise, die wie ein Unfall aussehen musste, damit er vor Anteia nicht wie ein Mörder dastand, sondern der Trauernden eine Schulter zum Weinen anbieten konnte. Und mehr als eine Schulter.
Natürlich empfand Ares seine Tat nicht als Mord, da die Opfer ja keine Götter gewesen waren. Die Götter verbrachten viel Zeit damit bei den Achaiern und ihren Nachbarn Zwietracht zu säen, die daraus folgenden Scharmützel genau zu beobachten, entweder, indem sie körperlich anwesend waren und direkt beobachteten oder sogar eingriffen, oder, indem sie die Szenen durch ferngesteuerte Kreaturen, meist Vögel, aufnahmen und später im Olymp ansahen, nicht ohne zuvor für oder gegen den einen oder anderen Helden gewettet zu haben. Alle Götter beteiligten sich daran – außer Hephaistos, der ein Eigenbrötler war - aber die strategische Planung übernahmen meist Athene und er.
Als der Morgen mit Rosenfingern erwachte, landete die Fähre der fremden Frau am Rande des Olymp, gleich neben dem Landeboot, das Anteia und ihre Freunde gebracht hatte und nun auf Zeus' Befehl von Kyklopen umringt wurde. Sie war die Cousine jenes Mannes, der sehr gut dafür bezahlt worden war, dass niemand in der Föderation den Weg nach Historia finden sollte – und der ganz offensichtlich versagt hatte. War ihm klar gewesen, dass das Konsequenzen haben würde? Hatte er sie deshalb hergeschickt, um selbst seinem Schicksal zu entgehen? Das war Zeus Meinung gewesen.
„Andererseits hat die Fremde als erste Tat das Schiff der Eindringlinge zerstört und damit deren Flucht unmöglich gemacht. Damit ist der Vertrag eigentlich wieder erfüllt“, meinte dazu Athene. Die Götter saßen zu Rate. Aphrodite sah sich die Aufzeichnungen an und versuchte abzuschätzen, ob die Fremde für sie eine Konkurrenz in Sachen erotischer Ausstrahlung und Raffinesse sein könne. Anteia war dies ganz offensichtlich nicht gewesen, trotz ihrer natürlichen Schönheit und Eleganz. Aber diese Frau ... Konkurrenz liebte Aphrodite gar nicht. Vielleicht sollte sie für ihren Tod stimmen.
„Ephram ist der Einzige, der den Weg zu uns wissen darf und das ist ihm auch klar. Wenn er sein Cousinchen herschickt, dann darf er sich nicht wundern, wenn er sie nicht zurück kriegt. Vielleicht will er das auch gar nicht.“ Sie sagte das in einem sehr sachlichen, ja fast schon gleichgültigen Ton und manükierte dabei ihre Fingernägel.
Ares lümmelte am Langtisch und blickte begehrlich zu Aphrodite. Aber natürlich interessierte er sich auch für die Fremde. Man konnte sie immer noch danach sterben lassen. „Hören wir doch zuerst einmal, was sie zu sagen hat. Bislang hat sie keinen Schaden angerichtet.“ Und an Zeus gerichtet: „Schicke ein paar deiner Kinder aus, die Fähre zu bewachen. Dann ist sie uns ausgeliefert.“
„Ich weiß selbst sehr gut, was ich mit meinen Kyklopen mache! Ich brauche deinen Rat nicht.“ Er fixierte Ares zornig, der sich daraufhin abwandte. Er liebte Streit, Kampf, Aggression. Aber das ewig gleiche Gezanke mit dem Göttervater ging ihm auf die Nerven. Und außerdem: Eris, die schreckliche Göttin der Zwietracht, war gerade nicht anwesend. „Noch brauchen wir den Piraten“, fuhr Zeus fort, „vergesst das nicht.“ Den meisten Göttern war Ephram OrPhon allerdings völlig egal. Die Bedrohung von außen war ihnen natürlich bewusst. Wie leicht konnten sie von Göttern zu normalen Menschen degradiert werden, wenn neue Götter auftauchten. Die Anerkennung, die Lezart PaDorkis bei den Achaiern und anderen erworben hatte, in so kurzer Zeit, war nicht in Vergessenheit geraten. Aber jeder Gott hatte eben seine eigenen Probleme.
Der blond gelockte Helios, Sohn des Hyperion, fand das auch. „Vergesst bitte nicht, dass es nicht nur um die Fremde geht, sondern auch um meine Schwester Eos. Wir sollten uns langsam ernsthaft darum bemühen ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Diese Geschichte hat mich immerhin einen Sonnenwagen gekostet! Die Idee stammte nicht von mir. Warum soll allein ich die Kosten tragen?“
„Finde zuerst heraus, wo Hephaistos abgeblieben ist!“ Der Rat stammte von Zeus. „Dann findet sich deine sogenannte Schwester von selbst. Wer sollte ihr denn sonst geholfen haben? Und überhaupt – ist sie es wert? Immerhin hat sie einen Sterblichen geheiratet.“
„Da ist sie aber nicht die Einzige, die sich mit Sterblichen eingelassen hat!“ Die bittere Bemerkung stammte von Hera, Zeus' Gattin. Die sonst eher ruhige Göttin war in dieser Hinsicht etwas empfindlich. Allerdings nicht ohne Grund – Zeus war ein notorischer Fremdgeher.
„Wert oder nicht wert“, nahm Ares den Faden wieder auf, „Hephaistos hat einfach kein Recht, unsere sorgfältig geschmiedeten Pläne immer wieder zunichte zu machen.“
„Oho, wenn ihr das nicht wollt, wäre es wohl sinnvoll, mich in eure Ränke einzuweihen!“, schallte es vom Eingang der hohen Halle her. Hephaistos humpelte näher, vergnüglich grinsend.
Ares tobte: „Ah, du Krüppel! Gib zu, dass du etwas mit Anteias Verschwinden zu tun hast!“
„Ich habe sie auf Bitten ihres Mannes mitgenommen, stimmt. Aber ich hatte ja keine Ahnung...“. Er blickte jetzt tatsächlich besonders ahnungslos, „dass ihr irgendetwas mit ihr vor hattet.“
„Nun, werter Gatte, “ meinte Aphrodite, nicht ohne Zynismus, „und wo ist sie jetzt?“
Hephaistos antwortete ihr nicht direkt, er wandte sich an alle. „Ihr wisst: zu viel Verwandtenliebe kann lästig sein! Lasst ihr noch ein bisschen Zeit. Sie soll noch ein wenig mit ihrer Rüstung üben, die ich für sie gefertigt habe. Und dann – wenn sie wehrhaft ist, wie eine Göttin – mag sie zurückkehren in den Olymp.“ Er entnahm Ares finsterer Miene, dass der Gedanke an eine wehrhafte Göttin diesen nicht froh stimmte. Hephaistos war mit sich durchaus zufrieden.
In diesem Moment betrat Reja die Halle und das aufgeregte Getuschel verstummte. Eigentlich hatten die meisten der Götter beschlossen Reja, so wie zuvor die anderen Eindringlinge, schlicht merklich zu ignorieren, aber der unerwartete Auftritt Hephaistos hatte sie aus dem Konzept gebracht. Aphrodite erblickte Reja zuerst und zischte leise wie eine bösartige Schlange. Zeus auf seinem Thron registrierte unangenehm berührt, dass sie bewaffnet war; ein Plasmaimpulsstrahler baumelte von dem Gurt an ihrer Taille. Sie platzte selbstbewusst in die Versammlung, Ares musterte sie interessiert, Hephaistos schlüpfte sofort in die Rolle des Gastgebers. „Willkommen“. Er ging ihr entgegen, ein wenig ratlos, denn im Gegensatz zu den anderen Göttern wusste er nicht, wer sie war.
Reja lächelte ihr strahlendstes Lächeln. „Hi ihr Götter! Wie geht’s?“
Etikette war offensichtlich nicht ihre Stärke, stellte Zeus für sich fest.
Ob der Hässliche mit dem Buckel auch ein Gott war? Vorsichtshalber lächelte sie auch ihn an. Dann ging sie an ihm vorbei direkt zu Zeus an den sie sich wandte: „Das fremde Schiff habe ich vernichtet, wie du es gewünscht hast. Damit kann keiner mehr von hier weg. Außer ich natürlich. Und keiner kann mehr eine Botschaft an die Föderation schicken mit den Koordinaten dieses Planeten. Ich denke, damit haben Ephram und ich den Vertrag wieder erfüllt.“
Athene bestätigte. „Genau so sehe ich das auch.“
„Woher wissen wir das? Vielleicht haben sie ihre Kenntnis über die Koordinaten Gaias weitergegeben, bevor sie das Schiff verlassen haben? Vielleicht kann man die Adresse jetzt in jedem zweitklassigen Laden der Föderation kaufen? Ephram hat sein Versprechen nicht gehalten, so viel ist klar. Daher müssen wir ein Exempel statuieren ... und zwar an dir!“ Aphrodites Stimme triefte vor Gehässigkeit. Offenbar war sie sich nicht bewußt, dass ihre Gegnerin bewaffnet war oder ignorierte diese Tatsache. Oder vertraute Zeus. Reja blieb jedenfalls kühl und überlegen. Vorerst.
Auch Zeus blieb ruhig, denn von seinem Thron aus konnte er jederzeit einen Blitz auf die Fremde abfeuern, bevor diese reagieren konnte. Die Waffe war justiert und entsichert. Ein Knopfdruck genügte. „Das ist ein Punkt, den wir zumindest klären müssen“, bestätigte er Aphrodites Meinung, „wir werden Anteia fragen müssen.“
„Die aber nicht zu erreichen ist“, warf Helios ein.
„Ihr Götter braucht in dieser Hinsicht keine Angst zu haben“, verteidigte sich Reja, „der kleine, rothaarige von den Eindringlingen, Raft heißt er, hat mir versichert, dass das Schiff nicht mehr über die Enigma kommunizieren konnte.“
„Nun, uns hat er das jedenfalls nicht erzählt, oder?“ Athene blickte in die Runde. „Und auch die anderen nicht. Oder hat Anteia ...?“
Diese Frage richtete sie an Hephaistos, der den Kopf schüttelte. „Über dieses Thema wurde nicht gesprochen.“
„Dann sind wir jetzt also wieder am Anfang der Diskussion“, meinte Ares, „wo ist Anteia jetzt?“
„Sie wird kommen, wenn sie soweit ist“, antwortete Hephaistos.
„Noch ist sie nicht Göttin! Wenn sie offiziell zur Göttin erhoben werden will, sollte sie sich beizeiten rühren.“ Aphrodite konnte sich nicht vorstellen, dass es anders sein könne trotz Anteias Bemerkungen darüber, dass sie lieber Farmerin werden wolle. Ihr war die Sinnlosigkeit ihrer Existenz durchaus nicht bewusst, da man ihr von Kindheit an eingeredet hatte, dass jeder Mensch Götter braucht, zu denen er aufschauen und die er anbeten kann.
„Wenn sie erst erfährt, was damit verbunden ist – z. B. eine Liebschaft mit Ares – wird sich ihre Begeisterung in Grenzen halten“, warf die jungfräuliche Artemis gehässig ein.
„Nicht jede Göttin ist lesbisch“, knurrte Ares zurück, was Artemis zu einer giftigen Replik veranlasste. Das Ganze eskalierte: Worte mit Dornen und Widerhaken flogen hierhin und dorthin und manche besonders tief, sodass sie klettengleich an den Streitenden hängen blieben und sich nicht mehr so leicht abschütteln ließen und noch lange Unannehmlichkeiten bereiteten. Die Runde war zunehmend laut geworden und die Fremde nahezu in Vergessenheit geraten.
Deswegen schaltete sich Zeus in das Geschehen ein. „Ruheee!!!“, brüllte er, einem gewaltigen Donner gleich. Blitze zuckten um sein Haupt. Dann wandte er sich an Reja. „Zurück zu dir. Es erfolgt der Beschluss: du bleibst unser Gast, bis Anteia gehört wurde und wir wissen, ob sie oder ihre Begleiter die Adresse Gaias an die Föderation weitergegeben haben oder nicht. Du kannst dich jetzt zurückziehen. Hephaisatos wird dir deine Unterkunft zeigen.“
Sie gingen nach draußen, hinab zum ruhigen See. „Du bist eine Bekannte von Anteia, nicht wahr? Ich denke sie hat dich erwähnt.“
„Ach?“ Das gefiel Reja ganz und gar nicht. „In welchem Zusammenhang?“
„Sie hat erwähnt, dass du sie an Aphrodite erinnerst. Du ähnelst ihr wirklich, das empfinde ich genauso, deshalb ist mir das Gespräch wieder eingefallen.“
„Die blonde Göttin, die mich unbedingt tot sehen will? Ist das der Grund, warum sie mich unter allen Umständen ausgelöscht haben möchte? Mag sie keine Konkurrenz?“
„Sie kann ein ziemliches Biest sein. Ich weiß das. Sie ist meine Frau.“ Es gelang Reja ihre Überraschung zu verbergen. Hephaistos seufzte. „Wir haben natürlich nicht sehr viel gemein.“
„Das glaube ich auch.“ Sie machte eine Pause. „Die anderen schienen der Meinung zu sein, dass du mehr über Anteia weißt. Es wäre wirklich hilfreich, wenn wir wüssten wo sie ist, damit sie meine Worte bestätigen kann.“ Tatsächlich war Reja nicht dieser Meinung, denn sie hatte keinesfalls vor, ihr Leben in die Hände von Glitzerköpfchen zu legen. Eine Falschaussage - und ihr Tod wäre besiegelt. Die Verlockung musste für die kleine Sklavin enorm sein und sie konnte sich unmöglich vorstellen, dass es Menschen gab, die dieser Versuchung widerstehen konnten, weil sie selbst dazu niemals in der Lage gewesen wäre. Im Gegensatz dazu wäre Anteia nie auf den Gedanken gekommen, nicht bei der Wahrheit zu bleiben, wenn sie dadurch jemandem schaden würde, selbst wenn es ihr schlimmster Feind war.
„Warum hast du ihr Schiff zerstört“, wollte Hephaistos wissen, „wenn sie doch Bekannte von dir sind, vielleicht sogar Freunde?“
„Ich musste den Vertrag erfüllen. Ich bin in Ephrams Auftrag hier, vergiss das nicht. Sobald das Schiff den Weg in die Föderation zurückgefunden hätte, hätte jeder mit seiner Hilfe den Weg nach Historia aufgespürt. Ephrams Arbeit wäre umsonst gewesen. Und was die Drei betrifft – sie hätten mit mir zurückkehren können, ohne damit aber die Möglichkeit zu haben, Historias Adresse weiterzugeben. Damit wäre der Vertrag erfüllt. Leider besteht die Möglichkeit der Rückkehr nur mehr für Gli... für Anteia, da die Götter die anderen beiden offenbar umgebracht haben.“
Hephaistos beschloss spontan, ihr zu vertrauen. „Niemand ist gestorben, noch nicht. Es stimmt, es hat einen Absturz gegeben, wie Helios und Ares dies geplant hatten, aber deine Freunde sind klüger als die beiden dachten. Sie haben den Absturz überlebt.“
„Welch ein Glück“, sagte sie hocherfreut und musste sich dabei nicht verstellen. Nun war es ihr doch noch möglich, die drei ins Jenseits zu befördern, um danach raschest den Planeten zu verlassen. „Wo war Anteia währenddessen?“
„In meiner Obhut. Ich habe sie auf eine kleine Insel im Mittelmeer gebracht, wo sie vor den anderen Göttern geschützt ist. Sie ist nicht sehr wehrhaft und braucht ein wenig Hilfe“.
Dass sie nicht gerade eine Kämpferin war, wusste Reja durchaus, trotzdem lebte Glitzerköpfchen noch. Ein bedauerlicher Missstand, den Reja demnächst beseitigen würde. „Und die anderen beiden? Wo sind die?“
„Genau weiß ich das nicht. Auf einem anderen Kontinent, aber seit dem Absturz des Sonnenwagens kenne ich ihren Standort nicht und die Götter haben dafür gesorgt, dass keine Kommunikationsmöglichkeit existiert. Aber immerhin kenne ich ihr Ziel und irgendwann müssen sie dort ankommen.“
„Dann besteht also Hoffnung sie zu finden. Sehr gut.“ Tatsächlich war sie nicht so begeistert, eine lange Suchaktion war nicht eingeplant.
Sie waren bei einer kleinen, hellen Villa angekommen, verziert mit marmornen Säulen, die – wie Hephaistos sich erinnerte, von Lezart als „unhistorisch“ kritisiert worden waren. „Deine Bleibe, bis wir Anteia hierher geholt haben.“
„Könnten wir sie nicht abholen? Du weißt doch, wo sie sich aufhält. Ich möchte nicht allzu lange hierbleiben, ich habe noch anderes zu tun, als auf den See zu starren.“
„Was willst du? Es ist ein sehr schöner See.“ Das überzeugte sie nicht. Sie schüttelte ihre Lockenpracht und verlegte sich auf weibliche List und Verführungskunst. Mit einem koketten, langen, tiefen Blick unter ihrem halb gesenkten Wimpernvorhang versuchte sie ihn praktisch zu hypnotisieren – was ihr auch recht gut gelang, da er arglos war. „Hier also soll ich wohnen? Willst du mir nicht noch ein wenig die Räumlichkeiten zeigen, z. B. ... das Schlafzimmer?“ Sie lächelte verführerisch und insgeheim siegessicher. Hephaistos hatte angebissen, das war deutlich zu erkennen, er folgte ihr erwartungsvoll. Bereits am Morgen des nächsten Tages würde sie genau wissen, wo sie Glitzerköpfchen finden konnte. Auch Götter waren eben nur Männer.
***
In ihrer Angst und Verzweiflung heulte Yasiwi und aus ihren blicklosen Augen flossen die Tränen in Strömen und vermischten sich mit dem Staub auf ihrem Gesicht. Sie schrie ihr Leid heraus, jammerte um Hilfe, obwohl sie genau wusste, dass da niemand war, der ihr helfen würde. Es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte. Schließlich sprach sie sich selbst gut zu, es würde sonst keiner tun: „Beruhige dich Mädchen, es ist ja nicht das erste Mal, dass du in einer völlig verzweifelten Lage bist.“ Das Leben hatte ihr wirklich nichts geschenkt und schließlich war sie doch ein Aufstehmännchen; also: -weibchen. Wie hart sie auch hinfiel, sie stand immer wieder auf! „Ein Plan, ich brauche einen Plan.“ Wenn sie die Stadtmauer entlanglief, konnte sie vielleicht durch das Haupttor wieder hinein und dann ... Ja, was dann? Wieder drohte sie, in einem Meer der Mutlosigkeit zu versinken. „Nicht zu weit denken. Kleine Schritte. Eins nach dem anderen. Nur das Tor finden. Das reicht vorerst.“ Sie stand auf und versuchte sich zu orientieren. Aber wonach? Sie folgte ihrer Erinnerung, stolperte über einen Stein und wäre beinahe hingefallen, ging weiter, fiel über das nächste Hindernis, schlug sich das Knie blutig, keuchte vor Schmerz, rappelte sich wieder auf. Sie hielt kurz an, um gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen, wimmerte ein bisschen, weil ihr das Knie weh tat und sie nicht sehen konnte, wie ernst die Verletzung war. Eigentlich hätte sie die Stadtmauer bereits erreicht haben müssen. Sie war in die falsche Richtung gegangen. Aber wie falsch? In die entgegengesetzte Richtung? Oder bloß ein wenig schräg, sodass sie wenige Fuß von der Stadtmauer entfernt stand? Was jetzt? „Ich muss in einer Spirale gehen“, dachte sie, „im Kreis, immer weiter nach außen, dann finde ich die Mauer bestimmt“. Die Dunkelheit. Sie machte ihr solche Angst. Ein Leben in Finsternis. „Das nicht sehr lange dauern wird, wenn du so weiter machst.“ Diesmal hatte sie laut gesprochen. Sie hob die Arme und begann zu gehen, immer ein bisschen nach links, in einem großen Bogen.
Ein vorsichtiger Schritt nach dem anderen, die Hände vor dem Gesicht, immer darauf gefasst, gegen ein Hindernis zu stoßen. Aber damit, dass plötzlich der Boden wegblieb, hatte sie nicht gerechnet. Sie schrie auf, fiel, rollte eine Böschung hinab, schürfte sich die Haut auf und blieb schließlich völlig zerschlagen liegen. Sie spürte, dass sie an der Hüfte, wo sie auf einem Stein aufgeschlagen war, einen gewaltigen blauen Fleck haben musste. Sie kroch eine Weile auf allen Vieren, trotz des schmerzenden Knies, weil ihr das sicherer erschien. Dann stand sie mühsam und unter Qualen auf und betastete den Fuß der Böschung, die sie gerade hinunter gerollt war. Sie war steil und sandig. Ihre tollpatschigen Versuche hinauf zu klettern, brachten ihr nichts. Der Boden gab unter ihren Füßen nach, sie rutschte bloß immer wieder zurück „Wie soll ich da nur wieder hinauf kommen?“, fragte sie sich. „Vielleicht, wenn ich entlang gehe, krieche, egal, kommt eine weniger steile Stelle.“ Ihr blieb keine andere Wahl, als es zu versuchen. So tapste sie durch die Nacht, mit der linken Hand immer entlang der Böschung. Sand und Schotter wurden seltener und immer öfter ertastete sie Steine und schließlich Felsblöcke, neben ihr war nun eine steile Wand, deren Höhe sie nicht erahnen konnte. Hier kam sie nicht hinauf. Sollte sie zurückgehen? Noch nicht, entschied sie. Sie hatte sich verirrt, das war ihr klar, aber irgendwie würde sie schon wieder zurückfinden.
Immer öfter streiften Äste ihre rechte Hand, die sie vor das Gesicht hielt. Zur Abwehr nahm sie schließlich auch die linke zuhilfe. Sie stolperte weiter, fiel über Wurzeln und musste einer stacheligen Laubwand ausweichen, versuchte aber sofort wieder zur Felsmauer zurückzukommen, an der sie entlang gehen wollte. Aber so viel sie auch herumtastete, sie fand sie nicht mehr. Leise und zunehmend unkontrolliert schluchzend ging sie weiter, ohne auch nur zu ahnen, wohin. Sie wehrte sich nicht länger gegen die hysterische Verzweiflung, die in ihr aufstieg.
***
Gorm, der Ahriman, war den Anweisungen des Priester gefolgt. Er befand sich außerhalb des kleinen Tors, aber da war niemand. Keine leichte, wehrlose Beute, die nur darauf wartete, von ihm zerstückelt zu werden. Er roch Blut – von allen Seiten – sah Spuren, sehr deutlich, da er in der Nacht hervorragend sehen konnte, aber sie zeigten nicht in eine bestimmte Richtung. Gorm war irritiert, schließlich wütend und enttäuscht. Nicht, dass Menschen besonders gut schmeckten. Darum ging es nicht. Sie mundeten genau genommen schal und fad. Es ging darum, sie für das zu bestrafen, was sie ihm und seiner Art angetan hatten. Natürlich wusste er, dass diejenigen, die zu töten er geschickt wurde, selbst nur Opfer waren und daher eigentlich eher Verbündete, aber immerhin waren sie Menschen und gehörten damit zu jener verabscheuenswürdigen Brut, die ihnen ihre Freiheit genommen hatten. Wie einfach war es doch den Menschen gefallen, die Ahriman zu beherrschen. Diesen schwächlichen Kreaturen, die er in seinen sichelförmigen Tarsen zerstückeln und mit seinen scharfen Kieferpaaren ganz einfach zermalmen könnte!
Sein Hass galt eigentlich dem Priester Mitras, nicht jenem wehrlosen Opfer. Er musste die Suche nach der Beute ruhig und nüchtern angehen. Er durfte sich durch die Vielzahl der Spuren und Emotionen in seinem Inneren nicht verwirren lassen. So rasterte er mit seinen übergroßen Spiegelaugen den Boden ab und versuchte ein Muster in das verwirrende Spurenchaos zu bringen. Er wollte sich beeilen denn der Morgen würde nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. Dieser Mensch war eigentlich ein Menschlein, denn die Füße waren ziemlich klein. Ein Kind vielleicht. Die Schritte waren sehr kurz, die Füße unsicher aufgesetzt, oft mehrmals in so kurzem Abstand, dass sich die einzelnen Abrücke überlagerten. Das Menschlein hatte Probleme, die über die normale Schwachsichtigkeit dieser Geschöpfe in der Nacht hinausging.
So viel war bald klar, dass das Menschlein nicht auf dem Weg geblieben war. Es musste also den Abhang hinunter geklettert sein. Nachdem er die richtige Stelle gefunden hatte korrigierte er sich. Nicht geklettert, gefallen. Er sprang die Böschung hinab. Offenbar kein Lebewesen der Nacht. Hilflos. Jetzt wurde die Spur einfacher. Er konnte ihr mühelos folgen. Bald würde die Beute ihm gehören.
Als es zu dämmern begann, kroch ein unförmiger Schatten in das Unterholz.
***
Yasiwi schleppte sich weiter, obwohl sie nicht wusste wohin oder wozu. Sie war inzwischen völlig zerkratzt und blutete aus zahlreichen kleinen Wunden. Immer wieder stolperte sie, fiel nieder, rappelte sich wieder auf, lief gegen Hindernisse.
Obwohl sie fast blind war, konnte sie doch erkennen, dass es langsam heller wurde. Mit dem Tag verband sie Hoffnung. Auch hatte sie den Eindruck, dass die Vegetation spärlicher wurde und der Boden ebener. Sie kam jetzt schneller voran. Sie wollte sichtbar sein. Vielleicht würde ihr ja doch jemand helfen. Andererseits verfiel sie langsam in eine Art Trance und löste sich vom aktuellen Geschehen. Sie isolierte sich, dachte zurück an glücklichere Tage, so als wollte sie sich noch einmal an die schöneren Phasen ihres Lebens erinnern, jetzt wo sie bald tot sein würde. Mit diesem Gedanken – dass ihre Existenz bald vorbei sein würde - musste sie sich wohl oder übel anfreunden, aber das ging nicht. Deswegen flüchtete sie sich in die Vergangenheit, aber allzu viele schöne Zeiten hatte sie nicht erlebt. Da war ihre Kindheit mit Eltern, die sie liebten, in einem Haus mit Innenhof, wo sie mit ihren drei Geschwistern spielen konnte. Dann begann die Zeit der Armut, als die Stadt belagert wurde, und danach die Zeit der Tränen, als die Feinde siegten, ihre Eltern ermordeten und sie von ihren Geschwistern getrennt wurde und später verkauft. Das hätte sie lieber vergessen.
Sie trottete mechanisch weiter, mit geschlossenen Augen – sie sah ja sowieso so gut wie nichts. Der Boden war jetzt weicher, sandiger. Das machte das Gehen mühsamer. Sie hörte etwas, das wie Wind klang, der durch zitternde Blätter fuhr, leise und angenehm. Dann nahm sie noch ein schleifendes Geräusch wahr, hinter sich, das zuerst nur ganz leise gewesen war, gerade oberhalb der Wahrnehmungsschwelle. Jetzt vernahm sie es deutlicher. Um es besser zu hören, blieb sie stehen. Das Geräusch verebbte. Hier draußen vor der Stadt gab es bestimmt Raubkatzen und andere Tiere, die einem Menschen gefährlich werden konnten. Daran hatte sie bislang überhaupt noch nicht gedacht. Dafür stürzte sich jetzt ihre Phantasie mit Bildern der Gefahr geradezu auf sie. Wieder kämpfte sie gegen Panik. Sie ging weiter, etwas schneller und unvorsichtiger jetzt. Das schleifende Geräusch war wieder da, etwas lauter und begleitet von einem seltsamen Klicken. Abermals blieb sie stehen. Abrupt endete auch das Geräusch, das sie verfolgte. Sie horchte jetzt so intensiv, wie es ihr möglich war. Vor ihr ein gleichmäßiges Rauschen, hinter ihr ... nichts? Doch, da war etwas. Nur ein Hauch. Als ob sich ein Körper ganz langsam und vorsichtig näher schob. „Ist da wer?“, schrie sie, ängstlich, mit dünner Stimme. Niemand antwortete, aber auch der Hauch war weg. Aber kurz darauf vernahm sie wieder das leise Gleiten. Panik brandete auf und überwältigte sie. Sie lief so rasch sie konnte und wusste doch: nicht schnell genug. Denn das Ding kam näher. Jede Vorsicht war vergessen, sie rannte nur noch – und dann war da plötzlich kein Boden mehr unter ihren Füßen. Sie schrie auf, fiel und wusste nicht wohin.
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Wann immer Granoc nach Merion kam, fand er den Weg in Kimrals Taverne. Bier und Wein mundeten und waren nicht zu teuer. Auf die Kosten musste er allerdings nicht achten, denn als er die Schenke betrat, war er noch reich. Wie immer setzte er sich an die Wand, so dass er die anderen Gäste und die Türen im Auge behalten konnte. Außerdem hatte er eine vortreffliche Aussicht auf die dürftig bekleideten Tanzmädchen, die sich in der Mitte des Raumes nach Flötenmusik ästhetisch bogen und verrenkten. Aber verglichen mit Yasiwi wirkten sie ungelenk und hölzern. Kimral, der Schankbesitzer näherte sich ihm geradezu unterwürfig von der Seite, ein kleiner, ziemlich fetter Mann, aber teuer gekleidet, mit einem Seidenhemd, einer brokatbestickten Hose und einem breiten Leibgurt. Wie immer trug er die langen Haare sorgfältig in der Mitte gescheitelt.
„Wo ist Yasiwi?“, wollte Granoc wissen.
„Sie hat uns leider verlassen. Zu Schade! Sie war meine beste Tänzerin.“
„Und nicht nur das“, ergänzte Granoc.
„Wenn du vielleicht eines der anderen Mädchen ...“
„Vielleicht später.“
„Dann ... wie wäre es mit Glückspiel? Auf dem großen Tisch da im hintersten Eck fallen die Würfel.“
„Gut. Aber zunächst bring mir eine Karaffe mit deinem besten Wein, bei Crom! Und das köstlichste Essen, das du auftreiben kannst und das reichlich. Ich habe einen gewaltigen Hunger.“
Als Granoc sich dem Glückspiel zuwandte, hatte er bereits einige Karaffen Wein geleert. Obwohl er wenig Glück hatte, dauerte es doch die ganze Nacht, bis er alles Raubgut und zwei der Pferde verspielt hatte. Lediglich ein Beutel mit Goldmünzen und ein Pferd waren ihm geblieben. Schließlich beschloss er aufzubrechen. Er legte eine der Münzen auf den Tisch. Es dämmerte bereits als er das Lokal verließ und wenig später auf dem Rücken seines Pferdes auch die Stadt. Er wollte nach Westen, aber dazu musste er eine Furt über den Yil finden, deshalb hielt er auf den Fluss zu. Langsam erhob sich die blutrote Sonne hinter der Stadt, er selbst, sein Pferd, Bäume und Sträucher warfen lange diffuse Schatten. Der sandige Pfad bog nach Süden ab, sodass er ihn verlassen musste. Weiter nördlich war das Ostufer des Yils hoch und steil, aber direkt vor ihm schien man recht gut zum Fluss zu kommen. Vielleicht konnte er ihn hier mit dem Reittier überqueren. Wenn nicht, musste er weiter nach Süden, flussabwärts, von wo er gekommen war; einige Meilen vor der Stadt fand sich ein Übergang unweit der Stelle, wo die merkwürdigen Weisen von der Räuberbande angegriffen worden waren.
Granoc näherte sich dem Ufer. Er konnte jetzt erkennen, dass der Fluß hier zu tief war und zu schnell dahin strömte, um für die Überquerung mit Pferd geeignet zu sein. Plötzlich vernahm er einen schrillen Schrei. Flussaufwärts sah er, wie ein Mädchen in Panik auf das Wasser zulief. Er nahm an, dass sie vor dem Steilufer langsamer werden würde, um dann zu stoppen, aber offenbar war das nicht ihre Absicht. Gerade dort aber brauste der Strom besonders wild. Granoc war zu weit weg, um einzugreifen, er konnte nur verblüfft zusehen. Jetzt hatte das Mädchen die Kante des Steilabfalls erreicht. Sie wirkte einen Augenblick überrascht, als hätte sie den Fall nicht kommen sehen, dann kreischte sie auf und fiel kopfüber gut zwölf Fuß in die Tiefe und versank sofort in den braunen, aufgewirbelten Fluten.
Granoc sprang vom Pferd und rannte hinunter zum Ufer, das hier weniger steil war. Direkt vor ihm lag ein entwurzelter Baum dessen belaubte Krone bis zur Flussmitte reichte. Er balancierte den Stamm entlang, der das rasch fließende Wasser unter sich drückte. Das Mädchen war inzwischen wieder aufgetaucht, schnappte mühselig nach Luft und ruderte wild mit den Armen, offenbar in der Hoffnung, dadurch mit dem Kopf über der Wasseroberfläche zu bleiben. Sie näherte sich mit hoher Geschwindigkeit dem Baumstamm und es war klar, dass sie vom reißenden Wasser unter ihn gedrückt werden würde. Weniger klar war, ob sie wohl auf der anderen Seite rechtzeitig wieder auftauchte.
Granoc hielt sich, bereits in der Kronenregion des Baumes angekommen, mit seiner Linken an einem armdicken Ast an, was ihm erlaubte, sich weit nach vorn zu lehnen. Kaum war er in der besten Position, diesen Fisch zu angeln, näherte sie sich schon mit beträchtlicher Geschwindigkeit. Lediglich ihre Arme und ihr Kopf – manchmal auch der nicht – waren über Wasser und er versuchte mit seiner rechten Hand einen ihrer Arme oder auch ihre Haare zu erreichen, aber sie war zu weit weg. Sie trieb sehr rasch genau auf den Stamm zu und Granoc erkannte, dass ihr Kopf wohl in kürzester Zeit gegen die Rinde schlagen würde, bevor die Wassermassen sie nach unten ziehen würden. Da sprang er mit einem gewaltigen Satz in ihre Richtung, hielt sie fest und drückte sie unter Wasser, so gut es eben ging, während er selbst ebenfalls abtauchte. Augenblicke später schlug seine linke Schulter gegen den mächtigen Stamm des Baumriesen, schrammte sein Gesicht entlang eines Astes, den man von oben nicht gesehen hatte; dann wurde er von der Strömung hinunter und auch weitergezogen; kein Hindernis hielt sie mehr unter Wasser fest. Allerdings gebärdete sich das Mädchen aus Panik wie wild, aber auch das störte ihn kaum. Der Fluss wurde nicht ihr Gefängnis und ihr Grab. Er ließ sich nur kurz weitertreiben, tauchte dann auf und hob auch den Kopf des Mädchens über Wasser, das auch sogleich hustete und spuckte. Er schwamm Richtung Ufer, bis er festen Boden unter den Füßen spürte, hob sie hoch, als wäre sie leicht wie eine Feder, trug sie hinaus und setzte sie in den Sand. Sie hustete und keuchte immer noch, als er sich neben sie nieder ließ. Er strich ihr das klatschnasse Haar aus dem Gesicht und atmete überrascht und ruckhaft ein.
„Yasiwi! Ich wußte gar nicht, dass du schwimmen kannst! Dein Sprung ins Wasser! Also wirklich beeindruckend. Aber auch ein bisschen dumm.“
Sie erkannte ihn nun ebenfalls an seiner tiefen Stimme und dem nordischen Akzent. „Granoc, dem Himmel sei Dank. Kann ich auch nicht. Ich meine schwimmen. Ich dachte, ich ertrinke!“
„Du hast mit einem wahnwitzigen Tempo genau auf den Baumstamm zugehalten und nicht den geringsten Versuch gemacht auszuweichen oder auch nur das Gesicht mit deinen Händen zu schützen. Dein Kopf wäre zerplatzt wie ein Ei, hätte ich dich nicht unter Wasser gedrückt. Hast du den Stamm nicht gesehen?“
„Oh Granoc“, Grauen schüttelte sie, „ich kann nichts mehr sehen. Ich bin blind!“ Tränen liefen ihre ohnehin schon nassen Wangen herab. „Wer mit mir in Berührung kommt, wird ebenfalls blind. Du musst von mir weggehen.“ Sie rückte ein wenig von ihm ab, aber der Barbar nahm sie und hob sie auf seinen Schoß. Er presste sie an sich und streichelte mit seiner großen Hand ihren Rücken. Yasiwi war nur noch ein zitterndes Bündel in einem zerrissenen Kleid, das kaum noch ihre Blößen bedeckte, aber die Nähe des Wilden gab ihr das Gefühl der Sicherheit und ein wenig Hoffnung. Dennoch kämpfte sie mit ihrem Gewissen, weil sie ihn mochte und nicht wollte, dass er ebenfalls erblindete. Das Gewissen verlor den Kampf, sie schmiegte sich an ihn und ließ sich seine Berührung gern gefallen.
„Kimral sagte, du wärst weggegangen.“
„Oh nein,“, eine Welle von Selbstmitleid überflutete sie, „rausgeworfen hat er mich! Er hat mir nicht einmal erlaubt, mein Hab und Gut mit mir zu nehmen!“
„Dieser geschniegelte Hund mit seinem Mittelscheitel“, empörte sich der Kimerier, „bei Crom, wenn ich ihn das nächste Mal treffe, ziehe ich ihm einen neuen Scheitel. Mit der Axt!“ Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass das keine leere Drohung war. Er schwieg eine Weile und blickte in ihr Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen, damit er ihre milchig trüben Pupillen nicht sah. „Hat er wenigstens versucht, dich zu einem Heiler oder einem Weisen zu bringen?“
„Er hat einen Priester Mitras gebracht, einen erschreckend kalten Menschen. Er hat Kimral gesagt, er könne mich nicht heilen, ich sei eine Gefahr für alle anderen und er solle mich daher aus der Stadt werfen. Das hat er auch getan.“ Diese Erinnerung empfand sie sehr schmerzlich.
Der Kimerier fletschte die Zähne. „Noch einer, den ich besuchen muss. Falls es wirklich so ist wie du sagst, falls es keine Heilung für dich gibt, werde ich dafür sorgen, dass du wenigstens deinen Besitz bekommst.“
Sie schwieg eine Weile und genoss seine Nähe und die Wärme, die von seiner Haut ausging. „Das wird mir nichts mehr nützen. Ich darf nicht unter Menschen gehen. Ich dürfte auch dich nicht berühren. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ich wäre ertrunken.“ Sie schluchzte.
„Deswegen weil ein Priester gesagt hat, dass er dich nicht heilen kann, heißt das noch lange nicht, dass du unheilbar bist. Es gibt noch andere ...“
„Wen denn? Ich habe die Krankheit von einem reichen Mann. Wenn er mit all seinem Geld nicht bewirken kann, dass er geheilt wird, wie sollte mir das gelingen?“
„Aber versuchen muss man es zumindest. Ich habe flussabwärts vor kurzem zwei Weise getroffen. Einer davon war zumindest ein Weiser, glaube ich. Sehr merkwürdige Leute, die von den Dingen, die jeder weiß nichts gewusst haben. Das beweist natürlich noch nicht, dass sie etwas von den Dingen wissen, die keiner weiß, aber möglich wäre das doch. Es schadet jedenfalls nichts, dich zu ihnen zu bringen.“
Yasiwi hatte genau zugehört. Ein bisschen Hoffnung war jetzt das was sie brauchte und ein wenig Geborgenheit. Granoc hatte ihr beides gegeben. „Danke“, hauchte sie.
„Wofür?“ Er hatte nicht aufgehört ihren Rücken zu streicheln.
„Dafür, dass du nicht so bist wie ...“ Einen Moment wirkte sie verloren. „Weißt du denn, wo die Weisen jetzt sind?“, fragte sie zaghaft.
„Sie wollten flussaufwärts zu den Schwarzen Bergen, wo es vor Dämonen und finsteren Kreaturen nur so wimmelt. Was hältst du davon, sollen wir ihnen folgen?“
Sie nickte zögerlich. „Klingt sehr einladend. Sind wir denn schnell genug?“
„Ich habe ein Pferd. Alles andere habe ich verspielt, aber das Pferd ist mir geblieben. Wahrlich ein Glück.“ Er blickte zu seinem Reittier und es schaute zurück, gemächlich an ein paar Grashalmen kauend. „Sie aber auch, also sollten wir bald aufbrechen“. Er erhob sich und half ihr beim Aufstehen. „Weshalb bist du eigentlich so gelaufen?“
Selbst die Erinnerung ließ ihr Inneres gefrieren. „Etwas Großes ist mir gefolgt. Etwas, das ein hässliches, schabendes Geräusch verursacht hat.“
Er setzte sich in den Sattel und hob sie dann mit einem Arm hoch und platzierte sie vor sich. „Nun wir werden sehen, wir kommen ja gleich an der Stelle vorbei.“ Yasiwi schauderte, sah aber ein, dass ihr Weg an jener Stelle vorbei führen musste. Sie ritten flussaufwärts, dorthin, wo kleine Fußspuren genau auf das Steilufer zuhielten. Granoc folgte der Fährte in die andere Richtung, nur einige Dutzend Pferdelängen, auf ein Gebüsch zu. Er blickte auf den sandigen Boden, las Spuren, die für andere verwirrend gewesen wären. Dabei zog er langsam das Schwert und blickte in Richtung Gebüsch. Nichts war hinter der grünen Wand zu sehen und doch wusste er, dass dort etwas lauerte.
Yasiwi wurde unruhig. „Was ist? Siehst du etwas?“, flüsterte sie ängstlich.
Granoc starrte weiter schweigend auf das Gebüsch. Nach einer Weile antwortete er: „Nichts. Es ist nichts. Aber wir sollten weg von hier. Wir müssen uns um deine Sehkraft kümmern. Auf zu den Weisen. Und danach besuchen wir Kimral und diesen Mitra Priester. Die beiden kommen mir nicht ungeschoren davon.“ Er trat dem Pferd in die Weichen und riß es herum, dann galoppierten sie den Fluss hinauf, so schnell wie es eben möglich war ohne sie dadurch in Gefahr zu bringen. Erst nach einiger Zeit fühlte der Kimerier sich sicher genug, um das Schwert zurück in die Scheide zu stecken.
***
Gorm lag im Gebüsch und beobachtete die beiden, seine Beute und den Krieger mit dem Schwert. Der las die Spuren im Sand und blickte dann genau zu ihm. Sollte er angreifen? Zu spät. Es war bereits zu hell, bei diesem Licht waren sie ihm gegenüber im Vorteil, so wie sie in der Nacht hoffnungslos unterlegen waren. Aber seine Beute entkommen lassen? Er fühlte, wie die Gier ihn packte. Es fiel ihm sehr schwer, sich zurückzuhalten. Er beruhigte sich und hörte, was der Mann sagte. Der Priester Mitras würde nicht ungeschoren davonkommen. Das klang wie ein Versprechen. Der Mann wusste es nicht, aber er hatte dem Ahriman das Gleiche gegeben wie dem Mädchen. Hoffnung.
Hoffnung auf Rache. Hoffnung darauf, seinem Hass freien Lauf zu lassen. Hoffnung auf Freiheit – für ihn und sein Volk.
Was sollte er tun? Zurückkehren in sein Verließ? Es erschien ihm plötzlich das Risiko wert, das nicht zu tun. Er würde den beiden folgen. Er musste bis zum Einbruch der Dämmerung warten, aber er war schnell und sie würden schlafen. Dann würde er sie erreichen. Er konnte zuhören und sich entscheiden, ob er seinen Auftrag ausführen würde. Vielleicht, wenn die Gier nach Fleisch zu groß sein würde, hatte er auch gar keine Wahl. Aber möglicherweise war auch die Stunde der Ahriman nahe und der Tod des Mitrapriesters.
Vorerst aber würde er ihm eine Botschaft senden müssen, dass sich die Erfüllung seines Auftrags verzögern würde.
***
Immer noch war Hephaistos nicht nach Lemnos zurückgekehrt. Elri ging gerne auf dem wunderschönen Eiland spazieren, aber die Anbetung der Sintier war ihr unangenehm. Sie lächelte die Menschen nur scheu an, versuchte jedoch sich von ihnen fern zu halten. Außerdem machte es sie unglücklich, dass sie nichts für Tjonre tun konnte. Dauernd musste sie darüber nachgrübeln, wie es ihm wohl ginge. Und leider hatte sie eine rege Phantasie und die Tendenz, sich Sorgen zu machen. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, ihm zu helfen?
Dann begann sie immer öfter an die gemeinsame Vergangenheit zu denken, an jeden schönen Augenblick, solange, bis sie das Gefühl hatte, nur diese Momente seien real und alles, was davor war, wäre einer anderen Person passiert und als wäre auch das Jetzt von bloß nebelhafter Existenz. Das änderte sich erst, als ihre Gedanken sich um das Medaillon zu drehen begannen. Das Medaillon, das Bildchen ihrer Mutter, hatte ihnen den Weg hierher gewiesen und ihnen damit das Leben gerettet. Aber es hatte nur die Hälfte seiner Geheimnisse Preis gegeben. Hatte Hephaistos nicht gesagt, dass ihr Vater am liebsten in jenem Raum gearbeitet hatte, den sie für sich den „Spiegelraum“ nannte? Dieser enthielt ein Memon, natürlich, hier hatte er diese Meme mit Daten gefüllt und hier musste es ihm auch möglich gewesen sein, sie wieder zu lesen. Was war also naheliegender, als auch das zweite Bildchen, das von ihrem Vater, in die Memonsäule im Spiegelraum zu legen und zu sehen was wohl passieren würde? Während sie darüber nachdachte, war sie auf einem kleinen Fels gehockt und hatte in Richtung Meer und den darüber liegenden, strahlend blauen Himmel geblickt. Jetzt hüpfte sie von ihrem Sitzplatz und lief anmutig zum Tempel zurück. Sie bog kurz davor zum Altar bei der Felswand ab und verschwand dahinter in der Grotte, eilte die Wendeltreppe hinab und rannte durch den großen Saal und zur hinteren Tür, die sie gleich darauf öffnete. Sie schaltete die UV- Beleuchtung aus, aktivierte das Tageslicht, öffnete den Verschluss des Kettchens, dann auch das Medaillon, aus dem sie durch leichtes Schlagen auf die Außenseite das Bildchen ihres Vaters löste. Das Medaillon legte sie auf den Tisch, dann ging sie zum Memon, auf das sie das Bildchen legte, das daraufhin hinunter sank, in die nun transparente, leicht bläulich schimmernde Säule hinein. Über dem Tisch erschien das Holo eines aufgeklappten Buches, mit deutlich lesbarem Text und auch einigen Abbildungen. Es funktionierte! Elri setzte sich auf den bequemen Sessel und blickte interessiert auf die Aufzeichnungen, deren Existenz wohl zum Tod ihres Vaters geführt hatte, wie sie annahm. Jedenfalls waren sie sehr wichtig, denn die schwarzen Kreaturen hatten sehr eifrig danach gesucht. Sie blätterte durch leichte Bewegung ihres rechten Zeigefingers in dem virtuellen Buch. Am Anfang fand sie vieles über Iphis, ihre Mutter, in die sich ihr Vater wohl von Anfang an verliebt hatte und die dieses Gefühl schon sehr früh erwidert hatte. Ihre Beziehung zu PaDorkis war für die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen war, unerhört gewesen. Das wusste sie und nahm es in Kauf. Liebeleien zu schlichten Menschen waren Göttern natürlich jederzeit erlaubt, aber echte Liebe und Heirat waren etwas anderes. Sie fand in dem Buch jene Geschichte wieder, die ihr auch schon Hephaistos erzählt hatte; dass die anderen Götter den jungen Mann verkrüppelt hätten und sie es nicht hatte verhindern können, aber als Einzige Mitleid mit ihm gehabt hatte. Und dass diese Erfahrung sie zutiefst an der Lebensweise der Olympier hatte zweifeln lassen. Für Iphis war Lezart eine Möglichkeit der Flucht gewesen, fort von all den Psychopathen in eine Welt der Normalität. Eine misslungene Flucht mit tragischem Ausgang, wie sich später herausstellte.
Viele wundervolle kleine Details aus dem Leben ihrer Eltern erfuhr sie auf diese Weise, die für sie sehr interessant waren, aber sie blieben im Grunde harmlos und waren bestimmt kein Grund, jemanden umzubringen. Sie suchte weiter. Ihr Vater hatte sich als Historiker intensiv und sehr kritisch mit diesem Planeten beschäftigt.
„Was wohl als Marotte, ja fast als Scherz begonnen hatte, ist jetzt, nach Jahrtausenden erstarrt. Es waren nicht Historiker, die diesen Planeten besiedelten, sondern Liebhaber alter Literatur und des Theaters. Sie haben diese Welt in eine gigantische Bühne verwandelt, ohne sich um das Verständnis der geschichtlichen Quellen zu bemühen. So entstand ein verzerrtes Bild der Geschichte der Erde und reine Fiktion ist wohl ebenso oft zu beobachten, wie historisch inspirierte Tatsachen.“
Und etwas später fand sie die Stelle: „Hat es all die Zeitalter wirklich gegeben? Warum kämpfen die Menschen des Hyborischen Zeitalters mit Waffen aus Stahl und Eisen, diejenigen der Homerischen Ära hingegen mit Bronzelanzen und Bronzeschwertern, obwohl doch das Hyborische Zeitalter Jahrtausende früher gewesen sein soll? Wenn zwischendurch ein Zusammenbruch der Zivilisation stattgefunden hat, ist darüber zumindest nichts überliefert. Was ist mit noch früheren Epochen? Hat es Atlantis und Aheron tatsächlich gegeben?“ Derartige Stellen fand sie viele, für einen Historiker gab es hier wohl sehr viel zu bezweifeln, aber den Mächtigen dieses Planeten war das natürlich ziemlich egal. PaDorkis hatte das Geflecht der Herrschenden untersucht, aber der Kontakt zwischen den einzelnen Machtzentren war eher lose. Der Historiker berichtete nur von einem Gott, der auf mehreren Kontinenten aktiv war. Im Süden des Mittelmeers von Homers Zeitalter war er Neheh, der Gott der periodischen Wiederkehr und zusammen mit Djet, der Göttin der Dauer, Gottheit der Zeit. Im Osten wurde er als Jahwe angebetet und die Menschen wussten nichts mehr von einer weiblichen Göttin und leugneten überhaupt alle anderen Götter. Und auf einem anderen Kontinent, dem Zeitalter William Shakespeares und Virgim Lefters war er schließlich einfach bekannt als der Allmächtige Gott.
Nicht durch gegenseitige Unterstützung, sondern durch Bewahren der alten Wissenschaft und Technik und dadurch, dass sie diese von ihren Untertanen fern hielten – wenn nötig mit Gewalt – regierten sie seit Jahrtausenden.
Elri suchte weiter, viele Tage lang, in den Aufzeichnungen ihres Vaters nach etwas, das sein und seiner Frau tragisches Schicksal verständlicher machen konnte. Schließlich fand sie einige Stellen über den Umgang mit anderen Menschen und anderen Lebewesen. Es hieß da:
„Wer die überlieferten römischen Texte sorgfältig liest, wird an Schriften gelangen, in denen die Autoren ihrer Meinung Ausdruck geben, dass man seine Sklaven menschlich behandeln soll. Das war damals nicht die Norm, aber immerhin, es gab einige Herrschende, die dieser Ansicht waren. Aber keine, keine einzige Stelle lässt sich finden, die die Auffassung ausdrückt, dass Sklaverei als solches falsch und moralisch unzulässig sei. Frühere Texte, z. B. die Zehn Gebote der Juden, legitimieren Sklaverei sogar ausdrücklich.
Geht man Jahrtausende in die Zukunft und hält etwa im Zeitalter Charles Darwins und Abraham Lincolns, findet man diesen Gedanken hingegen klar geäußert. Beide Männer vertreten ihn und beide kennen die Sklaverei, die damals noch weit verbreitet war, wenngleich nicht aus dem Sichtwinkel des Sklaven. Der Begriff des Rassismus ist dieser Epoche hingegen fremd. Für Darwin und seine Zeitgenossen europäischer Abstammung ist die mentale Überlegenheit der Europäer anderen Menschen gegenüber eine derartige Selbstverständlichkeit, dass niemand es als falsch empfindet, sich diesen anderen gegenüber in jeder Hinsicht als überlegen zu betrachten und sich entsprechend rücksichtslos zu benehmen (warum wird eigentlich Überlegenheit immer als Freibrief für Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit gesehen?).
Und wieder dauert es, bis sich der Mensch weiterentwickelt. In einer Ära, in der Rassismus als unmoralisch gebrandmarkt wird, findet niemand etwas dabei, ein Spezies-ist zu sein, ja der Begriff als solches erscheint denkunmöglich, denn wieder existiert das Gefühl, dass die eigene Gruppe, diesmal die eigenen Art, anderen gegenüber überlegen sei und aus dieser völlig falschen Annahme heraus wird die moralische Rechtfertigung geschaffen, mit anderen Spezies in einer Weise zu verfahren, die nur als beliebig und ausbeuterisch bezeichnet werden kann. Und die schließlich zur Zerstörung der Erde und beinahe auch zum Ende der Menschheit geführt hat. Der Schock dieses Ereignisses hatte aber auch etwas Gutes. Er führte dazu, dass heute Spezies-ismus als das gesehen wird, was er nun mal ist: ein unerträgliches Verbrechen. Seitdem beschränkt sich die Menschheit was die Individuenanzahl pro Planeten und die Bedürfnisse des Einzelnen betrifft selbst und es ist auch selbstverständlich, dass kein Planet besiedelt wird, der bereits intelligentes Leben hervorgebracht hat.“
Und wenig später fand sie dann diesen Text: „Die Menschen, die diesen Planeten besiedelten, haben – wie ich unlängst herausgefunden habe und zunächst nicht glauben wollte, obwohl die Hinweise mehr als eindeutig waren – einen unglaublichen Frevel begangen: sie haben einen Planeten besiedelt, von dem sie wussten, dass er bereits intelligente, wenngleich auf einer vortechnologischen Kulturstufe befindliche Wesen hervorgebracht hatte. Sie haben diese Kreaturen, die sie Ahriman nannten, verfolgt und beinahe ausgerottet. Wenn dies in der Galaxis bekannt wird – und ich werde dafür sorgen – wird es einen Strom an Empörung auslösen, der nur eine Konsequenz haben kann: der Mensch muss sich von hier zurückziehen und den Schaden, den er angerichtet hat, so weit als möglich wieder gut machen.“ Elri las dies ohne rechte Überzeugung. Wie sie am eigenen Leib erlebt hatte, gab es außerhalb der Föderation noch Sklaverei und dies war durchaus bekannt, aber die Föderation hatte nicht die Machtmittel, es zu verhindern. Wäre die Empörung über die Besiedlung eines Planeten mit intelligenten, nativen Bewohnern hinreichend groß gewesen, um eine Gefahr für die Menschen auf Historia zu bedeuten? Elri bezweifelte das. Immerhin gab sie aber zu, dass die Götter wirklich guten Grund hatten, den Planeten gleichsam verschwinden zu lassen. PaDorkis musste einiges aufgerührt haben, war unangenehm genug gewesen, um weiteren Kontakt mit der Außenwelt als bedrohlich einzustufen. War es auch Grund genug, ihn ermorden zu lassen? Ja, musste sie zugeben – die Götter hatten nicht lange gefackelt und den Tod von Tjonre und Raft beschlossen. Aber sie hatten sie, Nachkomme einer Göttin, verschont. Und das hätten sie ihrer Meinung nach auch früher getan. Und ganz bestimmt hätten sie Iphis nichts getan. Sie hätten versucht zu verhindern, dass sie diesen Planeten verlassen könnte, aber umbringen? Eine Unsterbliche? Niemals. Oder? Was wäre passiert, wenn sie, Elri, im Sonnenwagen gewesen wäre?
Elri seufzte. Noch immer verstand sie nicht, was damals passiert war. Sie las weiter über die Ahriman: „Die Ahriman sind für uns Menschen kein angenehmer Anblick. Sie sehen ein wenig so aus, als hätte eine Schlange lange Vogel- oder Saurierbeine. Der Körper ist nämlich extrem lang und schmal und durch ringförmige Panzerplatten geschützt, was ihm ein gekerbtes Aussehen gibt. Der Schwanz ist noch länger als der Körper und ebenfalls sehr beweglich. Sie haben zwei Armpaare, das erste trägt lange, sichelförmige Krallen, die wie ein tödlicher Schnappmechanismus funktionieren und die normalerweise an den Körper gepresst werden. Das zweite Armpaar ist kürzer und schwächer und endet in einem feinen Greifapparat, menschlichen Händen nicht unähnlich.
An einem langen Hals sitzt ein grotesker Kopf mit riesenhaften Augen, die Licht nicht mit einer Linse, sondern einem Spiegel sammeln. Darunter befinden sich zwei paar Kiefer, fast wie bei einem irdischen Insekt, nur natürlich viel größer. Die Kiefer jedes Paares arbeiten waagrecht gegeneinander, das obere ist gelenkig direkt mit der Kopfkapsel verbunden, das untere kann vorgestreckt und zurückgezogen werden und zieht die zerkleinerte Nahrung – fast ausschließlich Fleisch – in den Schlund. Das ganze Tier ist dunkel purpurn gefärbt, sieht trotz der grotesken Gestalt sehr gefährlich aus und ist es auch. Genauer will ich ihr Aussehen nicht schildern, das bleibe den Zoologen überlassen. Aber eine Besonderheit dieser Wesen muss ich noch erwähnen: sie besitzen außergewöhnliche mentale Fähigkeiten. Sie vermögen über große Distanzen miteinander zu kommunizieren, sind also natürliche Telepathen. Sogar mit Menschen können sie eine geistige Verbindung herstellen, die eine Informationsübertragung erlaubt. Die Menschenelite des Hyborischen Zeitalters verfügt nicht über jene technologischen Errungenschaften, wie die Götter der Homerischen Epoche. Telepathie ermöglichte es denjenigen, die sie ihr Eigen nennen, dennoch ein Netzwerk der Informationsübermittlung über ihren Kontinent zu legen. Sie geben sich als Priester aus mit magischen Fähigkeiten und Verbindung zu Göttern und Dämonen und ihre Kenntnisse darüber, was in anderen Teilen ihrer Welt im Augenblick geschieht, erlaubt es ihnen sich einer Aristokratie unentbehrlich zu machen, sie zu manipulieren und sogar zu beherrschen, ohne dass diese weiß wie ihr geschieht. Die Priester, die Weisen, sind die eigentlichen Herrscher dieses Kontinents, aber ihre Herrschaft beruht auf der Ausbeutung einer fremden Spezies.
Wie es den Menschen gelang, die Ahriman zu Sklaven zu machen, das will ich erzählen. Diejenigen, die dies bewerkstelligten, nannten sich Priester Mitras', einer persischen Lichtgottheit, die gegen das Böse, eben Ahriman, kämpfte. Aber wer hier böse war ist klar; die Ahriman waren es jedenfalls nicht. Sie sind zwar eine fleischfressende Art und, zugegeben, einige von ihnen mögen anfangs erprobt haben, wie Menschen schmecken, aber die fremde Kost bekam ihnen nicht und so ließen sie es bald bleiben und interessierten sich nicht weiter für die Neuankömmlinge. Die Menschen hingegen hatten Geduld und suchten mit viel Ausdauer die Achillesferse dieser fremden Spezies – und wurden bald fündig. Ein ausgewachsenes Ahriman wechselt in seinem Leben das Geschlecht; zunächst ist er beweglich und ist das Raubtier, das ich bereits beschrieb. Doch später macht er eine Metamorphose durch, wird sesshaft und gleicht fast einem Baum mit Stamm, Wurzeln und Ästen; mit Blättern, die Photosynthese betreiben. Zur Metamorphose wandern die Ahriman in bestimmte Gebiete, die die Priester ‚Wälder der Erkenntnis’ nennen. Nur hier findet man die alten Ahriman und die Jungen kommen einmal im Jahr dorthin, um sich mit ihnen zu vereinen. Alles, was die Priester zu tun hatten, um sich die beweglichen Ahriman gefügig zu machen, war, unüberwindliche Hindernisse zwischen den Wäldern der Erkenntnis und den Jagdgründen der Jüngeren zu bauen. Diese Mauern gaben ihnen die Kontrolle über sie. Das ließen sich die Ahriman nicht gleich gefallen. Aber die Menschen vermochten sie zu überzeugen. Anfangs gab es einige solche Wälder, doch alle bis auf einen wurden zerstört. Da wagten die Ahriman keinen Widerstand mehr.“
Elri hatte nicht das Gefühl, dass diese Sache etwas mit dem Tod ihrer Eltern zu tun hatte, aber sie war darüber betroffen, wie grausam und berechnend Menschen sein konnten. Aus diesem Grund las sie sorgfältig; sie konnte ja nichts anderes tun. Und es lenkte sie von ihrer Sorge um Tjonre ab.
Warum waren sie ermordet worden? Nicht hier auf Historia hatte sich ereignet, was letztlich den Tod ihrer Eltern zur Folge hatte, davon war Elri jetzt überzeugt. Erst die Ereignisse auf einem anderen Planeten waren entscheidend. Auch über diese Geschehnisse würde das Mem Auskunft geben.
***
„Sieh dir nur diese Narren an!“, flüsterte Granoc.
„Kann ich nicht, ich bin blind“, flüsterte Yasiwi pikiert zurück. Bereits zwei Meilen flussabwärts hatte er den charakteristischen Geruch von Holzfeuer wahrgenommen. Da lagen die beiden neben den letzten glosenden Scheiten und schlummerten selig. „Man sollte meinen, die Begegnung mit einer Räuberhorde hätte sie vorsichtiger werden lassen, aber nein, sie machen auf sich aufmerksam, sodass jeder weiß, dass sie da sind, stellen keine Wache auf und schlafen so tief wie Stadtmenschen! Wozu habe ich ihnen gesagt, dass die Schwarzen Berge gefährlich sind?“ Er zog das Schwert und schlug mit dessen Breitseite gegen einen Stein. Das Geräusch weckte sie jedoch nicht. Also packte er Tjonre mit seiner Linken, hob ihn ein bisschen hoch und ließ ihn dann fallen. Tjonre gab ein empört verschlafenes Geräusch von sich, bevor er endgültig wach war.
„Was soll das, wer ist ... ach du, Granoc, du bist ja schlimmer als meine Mutter.“ Er blickte giftig. „Die wollte mich auch nie in Ruhe ausschlafen lassen“, erklärte er. Dann aber besann er sich, als er im Hintergrund die Silhouette des Mädchens sah. Schlank, aber nicht so grazil wie Elri. Er ging zur Feuerstelle und warf einige daneben liegende trockene Äste auf die Glut und gleich war es hell genug, dass er sie genauer sehen konnte. Was der Lärm nicht geschafft hatte, gelang dem Licht. Auch Raft erwachte. Im flackernden Schein erkannte er Granoc und sah das hübsche Mädchen mit den langen brünetten Haaren und der ansprechenden Figur: nicht so üppig wie Reja aber auch nicht so mager wie Elri. „Nun, wer ist deine Begleiterin?“, wollte Tjonre wissen.
„Yasiwi, ein Tanzmädchen aus einem Bordell. Ich habe sie aber gefunden, als sie gerade damit beschäftigt war, im Fluss zu ertrinken. Sie hat ein Problem, bei dem ihr ihr vielleicht helfen könnt. Wo ihr doch Weise seid.“
Tjonre blickte unzufrieden zu Raft und der verstand, was er sagen wollte: „Da hast du’s. Deine Idee mich als Weisen auszugeben bringt uns jetzt in Teufels Küche.“ „Wenn ich ihr Schwimmen beibringen soll ... dafür fehlt uns jetzt die Zeit.“
„Nein, sie hat ein ernsteres Problem. Sie ist dabei zu erblinden.“ Yasiwi hatte die ganze Zeit die Augen geschlossen gehalten und so erschien ihr zartes Gesicht makellos.
Tjonre ging auf sie zu und ergriff ihre Hand. „Komm mit mir zum Feuer.“ Sie folgte ihm und er setzte sie nahe genug an die Flammen, dass er in deren Schein ihre Augen untersuchen konnte. „Öffne die Augen.“
Sie zierte sich. Sie wusste, wie erschreckend sie aussah. „Nur wenn Granoc nicht hersieht. Granoc, du musst mir das versprechen!“
„Ganz wie du willst“, brummte der Barbar, leistete ihrem Wunsch aber nicht folge; er wusste ja, sie konnte nicht überprüfen, ob er zu ihr hinblickte. Sie hob die Lider. Die Pupillen waren weißlich trüb. Auch die Iris sah nicht gut aus.
„Warst du schon bei einem Heiler?“
„Ein Priester Mitras hat mich angesehen. Er hat gesagt, er könne nichts machen und dass jeder, der mit mir in Kontakt kommt, auch erblinden würde. Deswegen hat Kimral mich gepackt und aus der Stadt geworfen.“
Tjonre sah, wie ihr Tränen aus den Augenwinkeln rannen und vermied, mit ihnen in Kontakt zu kommen.
„Ich werde mich bei Kimral noch bedanken“, brummte Granoc, wohl auch um zu vermeiden, dass Tjonre ähnlich reagieren würde. Was der aber nicht vorhatte.
„Infektiös also. Aber wie hast du diese Krankheit bekommen?“
„Kimral hat mich gezwungen mit einem reichen Adeligen, der Stammgast bei uns ist, zu schlafen. Ich konnte ihn nie leiden. Jedenfalls hatte er so merkwürdig trübe Augen, die mir Angst gemacht haben.“
Tjonre hatte damit genug Informationen erhalten. Er legte die paar Schritte zu seinem Kopfpolster zurück, seiner Tasche, die die Arzneimittel, die er im Sonnenwagen gefunden hatte, enthielten und noch ein paar andere brauchbare Dinge, z. B. eine kleine Taschenlampe. Yasiwi war ruhig sitzen geblieben und genoss die Wärme der Flämmchen, war aber vorsichtig, aus Angst das Feuer könne sie verletzen. Tjonre näherte sich ihr, schaltete die Lampe ein und richtete den feinen Strahl auf eines ihrer Augen. „Siehst du das?“ Yasiwi nickte, sie hatte eine schwache Wahrnehmung des Lichts. Er änderte die Fokussierung und leuchtete in die Tasche. „Wollen mal sehen ...“. Er nahm Fläschchen, Tuben und Cremen heraus, die Spritzen ließ er wo sie waren. Alle Arzneimittel waren gut beschriftet, sodass er bald gefunden hatte, was er suchte: Augentropfen mit Breitbandantibiotikum. „Gut. Leg deinen Kopf zurück und mach die Augen weit auf.“ Sie bog sich zurück, was sie sehr gut konnte. „Ja, genau. Und jetzt halte ruhig.“ Yasiwi fühlte sich ausgeliefert, vertraute aber auf Granoc. Tjonre brachte mit einer Pipette je einen Tropfen einer viskosen Flüssigkeit in ihre Augen, die sie darauf hin schließen sollte. „Die Heilung wird einige Tage dauern, falls sie überhaupt erfolgt, sicher kann man da leider nicht sein und ich muss diese Prozedur dreimal am Tag durchführen.“ Das hatte er am Etikett des Fläschchens gelesen.
„Anders formuliert“, ließ sich Granoc vernehmen, „wir müssen mit euch mitkommen.“
Tjonre hätte ihm die Tropfen auch mitgegeben, hatte aber den Eindruck, dass der Kimerier auf ein Abenteuer aus war. Zudem war er mit Yasiwi in Berührung gekommen und hatte sich vielleicht selbst infiziert. Daher hatte er keine Lust, sich von der Arznei zu trennen. Er sagte also nichts.
Yasiwi hingegen schon: „Was? Wir sollen mit zu den Schwarzen Bergen? Dann kann ich vielleicht sehen, bin aber tot! Granoc! Gibt es keinen anderen Weg?“
Tjonre wollte den Nordländer bei sich haben. „Leider nein. Wir müssen sobald als möglich zu den Sandarken.“
„Sandarken?“, wollte Yasiwi wissen.
„Die eisernen, schwarzen Männer“, übersetzte Granoc.
Yasiwi wurde bleich, und flüsterte nur noch: „Das ist nicht gut, nein, das ist gar nicht gut.“ Schließlich sagte sie nichts mehr, was niemandem leid tat.
„Also, nachdem wir nun alle wach sind, können wir genauso gut weiter reiten“, meinte Raft. Er war recht froh über die neue Gesellschaft. Granoc konnte ihm, wenn sie genug Zeit hatten, wertvolle Kenntnisse über den Schwertkampf vermitteln. Der Barbar passte in diese wilde Umgebung und das wollte der Rote auch. Diese Welt war weitaus mehr nach seinem Geschmack als das zivilisiertere Ivarn.
Yasiwi war hundemüde, ließ sich aber von Granoc auf das Pferd helfen und auch Raft und Tjonre sattelten ihre Tiere, bepackten sie und stiegen auf.
***
Reja war nicht untätig geblieben. Nachdem sie von Hephaistos (den sie „Heph“ nannte) alles erfahren hatte, was sie wissen wollte – sie würde Elri bei den Sintiern finden – hatte sie Heras Abwesenheit – sie war zu einem Besuch nach Aithiopien aufgebrochen – und Zeus Neigung zum Seitensprung genutzt, um noch die letzten Hindernisse wegzuräumen. Und das waren die Söhne von Zeus, die Kyklopen, die um ihre Landefähre herumstanden und ihr den Zugang verwehrten. Gekonnt räkelte sie sich in dem großen Bett mit den güldernen Laken.
„Ich will euch doch bloß helfen“, argumentierte sie. „Ihr wollt sicher sein, dass Elri und ihre Begleiter den Weg zu Historia, Verzeihung, Gaia, nicht bekannt gegeben haben. Mir glaubt ihr nicht, dass es so ist. Gut. Ihr glaubt aber Gli... äh, Elri, Verzeihung, Anteia, dass sie euch die Wahrheit sagt. Also ist es doch nur logisch, wenn wir sie suchen und herbringen, damit sie bestätigen kann, was ich sage. Wir sollten das möglichst bald hinter uns bringen, damit das Misstrauen weg ist und wir endlich über die Dinge sprechen können, deretwegen mein Cousin mich hierher geschickt hat. Zeit sind schließlich Farren, das ist doch die hiesige Währung, oder? Wenn du willst auch Talente, ist ja egal, mir zumindest.“
Zeus ließ sie reden, hörte aber nicht wirklich zu, ganz im Gegensatz zu Hephaistos, der wirklich interessiert gewesen war an ihren Argumenten und zuletzt tatsächlich überzeugt war, dass sie und Anteia schon immer die allerbesten Freundinnen gewesen waren. Trotzdem war er nicht so weit gegangen, sie selbst nach Lemnos zu bringen und Reja hatte das auch nicht gewollt, weil sie nach ihrem Mord an Anteia einen guten Fluchtweg brauchte und sich auch noch rasch um die beiden anderen Spione der Föderation kümmern wollte. Sie brauchte die Fähre und dieser Trottel von Donnergott hörte ihr selbst nach einer Nacht zahlloser vorgetäuschter Orgasmen nicht richtig zu! An Müdigkeit lag das nicht. Er blickte sie völlig munter finster an.
„Du hast den Ratsspruch gehört, mir sind die Hände gebunden!“
„Die Hände gebunden? Du bist der Obergott! Der Chef von dem allen! Was du sagst, geschieht!“ Sie blickte unzufrieden, was ihn aber nicht sehr beeindrucken konnte. Sie brauchte bessere Argumente. Heph hatte ihr mehr verraten als klug war. Sie musste ihr Wissen nur sinnvoll anwenden. „Es geht nicht nur um Anteia, sondern auch um Tjonre und Raft“. Sie hatte sich überwinden müssen, Tjonres Namen auszusprechen. Männer, die sie liebten, verstand sie; auch solche die sie hassten. Aber völlig intolerabel war ein Mann, dem sie ganz offensichtlich völlig gleichgültig war und der noch dazu eine Kreatur wie Glitzerköpfchen ihr vorzog. Er hatte den Tod verdient, einen schrecklichen, fürchterlichen Tod. „Heph hat mir erzählt, dass ihr versucht habt, Raft und Tjonre umzubringen.“
„Hephaistos hat eine blühende Phantasie. Und was heißt versucht? Sie sind bei einem bedauerlichen Unfall ums Leben gekommen.“
„Sind sie eben nicht! Ihr hättet euch wie Heph die Satellitenbilder genauer anschauen sollen. Man sieht, wie die beiden aus dem Sonnenwagen klettern und ans Ufer schwimmen.“
Zeus blickte erstaunt und verärgert. Das hatte er ganz offensichtlich nicht gewusst. Aber dann schien er sich zu beruhigen. „Und wenn schon. Du hast ihr Schiff zerstört, sie kommen nicht von hier fort.“
„Heph hat mir erzählt, sie seien auf dem Weg zu den Sandarken. Vielleicht können sie ja mit denen zurück. Ich weiß zufällig, dass die Sandarken Handel mit der Föderation treiben. Nur sporadisch, aber eben doch.“ Das stimmte zwar nicht, aber Reja liebte es zu lügen. Zeus schüttelte sein Haupt, denn er wusste, oder war doch ziemlich sicher, dass zwischen den Sandarken und der Föderation wenig Freundschaft herrschte. „Bist du dir völlig sicher, dass die Sandarken ihnen nicht helfen werden?“, fragte sie. Das war ein wunder Punkt. Wie konnte Zeus sich sicher sein? Seit der Verdacht aufgekommen war, dass sie eine Göttin ermordet hatten, Iphis, die Mutter Anteias, gab es keinen Kontakt mehr zwischen ihnen und dem Olymp. Beweise für diesen Vorwurf hatte es allerdings nie gegeben, sonst wären die Sandarken von dieser Welt vertrieben worden. Zeus vermutete außerdem, dass sich nicht alle Götter von den Männern aus Eisen fern hielten. Paieon schien nach wie vor Kontakt zu halten, ging das Gerücht. Trotz seiner Unsicherheit sagte er: „Wenn wir tatsächlich den Tod dieser beiden Männer gewollt hätten, hätten wir uns nicht auf den Unfall verlassen, glaubst du nicht? Wir hätten sie zu einem todbringenden Ziel geschickt.“
„Diese beiden sind wahre Überlebenskünstler. Ich hatte schon mächtigere, stärkere und intelligentere Gegner. Sie alle sind tot. Sie werden auch mit den Sandarken fertig, wer immer die auch sind. Und dann weiß die ganze Föderation, wie ihr zu erreichen seid. Die ganze Arbeit meines Cousins, das viele Geld, das investiert wurde, um Historia verschwinden zu lassen – euer Geld – alles vergebens! Kannst du das wirklich riskieren? Lohnt sich das? Ich kenne die beiden, ich kann es verhindern! Alles, was dazu nötig ist: schaff die Zyklopen von meiner Fähre weg. Dann erledige ich so schnell wie möglich diese Agenten der Föderation, helfe euch danach Anteia zu suchen, kehre mit ihr zurück und sie wird – daran zweifle ich nicht – die Richtigkeit meiner Geschichte bestätigen.“ Sie sagte das mit einem fanatischen Leuchten in ihren schönen Augen und voller Überzeugungskraft. Sie stellte sich gerade vor, wie sie den ihr gegenüber so gleichgültigen Tjonre damit konfrontierte, dass sie seine Geliebte ermordet hatte; würde er sie danach immer noch so indifferent behandeln?
Zeus indes wurde unsicher. Ihre Begründung war nicht von der Hand zu weisen. „Was hindert dich daran, zu deinem Schiff zurück zu kehren und das System zu verlassen, wenn ich dir Zugang zur Fähre gewähre?“
„Ich bin hier aus freien Stücken. Ephram hat mich nicht gezwungen. Er ist auch nicht aus Feigheit nicht gekommen und hat mich vorgeschickt. Ich bin hier, weil ich es so wollte. Ich möchte euch beweisen – und Ephram will das genau so – dass eure Abgeschiedenheit nach wie vor garantiert ist. Wenn dazu Anteias Aussage nötig ist – nun dann sollten wir sie sobald als möglich hierher schaffen.“
„Aber woher willst du wissen, wo du sie suchen musst?“
Sie lächelte überlegen. „Ich weiß es eben.“
„Aber wenn du es weißt, kannst du es ja einfach uns verraten. Wir sorgen dann schon dafür, dass sie herkommt.“
„Vielleicht irre ich mich ja auch. Ich habe gewisse Hinweise von Heph bekommen, mehr nicht. Wirklich, ihr erspart euch viel Zeit und Farren, wenn ihr mich schickt – und habt dabei gar nichts zu verlieren.“
Zeus behagte es gar nicht nachzugeben. Ihre Argumente waren allerdings wirklich gut. Entscheidend war aber, dass die Götter gerade einen größeren Krieg zwischen den Achaiern planten und auch schon im Begriff waren, ihn anzuzetteln. Wer wollte da schon einer kleinen „noch nicht Göttin“ nachlaufen. Er willigte daher schließlich ein. Mit dem Gefühl des Triumphs nahm Reja das zur Kenntnis und schmiegte sich gekonnt an Zeus kräftigen Körper.
***
Der Garten der Erkenntnis wurde von einer viele Meilen langen, trutzigen Mauer beschützt, die für die Ahriman – trotz ihrer beeindruckenden Kletterkünste – unüberwindbar war. Weil er eine hügelige Topologie aufwies, konnte man trotz der Umfassung manche Abschnitte des Gartens sehen. Die Menschen, die in Merion wohnten, hatten sich bereits an den merkwürdigen Anblick gewöhnt und munkelten, die Priester hielten dort Dämonen gefangen, ja vielleicht sogar Götter aus alter Zeit, die ihre Macht verloren hatten. Aber was waren die Götter früherer Epochen schon anderes als die Dämonen von heute? Der einzige Eingang zum Garten der Erkenntnis lag in den Katakomben unter dem Tempel des Mitra und wurde von den Priestern streng gehütet. Der Tempel und die Umfassung waren uralt und erst später war rund um die Anbetungsstelle langsam eine Siedlung gewachsen, die sich schließlich sogar zu einer kleinen Stadt mauserte: Merion. Die Stadt lag in einer Flussschleife, die als natürlicher Schutz diente, aber mit der Zeit wurde offensichtlich, dass mehr Sicherheit erforderlich war und so erhielt Merion eine Stadtmauer, weniger beeindruckend zwar als die Umfassung des Gartens, der der Stadt sozusagen den Rücken freihielt; aber die Stadtmauer hatte bislang noch jedem Angriff stattgehalten. Davon, dass unterirdische Gänge von den Katakomben unterhalb der Stadtmauer durchführten, wussten die Bewohner Merions nichts, wohl aber die Priesterschaft, die das Geheimnis um ihre Existenz eifersüchtig hütete und die Ahriman, denen für treue Dienste auf diese Weise der Zugang zum Garten der Erkenntnis ermöglicht wurde, ohne dass irgendjemand in der Stadt etwas mitbekam. Aber es waren stets Sklavendienste gewesen, die die einst so stolzen Herren des Planeten zutiefst erniedrigten.
„Das alles kann sich ändern“, dachte Gorm, „wenn die Mauer fällt und wenn die Priesterschaft vernichtet wird. Und wenn es uns gelingt, die Alten aufzurütteln. Aber sie sind so passiv; sind es immer gewesen. Fast unbeweglich und verwurzelt – vielleicht kann man da nicht anders werden, selbst wenn man alles, was auf dem Planeten geschieht, durch die Jüngeren, Beweglichen mitbekommt. ‚Ihr seid so ungeduldig’, sagen die Älteren, flüstern es mitten in das Gedankenrauschen der Jungen‚ ‚habt Geduld’.“ Aber es ist schwierig, Geduld zu üben, wenn man jung ist.
„‚Der Zeitpunkt wird kommen, der Zeitpunkt wird kommen’, das hören wir schon seit Äonen! Aber wann ist er endlich da?“ Gorm wurde gewahr, dass die Älteren seine Aggressionen und seinen Übermut dämpften. Natürlich, ohne die Älteren wären die Jungen – trotz ihrer telepathischen Fähigkeiten – alleine. Sie neigten zu sehr zu spontanem, gefühlsbetontem Handeln, um zu kooperativem, vorausschauendem Verhalten in der Lage zu sein. Die Priester wussten nicht, dass die Alten denken konnten und welchen Einfluss sie auf die Gemeinschaft der Ahriman hatten. Für sie waren sie nur passive, unbewegliche Gebärmaschinen, die ihnen die Herrschaft über die Jungen ermöglichten. Diese Unkenntnis war ihr Trumpf; so sprachen zumindest die Älteren.
„Aber was nützt ein Trumpf, den man niemals ausspielt?“, dachte Gorm. „Wir nützen unsere telepathischen Fähigkeit lediglich, um die Macht unserer Herrn, der Priester, zu erhalten, die mit ihrer Hilfe ein Netzwerk errichten, mit dem sie Könige stürzen und machen können, ganz wie es ihnen beliebt. Statt um die Priester loszuwerden, um sie endlich zu vernichten!“ Er knirschte hilflos mit den Kieferpaaren.
Gorm riss sich aus seinem traumartigen Zustand und den nutzlosen Überlegungen. Er schüttelte sich und kroch aus dem Unterholz. Die Dämmerung brach an, langsam verschluckte die Dunkelheit das Licht des Tages. Die Zeit der Ungeheuer brach an. Die Zeit der Ahriman. Gorm sprach kurz mit dem Priester, der ihm erlaubte, weiter dem Mädchen zu folgen. Warum wollte er sie unbedingt tot sehen? Gab es wichtigere Gründe als bloßen Sadismus? Warum auch immer; Gorm hatte beschlossen, seine Freiheit bestmöglich zu nutzen. Er wollte mit dem Barbaren ins Gespräch kommen. Aber wie sollte er das anstellen? Für den Menschen war er ein grauenvolles Ungeheuer. Vielleicht konnte er sich in seine Gedanken drängen ... aber nein, er wusste, dass das nicht funktionierte. Er konnte mit einem ihm gut vertrauten Menschen ein wenig sprechen, Absichten kundtun, aber die Verbindung zu einem Menschen blieb unsicher und fragil. Etwas anderes war es, die Gedanken zweier Personen zu verbinden und dabei selbst im Hintergrund zu bleiben. Das war im Allgemeinen seine Aufgabe, wenn er seinem Priester und einem seiner Kollegen ermöglichte, über große Entfernungen ihre Intrigen zu spinnen.
Gorm fühlte den sandigen Boden unter seinen Füßen. Er hatte das Ufer des Yil erreicht und wanderte zügig flussaufwärts. Er folgte den Spuren und Gerüchen. Deutlich nahm er den Aschegeruch einer Feuerstelle wahr; sie musste wohl vom Vortag stammen. Bald war er an der Quelle des Geruchs. Die Gruppe hatte hier offenbar halt gemacht, weil der Fluss sich an dieser Stelle teilte. Der größere Arm erstreckte sich nach Südwesten, ein Seitenarm aber hielt genau auf Westen zu. Gorm brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass sie dem schmaleren Arm gefolgt waren, der steiler anstieg und dessen Quelle auf einem nicht allzu weit entfernten Berg liegen musste, der nicht von so imposanter Höhe war, wie manche andere. Gorm blickte zum von der untergegangenen Sonne immer noch erhellten Horizont und erkannte dort die Silhouette einer düsteren Festung, die sich mit ihren klaren, wie geschnittenen, geometrischen Formen deutlich vom umgebenden Berg abhob. So winzig sie auch aus der Ferne erschien, musste sie doch gewaltig sein, denn sie bedeckte fast die ganze Fläche des höchsten Plateaus und hinter ihr waren nur noch wie Zähne einige Gebirgsspitzen zu erkennen. Das musste das Ziel der merkwürdigen Menschengruppe sein. Gorm folgte ihnen entlang des steilen, bald schon unwegsamen Pfades.
***
Yasiwis Sehkraft hatte die letzte Woche Schritt für Schritt wieder zugenommen; sie freute sich über das unscharfe Bild ihrer Umwelt jetzt mehr als früher über ihre klare Sicht. Jeden grünen Fleck, der sich beim Näherkommen als Busch erkennen ließ, jede verwaschene senkrechte Form, die sie als Baumstamm erkannte; das Kobaltblau des Himmels, das dunkle Braun der Erde; all das entzückte sie maßlos. Die düstere Feste, auf die sie zuhielten, hätte sie hingegen weniger begeistert, aber Dinge, die so weit weg waren, konnte sie noch nicht erkennen, was fast ein Glück war, denn dieser Anblick hätte sicherlich ihre Stimmung getrübt. Die anderen waren deutlich wortkarger geworden, seit sie ihrer ansichtig geworden waren. Yasiwi aber war fröhlich und dankbar. Ihre Dankbarkeit erstreckte sich vor allem auf Granoc, der ihr gerade dann Hilfe hatte zuteil werden lassen als sie sie tatsächlich gebraucht hatte. Er war ein wirklicher Freund und sie hatte das nicht gewusst. Ob auch noch andere ihrer Freier so reagiert hätten? So mancher hatte von Liebe geflüstert. Am Anfang hatte Yasiwi das durchaus ernst genommen. Sie hatte sich ihr Schicksal und ihren Beruf ja nicht freiwillig ausgesucht und ihre Gedanken hatten sich daher durchaus gelegentlich umso normale Dinge gedreht, wie heiraten und Kinder kriegen, Ehefrau sein und ein stinknormales, biederes Leben führen. Sie hatte schnell und schmerzhaft herausfinden müssen, dass diejenigen, die von Liebe geredet hatten, davon nichts hören wollten. Mancher wollte sie für sich haben; freilich ohne deshalb seinerseits auf seine Ehefrau und auch andere Geliebte zu verzichten.
Granoc hatte das Wort „Liebe“ nie in den Mund genommen, aber er war es, der ihr schließlich geholfen hatte. Freilich gelang es ihr nicht, ihrem Phantasieehemann Granocs Gesicht zu geben. Der Barbar war ein Abenteurer, der sich nie fest binden würde, das war Yasiwi klar. Manchmal musste sie an einen bestimmten Bruethunier denken, der sie in letzter Zeit öfter besucht hatte, einen großen, blonden Mann, der Händler war und immer besonders nett zu ihr gewesen war. Er hatte gesagt, er wolle sie mit sich nehmen, zurück nach Bruethunien. Nachdem Granoc ihr erzählt hatte, dass Tjonre von Newedien stammte, das Bruethunien benachbart war, versuchte sie mehr darüber zu erfahren, wie man dort lebte. Aber Tjonre war äußerst wortkarg, wenn es um sein Vaterland ging. Man konnte meinen, er hätte es noch nie gesehen. Auch wenn sie nicht wusste, warum er über seine Heimat nicht reden wollte, mochte sie ihn doch sehr oder war ihm zumindest verbunden. Jeden Tag behandelte er sie dreimal und erkundigte sich interessiert nach ihren Fortschritten. Die waren anfangs spärlich gewesen, aber jetzt ging es rasant aufwärts. So rasant, dass sie schon wieder an andere Dinge denken konnte als an ihre Sehkraft. Seit ihrem unfreiwilligen Bad im Yil hatte sie nur noch Katzenwäsche gehabt: Hände und Gesicht in dem schmalen Fluss, dem sie folgten, früh, mittags und abends. Gestern Abends hatten sie ihr Lager am Rande eines kleinen grünen Sees aufgeschlagen und sie wollte in der Früh, bevor die anderen aufstanden, die Gelegenheit zu einem Ganzkörperbad nutzen. Trotz ihres Berufs hatte sie sich ein gewisses natürliches Schamgefühl bewahrt und wollte daher ohne Zuschauer sein. Das Ufer des Sees wurde durch eine Felsnase gespalten, die weit genug in den See hineinragte, um jemanden, der sich jenseits befand, einen Sichtschutz vor denen zu bieten, die am diesseitigen Strandteil lagerten. Natürlich war Granoc aufgewacht, als sie sich rührte; eigentlich hätte Tjonre die dritte Wache gehabt, aber er war offenbar eingeschlafen. So informierte sie Granoc und begann dann vorsichtig über die abgerundeten Felsen zu klettern. Die kleine Bucht war von der anderen Seite tatsächlich nicht einsichtig. Kleine bunte Kiesel, die ihre Füße nicht verletzten, bildeten den Strand, hinter ihr war der Wald sehr dicht; die Luft war schon recht warm und ihre Zehen fanden, dass auch das Wasser eine akzeptable Temperatur hatte. So streifte sie die Träger ihres ramponierten Kleides über die Schultern und ließ es fallen. Langsam und vorsichtig ging sie in das milchig trübe Wasser.
***
Er hatte es geschafft. Er war die ganze Nacht gelaufen, aber jetzt hatte er sie eingeholt. Endlich! Nun hieß es vorsichtig sein und sich nur sehr langsam nähern – der Barbar hatte ausgezeichnete Ohren und war überaus aufmerksam. Gorm war hoch genug geklettert, um eine gute Aussicht auf das Lager zu haben. Seine Beute bewegte sich von den drei Männern weg, kletterte über einen kleinen Felsen. Eine vortreffliche Gelegenheit. Er konnte sich ihr nähern, ohne von den anderen gesehen zu werden. Hastig aber lautlos glitt er den Baum hinab und bewegte sich den Abhang hinunter zu seinem Opfer.
***
Yasiwi wagte sich nicht allzu weit vom Ufer weg; sie konnte ja nicht schwimmen. Das Wasser war zunächst sehr angenehm gewesen und sie genoss es, wie es ihren Körper sanft umwogte; aber langsam begann sie zu frösteln. Deshalb ging sie zurück und entstieg pitschnass ihrer ganz privaten Riesenbadewanne. Sie hatte nichts um sich abzutrocknen, also zog sie ihr einziges, dürftiges Kleidungsstück schnell über und wollte zu den anderen, als ihr eine Bewegung in den nahen Büschen auffiel. Irgendetwas war da im Galeriewald, das sie nicht gut sehen konnte – ihre Sehkraft war immer noch nicht perfekt – und da sie neugierig war - insbesondere dann, wenn das gar nicht ratsam war - ging sie nicht zurück zum Felsen sondern hin zu dem, was immer das auch sein mochte, vielleicht ein wackelnder Ast? Aber was verursachte, dass er ständig weiter wackelte? Das wollte sie sich doch näher anschauen. Eine ganz kurze Weile überlegte sie, ob sie Granoc herrufen sollte, aber schließlich war sie immer schon selbstständig gewesen und musste sich nicht von einem Mann beschützen lassen. Sie ging ein paar Schritte auf das Phänomen zu, als sich plötzlich drei riesige, grauenerregende Gestalten aus der grünen Wand lösten und mit atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zuhielten. Es gelang ihr gerade noch markerschütternd loszuquietschen, dann waren sie schon bei ihr. Die furchterregenden Kreaturen hatten einen grauen Pelz, waren zwar einigermaßen menschenähnlich, aber mit überlangen Armen ausgestattet, die in riesigen Pranken endeten. Die Beine hingegen waren zwar stark, aber lächerlich kurz und mündeten genauso in Händen, wie die Arme.
Eine der Bestien griff sie um die Taille und wollte zurück zum Wald, als sich eine nicht minder wilde Erscheinung mit einem panthergleichen Satz auf den Rücken des Riesenaffen schwang und seinen Dolch in dessen Brust versenkte. Der Affe brüllte und schleuderte Yasiwi von sich, packte den Kimerier an den langen Haaren und zerrte ihn nach vorne, in die Reichweite seiner Fänge. Er umfing ihn mit seinen langen Armen und zog ihn immer näher, starrte ihn aus unmenschlichen, bösartigen Augen an, aber der Barbar hielt sich mit dem Knie und dem Ellenbogen des linken Arms auf Distanz, während er mit der Rechten immer wieder zustach. Für einen Menschen wäre jede dieser Verletzungen tödlich gewesen, aber die Bestie, die bereits aus zahlreichen Wunden blutete, schien unbeeindruckt und zog Granoc immer weiter zu sich, riss ihr Maul auf und entblößte die mächtigen Hauer. Da endlich ging ein unkontrolliertes Zittern durch den gewaltigen, muskelstrotzenden Körper des Affen. In seiner letzten Zuckung schleuderte das Tier Granoc von sich, der einen Moment völlig erschöpft mit schmerzendem Körper liegen blieb. Er wunderte sich, dass er noch lebte, denn die Gegner waren ja zu dritt und hätten ihn gemeinsam ohne weiteres zerreißen können. Er versuchte sich rasch einen Überblick zu verschaffen. Die beiden Weisen waren nicht zu sehen; wahrscheinlich hatte selbst Yasiwis Schrei sie nicht wecken können. Einer der grauen Riesen hatte Yasiwi ungeschickt gepackt und versuchte, das sich heftig wehrende Mädchen in Richtung Wald zu zerren. Aber warum hatte der Dritte nicht angegriffen? Granoc blickte sich um und sah den riesigen Menschenaffen nahe der Felsen in einen grotesken Kampf um Leben und Tod verstrickt. Was ihn verblüffte, war der Gegner der grauen Bestie, der wohl ein Dämon sein musste, der aus der finstersten Hölle entsprungen war. Der Körper entsprach dem einer purpurfarbenen menschenmordenden Riesenschlange, dem aber sechs Gliedmaßen entsprangen. Der Kopf hingegen passte nicht zu einer Schlange oder sonst einem Tier, das der Barbar kannte. Er wurde von zwei großen schwarzen Augen dominiert, zwischen denen sichelförmige, todbringende Kiefer saßen. Auch eines der Armpaare trug sichelförmige Klauen und all diese Waffen stachen auf den grauen Riesen ein. Diesem war es aber gelungen einen mächtigen Arm zu befreien und einen großen Stein zu ergreifen, den er mit beträchtlicher Wucht auf den Kopf des merkwürdigen Monsters niedersausen ließ. Granoc beobachtete, wie die Gestalt schlaff wurde – ohnmächtig oder tot – und der graue Affe seinem Gefährten in das Walddickicht folgen konnte. Gerade in diesem Moment tauchten auch die beiden eigenartigen Weisen auf, ohne Waffengurt, die sie zum Schlafen abgelegt hatten, aber mit Schwert in der Hand.
„Wo ist Yasiwi?“, wollte Tjonre wissen, der entsetzt auf die Leiche des Grauen Menschenaffen und den geschundenen Kimerier blickte, während Raft erstaunt auf die unbeweglich daliegende, merkwürdige Kreatur starrte und schließlich verblüfft sagte:
„Was ist das?“ Nach einer Weile ergänzte er für Granoc: „Bei Ymir.“
Granoc fühlte sich immer noch als wäre eine Horde wilder Büffel über ihn hinweg getrampelt und erhob sich ächzend und aus zahllosen, oberflächlichen Wunden blutend. „Drei Graue Menschenaffen haben Yasiwi angegriffen. Einen konnte ich erledigen, aber ein anderer hat sie mit sich genommen. Dieser Dämon“, er zeigte auf die am Boden liegende Kreatur, „hat mit einem weiteren gerungen, ist aber schließlich unterlegen.“
Tjonre trat zu dem merkwürdigen Wesen und sah es sich kurz aus der Nähe an. Er schüttelte den Schrecken ab, den diese ganze Szene in ihm hervorrief. „Wir müssen Yasiwi folgen.“ Und dann fügte er noch unsinniger Weise hinzu: „Sie braucht ihre Medizin, sie ist noch nicht geheilt.“
Rafts Bemerkungen dazu waren vernünftiger: „Ich glaube, das ist momentan ihre geringste Sorge – wenn sie überhaupt noch lebt!“
„Die Affen wollten sie nicht umbringen, denke ich. Es hat so ausgesehen, als wollten sie sie lediglich entführen“, meinte Granoc.
„Warum stehen wir dann noch herum? Wir sollten ihr folgen, solange es noch Spuren gibt“, entgegnete Tjonre.
„An Granoc liegt es nicht, wir müssen erst unsere Waffengurte und unser restliches Gepäck holen“, ließ sich Raft vernehmen.
Granoc blickte auf die Laubwand des undurchdringlich erscheinenden Waldes. „Aber auch dann können wir ihrer Spur nicht folgen. Die Menschenaffen sind über die Bäume geflohen und in diesem Dickicht sind wir auch am Boden nicht schneller als sie, selbst wenn wir wüssten, wohin sie unterwegs sind.“ Da alle Granocs Beispiel gefolgt waren und dorthin sahen, wo Yasiwi in der grünen Wand verschwunden war, bemerkte niemand, dass sich die tot geglaubte, dämonenhafte Kreatur erhob und ihre geifernden Kiefer sich nun in unmittelbarer Nähe von Tjonres ungeschütztem Hals befanden. Ein undefinierbarer Instinkt ließ den Barbaren die Gefahr erahnen und in einer geübten, fließenden Bewegung zur Streitaxt greifen.
„Wenn du das tust, ist der Hals deines Begleiters entzwei!“ Die Stimme klang unmenschlich, zischend, kaum verständlich und nicht laut. Die Nackenhaare des Kimeriers stellten sich auf, die Reaktion des Wilden auf Übernatürliches und Unverständliches. Er verharrte in der Bewegung. Auch Tjonre bekam eine Gänsehaut und drehte sich langsam um, nur um einem Albtraum ins Antlitz zu sehen. Riesige, starre, weit auseinander stehende Augen blickten ihn an, an denen alles verkehrt zu sein schien: im Zentrum befand sich eine dunkel-goldene Iris, die sich pulsierend erweiterte und verengte, darum herum die meist tiefschwarze, kreisförmige Pupille, die aber manchmal ganz kurz amethystblauviolett aufblitzte. Darunter große sichelförmige, an der Basis weiße Kieferzangen, deren zahlreiche, verschieden große Zähne schwarze Spitzen hatten. Gleich darunter kleinere Zangen, die sich nervös vor und zurück schoben. Das Gesicht, das langsam vor ihm hin und her pendelte, hatte die Form eines auf der Spitze stehenden Dreiecks, überwiegend purpurfarben wie der schlangenförmige, aber segmentierte Leib, den Tjonre kaum wahrnahm, da ihn die großen, befremdenden Augen hypnotisierten. Er war sich der drohenden Gefahr bewusst und verharrte reglos. Er zweifelte kaum daran, dass ihn da der Tod angrinste. Trotzdem dachte er irrational an die Zukunft: „Hoffentlich bekomme ich von dem Anblick kein Trauma.“
Es war Raft, der als erster vernünftig reagierte: „Warte Granoc, laß die Finger von der Streitaxt. Dieses Ding hat den Grauen Affen angegriffen. Und es kann mit uns reden. Also, Ding, was willst du? Warum hast du versucht, Yasiwi zu helfen? Hast du das überhaupt?“
Granoc ließ seine Hand sinken und das Monster entfernte seine Kiefer aus der unmittelbaren Nähe von Tjonres Hals. Es erzeugte wieder Laute, die nur entfernt an menschliche Sprache erinnerten. „Ihr habt gehört, was der Bezwinger des Menschenaffen sagt. Ihr könnt der Affenspur nicht folgen, weil sie über die Baumkronen führt und werdet daher eure Begleiterin nie wiedersehen. Es sei denn ...“
„Ja?“, meinte Granoc.
„Nun, ich kann im Geäst genauso gut klettern, wie diese Kreaturen. Und ich kann ihrer Spur ebenso gut folgen wie der Barbar.“
„Aber warum? Warum solltest Du das tun?“
„Ich werde euch beizeiten erzählen, welche Gründe für mein Handeln vorliegen. Vorläufig muss genügen, dass ich euch versichere, dass wir dieselben Ziele haben.“
„Gut“, meinte Raft, „worauf warten wir noch?“
„Darauf, dass du und Tjonre eure Waffengurte und den Rest eures Gepäcks holen“, lachte Granoc.
„Noch eine Bitte, Bezwinger des Grauen Affen“. Granoc nickte dem Dämon zu. „Ich habe lange nichts mehr gegessen. Würdest du gestatten, dass ich ...“ Der Dämon blickte begehrlich in Richtung der Affenleiche und ging dann, als Granoc eine einladende Geste machte an Tjonre vorbei und vergrub sein längeres Kieferpaar rasch in den umfangreichen Bauch, öffnete ihn hastig und versenkte seinen Kopf in die Eingeweide. Natschend – schlürfende Geräusche waren deutlich zu vernehmen. Granoc beobachtete das Schauspiel gebannt, während sich Tjonre und Raft schnell verzogen, ersterer mit sehr grünem Gesicht, um ihre Ausrüstung zu holen. Granoc war indessen wirklich fasziniert, denn die Kreatur verputzte ohne jegliche Tischmanieren innerhalb kürzester Zeit einen nicht unbeträchtlichen Teil des Affen. Schwer vorstellbar, dass das seine Kletterkünste nicht beeinträchtigte. Bald kamen die beiden gut gerüstet zurück – Tjonre trennte sich allerdings praktisch nie von seinem lebensrettenden stich- und schusssicheren Panzerhemd – und auch der Dämon war inzwischen satt und zufrieden.
„Was machen wir mit den Pferden?“, wollte Tjonre wissen.
„Die müssen hier bleiben. Durch den Wald müssen wir ohne sie“, meinte Granoc und die anderen wussten, dass er recht hatte. „Dämon! Hast du einen Namen?“
„Nennt mich Gorm.“
„Gut, Gorm. Dann zeig uns, wie gut du klettern kannst!“ Granoc lachte. Tjonre wunderte sich, wäre Elri soeben entführt worden, wäre seine Laune im Keller. Er wäre sicherlich verzweifelt. Granoc hingegen war eher aufgekratzt und witterte ein Abenteuer. Gefahr wirkte belebend auf ihn. Weder sein eigener Tod noch der anderer schien ihn besonders zu kümmern. Ein Held eben und genau das, was Tjonre nie gewesen war und auch nie sein würde. Immerhin würde er nicht ruhen, bis Yasiwi gerettet war. Würden sie allerdings erfolglos bleiben, hätte der Kimerier deswegen auch keine schlaflosen Nächte.
Flink rannte der Dämon auf den Waldrand zu und kletterte mit atemberaubender Geschwindigkeit den Stamm eines sicherlich uralten Baumriesen hinauf, wobei ihm seine Krallen wertvolle Dienste erwiesen. Die drei Männer beeilten sich, ihm nachzukommen.
***
Paieon, der Arzt der Götter, lümmelte auf seinem Sessel. Er war ein gut aussehender Mann mit dunklem, leicht gewelltem Haar, das einen dezenten, silbernen Schein verbreitete. Er war hoch gewachsen und schlank und trug eine weiße Tunika, die auf das Vortrefflichste die tiefschwarze Erscheinung seines Gegenübers kontrastierte. Kostral, der Sandarke, der eherne Teufel, wie er genannt wurde, Gott oder Dämon, wirkte wie eine grobe, tiefschwarze Metallstatue, ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wurde, dass er auf überflüssige Bewegungen verzichtete. Wenn er allerdings in Aktion trat, dann unglaublich kraftvoll. Er war größer als ein durchschnittlicher Mann, zwar humanoid, aber bei genauerer Betrachtung doch nur entfernt menschenähnlich. Geradezu unmenschlich wirkten seine blutrot leuchtenden Augen und die lediglich angedeutete Nase. Auch Lippen und Wangen fehlten, was ihm Ähnlichkeit mit einem Totenschädel verlieh.
„Nun Paieon, was machen deine Versuche?“ Die Stimme des Ehernen war dunkel und tönend wie der Klang einer Glocke. Dennoch wirkte sie kalt.
„Ich denke“, antwortete der Arzt der Götter, „wir stehen vor dem Durchbruch. Ich habe meine Grauen Menschenaffen losgeschickt, um eine Frau zu besorgen. Eine letzte Testperson. Diesmal werden wir Erfolg haben. Das menschliche Erbgut enthält alle Informationen, die auch seine Vorfahren gestaltet haben. Ein paar kleine Änderungen hier und da und schon entwickelt sich kein Mensch sondern etwas Primitiveres, weniger Raffiniertes, aber auch Kraftvolleres. Eben diese Grauen Menschenaffen, meine Diener. Und diese Veränderung bewirkt ein winzig kleiner Virus und seine Billionen Nachkommen.“
„Nun, das ist mir bekannt. Wo also ist der Fortschritt?“
„Gemach mein Freund Kostral, gemach.“
Der Eherne wurde zornig. „Geduld sagst du! Seit mehr als einer Dekade nun bin ich verbannt, habe Arkeen nicht mehr gesehen und muss allein auf Historia in der Verbannung leben. Und das wegen eines kleinen Fehlers! Und wenn die anderen Olympier Bescheid wüssten, würden sie mich selbst von hier verjagen!“
„Da irrst du mein Freund“, entgegnete Paieon, „wenn sie wüssten, dass du es warst der eine Göttin getötet, der Eos ermordet hat, würden sie dich nicht verjagen. Sie würden dich in den Schlund des größten Vulkans dieses Planeten schmeißen und dabei zusehen wie du schmilzt.“ Er grinste bei der Vorstellung.
„Wie hätte ich das verhindern sollen? Sie wollte mich davon abhalten, den Historiker zu töten, diesen PaDorkis. Er musste sterben, das weißt du. Sie dachte, dass ich, wenn sie sich vor ihn stellt, keine Möglichkeit mehr hätte, ihm das Genick zu brechen. Da habe ich sie mit einer Handbewegung beiseite gefegt. Niemand wollte, dass sie stirbt. Aber sie ist so unglücklich gefallen ...“
„Du hättest etwas behutsamer sein können. Allerdings hätte auch sie klüger sein und den Schutzanzug anbehalten können“, meinte der Arzt, „aber nachdem sie den Historiker getroffen hatte, wollte sie ja unbedingt wie ein normaler Mensch leben. Man sieht, wie weit sie das gebracht hat. Sie meinte, wir alle seien Psychopathen, außer natürlich ihr Bruder, mein ‚Freund’ Hephaistos“. Er lachte. „Einfach lächerlich. Warum hast du damals ihre Tochter verschont?“
„Der Schock, eine Göttin getötet zu haben, war groß. Die Götter sind die einzigen Freunde der Sandarken gewesen. Und du musst dir keine Sorgen machen. Sie wird nie wieder auftauchen und kann nichts erzählen. Selbst wenn sie noch leben sollte.“
„Du irrst mein Freund. Sie ist hier auf Gaia. Sie war sogar im Olymp!“
Nie konnte man Kostral eine Gefühlsregung ansehen, denn er besaß keine Mimik. Aber er wurde ungewöhnlich unruhig. „Hat sie den Göttern etwas erzählt?“
„Wenn sie ihnen etwas erzählt hätte, wäre das dein Ende! Ich bezweifle nicht, dass sie sich bei sorgfältiger Befragung an genügend Tatsachen erinnern könnte. Aber diese Narren hatten anderes im Sinn. Ares und Helios wollten sie in ihr Schlafgemach zerren. Das hat Hephaistos veranlasst, sie vom Olymp wegzubringen. Das ist gut für dich aber wohl keine dauerhafte Lösung. Ich wette, sie hat inzwischen alles an Hephaistos weiter gegeben! Du siehst also: deine Tage auf diesem Planeten sind gezählt. Aber nach Arkeen kannst du erst zurück wenn wir Erfolg haben. Erst dann werden sie dir verzeihen, dass du es warst, der PaDorkis den Auftrag gegeben hat, die Geschichte eures vierten Planeten zu untersuchen. Sind seine Aufzeichnungen über die Ergebnisse inzwischen gefunden worden? Ich erinnere mich, dass du – und dann auch andere deiner Art – sie intensiv gesucht haben.“
Der düstere Riese schüttelte den Kopf. „Nein. Außerdem wissen wir ja nicht, wie viele Kopien davon existieren. Diese Sache droht nach wie vor, uns zu erschlagen. Ich verstehe nicht, wo sie sein können. Aber sie müssen wohl noch auf unserem Planeten sein, denn sie sind nie aufgetaucht – und das dürfen sie auch nie, niemals.“
Paieon nickte. Er war der einzige Gott und der einzige Mensch, der tatsächlich wusste, was damals passiert war. Er hatte geschwiegen und damit die Götter verraten. Das hatte er wieder gut zu machen, genau wie Kostral sein Volk verraten hatte und nun Buße tun musste. Anteias Rückkehr hatte sie in Zugzwang gebracht. Sie musste von der Schuld der Sandarken wissen, aber nicht von seiner. Als Eos, also Iphis, ermordet worden war, war er nicht zugegen. Aber wenn nun die Schuld Kostrals bekannt würde, würde man aus seiner Freundschaft zu dem Sandarken unliebsame Schlüsse ziehen. Es wurde also allerhöchste Zeit, dass der Sandarke zu seinem Heimatplaneten zurückkehren konnte und seine Verbannung endete.
Sie schwiegen eine Weile, dann nahm Kostral den losen Gesprächsfaden wieder auf: „Nun; worin besteht der Fortschritt?“
„Ach ja! In den vergangenen Jahren haben wir erreicht, dass sich ein menschlicher Embryo zu diesen haarigen Monstern entwickelt, die mit ihren Bärenkräften recht nützlich sind. Aber dazu war es immer erforderlich, den Virus direkt in die Föten zu injizieren, womit natürlich eine Verbreitung wie bei einer Krankheit nicht möglich war.“ Paieon lachte. „Stell dir nur vor: ein Planet voller Menschen und in der nächsten Generation nur mehr diese halbintelligenten Riesenaffen! Ein Rückwärtssprung in der Evolution von einigen Millionen Jahren innerhalb einer einzigen Generation. Das wäre das Ende der Raumfahrt auf den anderen Planeten und die alleinige Herrschaft der Götter! Aber die Kettenreaktion, die Übertragung des Virus von einer Generation zur anderen hat bislang nicht funktioniert. Doch jetzt sind wir soweit. Wir werden den Virus nun in die Frau injizieren und nicht in ihren Fötus. Aber an dem neuen Virus wird auch der Fötus erkranken.“
„Aber wir haben keine neun Monate mehr, um auf den Ausgang des Experiments zu warten“.
Der Arzt blickte ihn mitleidig an. „Erste Änderungen sieht man nach wenigen Tagen. Außerdem genügt ein Nachweis des Virus im Fötus.“
Plötzlich tönte ein Kreischen durch die riesige Halle. „Lass mich los, du Ausgeburt! Wenn du mich nicht sofort loslässt, wird Granoc kommen und dich töten, genau so, wie er deinen hässlichen Bruder getötet hat!“
Von der anderen Seite der gewaltigen, kreisrunden, azurblauen Halle näherte sich einer der Grauen Menschenaffen dem massiven Tisch, an dem der Gott und der Sandarke saßen, Paieon ein Glas Wein vor sich. So groß war der Saal, dass es eine Weile dauerte, bis der Affe sie erreichte. Er hatte eine strampelnde brünette Frau unter einen Arm geklemmt, die unzweifelhaft wohlgestaltet war, gesund und offenbar gut für das Experiment geeignet. „Ah, Llan, was bringst du uns da? Und so rasch? Du kannst unmöglich bereits vom nächsten Dorf zurück sein.“ Paieon war begeistert, er hatte erst in einer Woche mit der Rückkehr der Affen gerechnet. „Hör auf herumzustrampeln und zu kreischen, junge Frau! Llan tut dir nichts.“ Der Arzt war aufgestanden und ging auf die beiden zu.
Sie dachte gar nicht daran, zahm zu werden. „Tut mir nichts? Er hat mich entführt! Sagt ihm gefälligst, dass er mich loslassen soll!“
„Ich fürchte, das geht nicht. Wir brauchen dich für ein kleines Experiment.“
Yasiwi wurde bleich. „Was wollt ihr mir antun?“ In dem Moment erhob sich auch Kostral, der sich bis dahin nicht gerührt hatte und den Yasiwi für eine Statue gehalten hatte. Nun erfüllte sie hysterische Angst und sie begann abermals in den höchsten Tönen zu quietschen.
„Ist sie geeignet?“, wollte der Düstere wissen.
„Ich denke schon. Sie ist gesund. Du hörst das an ihrer Stimme, die ziemlich kräftig ist. Leider.“
Yasiwi hatte das trotz des Kreischens mitbekommen. „Geeignet? So sagt doch endlich wofür?“
„Keine Angst“, versuchte der Arzt sie zu beruhigen. „Wir wollen dir nichts tun. Eigentlich brauchen wir nur dein Kind.“
„Mein Kind? Ich habe überhaupt kein Kind!“ Yasiwis Stimme zitterte vor Empörung.
„Noch nicht“, entgegnete der Arzt.
„Ich bin auch nicht schwanger oder so!“
„Aber du wirst es bald sein. Dafür werde ich persönlich sorgen.“
Einen Moment war Yasiwi stumm vor Empörung, dann kreischte sie lauter los denn je. „Davon träumst du vielleicht, du Wüstling. Warte nur bis Granoc kommt, dann bekommst du mächtig Ärger! Lass mich lieber freiwillig gehen, sonst kannst du einem jetzt schon leidtun! Und zwei überaus gefährliche Magier kommen auch mit ihm, also ...“
„Na ja, dann danke, dass du uns gewarnt hast.“ Paieon fand die Kleine amüsant, trotz des Lärms, den sie veranstaltete. Kostral hätte sie am liebsten erwürgt. Aber er brauchte sie. Die Möglichkeit, die Menschheit auf diese Weise zu eliminieren, würde ihn bei den Hohepriestern der Sandarken, den Hütern der ‚Einzig Wahren Religion’ rehabilitieren. Und – auch wenn Paieon so dumm war dies zu glauben – die Hüter würden nicht vor den Göttern des Olymps halt machen. Auch sie waren bloß Menschen – wenngleich in den vergangenen Jahrtausenden sehr nützliche. Aber die Schmach, die PaDorkis’ Entdeckung über sie alle gebracht hatte, konnte nur durch die vollständige Elimination der Menschheit gesühnt werden.
Paieon hingegen sah in den Sandarken nur nützliche Werkzeuge für sein Ziel: das Experiment, das Historia darstellte, auf das ganze Universum auszudehnen. Die Sandarken hatten ihn finanziert und damit konnte er von Föderationswelten die erforderliche Technik für seine Versuche mithilfe der Piraten besorgen. In seiner Gleichung waren die Sandarken zwar nützlich, aber unbedeutend. Der Arzt schüttelte den Kopf. „Diese Sterblichen. Llan, bring das Mädchen in den Garten!“
***
Der Ahriman bewegte sich geräuschvoll aber sicher durchs Geäst, wand sich oftmals wie eine Schlange einen Stamm hinauf, schien dann von einem Baum zum nächsten zu fliegen, oft sechzig Fuß über dem Boden. Die drei folgten ihm, Granoc zuerst, wobei er gelegentlich die Streitaxt zweckentfremdete und damit den Weg frei schlug. Tjonre ging zuletzt, er war der geborene „in die Fußstapfen Treter“, fand er. Schon bald war klar, dass die beiden Affen mit ihrer Beute auf die Schwarze Festung zuhielten. Dennoch mussten sie weiter den Spuren folgen, wollten sie den Eingang in die Festung finden. Der Weg durchs Unterholz war schwierig; es war anzunehmen, dass die Affen rascher vorankamen. Schließlich, nach mühevollen Stunden, wichen die majestätischen Bäume zurück und der Urwald ging in eine offene Landschaft über. Sie tagsüber zu betreten, erschien ihnen unklug und so beschlossen sie, ein wenig zu rasten. Tjonre setzte sich und lehnte seinen müden Rücken gegen einen Baumstamm. Jetzt hatte er erstmals Gelegenheit, den Ahriman genauer zu betrachten. Der schlangen- oder waranhafte Körper war seitlich kompress und wurde durch die ausgedehnten – sie reichten einem stehenden Mann bis zur Brust - krallenbewehrten Beine in zwei fast gleich lange Hälften geteilt, der Schwanz überwog etwas. Beide Armpaare waren normalerweise an den Körper angelegt, die etwas längeren, äußeren, die in einer Sichel endeten und die kürzeren, inneren, die funktionelle Hände trugen, ohne in allen Details menschlichen Händen zu gleichen. Beängstigend war der sehr bewegliche, dreieckige Kopf mit den zu großen Augen, in denen noch dazu der Platz von Iris und Pupille vertauscht war, und natürlich die beiden horizontalen Kieferpaare, von denen insbesondere die oberen, mit scharfen Zähnen besetzten, sehr gefährlich wirkten.
Der Ahriman bemerkte Tjonres Aufmerksamkeit und bevor er sie als bedrohlich empfinden konnte, beschloss Tjonre durch ein paar Fragen, seine Neugierde zu stillen.
„Warum hilfst du uns? Warum bist du Yasiwi gefolgt?“
„Der Mitra Priester wollte es so. Er wollte, dass ich ihr folge.“
„Zu welchem Zweck?“
„Ich sollte sie töten und aufessen.“
Tjonre sah, dass Granocs Hand unwillkürlich zum Schwert griff und beeilte sich daher weiterzureden. „Aber du hast es nicht getan! Wieso?“
„Ich habe ein Gespräch zwischen der Frau und dem Bezwinger des Grauen Affen belauscht. Der hat verkündet, er werde bei seiner Rückkehr den Priester töten.“
„Dann bist du also nicht der Freund des Priesters.“
Ein zischendes Geräusch ertönte, das Tjonre unschwer als Lachen erkannte, wenngleich es keine Ähnlichkeit zum menschlichen Pedant hatte. „Die Priester erpressen uns. Sie haben uns in der Hand. Wir müssen ihren Befehlen nachkommen.“
„Wie machen sie das? Ihr seid sehr mächtige Wesen.“
„Das verrate ich dir nicht. Einer unserer Vorfahren hat den Fehler gemacht, unsere Achillesferse euch Menschen bekannt zu geben, nicht ahnend, zu welcher Gemeinheit ihr fähig seid.“
„Aber wozu brauchen sie euch denn? Sie können sich doch sicherlich auch unauffälligere Diener und Auftragsmörder finden?“
„Sie nutzen unsere Fähigkeit des Gedankenlesens. Wir vermögen auf weite Distanzen miteinander zu reden und können auch Menschen ermöglichen, miteinander zu sprechen, obwohl große Entfernungen sie trennen.“
„Was? Wie funktioniert das?“ Jetzt war Tjonre, der die Trennung von Elri kaum mehr aushielt, hellhörig geworden.
„Soll ich es dir zeigen?“
„Was muss ich tun?“
„Sei zunächst ganz ruhig und versuche an gar nichts zu denken ...“ Spöttische Zwischenbemerkungen von Raft, die Tjonre erwartet hatte, blieben aus, vor allem weil der Mann aus Romjen ihrem Gespräch nicht folgte. „Wenn du spürst, dass ich Kontakt mit dir aufgenommen habe, erschrecke nicht und weise ihn nicht zurück, denn ich habe nicht die Macht, ihn gegen deinen Willen aufrecht zu erhalten. Dann konzentriere dich auf die Person, mit der du dich gerne unterhalten möchtest.“
„Wie konzentrieren? Soll ich mir ihr Gesicht vorstellen, ihre Stimme, eine Szene in Erinnerung rufen, in der wir beide eine Rolle spielen?“
„Egal! Sei jetzt ruhig.“
Tjonre wurde ruhig und wartete. Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Die Welt vor ihm schien zusammenzuschrumpfen, von ihm wegzurasen, bis lediglich ein heller Punkt in der Dunkelheit blieb, wie das Licht einer Kerze in einem finsteren Raum. Irgendjemand blies die Kerze aus, was blieb, war Nichts. Tjonre war verwundert, aber nicht panisch, nicht einmal ängstlich. Er spürte, dass da etwas war, eine fremde Existenz, aber sie blieb im Hintergrund und versuchte nicht mit ihm zu kommunizieren. Die Leere selbst war es, die zu ihm sprach und ihn aufforderte sie mit irgendetwas zu füllen. Und das tat er. Er füllte sie mit seiner Sehnsucht nach Elri, stopfte alle Erinnerungen an sie hinein, die ihm gerade in den Sinn kamen. Was nur Fiktion war verdichtete sich und nahm eine Realität an, die weit mannigfaltiger an Details war als alles, was sein Gedächtnis und seine Phantasie je hervorgebracht hatten. Da stand sie, mitten im Nichts und ihre Wesenheit füllte seine Existenz. Sie trug ein schimmerndes, weißes Kleid und blickte ihn an – sie konnte ihn sehen! Ihre Züge spiegelten Verblüffung und – Freude wieder. Sie bewegte die Lippen.
„Tjonre“, flüsterte sie „wie ist das möglich? Ist das ein Traum?“
Er hatte Angst, nur er könne sie verstehen und sie nicht ihn und diese Angst schob sich wie ein Schleier zwischen sie. Rasch bemühte er sich um innere Ruhe. „Elri, meine Elri! Nein, das ist kein Traum. Ich bin weit weg aber ich kann mit dir sprechen, nur ganz kurz. Ich habe keine Zeit für Erklärungen.“
„Ich glaube, ich weiß Bescheid. Du bist einem der Eingeborenen begegnet. Sie haben telepathische Fähigkeiten.“
Sie lächelte und ihr Lächeln war so wunderbar, dass es ihm den Atem raubte. „Ich habe so versucht mich daran zu erinnern, die ganze Zeit, an dein Lächeln, aber es ging nicht, ich konnte es mir nicht vorstellen. Dabei ist es unglaublich bezaubernd; es geht direkt von den Augen des Betrachters in sein Herz – ohne Umweg über das Hirn. Und es hat den gleichen Effekt wie ein Sonnenaufgang, es macht mich heiter und unbeschwert.“
„Wie ein Sonnenaufgang? Wie die Morgenröte? Oh Tjonre, ich will keine Göttin sein, bitte bleib bei mir!“ Sehnsucht und Resignation waren ihm ins Gesicht geschrieben und färbten auf sie ab. Aber trübselig sein war das Letzte, was er jetzt wollte.
„Wie geht es dir? Hat Hephaistos dir geholfen? Hat er dich vom Olymp weggebracht, wie er es mir versprochen hat? Oh Elri, ich hoffe es geht dir gut!“
„Ja, Hephaistos hat mich auf eine Insel gebracht, wo ich in Sicherheit bin. Auf der Insel hat auch mein Vater gelebt und geschrieben. Ich kann jetzt seine Aufzeichnungen lesen! Deshalb weiß ich auch von den Fähigkeiten der eingeborenen Bevölkerung. Hephaistos hat mit sehr geholfen, hat mir gezeigt, dass ihr den Absturz überlebt habt. Ich hatte entsetzliche Angst um dich. Aber wo bist du? Wie geht es dir?“
„Das ist eine lange Geschichte und es bleibt mir keine Zeit, sie dir zu erzählen. Oh Elri, wir haben es beinahe geschafft, wir sind vor der Festung der Sandarken, aber ich glaube, es ist etwas Schreckliches passiert, das all unsere Pläne kaputt macht!“ Elri blickte ihn aus großen Augen an. „Ich glaube, Talira ist zerstört worden, die Götter haben sie irgendwie vernichtet!“
„Das wusste ich nicht. Bist du sicher? Ich muss Hephaistos fragen. Wenn du recht hast, können wir nicht nach Wägan. Oh Tjonre, das wäre schlimm für dich.“
„Nein Elri, es ist nicht wichtig. Wenn ich nur wieder zu dir kommen könnte, auf der Insel ist es sicher genau so schön. Vielleicht bringen mich die Sandarken zu dir zurück!“
„Geh nicht zu den Sandarken! Sie sind wirklich die Monster, an die ich mich erinnere! Wahrscheinlich haben sie meine Eltern umgebracht, ich weiß nur noch nicht wieso. Und ich bin mir sicher, dass die Götter euch nur deshalb zu ihnen geschickt haben, damit sie vollenden, womit sie begonnen haben. Ares und Helios haben versucht euch zu töten und sie sollen das nun zu Ende bringen.“
Tjonre konnte sehen, dass es Elri sehr wichtig war, diese Warnung auszusprechen und doch konnte er sie nicht beherzigen. Nur die Sandarken hatten die Macht, ihn zu ihr zu bringen und deshalb musste er mit ihnen sprechen. Tjonre hatte zunehmend das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, das Bild, das er von Elri sah, verlor an Klarheit. Er musste sich beeilen.
„Elri, wie heißt die Insel?“
„Ich bin auf Lemnos!“
„Elri, es bleibt keine Zeit mehr! Ich werde alles tun um zu dir zu kommen. Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch. Oh Tjonre, bitte sei vorsichtig! Wenn dir etwas zustößt – das könnte ich nicht ertragen ...“ Die letzten Worte waren wie dahin gehaucht, dann war Elri weg, die Dunkelheit zerriss und Tjonre wurde von Eindrücken geradezu überflutet und erschrak heftig, als er seiner Begleiter gewahr wurde und der Kulisse, in der sie sich befanden; der Waldesrand in der Dämmerung und die hochummauerte Feste in einiger Entfernung; trutzig und uneinnehmbar erschien sie ihm wie einst Troja den Danaern. Desorientiert und verblüfft suchte sein Blick den des Ahriman. Doch der wirkte gefühllos und undurchschaubar wie immer. Was ihm noch blieb, war die Empfindung der Trauer. Er hatte Elri gefunden und wieder verloren. Und diesmal, so schien es ihm, für immer.
Granoc stand auf, eine athletische Silhouette in der Düsternis.
„Wir müssen los“, sagte er.
***
Vor ihnen ragte die Schwarze Festung empor, unheilvoll und unbezwingbar. Die dunkle Mauer war sicher dreißig Fuß hoch und völlig glatt. Nicht einmal der Kimerier würde an ihr hochklettern können. Sie verharrten eine Weile, um das gewaltige Gemäuer zu bestaunen, während Gorm, dessen Interesse anderweitig gefesselt gewesen war, sich zu ihnen gesellte. Jetzt suchte er gemeinsam mit Granoc am Boden nach Spuren.
„Blut“, ließ sich Granoc vernehmen und zeigte auf einen bodennahen Ast. „Du musst deinen Gegner ziemlich verletzt haben, Gorm.“
„Das will ich doch annehmen“, zischte die Kreatur zurück, die keine Schwierigkeiten hatte Yasiwis Duft zu folgen. Die Spur führte fast geradlinig über das Hochplateau auf die Feste zu und endete an der völlig glatt erscheinenden Mauer, die weit empor ragte, scheinbar bis zum schwarzblauen Himmel.
„Sie können doch nicht fliegen“, stellte Raft verwundert fest. „Bist du sicher, dass das die richtige Stelle ist?“ Tjonre wirkte eher ungläubig, denn an diesem Ort konnte nicht einmal ein Affe die Mauer erklimmen – schon gar nicht mit einer zappelnden Beute - und ein Tor war ebenfalls nicht zu erkennen.
„Völlig sicher. Sie haben sich hier sogar eine Weile aufgehalten, bemerkt ihr das nicht?“ Er zeigte mit seinem kürzeren Arm auf das zerdrückte Gras. Es war tatsächlich so. Sogar Tjonre konnte das sehen.
„Aber es gibt hier keine Blutspuren“, bemerkte Raft verwundert.
„Das stimmt“, bestätigte Granoc, „der Verwundete hat einen anderen Weg genommen. Am Waldrand ist er nach Nordwesten abgebogen in Richtung auf den Teich zu, der sich bis zur Mauer erstreckt.“ Sie berieten sich kurz und kamen zu dem Schluss, dass es wohl am vernünftigsten war, die Mauer entlang nach Westen zu gehen bis zu jenem Teich und dort wieder nach den Spuren des verwundeten Affen zu suchen. Vielleicht war er nur aufgrund seiner Verletzung sehr durstig gewesen, vielleicht hatte er dort auch lediglich nach einem Platz zum Sterben Ausschau gehalten. Fakt war jedenfalls, dass sie hier nicht weiter kamen. Nach einigen tausend Fuß standen sie am Ufer des stillen Gewässers und Granoc sah auch sofort die Blutspur. „Das ist seltsam!“
„Was?“, wollte Tjonre wissen.
„Die Blutspur endet hier, direkt am Ufer. Der Affe muss also ins Wasser gegangen sein. Aber wo ist er?“
„Vielleicht war er so schwer verletzt, dass er seinen Wunden erlegen ist oder ertrunken?“, mutmaßte Tjonre.
Raft schüttelte sein Haupt. „Und wo ist dann die Leiche? So ein toter Körper sinkt doch nicht gleich zu Boden, oder?“ Raft hatte wenig Erfahrung mit toten Körpern, die im Wasser lagen. „Ich vermute eher, dass es unter dem Wasserspiegel einen geheimen Eingang in die Festung gibt. Jemand müsste das überprüfen. Tjonre, ich hätte da an dich gedacht.“
„An mich?“
„Im Schwimmen und Tauchen bist du doch ein As!“
„Sicher. Und wenn ich dann auf der anderen Seite rauskomme, wer steht dann dort? Richtig! Der Riesenaffe! Ich bin doch kein Actionheld, sondern, dank dir, der Weise.“
„Deswegen“, meine Granoc, dem das Abenteuer viel mehr Spaß zu machen schien als Tjonre, „werde ich dich auch begleiten – sobald du den Eingang gefunden hast.“ Er blickte sich neugierig um. „Wer noch?“
Gorm zischte angewidert. „Wasser ist widerlich.“ Deswegen also war Gorm, der Yasiwi verfolgt hatte – warum auch immer – ihr nicht ins Wasser gefolgt, schlussfolgerte Granoc.
„Ganz richtig“, bestätigt Raft Gorms Aussage.
Tjonre legte Waffengurt und Schuhe ab, spreizte aber nicht die Schwimmhäute, denn er war ja angeblich Newedier und die hatten keine und sprang mit dem Kopf voran ins nicht zu kühle, aber ein wenig trübe, humindunkle Nass. Er taucht auf etwa sechs Fuß Tiefe und bewegte sich die Mauer entlang. Schon nach wenigen Dutzend Fuß erkannte er die schmale Öffnung, nicht viel mehr als drei Fuß im Quadrat. Hastig tauchte er auf. „Raft, du hattest recht. Aber der Durchgang ist so schmal, dass man sich nicht umdrehen kann. Deshalb ist die ganze Sache ziemlich riskant. Was wir bräuchten wäre ein Seil, damit mich jemand rausziehen kann, falls ich zu lange unter Wasser bleiben muss, ohne eine Möglichkeit zum Umdrehen zu finden.“ Aber niemand hatte einen Strick bei sich, sodass Tjonre vor einer ziemlich unangenehmen Wahl stand. „Wir könnten es noch woanders versuchen. Wir sollten zumindest einmal um das ganze Gebäude gehen und nachsehen ob es nicht eine bessere Möglichkeit gibt, hineinzukommen.“
Granoc, der in Samoria als Dieb tätig gewesen war und daher in solchen Dingen Erfahrung hatte, schüttelte den Kopf. „Wir könnten uns natürlich im Wald eine behelfsmäßige Leiter basteln, aber diese Baumriesen sind zu massig; selbst wenn wir einen Baum fällen, wäre der Stamm für den Transport viel zu schwer; und die dünneren Äste verlaufen zu krumm. So viel Zeit haben wir einfach nicht, Yasiwi ist in großer Gefahr.“ Ohne die Streitaxt und das Schwert abzulegen stapfte der Kimerier in den Teich und überließ sich dem angenehmen Nass. Er schüttelte die schwarze Mähne zurück und tauchte unter, vorbei an dem verblüfften Tjonre und hinein in den schmalen, quadratischen Durchgang. Tjonre hingegen gesellte sich zu den anderen und wartete.
***
Elri sehnte sich nach Tjonre, sie durchlebte ihr kurzes Gespräch immer und immer wieder. Wie konnte sie zu ihm kommen? Wie konnte sie ihm helfen zu ihr zu kommen? Wie konnte sie ihn vor Gefahren bewahren? Ihre Ohnmacht hemmte sie, bis sie sich der Lähmung bewusst wurde. Dann riss sie sich zusammen. Alles, was sie tun konnte, war weiterhin Wissen zu sammeln und das befand sich in ihrem Medaillon. Das letzte Kapitel der Aufzeichnungen ihres Vaters wollte zu Ende gelesen werden. So begab sie sich wieder in den Spiegelraum, wie sie das kleine Zimmer bei sich nannte.
Ihre Eltern hatte die Möglichkeit, Historia zu verlassen, mit Erleichterung erfüllt, denn die Herrscher von Historia waren ihrem Vater gegenüber immer unduldsamer geworden. Die Aufgabe, vor die PaDorkis gestellt wurde war zudem nicht uninteressant. Noch nie waren Ausgrabungen auf dem vierten Planeten des Systems gemacht worden. Die Sandarken, die den dritten bewohnten, wussten schon seit langem, dass auch ihr vierter Planet einst eine Zivilisation getragen hatte, denn er war mit Ruinen geradezu übersät. Er war allerdings vergleichsweise metallarm, was eine Lebensform, wie sie es selber waren, eher ausschloss, es sei denn die Sandarken hätten ihn einst kolonisiert gehabt. Die Anhänger des Wahren Glaubens, zu denen sein Auftraggeber, Kostral, gehörte, waren jedenfalls überzeugt davon. Der Wahre Glauben, die vorherrschende Religion der Sandarken, vertrat die Ansicht, dass die Sandarken die vom Göttlichen Sein auserwählte Lebensform des Universums darstellten, unterschieden sie sich doch markant von den schleimigen, schwachen Kreaturen, die die Evolution auf anderen Planeten hervorgebracht hatte und zu denen auch die selbsternannten Götter Historias gehörten, die zwar nützlich waren, aber auch verachtenswert. Die Lebensformen auf Arkeen waren hingegen direkt vom Göttlichen Sein geschaffen worden und waren daher selbst göttlich und diese Erhabenheit konnte nicht von einem schleimigen Gefäß aufgenommen werden. Nur Metalle waren edel genug, solche Lebensformen zu tragen. Letztlich war es das Schicksal der Sandarken, alle anderen Lebewesen des Universums zu vernichten und zwar mit allen Mitteln. Dazu musste man sie studieren und für diesen Zweck eignete sich Historia besonders gut, zumal andere Intelligenzen noch über überlegene technologische Errungenschaften verfügten, insbesondere diese Menschen. Die vom Göttlichen Sein auserwählte Daseinsform musste lernen, um ebenbürtig, schließlich überlegen zu werden und letztlich alles mindere, schleimige Leben auszurotten.
Archäologie diente diesem höheren Zweck nicht und war daher bei den Sandarken nicht gerade hoch angesehen. Aber die Menschen interessierten sich für eine Menge scheinbar sinnloser Dinge und oft entdeckten sie dabei mehr oder weniger nebenbei etwas durchaus Nützliches, das sogar sehr gefährlich sein konnte und sich als Waffe verwenden ließ.
Lezart PaDorkis führte das genauer aus: „Dieser Widerspruch – dass Nützliches durch die Beschäftigung mit scheinbar entbehrlichem Wissen erkannt und gefunden werden kann, scheint meinen Auftraggeber besonders beschäftigt zu haben. Er hatte erlebt, wie meine so harmlose Wissenschaft – Geschichte und Archäologie – auf Historia große Unruhe verursacht hatte, als ich erkannte, dass eine intelligente Lebensform diesen Planeten beherrscht hatte, bevor die Menschheit ihn eroberte. Konnte Ähnliches auch im System der Sandarken geschehen? Konnte man dadurch etwas über die Menschen lernen? Konnte man durch diese Erkenntnisse Ruhm erwerben? Sicherlich, so dachte er, gab es nichts Harmloseres, als eine alte, ausgestorbene Kultur auf dem Nachbarplaneten untersuchen zu lassen. Und genauso dachte auch ich. Mit großem Enthusiasmus begab ich mich daher gemeinsam mit meiner wundervollen Frau und meinem Kind in diese Welt voller Ruinen, die vor mir noch nie die Augen eines Menschen gesehen hatten. Mit der Religion der Sandarken und der von Kostral beschäftigte ich mich damals noch nicht. Inzwischen glaube ich, dass das ein Fehler war.“
Elri folgte aufmerksam den Ausführungen ihres Vaters, als sie ein merkwürdiges Vibrieren wahrnahm. Sie interpretierte es als ein landendes Flugobjekt und nahm an, dass Hephaistos zurückgekehrt war. Darüber freute sie sich zwar, aber sie stand so knapp vor der Erklärung, warum ihre Eltern sterben mussten, dass sie beschloss zunächst zu Ende zu lesen und erst danach den Schmied der Götter zu begrüßen. Sie nahm den Erzählungsfaden wieder auf.
„Meine erste Überraschung erlebte ich, bald nachdem ich begann die Ruinen zu inspizieren. Sie waren nicht Jahrtausende alt, wie ich dachte, sondern viele Jahrmillionen. Die Erosion konnte ihnen nur wenig anhaben, denn die Bauten wurden tief in den Fels gegraben, viele Kilometer ins Innere des Planeten. Natürlich sind inzwischen die meisten durch Erdbeben zerstört, aber in geologisch ruhigeren Zonen sind sie bemerkenswert gut erhalten. Hier konnte ich meine Untersuchungen beginnen und ich hatte dazu die modernste Technik zur Verfügung, wie sie nur in der Föderation hergestellt wird. Die Erkenntnisse waren so sensationell, dass ich sie meinen Auftraggebern bei einer eigens einberufenen Tagung präsentierte, nicht ohne Stolz. Die Reaktion war aber nicht so, wie ich erwartete, sondern so, dass ich nunmehr um mein Leben und sogar um das meiner Familie fürchten muss. Im Detail werde ich diese Resultate in einem eigenen Buch veröffentlichen, wenn ich noch dazu komme. Das ist aber recht unsicher, da die Ergebnisse hier als große Bedrohung aufgefasst werden. Aber eine kurze Zusammenfassung möchte ich nun erstellen und sie dann so gut ich kann verstecken, an einem Ort, den die phantasielosen Sandarken hoffentlich nicht auffinden werden. Sie mögen der Nachwelt erhalten bleiben. Nun gut, zurück zu meiner Arbeit: Zunächst suchte ich nach Lebensformen auf Kohlenstoffbasis und wurde fündig. Es gab primitives Leben, so wie wir es kennen, auf diesem Planeten, nicht aber auf dem dritten, wo die Sandarken leben. Die Überreste der untergegangenen Zivilisation bewiesen bald unzweifelhaft, dass ihre Begründer keine Sandarken gewesen waren, dazu waren ihre Körperproportionen, die ich aus Werkzeugen und artifiziellem Lebensraum erschloss, zu anders. Klar war auch, dass diese Wesen in hohem Grad von Wasser abhängig waren, wie Bewässerungssysteme und Kanäle eindeutig belegten. Weiters wurden Aufzeichnungen entdeckt, die für die Ewigkeit angelegt waren, denn die intelligente Lebensform dieses Planeten war offenbar zukunftsorientiert. Ich konnte die Chroniken teilweise entschlüsseln. Nunmehr war klar: die Begründer dieser Zivilisation waren Lebewesen auf Kohlenstoff-Wasser-Basis, so wie wir Menschen und anders als die Sandarken mit ihrer Metall-Silizium-Grundlage. Dann – eines Tages – fand ich die riesige Produktionsanlage und erkannte, dass diese Lebensform eine unglaublich fortschrittliche Robotik entwickelt hatte, von einem Niveau, wie es selbst der Föderation noch nicht möglich ist. Irgendwann gingen allerdings die Metallvorräte auf dem vierten Planeten zur Neige und dies war der Zeitpunkt als der metallreiche Nachbarplanet ihre Aufmerksamkeit eroberte. Wie ich den Chroniken entnahm, verband die namenlose Zivilisation mit der Metallgewinnung noch eine bedeutende intellektuelle Aufgabe: Sie wollten autarke Roboter ersinnen, die die Metallschätze gewinnen sollten und die in der Lage wären, aus den Rohstoffen ohne weitere Hilfe Roboter ihrer Art zu konstruieren; Roboter, die sich vermehren konnten, die, auch was die Energiegewinnung betrifft, autark waren. Diese waren sicher so programmiert, dass sie sich zu den Sammelraumschiffen begaben, die in regelmäßigen Abständen den dritten Planeten besuchten, mit denen sie dann abtransportiert und wo sie in ihre elementaren Bestandteile zerlegt wurden.
Über die Jahrtausende dürften sich im ursprünglichen Programm Fehler angesammelt haben. Manche Roboter hörten nicht mehr auf den Ruf der Transportschiffe. Andere gewannen die Metalle nicht mehr aus dem Erz, sondern aus anderen Robotern, die sie zerlegten. Es begann also eine natürliche Evolution. Das Erstaunliche ist, dass die Schöpfer der selbstorganisierenden Roboter diese Entwicklung offenbar nicht vorhergesehen hatten. Aber wir wissen ja durch unseren Kontakt mit anderen intelligenten Lebensformen, dass die Entfaltung des Wissens in unterschiedlichen Sparten mit verschiedener Geschwindigkeit erfolgt. So war auf diesem Planeten der Gedanke der Evolution durch natürliche Auslese wohl noch nicht geboren worden, als die Roboter kreiert wurden. Irgendwann erlosch die Zivilisation aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, ja jede Form des komplexeren Lebens. Aber deren Geschöpfe auf dem dritten Planeten waren übrig geblieben und evolvierten von dem hohen Niveau, auf dem sie begonnen hatten, erstaunlich rasch, in nur wenigen Jahrmillionen zu einer intelligenten Lebensform, die im Universum wahrscheinlich einzigartig ist und die zur Gänze von anderen Organismen geschaffen worden waren.
Als mir dies alles klar wurde, hatte ich mich noch zu wenig mit den Sandarken selbst und ihrer Religion beschäftigt; ihrem Überlegenheitsgefühl, der Empfindung der Einzigartigkeit und der Verachtung gegenüber den „schleimigen Organismen“, wie sie alles Leben auf Kohlenstoffbasis nennen. Auch von der Substanz her, so ihre Überzeugung, sind sie den Schöpfern des Universums ähnlicher als alle anderen Kreaturen. Hätte ich das alles gewusst, hätte ich sicherlich nicht den höchsten Würdenträgern des Planeten freudestrahlend erzählt, dass ihre unendlich bewunderten und angebeteten Schöpfer Vertreter der von ihnen so verachteten „schleimigen Organismen“ waren! Die Sandarken haben keine Mimik und Gestik und doch konnte ich sofort erkennen, dass ich einen schweren Fehler begangen hatte. Der oberste Terdon, der Priesterherrscher, befahl mir zu schweigen, aber da war es bereits zu spät. Er löste die Versammlung auf und befahl Kostral zu sich ... Meine Hoffnung ruht nun darauf, dass sie mir glauben, dass meine Frau und meine Tochter nichts von meinen Ergebnissen wissen. Dann werden vielleicht wenigstens sie verschont ...“
Elri las den letzten Absatz, während sie sich nähernde Schritte wahrnahm. Das war also die Ursache des Todes ihrer Eltern. Größenwahn und religiöse Intoleranz! Ihre Eltern hatten nichts verbrochen, hatten nie etwas Falsches gemacht – und genau das hatte sie umgebracht. Sie allein wusste jetzt die Wahrheit und sie wollte sie weiter erzählen, am besten gleich Hephaistos, wenn er zur Tür herein kam. Sie blickte dorthin, stand auf - und erstarrte mitten in der Bewegung. Denn wer da in der Tür stand und mit einer Plasmaimpulspistole auf sie zielte war nicht Hephaistos.
„Na, freust du dich mich wiederzusehen?“ Reja lächelte honigsüß, die Wimpern hatte sie dabei ein wenig gesenkt, was ihr einen gerade merklich verschlagenen Ausdruck verlieh.
Elri war sehr bleich geworden, ein beinahe vergessener Albtraum war wieder da; nur schlief sie nicht. Sie riss sich zusammen und ging ganz langsam den Tisch entlang, immer von argwöhnischen Blicken verfolgt. „Wie hast du uns gefunden?“ Sie stotterte ein wenig, wirkte unsicher, was Reja sichtlich freute.
„Ich finde meine Feinde immer! Mein Cousin wusste, auf welchen Planeten ihr geflohen seid und Hephaistos, der uns für gute Freundinnen hält, hat mir verraten, auf welcher lausigen Insel du sitzt!“
Elri war noch nicht in Position, sie musste weiter Fragen stellen; Fragen, die diese Psychopathin irgendwie fesselten, nur so konnte sie ihr Leben verlängern. Elri schob sich weiter die Tischkante entlang und um das Eck, sodass sie jetzt den Tisch im Rücken hatte. „Dann waren das gar nicht die Götter! Du hast unser Schiff vernichtet!“
„Das weißt du also? Ja, das war mein Werk! Und jetzt bist du dran und dann müssen die beiden Komiker ins Gras beißen!“ Reja grinste jetzt hämisch und hob langsam die Waffe. Sie hatte keine Eile, denn die Distanz zwischen den beiden Frauen war für einen Überraschungsangriff zu groß.
Elris Reaktion war unerwartet; sie zeigte keine Angst mehr, sie hatte es endgültig satt, ein Opfer zu sein. Stattdessen drehte sie den Kopf so rasch, dass ihre Haare sich fächerförmig ausbreiteten und auch nach vorne wirbelten und gleichzeitig drückte sie auf den UV-Knopf, der sich am Tisch hinter ihrem Rücken befand – eine Bewegung, die Reja nicht sehen konnte. Der Effekt war nicht geringer als der einer Blendbombe; Elris Haar blitzte unglaublich grell auf und zahlreiche Spiegel an der Wand verstärkten den Effekt noch. Von allen Seiten strahlte das gleißende Blau auf. Reja schrie vor Überraschung und feuerte dorthin, wo sie annahm, dass Elri sein musste; aber die Quelle des Lichts war in Bewegung und jeder Spiegel täuschte ihr eine andere Richtung vor. Wenn sie nur kurz ihre Augen schließen konnte; aber das wagte sie nicht. Sie feuerte noch einmal, praktisch blind; ein Spiegel zerbarst in tausend schimmernde Splitter, dann war Elri nahe genug. Ein lähmender Stromstoß aus ihrem Armreif durchfuhr Reja, der sich wie Ganzkörperzahnschmerz anfühlte. Sie fiel so schnell, dass sie den Aufprall nicht einmal mitbekam und blieb verkrümmt am Boden liegen, gelähmt und bei vollem Bewusstsein. Elri tat irgendetwas und das grelle Licht verschwand. Sie stand über ihr, das Gesicht mit den zarten Zügen von nunmehr wieder dunklem, glatten Haar umrahmt. Die großen, nachtschwarzen Augen blickten sie neugierig an.
„Ein Glitzerköpfchen zu sein kann auch Vorteile bringen. Zumindest in einem Raum, in dem es eine starke UV-Lichtquelle gibt. Hat man dir nicht gesagt, dass ich jetzt Eos bin, eine Göttin?“
Elri fühlte sich auch jetzt nicht wie eine solche, wenngleich sie im Augenblick ein wenig übermütig war. Sie war Hephaistos dankbar für die Rüstung, die ihr ermöglichte, einen Streifschuss unbeschadet zu überstehen und der auch sonst einige furchterregende Eigenschaften besaß. Elri zögerte nicht lange. Sie ergriff die Plasmaimpulspistole, denn sie ahnte, dass sie diese noch benötigen würde. Dann tastete sie Reja schnell ab, fand aber keine weiteren Waffen. Eine kleine zierliche Tasche aus schwarzem Harpyienleder hing um Rejas Schulter. Elri öffnete sie, fand darin aber nicht was sie suchte: ein kleines ovales Döschen. Kurz spürte sie Verzweiflung, dann erinnerte sie sich an Tjonres Worte. Sie sah den großen, goldumfaßten Onyxring, den sie an sich nahm, ebenso wie die Tasche. Sie richtete sich wieder auf und blickte Reja ins Gesicht. „Das ist doch ein Ringschlüssel?“ Reja riß die Augen ein wenig weiter auf; da wusste sie, dass sie recht hatte. „Es tut mir leid, dass du die Insel lausig findest, denn ich fürchte, du musst eine Weile hier bleiben; ich habe nämlich vor, mir deinen flugfähigen Untersatz zu leihen. Also – danke.“
Reja kochte vor Wut. Noch nie war sie so gedemütigt worden. Sie wollte ihr so gerne nachschreien: „Wenn du mich am Leben lässt, werde ich dich finden! Ich werde dich finden und umbringen!“ Wie konnte ein Feind sie nur dermaßen achtlos behandeln. Es schien, als hätte Glitzerköpfchen sie bereits in dem Augenblick vergessen, in dem sie wegblickte. Und genau so war es auch. Elris Angst vor und Hass auf Reja war nicht annähernd so stark wie ihre Sorge um Tjonre und ihr Wunsch, so schnell wie es eben möglich war, bei ihm zu sein. Sie spurtete die Wendeltreppe hinauf und lief ins Freie, verweilte kurz, geblendet vom hellen Sonnenschein und eilte dann weiter auf das untertassenförmige Fluggerät zu, das auf sechs Teleskopbeinen stand. Sie berührte den ovalen, dunkel schillernden Ring, streifte ihn über den Mittelfinger der linken Hand und presste ihn ein wenig. Darauf senkte sich fast zentral unter dem Schiff der Liftschacht ab und eine Tür öffnete sich. Elri ging schnell in den kleinen Lift, die Tür schloss sich wieder und der Lift transportierte sie ins Innere. Sie betrat einen hellen, kreisrunden Raum, in dem sie bereits erwartet wurde. Vor ihr stand ein in leuchtendem, milchigem Weiß erstrahlendes humanoides Wesen, das sehr schlank, ja geradezu ätherisch war und mehr als einen Kopf größer als sie. Es blickte sie aus sonnenfarbenen Augen an. „Willkommen, ich bin Irsa“, sagte das Lichtwesen.
„Danke. Ich bin Anteia. Wirst du tun, was ich dir sage?“
„Der Eigner, Ephram OrPhon, hat mir befohlen, dem zu gehorchen, der den Ringschlüssel trägt. Das bist jetzt du.“ Irsa brachte dies mit völlig monotoner und gefühlsfreier Stimme vor und schwieg dann wieder. Sie war nicht sehr gesprächig, da Ephram Plappermäuler hasste.
„Gut. Das ist sehr gut. Weißt du wo die Sandarken leben?“
„Auf einem Planeten, der Arkeen heißt“, war die kurze Antwort.
Elri musste sich präziser ausdrücken. „Nein, ich meine hier auf Historia. Es soll hier eine Siedlung dieser Humanoiden geben.“
„Das stimmt. Sie liegt auf dem Kontinent Hyborisches Zeitalter in den Schwarzen Bergen westlich des Wilahet – Meeres.“ Abermals verstummte Irsa und rührte sich nicht.
„Irsa! Kannst du mich dorthin fliegen?“ Und da auch das nicht präzise genug war, fügte Elri auch noch hinzu: „Gleich!“
„Natürlich.“ Irsa wurde fadenscheinig und löste sich in Luft auf. Dafür begann aber der Boden zu vibrieren. Elri setzte sich rasch auf einen der Sessel, die um einen runden mattfarbenen Tisch im Raumzentrum herumstanden. Sie spürte zwar nicht, wie sie losflogen, aber der Raum löste sich weitgehend auf, sodass nur mehr Tisch und Stühle zu sehen waren und die Außenwelt, als wären alle Wände und der Boden durchsichtig geworden. Unter ihr wurde die Insel Lemnos rasch kleiner. Das Beiboot schwenkte nach Westen und flog nun mit atemberaubendem Tempo über das Mittelmeer auf die Säulen des Herakles zu. Elri konnte es fast nicht glauben, aber sie würde heute noch Tjonre sehen. Und, was noch unglaublicher war, Reja hatte ihr dazu verholfen! Elri legte die Pistole und Rejas Tasche auf den Tisch und entspannte sich. Manchmal war das Schicksal doch freundlich zu ihr, manchmal bekam man unerwartet ein Blatt voller Trümpfe.
***
Granoc tauchte in die Finsternis, eine Hand nach vorne gestreckt. Er schwamm gleichmäßig und ruhig und kam zügig voran. Der Gang verbreiterte sich nicht und schien auch kein Ende nehmen zu wollen. Doch bevor Granoc seine Entscheidung bereuen konnte, sah er weit weg einen schwachen Lichtschimmer. Obwohl er lange mit einem Atemzug aushalten konnte, spürte er ein Brennen in der Lunge, das ihn zur Eile rief. Die letzten Ellen wurde das Bedürfnis einzuatmen fast übermächtig, aber Granoc gab ihm nicht nach. Schließlich durchbrach er die Wasseroberfläche, atmete gierig die kühle Luft ein und starrte in die Grimasse eines Grauen Riesen. Blitzschnell griff der Barbar zur Streitaxt, aber dann erkannte er, dass der Affe bereits tot war. Granoc besah sich den Körper näher. Die Verletzungen und der Blutverlust schienen letztlich auch für diese gewaltige Kreatur zu viel gewesen zu sein. Die rechte Hand des Monsters hielt einen Hebel umklammert. Granoc vermutete, dass er den Mechanismus betätigte, der eine unsichtbare Tür in der Mauer öffnete – und zwar genau an der Stelle, an der Yasiwi und der andere Affe halt gemacht hatten. Offenbar war es der Kreatur sogar gelungen, das Tor wieder zu schließen, bevor sie starb. Er löste die Riesenpranke von dem Hebel und betätigte ihn, was all seine Kraft beanspruchte. Dann hörte er ein Geräusch hinter sich, griff abermals zur Axt und drehte sich blitzschnell um. Aber es war nur Tjonre der gerade auftauchte und ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrte.
„Sachte, ich bin’s nur.“
„Nähere dich mir nie unvermutet von hinten. Das ist ein guter Rat.“ Tjonre schielte immer noch auf die Schneide der Axt, die seine Nasenspitze fast berührte.
Der Kimerier schulterte sie wieder. „Schwimm zurück zu den anderen. Das Tor an der Mauer müsste jetzt offen sein. Ich nehme an, dass dieser Hebel den Öffnungsmechanismus betätigt. Kommt mir so bald wie möglich nach. Ich sehe mich inzwischen um.“
„Warum willst du uns nicht begleiten?“
„Sag mir, was du vor hast, Tjonre!“
„Nun, ich werde die Sandarken, die ihr Eherne Menschen nennt, aufsuchen, um mit ihnen zu sprechen ...“
„Siehst du? Auch ich werde sie suchen und herausfinden ob sie etwas mit Yasiwis Entführung zu tun haben. Und falls das so ist ... werde ich nicht mit ihnen sprechen, sondern ...“ Granoc drehte sich geschmeidig wie ein Panther um, stieg aus dem Wasser und über die Affenleiche hinweg. Tjonre merkte allerdings, dass er leicht hinkte, wie er den dunklen Gang entlang ging.
„Bist du verletzt?“, wollte er wissen.
„Hühnerauge“, antwortete der Barbar, ohne sich umzudrehen. Dann hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Einen Augenblick blieb Tjonre allein und sprachlos, nicht ganz allein, er hatte ja die Gesellschaft der Menschenaffenleiche, die ihm aber keinen Trost bot. Also beschloss er zu den anderen zurückzukehren, wie Granoc es ihm vorgeschlagen hatte. Er tauchte den Unterwassergang leicht schräg hinab, zügig und schnell und dachte währenddessen über die Dummheit seiner Handlung nach. Was, wenn der Kimerier eine Wendemöglichkeit gefunden und versucht hätte zurückzukehren? Dann wären sie in der Mitte des Ganges zusammengekommen und jeder hätte das Fortkommen des anderen blockiert. Sie wären elendiglich ertrunken. Tjonre neigte nur selten zu unbedachtem Handeln. Nur als er Elri retten wollte, hatte er sich ständig so unsinnig benommen. Schließlich wurde es heller, er hatte den Ausgang erreicht und durchbrach endlich die Oberfläche und atmete tief ein. Das groteskeste Paar, das man sich nur vorstellen konnte, starrte ihn an als wäre er ein übergroßer Frosch. Wäre er wirklich einer gewesen, hätte er zu dem rothaarigen, bärtigen Zwerg und der Schlange auf langen Beinen und sichelartigen Kiefern gepasst. So aber?
Tjonre watete ans Ufer. „Was ist mit Granoc?“, wollte Raft wissen. „Ist er ...?“
„Ihm geht’s gut, aber er wollte nicht auf uns warten. Er hat den Mechanismus für das verborgene Tor betätigt. Lasst uns zurückgehen.“ Die kleine Gruppe ging rasch zu der Stelle, wo Yasiwi verschwunden war. In der zuvor makellos glatten Mauer klaffte nun ein mehr als menschengroßer Spalt wie eine hässliche Wunde und verunstaltete die Perfektion des Bauwerks. Männer und Monster traten mit gemischten Gefühlen durch die Öffnung. Raft witterte ein Abenteuer, Gorm eine Chance für sein Volk. „Sag mir, was du vor hast, Tjonre“. Die Worte Granocs hallten in seinem Inneren nach. Tjonre klammerte sich an die Hoffnung, Elri wiederzusehen, die sein rationaler Teil schon aufgegeben hatte, sonst wäre er Granoc nicht in den Unterwassertunnel gefolgt. Er hatte sich angewöhnt, mit Elri zu sprechen, auch wenn sie gar nicht da war, stellte sich ihr Gesicht vor, insbesondere ihre dunklen Augen‚ die ihn nachdenklich betrachteten. ‚Selbst wenn ich dich nie wiedersehen sollte’, sprach er wehmütig in Gedanken zu seiner fiktiven Elri, ‚es war sehr schön, oft lustig und sehr interessant, dich kennen zu lernen. Für mich bedeutest du eine fremde, exotische und sehr anziehende Welt und gleichzeitig bist du ein Teil von mir und wirst es bleiben, egal was passiert. Und die kurze Zeit, die ich mit dir verbringen durfte – sie war die wundervollste meines Lebens’. Was hatte er vor? ‚Nichts’, erkannte er. Was hätte er noch vorhaben können? Die Götter wollten sie tot sehen. Die Götter hatten sie zu den Sandarken geschickt. Sicher nicht wegen deren Gastfreundschaft. Sie hatten ihr Raumschiff vernichtet und daher nutzten ihnen auch die Koordinaten der Föderationsplaneten nichts, selbst wenn die Sandarken damit herausrücken würden. Was also wollte er hier? „Sag, was du vorhast ...“.
Wenigstens, so nahm er an, war Elri in Sicherheit. Eigentlich war das das einzig Wichtige. Dann durchbrach er abrupt seine Gedankenkette. Wenn er sich selbst und Elri nicht helfen konnte, dann vielleicht wenigstens Yasiwi. Er zögerte nicht weiter und folgte den beiden anderen, wenn er auch nicht wusste wohin – vielleicht in ihr Verhängnis?
***
Alarm! Paieon ging rasch zum Überwachungsraum, in dem er den Sandarken bereits vorfand. „Was ist los?“, wollte er wissen.
„Das Südtor wurde vom Unterwassereingang aus geöffnet, aber nicht von einem deiner Menschenaffen. Auch bei den Eindringlingen war keiner.“
„Hmmm. Serfena, wo sind meine Kreaturen?“
Ein Avatar in Gestalt einer blonden, braungebrannten Frau in einer weißen Tunika erschien. „Llan ist im Garten bei der Frau. Llof ist beim Unterwassereingang, schon ziemlich lange. Er bewegt sich nicht und zwar schon seit einigen Stunden. Ller ist nicht zurückgekommen.“
„Wie es scheint, sind zwei deiner Affen tot“, meinte Kostral, „die Frau hat dich vor einem Eindringling gewarnt, wie war doch gleich sein Name?“
„Egal! Was für eine Chance hätte er gegen dich oder gegen mich in der Götterrüstung. Trotzdem sollten wir die Eindringlinge so schnell wie möglich eliminieren. Seferna, zeig sie uns!“ Zunächst erschien das Holo eines erstaunlich muskulösen und hochgewachsenen Mannes mit stahlblauen Augen und schwarzer, ungebändigter Mähne. Er trug einige primitive Waffen, wie Schwert und Streitaxt. Auch seine Position im Gebäude wurde durch einen roten Punkt angezeigt, der sich langsam dem sandarkischen Garten näherte. Drei grüne Punkte waren weiter zurück, noch nahe der Umfriedung des Palastes. Serfena bildete auch sie ab, einen schlanken, mittelgroßen, blonden Mann, einen muskulösen, rothaarigen Zwerg und eine Albtraumgestalt, die aus ganz unterschiedlichen Kreaturen zusammengesetzt schien, eine Art Chimäre, wie es Paieon schien. „Interessant. Das muss einer der Eingeborenen dieses Planeten sein. Was macht der hier? Ich dachte die Priester Mitras und Seths hätten diese Wesen unter Kontrolle.“
„Offenbar doch nicht – es sei denn, die Priester sind es, die es hierher geschickt haben!“
„Das ist allerdings eine Möglichkeit, die man untersuchen muss. Bis jetzt haben sie unsere Anwesenheit auf diesem Kontinent stets toleriert, notgedrungen. Wir sind einfach mächtiger.“
„Nun“, meinte Kostral, „vielleicht werden sie langsam größenwahnsinnig. Jedenfalls sollten wir die Kreatur fangen und befragen. Kann sie überhaupt sprechen?“
„Soweit mir bekannt ist, ist das der Fall. Götter gegen Priester; eine absurde Situation. Ja geradezu lächerlich!“ Paieon lachte, aber etwas gekünstelt. „Jedenfalls möchte ich diese Sache übernehmen.“
„Dann kümmere ich mich um den großen Mann. Ein bisschen Training wird mir ja gut tun, obwohl er keine wirkliche Herausforderung darstellen wird.“ Die roten Augen des Humanoiden, dessen Oberfläche scheinbar Licht verschlucken konnte, leuchteten bedrohlich.
***
Granoc schritt über eigenartig samtweichen Boden – er spürte sein Hühnerauge nicht mehr - durch hohe, magische Gänge: wo immer er auch hin kam begann die Decke zu leuchten, wenngleich der restliche Korridor völlig in Dunkel gehüllt blieb. Schließlich erkannte er aber doch einen Schimmer, der das Ende verkündete. Statt ins Freie zu treten, wie er vermutet hatte, befand er sich unter einer gigantischen Kuppel aus Kristall, durch die die Sonne wie durch Prismen leuchtete, wobei ein kaleidoskopisches Farbenmeer entstand. Dort, in der Mitte, hing eine gewaltige gläserne Kugel an einem armdicken Seil von der Kuppel herab, ein durchsichtiges Gefängnis, in dem er die Gestalt eines schlanken Mädchens ausmachen konnte. Sie lag da, so weit sichtbar, so lockend, dass er sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, in eine Falle zu laufen. Die Kugel wurde durch drei Seile, die an die Seitenwände verliefen, stabilisiert. Von dem gläsernen Käfig führte in weitem Bogen eine hell wie Alabaster schimmernde Treppe hinab, direkt darunter befand sich ein auf diese Distanz filigran und in seinen Verzierungen verspielt wirkender Springbrunnen. Der Boden der Kuppel aber wurde von etwas überaus Merkwürdigem bedeckt: ehernen Statuen, die wohl düstere Pflanzen darstellen sollten, allerdings von einer Art, wie sie Granoc noch nie gesehen hatte. Kleine, fingerdicke, reich verzweigte Exemplare in großer Anzahl waren ebenso zu finden wie baumgroße, knorrige und sehr fremdartig erscheinende, mit riesigen blattartigen Flächen, die sich dem Licht entgegen reckten. Granoc berührte eine davon und sie fühlte sich genauso massiv an, wie sie aussah. Aber sie war merkwürdig warm trotz der metallenen Oberfläche. Wie in Trance bewegte er sich weiter. Staunend näherte er sich schließlich jenem kleinen Wasserfall unter dem schlafenden Mädchen, der einer hohen Säule entsprang und in einen gläsernen Trog rann. Aus der Nähe erkannte er seinen Irrtum. Die Flüssigkeit bewegte sich zu träge, um Wasser zu sein. Er griff in den hohen und weiten Trog und berührte mit einer Fingerspitze vorsichtig das Nass, das sich ölig anfühlte. Granoc bewunderte und untersuchte die merkwürdige Konstruktion. Wenn der Flüssigkeitsspiegel zu hoch stieg, gelangte sie in Abflussrinnen, die mit der Erde verbunden waren, in denen die metallenen Pflanzenstatuen steckten. Oder vielleicht wurzelten? Granoc scharrte die Erde von der Basis einer baumförmigen Pflanze weg und konnte tatsächlich metallene Wurzeln erkennen. Das waren keine Statuen, sondern unglaublich fremdartige Lebewesen.
Als Granoc zum Fuß der Treppe weiter ging, sah er, dass dort mitten im Raum eine übermenschengroße Statue stand, die gut zu den anderen passte, nur dass sie keine Pflanze darstellte sondern einen Menschen mit entspannten Gesichtszügen und geschlossenen Augen. Die Darstellung war allerdings eher frei; die Proportionen merkwürdig verzerrt. Die Gestalt war so dunkel, als würde sie das Licht in ihrer Nähe aufsaugen. Granoc ging langsam näher. Seine Nackenhaare stellten sich auf; der Instinkt des Wilden kündete von Gefahr; irgendetwas stimmte nicht. Granoc blickte sich um, erwartete die funkelnden, bösartigen Augen eines Grauen Menschenaffen auf sich gerichtet zu sehen, aber da war nichts. Nur ein Hauch einer Bewegung ließ ihn nach oben auf das Gesicht der Statue blicken, die nun zu seinem Entsetzen langsam die Augen öffnete, die leuchteten wie glühende Kohlen. Der Kopf drehte sich; wendete sich ihm zu. Das Ding lebte nicht nur; es offenbarte bösartige Intelligenz! Granoc fluchte lautstark. Dann legte er sein Erschrecken ab.
„Was für eine Art Dämon bist du? Kommst du von jenseits des Weltenrandes?“
Ein grauenvolles Lachen ertönte. Das Wesen hatte eine Stimme von unirdischem Klang, eher wie bronzene Glocken tönte sie, denn wie von Menschen produzierte Laute. „Du hast keine Ahnung, Menschlein!“ Beim Sprechen öffnete er den Mund und offenbarte dadurch schwarze Zähne, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen hatten. „In unvorstellbarer Entfernung, in der Schwärze der Unendlichkeit liegt meine Heimat, bevölkert von mächtigen Kreaturen, von Meinesgleichen. Wesen, die euch Menschen so sehr überlegen sind, dass wir im Vergleich zu euch wohl als Götter bezeichnet werden könnten. Ja, alles Leben wie du es kennst ist erbärmlich, verglichen mit uns, die wir einmalig im Universum sind. In jener Welt, die durch die Abgründe der Finsternis von dieser getrennt ist - einem Platz von unvorstellbarem Reichtum und Schönheit - lebte ich für Äonen. Aber dann wurde ich neugierig, kam hierher, für kurze Zeit nur, einige Jahrhunderte. Schließlich wollte ich zurückkehren, aber nicht alleine. Ich ging einen Pakt mit einem Menschen ein und nahm ihn und seine Familie mit zum schönsten Ort des bekannten Kosmos. Dieses Bündnis mit einem Menschen hat mich aber alles Vertrauen meiner Brüder und Schwestern gekostet – weshalb ich ihn umbrachte und alle außer seiner kleinen Tochter. Von meinen Verwandten, von den Wesen meiner Art, wurde ich hierher verbannt. Seitdem suche ich nach einer Möglichkeit zurückzukehren – und deine kleine Freundin wird mir dabei helfen. Und du schwacher Mensch kannst nichts dagegen tun.“
„Da irrst du“, verkündete Granoc mit nur schwer beherrschter Wut; „Gott oder Dämon – es ist mir gleich. Ich werde verhindern, dass Yasiwi dein Opfer wird“.
Da erschallte das grausame Lachen des Monsters und Granoc verlor die Beherrschung. Er zog das Breitschwert und schlug schnell und kraftvoll wie eine Kobra zu. Aber Kostral war noch schneller und fing die Klinge mit der bloßen Hand, bevor sie seinen Hals berühren konnte. „Wie mutig und wie dumm. Ich bin nicht aus Wasser und Kohlenstoff gebaut wie du. Metalle formen meinen Körper!“ Mühelos entriss er dem Barbaren das Schwert, das er an der Klinge hielt und mit der anderen bog er sie, bis sie mit einem hellen Ton brach. „Was hast du dem entgegenzusetzen?“
Selbst in diesem Augenblick spürte der Kimerier keine Angst oder gar Hoffnungslosigkeit. Zu groß war seine Wut, der Blutrausch, der in seinen Adern tobte. Aber er bewegte sich nicht. Leise, scheinbar ganz ruhig sagte er: „Ich habe noch meine Streitaxt“.
Abermals lachte das Ungeheuer. „Zieh sie doch! Du kannst mich nicht verletzen! Aber anschließend werde ich dich in Stücke reißen, langsam und qualvoll.“
Der Kimerier blickte hinauf zu den lodernden Augen und kalt erwiderte er: „Ganz wie du willst“. Dann griff er langsam und ungewöhnlich bedächtig hinter seine Schulter nach der Streitaxt, wobei er seinen Blick nie von den glühenden Augen ließ, die für den - verglichen mit Kostral - kleinen Menschen nur Spott übrig hatten. Kaum berührte seine Rechte den Griff der Axt, wirbelte er herum und sie flog mit ungeheurer Wucht auf den mannshohen, kristallenen Trog zu, der augenblicklich zerschellte und die klare, ölige Flüssigkeit ergoß sich in einem Schwall auf den Boden des Gartens. Das Unerwartete an Granoc’s Handlung und Kostrals Selbstsicherheit hatte ihn nur für Sekundenbruchteile erstarren lassen. Dieser kurze Moment genügte dem Barbaren, sich mit einem Hechtsprung aus der Reichweite des schwarzen Dämons zu begeben und mit einem weiteren Satz den Fuß der geschwungenen Treppe zu erreichen. Kostral brüllte auf, Entsetzen in der Stimme. Er griff nach dem Menschen, aber es war bereits zu spät, er konnte ihn nicht mehr ergreifen. Einen Augenblick später schwappte die ölige Flüssigkeit über seine ehernen Füße und nahm ihnen jeden Halt. Bereits nach dem ersten Schritt in Richtung seines Opfers verlor er das Gleichgewicht und stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.
„Wo bleibt deine Überlegenheit jetzt, Kreatur der Finsternis?“, verspottete ihn der Kimerier, „ist der Untergrund deshalb so weich, weil man mit deinen Metallfüßen auf glattem Boden schlecht gehen kann?“ Granoc, der auf den untersten Stufen der Treppe lag, hatte selbst dem Ölschwall größtenteils entgehen können, wenngleich seine Füße doch einige Spritzer abbekommen hatten und ein feiner Ölfilm sie bedeckte. Er lachte, rappelte sich dabei auf und rutschte mit Mühe weiter die Treppe hinauf aus der Reichweite des Monsters, das völlig hilflos in der Flüssigkeit lag und dessen Gliedmaßen keinen Widerstand mehr erspürten. „Die weiche Substanz, aus der ich bestehe, ist manchmal vielleicht doch von Vorteil!“, höhnte der Kimerier weiter und arbeitete sich die Treppe hinauf, um Yasiwi zu befreien, während Kostral sich mühselig im Schneckentempo dem Fuß der Treppe näherte.
***
Auch Tjonre war der weiche Boden aufgefallen, doch suchte er nicht nach einer Erklärung für diese Beobachtung. Alles andere – etwa, dass die Gänge in dem Abschnitt hell wurden, in dem sie sich gerade aufhielten, war für ihn ganz normal und gewohnt. Es gab eben Bewegungsmelder. Seine beiden Gefährten waren abenteuerlustiger als er und schritten voran. Raft und Gorm redeten nicht viel miteinander, achteten aber die Kraft und den Mut des jeweils anderen. Sie waren von Herzen Krieger, er nicht. Sollten sie also ruhig voran gehen und Helden spielen, wenn ihnen das gefiel. Er war ohnehin nicht bei der Sache, ihn beschäftigte seine Trennung von Elri, seine innere Melancholie. Langsam wurde es heller als es der kargen künstlichen Beleuchtung entsprach, der Gang wurde zwar nicht höher, aber breiter, mehrere Seitengänge mündeten. Sie ignorierten sie und hielten weiter auf das Licht zu. Keiner blickte sich dabei um, was entschieden ein Fehler war. Wie schon Granoc zuvor, näherten sie sich einem der Eingänge zur großen Kuppel aus der undefinierbarer Lärm, vielleicht von einem Kampf, drang. Warum Tjonre sich gerade in diesem Augenblick nach hinten umsah, konnte er später nicht mehr sagen. Er konnte keine Schritte gehört haben, dazu war der Boden zu weich. Hinter ihm stand in viel zu geringer Entfernung ein Mann mit einem kurzen Plasmaimpulsgewehr, dessen Mündung genau auf ihn gerichtet war. Seine Haare schimmerten matt silbern. Er grinste ihn an. „Du musst der Liebhaber von Eos' Tochter sein, nicht wahr. Zeus lässt dich schön grüßen!“
Tjonre verspürte Angst und konnte seinen Blick nicht von dem Fremden wenden. „Und wer bist du?“, gelang es ihm schließlich zu fragen.
„Paieon, der Arzt der Götter. Du bist ihnen übrigens lästig, du und dein Begleiter. Eigentlich solltest du längst tot sein. Ares und Helios sind Stümper. Ich nicht!“ Er grinste und schoß. Die heiße Flamme züngelte auf ihn zu, traf ihn mit enormer Wucht genau auf der Brust und schleuderte ihn nach hinten. Sein leinenes, graues Obergewand war sofort verschmort und das Panzerhemd, das er im Sonnenwagen gefunden und das ihm nun schon das zweite Mal das Leben gerettet hatte, wurde sichtbar, aber Paieon achtete bereits nicht mehr auf den Bewusstlosen. Während all dies geschah, hatten Gorm und Raft sofort erkannt, dass sie keine Chance gegen den gut bewaffneten Mann hatten und waren blitzartig in unterschiedliche Richtungen geflohen. Paieon feuerte weiter, folgte Raft in der Bewegung und mehrere Plasmaimpulse drangen in den Garten unter der Kuppel vor. Raft konnte gerade noch rechtzeitig in einen Seitengang verschwinden, damit nicht auch ihn ein tödliches Geschoß traf. Paieon hastete ihm in den Gang nach und merkte daher gar nicht, was er angerichtet hatte. Die ölige Substanz, die sich gleichmäßig auf dem Boden der Kuppel ausbreitete, war zwar schwer entzündlich, aber die Plasmastrahlen waren sehr heiß. Wenn das Öl einmal brannte war es nur mehr schwer zu löschen. Blaue Flammen loderten an drei Stellen empor und das Feuer breitete sich rasch nach allen Seiten aus und erreichte nun auch die Wendeltreppe und den Sandarken, der vor Panik aufschrie und seinen Arm in die unterste Stufe krallte, um sich hoch zu ziehen. Oben auf der Treppe mühte sich Granoc, die Tür zum Gefängnis zu öffnen. Der Mechanismus war zwar denkbar einfach – zwei Ringe, einer an der Tür, einer am Rahmen wurden durch einen konischen Bolzen, der von oben in die Ringe geschoben worden war, zusammen gehalten. Er konnte vom Innenraum der Kugel nicht erreicht werden und war einfach genug, dass ihn die Grauen Affen benutzen konnten. Leider war an dem Türring eine Kette befestigt, die mit dem Bolzen verbunden werden konnte – eine zusätzliche, eigentlich unnötige Sicherung, außer man traute den Affen nicht so ganz. Oder rechnete mit Möchtegernrettern.
Granoc hatte den Dolch – seine letzte ihm noch verbliebene Waffe - als Hebel eingesetzt, um die Kette zu sprengen. Seine mächtigen Armmuskeln spannten die Haut und traten als dicke Stränge hervor, der Bolzen verbog sich ein wenig, bis schließlich eines der Kettenglieder nachgab. Schnell zog er ihn heraus, ließ ihn aber nicht los, während er mit der anderen Hand den ellenlangen Dolch in einer geübten Bewegung in die Beinscheide zurück steckte. Er riss die Tür auf und ergriff gleich darauf Yasiwi, von der er zunächst befürchtete, sie sei bereits tot oder zumindest betäubt. Das Mädchen zuckte zusammen und öffnete die jetzt wieder klaren Augen. Sie hatte bloß geschlafen und den ganzen Trubel nicht mitbekommen. „Yasiwi, wach auf!“
„Granoc, du bist gekommen!“, rief das Mädchen hocherfreut, „ich hab' es ihnen gesagt. Ich hab ihnen gesagt, dass sie mich lieber gleich frei lassen sollen, weil du sonst kommst, um mich zu erretten und dabei alles kaputt machst.“
„Das hab’ ich auch, Yasiwi, das hab’ ich. Aber genau das ist jetzt das Problem! Also komm, steh auf!“
„Wieso?“ Sie blickte sich um, sah das Flammenmeer, das sie umgab, blickte nach unten, sah das tiefschwarze Monster, das Stufe für Stufe höher kletterte, um sich zu retten und sie zu vernichten. Sie fühlte sich noch etwas dämmrig, sodass die Gefahr, in der sie schwebte, ihr erst undeutlich bewusst war. „Jaaa, das ist ein ziemliches Chaos. Wir sind von fürchterlich heißen Flammen umgeben und ein Dämon kommt immer näher und blockiert unseren Fluchtweg. Offen gesagt: wenn du nicht da wärst, wäre ich jetzt ein wenig beunruhigt.“ Sie blickte ihn zuversichtlich und gar nicht ängstlich an. „Wie kommen wir da raus?“
„Siehst du die Seile? Sie gehen von der Kugel bis an den Rand der Kuppel.“ Granoc zeigte auf einen der drei armdicken Stränge, von denen je zwei jenen Winkel einschlugen, der den dritten Teil eines Kreises ausmacht. Dieses Seil führte fast geradewegs auf einen Eingang zu, wobei es vom Gefängnis aus leicht abwärts verlief. „Yasiwi, kannst du dich ganz fest an mich klammern? Mit deinen Armen um meine Schultern und deinen Beinen um meine Hüfte?“
Sie wurde bleich. „Was hast du vor?“
„Wir müssen das Seil entlang.“
Yasiwi besah sich rasch die Situation. Etwa in der Hälfte seiner Länge züngelten die Flammen fast so hoch, dass sie das Seil erreichten. „Was? Wir werden gebraten, wenn wir da entlang klettern! Nein, das mach ich nicht! Niemals!“
„Vielleicht hilft es dir zu einer anderen Entscheidung zu kommen, wenn du nach unten blickst.“ Das tat sie – und sah, dass der Dämon bereits die Hälfte aller Stufen zurückgelegt und sie mit seinen rotglühenden Augen fixiert hatte. Sie quietschte auf, sprang auf Granocs Rücken, umschlang seinen Hals mit ihren Armen, ergriff mit ihrer Linken ihr rechtes Handgelenk und legte ihre Beine so fest um seinen Körper, dass wohl die Kraft zweier in verschiedene Richtungen ziehender Pferde nötig gewesen wäre, um sie von dem Kimerier zu trennen. Dieser kletterte mit seiner Last gewandt wie eine Bergziege über das Treppengeländer, legte den Bolzen um das Seil, griff mit der anderen Hand unter dem Strang durch und umklammerte das zweite Ende des Bolzens fest, dann stieß er sich schwungvoll vom Kugelrand ab, gerade noch rechtzeitig, um dem Angriff des Sandarken zu entgehen. Sie rasten das Seil entlang, auf die hochlodernden Flammen zu, wie Yasiwi, die mit aufgerissenen Augen über die Schulter des Barbaren blickte, voll Entsetzen mit verfolgte. Sie schrie so laut sie konnte und klammerte sich nur noch stärker fest. Das war ihr Ende - und es würde ein grauenvolles sein. Aber so unglaublich schnell die Flammenwand auf sie zukam, so rasch war sie auch wieder vorbei und jetzt raste eine viel massivere Wand und davor eine der dunklen Metallpflanzen auf sie zu. Schon wieder drohte ihr der Tod, daran würde sie sich nie gewöhnen, weshalb sie wieder – oder immer noch? – schrie. Granoc zog sich hoch, um den Blättern des Baumes zu entgehen, dann ließ er sich fallen. Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt für Yasiwi gewesen, loszulassen, aber, vom Entsetzen wie betäubt, tat sie das nicht. Granoc fing die Wucht des Falls mit seinen Beinen auf, wurde dann aber nach vorn geschleudert und rutschte mit der noch immer an ihn geklammerten Yasiwi durch den Eingang, wo die Kollision mit einem Hindernis sie recht abrupt stoppte. Granoc war der Erste, der sich aus dem Menschenknäuel löste, Yasiwi hielt sich das Bein, auf dem der Kimerier gelandet war, nachdem er seitlich zu Fall gekommen war und Tjonre erwachte durch den Aufprall, war aber noch desorientiert. Granoc stand auf und warf den Bolzen mit Wucht, der in hohem Bogen auf sein Ziel zuflog und es auch traf: den ehernen Menschen, der offenbar vorhatte den gleichen Fluchtweg zu nehmen.
„Yasiwi, wie geht es deinem Bein? Kannst du aufstehen? Uns bleibt nicht viel Zeit! Tjonre! Lieg da nicht faul herum, beweg dich! Was wir können, kann diese finstere Witzfigur auch. Der Dämon wird bald da sein!“
Tjonre war noch völlig benommen und erst als er seine verschmorte Kleidung und das zum Glück unversehrte Schutzgewand darunter sah, konnte er sich einen Reim auf die Situation machen. „Der Sandarke ist nicht das einzige Problem. Es gibt da noch einen verrückten Gott, der mit einem Plasmaimp ..., mit einer magischen Waffe auf mich geschossen hat.“
Er stand auf, fühlte sich zwar wie gerädert, war aber im Großen und Ganzen unversehrt. Nur Yasiwi saß noch auf dem Boden, hielt sich ihr Bein und wimmerte. Granoc und Tjonre hoben sie hoch und Yasiwi stellte fest, dass sie noch ganz gut humpeln konnte, insbesondere, nachdem Granoc sie darauf hingewiesen hatte, dass der Dämon bereits im Begriff war, das Seil zu ergreifen.
***
Paieon wollte die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Dass der rothaarige Zwerg ihm entkommen war – er hatte ihn wirklich nur um Haaresbreite verfehlt – ärgerte ihn maßlos. Sollte er ihm weiterhin nachjagen oder lieber zum Kommandoraum gehen und den Eindringlingen die Fluchtmöglichkeit vereiteln, indem er alle Tore nach außen sperrte? Das hätten sie von vornherein tun sollen, aber sie waren sich sicher gewesen, die Angelegenheit schnell bereinigen zu können. Immerhin; der Geliebte von Anteia war bereits tot und sicher hatte Kostral auch den Barbaren inzwischen erledigt. Der Eingeborene war interessant aber nicht so wichtig. Sollte er den Priestern ruhig mitteilen, dass jeder Angriff sinnlos war.
Vor ihm gabelte sich der hohe, aber auch recht schmale Gang und er hatte leider nicht erkennen können, ob der mit dem Roten mitwandernde Schein der Deckenlampen nach links oder nach rechts abgebogen war. Er entschied sich für den rechten, aber da war niemand, soweit er sehen konnte. Bevor es ihm möglich war sich umzuwenden, wurde er auf eine rasche Bewegung zu seiner Linken aufmerksam, dann trafen ihn unerwartet zwei geballte Fäuste in Hüfthöhe mit großer Wucht und er wurde gegen die Wand geschleudert. Sein Angreifer, der Mann aus Romjen, hatte ihm an der Weggabelung aufgelauert, wurde ihm klar, während er noch benommen auf dem Boden lag. Er hatte lautlos wie eine Schlange zugestoßen. Zwei große Hände näherten sich seinem Kopf. Schlagartig war er bei vollem Bewusstsein, als er erkannte, dass der Rothaarige über seinen Körperschutz Bescheid wusste und daher seinen Angriff auf seinen Kopf konzentrieren würde; offenbar wollte er ihm durch eine schnelle Drehung das Genick brechen. Jahrelange Übung und blitzschnelle Reflexe retteten ihm das Leben. Zwar hatte er keine Zeit, das Gewehr auf die Bedrohung zu richten, aber er warf den Kopf so schnell zur Seite, dass der Angreifer mit einer Hand seinen Schutzanzug berührte und ein Hochspannungsstromstoß durch seinen Körper fuhr. Der Rote zuckte noch einmal konvulsisch und sank leblos in sich zusammen. Stöhnend richtete sich Paieon auf. Dass es einem gewöhnlichen Sterblichen gelungen war, ihn trotz aller technischer Hilfsmittel beinahe umzubringen, erschütterte ihn. Dennoch; von den Eindringlingen war jetzt wohl nur noch der Eingeborene übrig, den er gefangen nehmen wollte, um die Rolle, die die Priesterschaft des Kontinents bei seinem Erscheinen spielte, herausfinden zu können. Dazu aber musste er wissen, wo der sich befand. Ein Besuch im Überwachungsraum erschien ihm daher notwendig. Deutlich von den vorangegangenen Ereignissen gezeichnet, machte er sich humpelnd auf den Weg. Nach einiger Zeit hatte er sein Ziel erreicht, eine Glastür schwang zur Seite und gewährte ihm den Eintritt. Die blonde Frau Seferna erschien. „Schnell! Schließe alle Ausgänge. Keiner darf entkommen. Meine Rüstung! Öffne den Wandschrank! Ich brauche einen Helm! Dieser rothaarige Teufel hätte mich beinahe umgebracht, weil mein Kopf ungeschützt war“. Vom Eingang aus gesehen an der rechten Seite öffnete sich ein mannshoher Schrank, der Teil der hellen Wand war. Paieon hastete hin und ergriff einen dunklen, seiner Kopfform präzise angepassten Schutzhelm. Das durchsichtige Visier war aufgeklappt. Paieon hörte ein Zischen, charakteristisch für das Öffnen der Eingangstür. Er blickte zur Seite als Kostral den Raum betrat. Der eherne Riese war sichtlich mitgenommen, wandte sich aber gleich an Seferna:
„Schließe die Brandschutztüren zur Kuppel“. Und erklärend fügte er an Paieon gewandt hinzu. „Du hast mit deinem Plasmaimpulsgewehr den Kuppelraum angezündet! Meinen Garten! Ist dir das überhaupt aufgefallen?“
Paieon fühlte sich ungerechtfertigt angegriffen: „Wie kann das sein? Soweit ich gesehen habe, habe ich ein oder zwei deiner Pflanzen zerstört, was mir leid tut, aber wie konnte dadurch ein Feuer ausbrechen?“
„Dieser Barbar hat Vorarbeit geleistet“.
Plötzlich erinnerte sich der Götterarzt an das Mädchen. „Verdammt! Die Frau in der Kugel! Sie wird verbrennen. Ich brauche sie aber!“
„Um die musst du dir keine Sorge machen“, antwortete der Sandarke. „Der verrückte Wilde hat sie befreit.“
„Wie, du hast ihn nicht eliminiert?“
Kostral wirkte nun ernstlich ärgerlich und verspürte das dringende Bedürfnis, den Kopf des Arztes zwischen den Fingern zu zerquetschen, solange er den Helm noch nicht trug. Aber er brauchte ihn noch, also hielt er sich zurück. Aber später ...
„Ich habe es versucht! Was glaubst du! Durch einen verrückten Zufall ist es ihm gelungen mir zu entfliehen und seine Freundin zu retten, nicht zuletzt dank deiner Hilfe. Tu mir den Gefallen: wenn du das nächste Mal schießt, dann triff auch!“
Paieon war Kritik nicht gewohnt, nicht einmal von dem Wesen, das Licht zu schlucken schien. Es mochte mächtig sein, aber solange er das Plasmaimpulsgewehr in Händen hielt, war er der Stärkere. „Einen von ihnen habe ich erledigt! Du musst seine Leiche beim Eingang zur Kuppel liegen gesehen haben.“
„Tut mir leid, da war niemand!“
„Das gibt es nicht!“
Kostral wandte sich abermals an den Avatar: „Seferna, wie viele humanoide Leichen zählst du im Gebäude?“ Es gab sicher auch ein paar tote Ratten und die meisten der Pflanzen waren den Flammen zum Opfer gefallen. Ohne die Einschränkung „humanoide Leichen“ hätte Seferna auch sie mitgezählt. „Eine“. Die Antwort kam prompt.
„Wie? Ich alleine habe zwei eliminiert!“
Seferna war ungnädig wie alle Computer. „Ich meinte den Affen, der beim Unterwassereingang liegt. Von den Eindringlingen leben alle noch.“
„Das kann nicht sein! Ein Plasmaimpuls ist tödlich! Und ein Elektroschock in voller Stärke ebenso!“
„Die Rüstung der Götter schützt gegen einen einzelnen Plasmaimpuls. Der Mann, auf den du geschossen hast, trägt eine. Und was den anderen betrifft: nur ein Mensch mit einem außergewöhnlich starken Herzen, einem das z. B. an sehr hohe Gravitation angepasst ist, kann einen solchen Schlag überleben. Immerhin ist er noch ohnmächtig und es wird eine Weile dauern, bis er wieder zu sich kommt.“
„Dann werde ich diesen Fehler jetzt korrigieren.“ Für Kostral fügte er hinzu: „Ich habe alle Ausgänge schließen lassen. Sie sitzen in der Falle!“
„Sehr gut. Dann wollen wir einmal sehen, wo sich unsere Beute derzeit befindet“, meinte Kostral, „Seferna, bitte.“ Im Raum erschien ein Grundriss des Palastes. Rote Punkte markierten die Positionen der Eindringlinge. Einer befand sich in unmittelbarer Nähe des verschlossenen, getarnten Eingangs, drei weitere bewegten sich darauf zu; einer war stationär nicht allzu weit vom Eingang zum Überwachungsraum entfernt.
„Nimm dir auch ein Gewehr mit.“
Kostral konnte diesem Rat jedoch nichts abgewinnen. „So weit kommt es noch, dass ich ein Hilfsmittel brauche, um ein schleimiges Lebewesen zu eliminieren. Wir werden die Schädlinge entsorgen und das Weibchen deiner Art dann für unsere Versuche benutzen. Wir sollten das Programm zur Vermehrung deines neuen Virusstamms in den Bioreaktoren starten. Das hat Vorrang, sie können uns sowieso nicht aus dem Randsektor entkommen. Hilf mir jetzt, ich möchte diesen Planeten endlich verlassen und wieder auf Arkeen leben.“
Obwohl Paieon lieber gleich den rothaarigen Eindringling eliminiert hätte, bevor dieser aus seiner Ohnmacht erwachte, beschloss er Kostral zu helfen, der offenbar ein wenig Ruhe brauchte, bevor er wieder bei Kräften war, aber zu stolz, um das zuzugeben. Sein Kampf mit dem Barbaren beziehungsweise dessen Ausgang machte ihm ziemlich zu schaffen. „Gut. Seferna, schließe alle Zugänge zu den Laboratorien. Nur für alle Fälle!“, ergänzte Paieon, an Kostral gewandt. Alles konnten sie von hier aus erledigen. Und dann war es an der Zeit das Mädchen zu schwängern.
***
Yasiwi beflügelte die Angst; sie flog förmlich den Gang entlang, gefolgt von den beiden Männern. Vergessen waren die Schmerzen der Prellungen. Zum Glück war sie als Tänzerin durchtrainiert, dennoch kam sie langsam ins Keuchen. Granoc blieb hinter ihr, weil er von dort Gefahr vermutete, Tjonre war einfach kein Dauerläufer, sein Atem ging ebenso keuchend wie der ihre. „Wohin laufen wir überhaupt?“, stieß sie mühsam zwischen zwei Atemzügen hervor. Sie hatte die Orientierung verloren. Vor ihr war es dunkel, hinter ihr auch; nur dort wo sie gerade waren, glimmte die Decke. Irgendwie glich das Gangsystem einem komplizierten Labyrinth und sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, welchen Weg der Graue Affe mit ihr genommen hatte. Sie war ja auch voller Panik gewesen und hatte innerlich bereits ihrem Dasein Lebewohl gesagt. Tjonre sagte nichts, er hatte selbst keine Ahnung mehr, wo sie waren und konzentrierte sich aufs Laufen und Atmen. Wären sie bloß im Wasser, seinem Element.
„Zum Ausgang!“, meinte Granoc, „wir haben nicht viel Zeit bis uns der schwarze Dämon verfolgen wird. Er ist so gut wie unverwundbar und sehr schnell“. Trotzdem musste Granoc bei der nächsten Kreuzung kurz verharren. „Tjonre, von wo seid ihr gekommen?“
„Wir sind immer geradeaus gegangen...“ Granoc nickte ihm zu, dann liefen sie wieder und das fahle Licht wanderte mit ihnen mit. Plötzlich schrie Yasiwi auf, blieb abrupt stehen und deutete nach vorne. Gerade von den vordersten Ausläufern des Lichtkegels erfaßt, stand dort eine albtraumhafte Gestalt, die nichts auch nur annähernd Menschenähnliches an sich hatte. Grauenvoll waren vor allem die riesigen, kreisförmig leuchtenden Augen, die genug Licht zurück warfen, um die darunter liegenden großen Kieferzangen zu beleuchten. Yasiwi wollte weglaufen, war aber vor Angst wie erstarrt. Ein weiterer Schrei hallte durch den Gang.
„Keine Angst, das ist nur Gorm“, erläuterte der Kimerier mit beruhigender Stimme, als spräche er über etwas völlig Harmloses. „Das ist der, vor dem du geflohen bist, kurz bevor ich dich aus dem Wasser gefischt habe.“
„Was? Oh Ihr Götter! Jetzt bin ich beinahe froh, dass ich damals blind war. Wenn ich ihn gesehen hätte, wäre ich auf der Stelle an einem Schock gestorben!“. Sie blickte ihn aus großen Augen voller Entsetzen an.
„Der Priester hat ihn geschickt, um dich zu fressen“, erläuterte der Barbar weiter, diesmal nicht mit beruhigendem Unterton. Es klang irgendwie erheitert.
Yasiwi flüsterte: „Mach es tot! Mach dass es weg ist!“
Granoc grinste, tat ihr aber nicht den Gefallen.
„Wo ist Raft?“ Tjonres Frage war an den Ahriman gerichtet.
„Ich weiß es nicht. Wir haben uns getrennt“, zischte Gorm zurück. „Der Mann, der auf dich geschossen hat, hat ihn verfolgt.“ Yasiwi lief ein kalter Schauder des Grausens über den Rücken, als sie seine Stimme hörte.
„Granoc, bring Yasiwi raus aus der Festung, ich muss noch mal zurück und Raft suchen!“ Tjonre hatte einen Anfall von Tapferkeit. Vergebens, wie er gleich darauf erfuhr.
„Das Tor ist zu“, zischte Gorm, der bereits den Ausgang gesucht hatte.
„Dann müssen wir zum anderen Eingang“, meinte Granoc, „vielleicht ist Raft ja dort. Da vorne ist eine Abzweigung, die in die richtige Richtung führt.“
Sie rannten den düsteren Gang entlang, der wohl parallel zur Außenmauer führte. Die Wände wurden feuchter, der Boden glitschiger; Algen wucherten überall an den wenig gepflegten Mauern. Einige Zeit später erreichten sie jenen Raum, den Tjonre und Granoc bereits kannten. Nach wie vor lag die Leiche des riesigen Menschenaffen zwischen dem Ausgang und dem Hebel, den Granoc betätigt hatte, um das Tor zu öffnen. Er blickte über den Kadaver auf die Wasserfläche unter der sich der Fluchtweg befand und erspähte ein metallenes Gitter, zu engmaschig, um einem Menschen die Flucht zu ermöglichen, das den Ausgang versperrte. Granoc stieg ins Wasser und versuchte es mit seinen enormen Kräften zu bewegen, aber es rührte sich nicht im Geringsten.
„Egal“, meinte Tjonre, „wir können ja von hier aus das andere Tor öffnen“. Granoc wollte ihm die Hoffnung nicht nehmen, aber es war naheliegend zu vermuten, dass sie ihnen dort auflauern würden. Tjonre wandte sich dem Hebel zu. Es ging ihm nicht besser als Granoc mit dem Gitter. „Granoc, würdest du mal?“ Der Barbar stieg über die Überreste des Affen und umklammerte mit beiden Händen den Hebel, der langsam nachgab und sich senkte. Yasiwi gab einen Laut der Erleichterung von sich. „So jetzt raus mit euch!“, meinte Tjonre, „ich werde Raft suchen.“
„Das überlässt du besser mir“, brummte Granoc.
„Dann nimm wenigstens mein Schwert“, erwiderte der Mann von Wägan, „du musst dich ja praktisch nackt fühlen ohne Waffe.“
„Ich bin nicht unbewaffnet. Aber du hast recht, ich nehme das Schwert gerne. Und du kannst sowieso nichts damit anfangen.“ Tjonre musste zugeben, dass dem so war. Der Barbar steckte die angebotene Waffe in die Scheide und ging los, in jene Richtung, die er schon einmal genommen hatte. Er wandte sich noch einmal um, weil er zu dem Schluss gekommen war, dass er sie warnen musste. „Seid vorsichtig, es könnte sein, dass sie bereits auf euch warten. Ich werde jedenfalls so schnell wie möglich zurückkehren.“
Yasiwi protestierte nicht dagegen, dass er sie verließ, sie wollte nur raus aus diesem Horrorgebäude. „Los kommt, gehen wir“, meinte sie. Gorm ging als erster in den Verbindungsgang, der entlang der Außenmauer verlief, auch Tjonre ließ sie den Vortritt, damit sie möglichst weit weg von dem Ungeheuer war. „Was machen wir, wenn wir draußen sind? Sollen wir auf Granoc warten?“
Tjonre dachte kurz nach. „Nein, das wäre unsinnig, sie haben Plasmaimpulsgewehre ... also, magische Waffen, wir können Raft und Granoc nicht helfen. Und bitte vergiss nicht: er ist nur in die Festung eingedrungen, um dich da rauszuholen und in Sicherheit zu bringen. Das bist du aber erst, wenn wir den Wald erreicht haben. Und auch das nur, wenn sie uns nicht den dritten Menschenaffen nachschicken. Obwohl Gorm vielleicht mit ihm fertig wird. Einen hat er immerhin schon überwältigt.“
„Also laufen wir so schnell wie möglich zum Waldrand?“
„Granoc ist statt mir losgegangen, um Raft zu retten. Gegen einen unbesiegbaren Feind und einen mit einer magischen Waffe. Also muss ich dich jetzt beschützen. Und das geht nur, wenn wir wenigstens den Waldrand erreichen. Ich kann ja dann zurückgehen ...“
„Und mich mit dem Monster alleine lassen, das mich fressen wollte – da bin ich mir sicher – und es auch tun wird, wenn niemand es daran hindert. Keine gute Idee!“ Sie starrte auf das bizarre Wesen, das unbeeindruckt auf die Finsternis zulief und sie nicht weiter beachtete. Ausnahmsweise war sie froh darüber nicht beachtet zu werden. Sie traute dieser Kreatur nicht. Was hatte sie wirklich vor? Sie zweifelte nicht daran, dass Mord ihre ursprüngliche Absicht gewesen war. Sie misstraute ihr, weil sie von diesem Priester geschickt worden war, der sie aus der Stadt hatte werfen lassen. Granoc hätte verhindern können, dass er ihr ein Leid zufügte, Tjonre war dazu sicherlich nicht in der Lage. Als sie Granoc so einfach gehen ließ, hatte sie einen beträchtlichen Fehler gemacht. Sie erschauerte, lief aber rasch hinter dem Mann und dem Monster weiter.
„Wie weit ist es noch bis zum Ausgang? Der Hinweg war doch gar nicht so weit.“
Tjonre musste ihr recht geben. „Wir müssten gleich da sein. Eigentlich sollte man das Licht bereits sehen. Sonnenlicht meine ich!“
Sie wurden langsamer, verunsicherter, blickten sich genauer um und da fanden sie sie: die Konturen des Tores – das genau so fest verschlossen war wie vor ihrem Aufbruch zum Unterwassereingang. Yasiwi keuchte und ließ sich auf dem vermeintlichen Fluchtweg zu Boden fallen. „Aber er hat es doch geöffnet! Tjonre, du hast es doch gesehen! Er hat es geöffnet!“ Sie wimmerte und begann leise zu weinen.
„Es gibt sicherlich eine Möglichkeit, das Tor von einem anderen Raum aus zu sperren. Sie müssen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben. Auch er ließ sich zu Boden sinken. Gorm hingegen waren keine Emotionen anzumerken.
„Was machen wir jetzt?“, wollte Yasiwi wissen.
„Warten.“
„Worauf?“
„Dass sie kommen.“
***
Das Protokoll für den Start der Bioreaktoren war in wenigen Minuten abgearbeitet. Paieon ließ Seferna kontrollieren, wo sich ihre Opfer befanden; offenbar hatten sie inzwischen erkannt, dass sie in der Falle saßen. Er musste lachen. „Kostral! Es kann losgehen. Die Jagd beginnt!“
„Nicht bevor ich dieses ölige Zeug losgeworden bin!“
„Wie du meinst. Aber beschwere dich nachher nicht, wenn niemand mehr für dich übrig bleibt.“ Er entfernte einen imaginären Fussel von seiner Tunika unter der er seine Rüstung trug, setzte den Helm mit geöffnetem Visier auf und griff nach dem Gewehr.
Kostral rief hinter ihm her: „Wozu die Eile? Sie können uns nicht entkommen!“
„Weil es getan werden muss!“, schrie der Gott zurück und verließ den Raum. Die meisten standen vor dem verschlossenen Ausgang, wie ihm bekannt war, aber einer näherte sich dem Bewusstlosen, den er zuerst eliminieren wollte. Paieon wollte ihn erreichen, bevor es der andere tat. Darum rannte er und kam schließlich zur Weggabelung, an der der Rote ihn überfallen hatte. Trotzdem war er beinahe zu spät, denn dort lag er nicht mehr. Konnte er sich bereits erholt haben? Sehr unwahrscheinlich! Hastig spähte der Olympier in die Abzweigungen, vorsichtig diesmal, um einen Überraschungsangriff unmöglich zu machen. Nur wenige Dutzend Fuß entfernt stand der schwarzhaarige Barbar, gewaltig für einen Menschen aber klein verglichen mit einem Sandarken. Jedenfalls zu weit weg als dass ein Angriff gegen einen Mann mit Gewehr auch nur die geringste Chance auf Erfolg gehabt hätte. Er hatte sich den ohnmächtigen Zwerg über die Schulter geworfen, was aber seine Beweglichkeit kaum hinderte und war wohl bereits auf dem Rückweg zu den anderen gewesen. Jetzt hatte er sich ihm zugewandt. Dennoch - mit der Last schien er praktisch wehrlos – nicht dass er gegen einen gerüsteten Angreifer bestehen könnte. Paieon hatte Zeit; er konnte den Moment voll auskosten. Er lachte bösartig und hob langsam das Gewehr. Die Bewegung des Barbaren war kaum wahrzunehmen, so rasch war sie erfolgt. Ein kurzes Flimmern in der Luft; dann steckte ein langer Dolch in der ungeschützten Handfläche des Arztes. Der Kimerier hatte den richtigen Augenblick abgewartet, bis die linke Hand wie auf dem Präsentierteller dalag und hatte mit der Geschwindigkeit einer Kobra zugeschlagen. Das erste was Paieon fühlte war Staunen und Erkenntnis. Er hätte sich nicht nur den Helm, sondern auch die Handschuhe anziehen können, aber die waren unbequem. Was für ein Fehler, den man gegen einen Kämpfer dieses Formats nicht begehen durfte.
Als zweites war da der Blick auf das fließende Blut. Sein Blut. Ihm wurde übel und seltsam leicht im Kopf. Er begriff, dass die Gefahr bestand, er könne ohnmächtig werden. Deshalb lenkte er sich ab, indem er einige Plasmaimpulse in die Richtung abfeuerte, in der der Kimerier gestanden war, aber da war niemand mehr. Er benützte nur die rechte Hand, hatte die andere vom Gewehr gelöst – und sah gerade deshalb überdeutlich, dass der Dolch seine Handfläche durchbohrt hatte und sich auch das Innere seiner Hand mit dunkelrotem Blut füllte. Er keuchte und die Schmerzen begannen sich nun einzustellen. Er stellte sich vor, wie er mit der Rechten den Dolch aus der Hand zog und abermals wurde ihm übel. Er wusste, er konnte das nicht; die Angst vor den Schmerzen, die ihn in diesem Augenblick, ohne jede Möglichkeit sie zu dämpfen, überfallen würden, ließ ihn vor Panik erstarren. Vergessen waren die Eindringlinge, seine hochtrabenden Pläne für die das Mädchen hätte herhalten müssen. Entscheidend war nur mehr, wie er schmerzlos den Dolch aus seiner Hand ziehen könne – und zwar so bald als möglich. Er wäre nicht einmal in der Lage gewesen, sich von einem kleinen Holzspan zu befreien, schon hier wäre er der Angst vor den Schmerzen nicht mehr Herr geworden und jetzt das! Er wimmerte. Dann versuchte er alle Gedanken an den Dolch und seine Hand zu verbannen. Rettung konnte er nur in dem Sonnenwagen finden, mit dem er hierhergekommen war und der im zentralen Hof parkte. Die Festung des Sandarken war für derartige Notfälle nicht ausgerüstet. Wozu auch? Alles, was für Operationen an schleimigen Lebensformen, wie beispielsweise Menschen, nötig war, hatte Paieon selbst hierher gebracht. Nur - diese Operationen hatte er immer an anderen durchgeführt und da waren schmerzstillende Mittel natürlich nicht notwendig gewesen. Unter dem Helm lief ihm der kalte Angstschweiß in die Augen; er durfte das Bewusstsein nicht verlieren, bevor er die Fähre erreicht hatte. So hastete er, um innerliche Ruhe bemüht, durch die Gänge, während ein pochender, stetig stärker werdender Schmerz seinen Arm hinauf kroch, den er aber ignorieren musste, ebenso wie das Blut, das von der Wunde auf den Boden tropfte, um seine Phantasie zu zügeln. Denn jedes Bild vor seinem inneren Auge, das ihm seine durchbohrte, blutende Hand zeigte, konnte ihn in die Ohnmacht treiben. Lust das Mädchen zu schwängern hatte er auch keine mehr.
***
„Da vorne kannst du die Festung der Sandarken erkennen.“ Die fast transparente, von innen her leuchtende Hand des Avatars zeigte auf ein düsteres, hexagonales Gebäude von enormen Ausmaßen, das mitten in einer ruhigen Berglandschaft lag. Die Berge schienen nicht allzu mächtig zu sein, da sie fast bis zu den Gipfeln bewaldet waren. Die Festung war auf einer Hochebene erbaut, die etwa auf halber Höhe der herausragendsten Gipfeln gelegen war. Das alles sah Elri ganz deutlich, während die Konturen des Raumes, in dem sie sich befand, ja selbst die des bequemen Stuhls, in dem sie saß, nur undeutlich zu erkennen waren.
Sie näherte sich der Festung mit einem Gefühl der Unmittelbarkeit in atemberaubender Geschwindigkeit; entsprechend wuchs sie dem Schein nach rasch an und deren Details wurden sichtbar. „Das ist doch eine Rauchsäule?“ Etwas östlich des Gebäudezentrums ragte eine kristallene, buntschillernde Kuppel empor, die scheinbar die Quelle der Rauchentwicklung war.
Irsa nahm die Bemerkung als Befehl, das Phänomen zu analysieren. „Du hast recht, da brennt etwas. Dafür spricht die Temperatur an der Basis der Säule. Langkettige gesättigte Kohlenhydrate würde ich annehmen, aber Genaueres kann ich erst sagen, wenn wir näher sind.“ Elri interessierte sich im Augenblick nicht für Chemie – genau genommen auch sonst nicht.
Fasziniert starrte sie auf die düstere Burg, die vielleicht gerade dabei war sich in eine Ruine zu verwandeln. Ebenfalls nahe des Zentrums, aber westlich davon befand sich ein unbebauter Fleck, ein Atrium, das offenbar als Landeplatz diente. Zwei Fähren waren auszunehmen, eine von sehr fremdartiger Bauart, eine von der Art, wie die olympischen Götter ihre Flugwägen gestalteten.
Im Süden der Festung konnte sie einen kleinen See ausmachen, der sich bis zu ihrem Wall ausdehnte. Von oben sah er aus wie ein dunkler Tropfen, der an dem massiven Gebäude hing, gerade so, dass er nicht hinunter fiel.
„Irsa, kannst du Menschen ausmachen?“ Sehnsucht klang in ihrer Stimme mit. So weit war sie gekommen! Jetzt durfte einfach nichts mehr schief gehen. Hoffnung keimte auf und trotz ihrer nicht immer positiven Lebenserfahrung versuchte sie nicht, sie zu unterdrücken. Vielmehr fühlte sie bereits Wiedersehensfreude in sich aufsteigen und eine Unruhe wie sie sie zuletzt als kleines Kind gespürt hatte, als ihre Geburtstage noch gefeiert wurden.
Tjonre hatte von irgendwo hier Kontakt zu ihr aufgenommen. Er musste ganz in der Nähe sein. Aber wo genau? Vielleicht war er bereits in der Feste, aber wie hätte er in dieses gut geschützte, abweisende Gebäude hineingelangen können? Möglicherweise gab es ja irgendwo einen Haupteingang mit einer Klingel oder so. „Nein. Außerhalb des Gebäudes sind derzeit im näheren Umkreis keine Menschen.“
„Gibt es irgendwo einen Eingang?“ Reja’s Fähre war jetzt bereits sehr nahe und umkreiste die fremdartige Burg.
Irsa schüttelte den Kopf. „Falls du ein größeres Tor suchst – das gibt es nicht. Kleinere Eingänge mögen existieren, sind aber nicht offensichtlich.“
Elri würde also im Innenhof auf dem dafür vorgesehenen Platz landen müssen. Es war besser dies mit Erlaubnis der Hausherren zu tun, da eine so abweisende Burg möglicherweise auch gegen Eindringlinge aus der Luft unfreundlich reagieren würde. Elri hätte sich in dieser Hinsicht keine Sorgen machen müssen, aber das konnte sie nicht wissen. „Irsa, kannst du Kontakt zu den Bewohnern dieses merkwürdigen Bauwerks aufnehmen?“
Kurz darauf erschien eine blonde, sehr schlanke, sehr menschliche Frau vor Elri. Sie schien in der Luft zu schweben, wie Elri scheinbar ja auch und lächelte sie an. „Ich bin Seferna, der Avatar von Mesawa Sandarken. Was wünscht du?“
Elri war überrascht, dass die dunklen Ungeheuer einen menschlichen Avatar kreiert hatten. „Ich würde gerne mit den Bewohnern von Mesawa Sandarken sprechen. Geht das?“
„Mein Herr, Kostral, ist augenblicklich sehr beschäftigt. Du wirst leider warten müssen.“
Kostral! Diesen Namen hatte ihr Vater in seinen Aufzeichnungen erwähnt. Er war sein Auftraggeber gewesen und letztlich wohl auch sein und ihrer Mutter Mörder! Konnte er der Gleiche sein? Wenn ja, dann hatte sie von ihm bestimmt nichts Gutes zu erwarten und Tjonre wohl auch nicht. Trotzdem würde sie mit ihm sprechen, denn sie wollte Klarheit darüber, ob er tatsächlich derjenige war, für den sie ihn hielt. Und sie wollte wissen, wo sich Tjonre befand. „Gut. Kann ich bei den anderen Schiffen landen?“
„Tut mir leid, nicht ohne ausdrückliche Erlaubnis. Du wirst warten müssen.“ Das hatte Seferna ihr bereits mitgeteilt.
„Gut. Also bis dann!“, sagte sie. ‚Gar nicht gut’, dachte sie. Sie musste ihre Ungeduld zähmen, aber das ging nicht so leicht. Elri überlegte gerade, ob sie außerhalb des Gebäudes landen sollte, als sie abermals die eigenartige Empfindung verspürte, ihren Körper zu verlieren. Sie fühlte sich ganz leicht und alle Sinneseindrücke schienen vor ihr zu fliehen, während gleichzeitig eine fremde Präsenz spürbar wurde. Ihre ganze Wahrnehmung konzentrierte sich auf einen kleinen Punkt, der rasch anwuchs und sich wie eine Blüte im tauenden Morgen entfaltete und erkennbar wurde. Er nahm wieder Kontakt mit ihr auf! „Tjonre!“, rief sie fröhlich, „welch ein Glück, dass du wieder hier bist!“
Er freute sich offensichtlich sie zu sehen, wirkte aber angespannt, als ob er eine sehr schlechte Nachricht zu überbringen hätte. „Elri! Ich habe nur wenig Zeit, mein Freund Gorm kann den Kontakt nicht sehr lange aufrecht erhalten. Also; das Treffen mit dem Sandarken ist nicht wirklich gut verlaufen, du hattest leider recht. Er wird mir wohl nicht helfen zu dir zu kommen und auch nicht den Planeten zu verlassen. Offen gesagt wirkt er ein wenig feindlich.“
Elri spürte, dass das eine extreme Untertreibung war. Er hätte genauso gut behaupten können, die Götter wären ihm gegenüber sehr freundlich gewesen.
„Ich fürchte“, fuhr er fort, „wir können uns in nächster Zeit nicht wiedersehen, aber mach dir um mich keine Sorgen! Ich wollte dir nur noch einmal sagen, wie sehr ich dich liebe ...“
Das war offensichtlich ein Abschied, wie sie auch an seiner Mimik erkannte. Elri begriff, dass Tjonre in unmittelbarer Gefahr war oder zumindest einen sehr begründeten Verdacht in diese Richtung hegte. „Nein, Tjonre warte! Ich meine, ich hab’ dich auch sehr lieb, aber ich bin ganz in der Nähe, wenn ich auch nicht weiß, wo du jetzt bist. Aber ich umkreise gerade Mesawa Sandarken! Das ist die düstere Burg ...“.
Tjonre war einen Augenblick völlig perplex und blickte reichlich verdattert. „Aber ... wie ... hat Hephaistos ...“
„Oh nein! Ich habe eine alte Bekannte getroffen. Stell dir vor, Reja ist hier. Sie hat mir ihre Fähre geliehen. Das heißt – ich habe nicht vor sie ihr zurückzugeben.“
„Reja! Bei der Galaxis! Die gibt dir doch nichts freiwillig, außer einem extraheißen Plasmaimpuls!“
„Ja, den hat sie auch hergegeben, aber nicht so genau getroffen.“ Als sie das sagte, wirkte Elris Stimme ausgesprochen fröhlich und unbeschwert.
„Elri, bist du verletzt?“ Tjonre schrie fast, offenbar war er sehr besorgt um sie und rechnete mit dem Schlimmsten.
„Unbedeutend. Eine leichte Verbrennung an der Seite, praktisch nichts. Hephaistos muss ihr gesagt haben, wo ich zu finden bin. Sie hat ihm eingeredet, wir wären gute Freunde. Aber vielleicht war er doch nicht so ganz überzeugt. Jedenfalls hat er ihr nicht erzählt, dass ich einen Kampfanzug unter meinem Kleid trage. Das kam für sie ziemlich überraschend.“
„Ist sie tot?“ Seine Stimme klang bei dieser Frage emotionslos, er war bloß neugierig. „Sie war zuletzt wehrlos. Du weißt, ich kann nicht auf Wehrlose schießen, selbst wenn sie durch und durch böse sind. Aber sie sitzt auf Lemnos fest. Für’s Erste zumindest. Hephaistos wollte diesen Unterschlupf geheim halten. Es existiert keine Kommunikationsmöglichkeit. Aber genug gesprochen über diese Kröte. Tjonre, wo bist du?“
In Tjonre keimte neue Hoffnung. „Elri, wir sind in dem Gebäude eingesperrt. Alle Ausgänge sind blockiert. Ein verrückter Gott hat versucht mich zu erschießen und wäre auch erfolgreich gewesen, hätte ich nicht eine schusssichere Weste angehabt. Und ein Gefährte von mir wurde von einem Sandarken angegriffen. Wie es ihm gelungen ist, der ehernen Kreatur zu entkommen ist mir ein Rätsel! Jedenfalls stehen wir jetzt vor einem der verschlossenen Ausgänge und die beiden Widerlinge werde jeden Moment hier sein.“
„Wo ist der Ausgang? Ich sehe keinen.“
„Da ist ein kleiner Teich oder See, der direkt an die Außenmauer grenzt. Siehst du den?“ „Mhm, ja.“ „Und ein wenig westlich davon – zehn Gehminuten vielleicht – ist ein gut getarnter Eingang ...“
„Tjonre, Liebling, das ist das Problem, er ist zu gut getarnt!“
„Vielleicht kannst du ihn mittels Echolot finden. Der zurückgeworfene Schall müsste sich von dem unterscheiden, der von einer massiven, meterdicken Mauer herkommt.“
„Das geht vielleicht, ich werde den Avatar fragen, ob wir die nötige Ausrüstung haben. Aber dazu müssen wir den Kontakt unterbrechen. Könnt ihr ihn in ein paar Minuten wiederherstellen?“
„Das weiß ich nicht, nur Gorm, der Einheimische weiß das. Aber auch wenn nicht – wir gehen jetzt in Deckung. Und dann schieß einfach ein schönes, großes Loch in die Wand!“ Mit diesen Worten verschwand seine Präsenz fast schlagartig, seine Erscheinung zoomte von ihr weg und löste sich auf wie Nebel.
***
„Seferna, zeige mir, wo die Eindringlinge sind.“ Der Grundriss wurde sichtbar. Inzwischen befanden sich alle Menschen und auch der Eingeborene vor einem der Ausgänge. Gut. Er konnte sie alle auf einmal erledigen, wie praktisch. Aber sie lebten alle noch. Was bei der Galaxis hatte Paieon getan? „Wo ist der Arzt?“
„Er ist zu seinem Schiff gegangen.“
Merkwürdig. Vielleicht war irgendetwas passiert, das den Olymp betraf? Egal. Er brauchte den Menschen, der sich für einen Gott hielt nicht, um dessen Artgenossen zu eliminieren. Aber er würde das Mädchen verschonen. Sie war zu wichtig. Wie einfach doch die Menschen entkommen könnten. Sie bräuchten nur damit zu drohen, das Menschenweibchen umzubringen. Das Mädchen gegen die Freiheit der anderen. Kostral und Paieon wären auf den Handel eingegangen, denn sie wollten ihre Forschung endlich zum Abschluss bringen. Aber daran dachten sie nicht und Kostral hatte inzwischen einen sehr persönlich Haß gegen den Barbaren, der das Weibchen befreit hatte. Er zog es vor, ihn und die anderen umzubringen.
„Herr“, meldete sich Seferna, „jemand wollte Kontakt zu dir aufnehmen. Soll ich jetzt die Verbindung herstellen?“
„Nein, Seferna, „jemand“ muss warten. Es ist so weit. Ich gehe jetzt los und werde diese gallertigen Dinger zerstören.“
***
„In den Gang, der zum Teich führt! Los!“ Der sonst so ruhige Tjonre brüllte, was Yasiwi sehr irritierend fand.
„Aber Tjonre! Der Ausgang dort ist doch verschlossen!“
Er schnappte sie unangenehm fest am Arm und zog sie mit sich. Gorm war hingegen informiert und folgte freiwillig und rasch. Er hatte das Gespräch allerdings nicht wirklich verstanden, da er über die technischen Möglichkeiten, über die Elri verfügte, weder Bescheid wusste noch sie sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte. Plötzlich deutete Yasiwi nach vorne:
„Da kommt jemand. Und er ist riesig!“, flüsterte sie. Tatsächlich füllte die unförmige Gestalt den Gang beinahe aus und sie kam immer näher. ‚Zu früh’, dachte Tjonre, ‚der Sandarke wird uns erledigen, bevor Elri irgendetwas tun kann.’ Aber wenige Augenblicke später hörte er einen Freudenschrei, Yasiwi riss sich aus seiner Umklammerung und lief auf die monströse Gestalt zu.
„Schon gut Mädchen. Lass mich los“, brummte der Kimerier. Trotz seiner außergewöhnlichen Kraft schwitzte er unter seiner beträchtlichen Last. Jetzt erkannte Tjonre den roten Haarschopf des Mannes von Romjen und die schaurige Silhouette des Monsters löste sich in die Gestalten zweier ihm wohlbekannter Männer auf, von denen der eine den anderen schleppte.
„Raft, verdammt, was ist ... Granoc, wo hast du ihn gefunden? Wie geht es ihm?“ Granoc war inzwischen bei der kleinen Gruppe angelangt. „Was macht ihr noch hier? Ihr solltet längst draußen sein.“
„Das geht nicht, Granoc. Die Tür ist immer noch verschlossen“, antwortete ihm Yasiwi.
Granoc wandte sich an Tjonre: „Er lebt jedenfalls noch, aber ich glaube nicht, dass es ihm besonders gut geht. Er hatte wohl eine Konfrontation mit einem Verrückten.“
„Das muss Paieon sein.“
„Wie auch immer; der hat etwas, das mir gehört.“
„Was denn?“
„Meinen Dolch! Er steckt in seiner Hand. Ich konnte ihn mir nicht gleich holen, weil ich mich um den Hyperboreer kümmern musste, aber jetzt ...“ Tatendrang blitzte in seinen Augen; er ließ Raft unsanft von seiner Schulter gleiten.
„Nein! Granoc, bleib hier. Es wird hier gleich ein Höllenspektakel geben. Jemand wird mir helfen, die Tür zu öffnen, aber das wird auf eine recht gewalttätige Art geschehen.“
„Wer?“, wollte Yasiwi wissen.
„Eine Göttin, die ich von früher kenne. Sie ist sehr nett.“ Und nach einer kleinen Pause: „Äußerst nett.“ Während er das sagte, nahm er den schmalen Sack vom Rücken und wühlte in seinem Inneren. Er kannte die Arzneien inzwischen ganz passabel und bereitete eine Spritze vor. Er wandte sich Raft zu, dessen Gesichtszüge größtenteils unter seinem üppigen Bart verborgen waren. Dennoch konnte man unschwer erkennen, dass es ihm nicht übermäßig gut ging. Er legte den Oberarm frei, der den Umfang des Oberschenkels eines normalen Mannes übertraf, und jagte die Injektion mitleidlos hinein. Fast sofort öffnete der Rote die Augen weit und atmete tief ein.
„Was ist das für ein Zeug? Was ist eigentlich los?“, krächzte er, noch sichtlich mitgenommen. Er blickte in sorgenvolle Gesichter.
Nur Granoc hatte dieser Szene keine Aufmerksamkeit geschenkt. Stattdessen beobachtete er einen winzigen Funken am Ende des Ganges. Der Funken wuchs und eine Gestalt darin kam näher. Er zog Tjonres Schwert, die letzte ihm verbliebene Waffe. „Wir bekommen Besuch.“
Er sagte das ganz ruhig, trotzdem war Tjonre alarmiert. Noch war der Besucher zu weit entfernt. Er konnte nur die wandernde Lichtquelle ausmachen. „Paieon oder der Sandarke?“
„Der metallene Dämon“, antwortete Granoc dessen in der Wildnis geschärfte Sinne die des Zivilisierten bei weitem in den Schatten stellten.
„Los, weiter in die Abzweigung hinein, die zum anderen Ausgang führt, schnell! Noch weiter nach hinten! Helft Raft!“
Granoc blickte Tjonre skeptisch an. „Der Dämon hat wahrscheinlich alle Gänge abgesperrt. Wir sitzen in der Falle. Wenn deine äußerst nette Göttin uns helfen will, dann sollte sie sich besser beeilen. Noch dreihundert Fuß, dann ist er da.“ Ruhig sagte er das und gleichmütig blickte er nun dem schwarzen menschenähnlichen Dämon entgegen, der immer näher kam.
Tjonre wandte sich dem Eingeborenen zu. „Gorm, bitte versuche noch einmal mir zu helfen. Und du Granoc, geh’ weiter in den Gang hinein!“ Gorm kam näher und sah mit seinen Spiegelaugen in die Linsenaugen des Mannes aus Wägan, der bald das Gefühl hatte, dieser Blick würde das gesamte Universum umfassen und das unendlich Kleine mit dem unendlich Großen verbinden. Dann wuchs aus einem grellen Punkt Elri’s Sein und wurde gleißend und allumfassend. „Elri, konntest du das Tor finden?“
„Ja, Irsa weiß jetzt wo es ist!“
„Gut! Nimm nur eine kleine Rakete, wir sind nicht allzu weit entfernt! Der Sandarke nähert sich bereits. Warte nicht mehr zu lange!“ Augenblicklich brach der Kontakt ab und hinterließ einen verwirrten Tjonre. Der Gang schien dunkler und kälter zu werden als wäre da jemand, der alle Energie aufsaugt; etwas Lichtfressendes stand an der Kreuzung zum Hauptgang; die hohe, entfernt menschenähnliche Gestalt wandte sich ihnen zu und blutrot leuchtende Augen fixierten die kleine Gruppe. Granoc wurde unruhig, knurrte und wollte sich auf den ehernen Dämon stürzen; ihm war egal, dass er keine Chance hatte; Yasiwi schrie gellend und wollte zurückweichen. Kostral sah den Barbaren im Seitengang stehen, erkannte ihn - den gallertigen Zwerg, der ihn besiegt hatte - und wollte seine Rache. Doch niemand fand mehr die Zeit seine Absichten zu verwirklichen, denn in diesem Moment traf die Rakete an der richtigen Stelle, zerschmetterte das Tor und verursachte ein Inferno aus fliegenden Steintrümmern, Staub und Glut. Yasiwi sah wie der düstere Dämon von einem schädelgroßen marmornen Teil des Tores mit großer Wucht am Oberarm getroffen und aus ihrem Sichtbereich geschleudert wurde. Dann füllte sich der ganze Gang mit Staub, ein faustgroßer Stein flog knapp an ihr vorbei. Sie hustete und alle anderen auch. Als die Staubwolke sich gesenkt hatte, näherten sie sich der T-förmigen Kreuzung. Yasiwi blickte nicht zum Eingang sondern in die andere Richtung und erbleichte. Der dunkle Riese war gerade im Begriff sich zu erheben und schleuderte den Schutt von sich. Die unheimlichen Augen erfassten sie, die abermals schrie und nicht wusste, wie sie diesem schrecklichen Albtraum entkommen konnte. Sie hörte ein Geräusch wie das tiefe Dröhnen einer Glocke, das zunächst verstörend wirkte, aber schließlich erkannte sie, dass es sich um ein Lachen handelte.
„Keiner von euch ist schnell genug, um mir zu entfliehen! Auch du nicht, Barbar! Es ist Zeit für Euch zu sterben! Kostral wird euch jetzt vernichten!“
„Kostral?“ Die weibliche, trügerisch sanfte Stimme, die diese Frage stellte, kam aus der anderen Richtung und hatte einen wunderschönen hellen Klang. Yasiwi blickte zum Eingang und sah eine zarte Gestalt in einem strahlend weißen Kleid mit überirdisch schönem Gesicht, umrahmt von langem, schwarzen Haar und umgeben von einem gleißenden, farbenprächtigen Schimmern, das die göttliche Natur dieses Wesens verriet. „Erinnerst du dich an mich, Kostral? An das kleine Mädchen, das du an die Sklavenhändler verkauft hast? Dessen Eltern du brutal umgebracht hast?“
Der Riese wandte sich ihr zu und nichts verriet seine Stimmung. „Wie könnte ich das vergessen? Und jetzt beende ich, was ich damals schon hätte tun sollen; ich schicke dich zu deinen Eltern.“
Elri zögerte nicht länger und drückte den Abzug der Plasmaimpulspistole, die sie sich von Reja geliehen hatte. Kugelblitze lösten sich von der Mündung der Waffe in rascher Folge und züngelten auf den Dämon zu; einige trafen ihn im Brustbereich und lösten dort ein rötliches Glühen aus. Das Monster schrie ohrenbetäubend und nun völlig unmenschlich auf und sackte schließlich in sich zusammen.
Yasiwi, die das alles gesehen hatte, warf sich vor dem göttlichen Wesen in Schutt und Asche; Tjonre hingegen sah in ihr keine Person, die Ehrfurcht und Schrecken in ihm weckte, sondern nur ein Gefühl: Liebe. Er lief Elri entgegen und nahm sie glücklich in die Arme. Elri schlang die ihren um seinen Hals und erwiderte sehnsüchtig und weltvergessen seinen Kuss. Keiner achtete auf Yasiwi, was sie nach einer Weile auch bemerkte, woraufhin sie sich wieder schmollend erhob, während Elri und Tjonre sich weiterhin innig küssten. Dann flüsterte sie ihm zu: „Ich habe es nicht aus Rache getan, das musst du mir glauben; ich hatte Angst um dich. Und auch um mich und die anderen.“
Tjonre drückte ihr Köpfchen an seine Brust. „Was du getan hast, war in Ordnung. Er hätte uns alle umgebracht, da brauchst du überhaupt keine Zweifel zu hegen. Ich weiß, dass du nicht rachsüchtig bist. Du hast mir das Leben gerettet.“
Sie schenkte ihm ihr bezauberndes Lächeln. „Zur Abwechslung einmal ich dir“, flüsterte sie. Dann blickte sie sich um und sah Tjonres Begleiter: Yasiwi, die unter diesem Blick überlegte, ob sie in ihrer Mimik und Gestik wieder mehr Verehrung einfließen lassen sollte, schließlich konnte man das Wohlwollen einer Göttin immer brauchen; den imposanten Granoc, dem die Szene sichtlich zu gefallen schien und der sicherlich nie auf die Idee gekommen wäre, einen Gott oder eine Göttin anzubeten; Raft, der offenbar angeschlagen war, aber ihr tapfer und dankbar schaurig zulächelte und dahinter: Gorm, der sie aus seinen verkehrten Augen so intensiv anstarrte, dass sie sich ein wenig vor ihm ängstigte.
Kurz flimmerte die Luft und rasch materialisierte sich eine langhaarige, blonde, ihr bereits bekannte Frau vor ihr: Seferna, der Avatar. Sie blickte ihr gefühllos und stumm entgegen, was Elri zu der Bemerkung veranlasste: „Ich weiß, du hast gesagt, ich solle warten. Tut mir leid, das ging nicht. Es tut mir auch leid, dass ich ihn“, sie deutete auf Kostral, „getötet habe, wirklich. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte ...“
„Du hast meinen Herrn besiegt und es ist bei den Sandarken üblich, dass du daher meine neue Herrin bist. Du allein hast zukünftig Zugang zur Festung, es sei denn, du befiehlst anderes.“
Elri war verwirrt und wollte schon mit „Nein“ antworten, hatte sie doch vor, den Planeten so rasch wie möglich zu verlassen. Aber dann entschied sie sich spontan anders. „Der Ringschlüssel. Der Ring, den ich am Mittelfinger meiner rechten Hand trage. Wer immer zu dir kommt und diesen Ring trägt, soll an meiner Stelle Herr oder Herrin dieser Festung sein.“
Seferna nahm die Identität des Ringschlüssels in sich auf. „So sei es. Hast du noch andere Befehle?“ Elri schüttelte den Kopf und Seferna löste sich vor aller Augen auf, auch vor Yasiwis, der all das Übernatürliche langsam zuviel wurde und die sich hilfesuchend an den Kimerier klammerte.
„Bitte Granoc, können wir jetzt gehen? Ich möchte bloß weg von hier! All diese Magier, Dämonen, Götter! Ich möchte wieder ganz normale Leute um mich haben.“
Der Barbar grinste. „So wie mich zum Beispiel?“
„Na ja, verglichen mit den anderen ... Ich will wieder zurück zu schönen Kleidern, Schmuck, Schminke. Frauenkram eben. Granoc, bitte“, flüsterte sie.
Tjonre suchte wieder in den Arzneien. „Warte Yasiwi, bevor jeder seiner Wege geht möchte ich dir noch das Fläschchen mit den Augentropfen geben. Du und Granoc, nehmt sie noch eine Woche. Sicher ist sicher. Und Granoc! Dieses Spray hilft gegen dein Hühnerauge.“
„Das braucht er doch nicht“, ließ sich Raft vernehmen, „er kann es doch mit dem Schwert rausschneiden. Für ihn wäre die Wunde doch bloß ein Kratzer!“
„Ich glaube, du verwechselt mich mit jemandem“, murmelte der Kimerier ohne näher darauf einzugehen mit wem. Er ließ sich von Tjonre den Fuß verarzten. Das Spray trocknete praktisch sofort über der empfindlichen Stelle.
„Gut“, meinte Tjonre, „Elri, Raft und ich müssen jetzt aufbrechen ...“
Raft richtete sich auf. „Nein Tjonre, ich gehe nicht mit euch.“
Man konnte Tjonre ansehen, wie überrascht er war. „Aber Raft, warum nicht?“
„Weil die Welt, in die du zurückkehrst und die, in die ich zurückkehren könnte, langweilig ist. Sie ist ermüdend, belanglos, ohne Abenteuer. Ich würde doch nur wieder eine Aufgabe bekommen, wie die, die wir in Ivarn inne hatten! Nicht mit mir! Nie wieder! Ich bleibe hier, lerne von Granoc, wie man mit dem Schwert umgeht und dann sehe ich mir Hyperborea an, wo die Menschen wild sind und eine angenehmere Temperatur herrscht als hier.“ Nach dieser für ihn ungewöhnlich leidenschaftlichen Rede schwieg er eine Weile und auch Tjonre wusste nicht, was er sagen sollte. Sie waren Kameraden gewesen aber waren sie auch Freunde? Wie konnten zwei so unterschiedliche Menschen durch Freundschaft verbunden sein? Raft hatte seine Entscheidung getroffen, Elri die ihre und er die seine. Elris und seine brachten sie einander näher, diejenige von Raft verhieß Abschied.
„Dann ... lebe wohl. Ich hoffe du findest, was du suchst. Was soll ich der Patrouille erzählen?“
„Sag ihnen, dass ich im Dienst für die Föderation gestorben bin. Sag ihnen, dass ich ein Ehrenbegräbnis verdiene. Ich kann zwar nicht dabei sein, aber seien wir ehrlich; wer will schon bei seinem Begräbnis dabei sein, selbst wenn es noch so bombastisch ist. Hm. Der Protektor selbst soll die Rede halten und meine Vorzüge in den leuchtendsten Farben darstellen.“
„Wird gemacht!“, versprach ihm Tjonre, dann wandte er sich an Elri: „Und du? Hast wenigstens du es dir nicht anders überlegt? Bist du sicher, dass du nicht doch eine Göttin bleiben willst?“
Elris Augen strahlten. „Ganz sicher. Sich selbst zu erhöhen, wie es die Götter tun, kann sehr erniedrigend sein – zumindest wenn man einen Funken Anstand besitzt. Vielleicht, wenn sie irgendetwas Sinnvolles täten. Menschen heilen. Ihnen in Not helfen. Stattdessen spielen sie Schicksal und führen miteinander Wetten um das Leben ihrer ‚Helden’, die eigentlich ihre Opfer sind. Sie bringen Leid und stehen ihnen nicht bei. Raft, das ist es was ich unter einem langweiligen Leben verstehe, aber Farmerin zu sein an deiner Seite, Tjonre, das möchte ich wirklich gerne.“
Gorm, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, näherte sich langsam der Gruppe, um die erste Göttin, die er je gesehen hatte, kennen zu lernen. Zwar hatten die Priester ständig zu irgendwelchen Göttern gebetet, gesehen hatte er aber noch keine. Er hatte sie sogar für Fiktion gehalten. Tjonre wurde auf ihn aufmerksam und beschloss, ihn Elri vorzustellen: „Das ist Gorm, ein Eingeborener dieses Planeten, der uns geholfen hat Yasiwi zu befreien“, er zeigte auf das brünette Mädchen, das er Elri noch nicht vorgestellt hatte „und dessen telepathische Gaben du ja erlebt hast. Wir sind ihm sehr zu Dank verpflichtet.“
Elri bestätigte das und grüßte ihn. „Können wir irgendetwas für dich tun?“, fragte sie ihn.
„Vielleicht kannst du das, Göttin“, zischte das Wesen, „wie du auf magische Weise diese Mauer zerstört hast, die tausend Mann oder Ahriman mit Rammen nicht vernichten könnten, war sehr beeindruckend. Und inspirierend.“
„Lass mich raten“, entgegnete Elri, die sich eingeprägt hatte, was ihr Vater über das Schicksal der Ahriman geschrieben hatte, „du möchtest, dass ich in die Mauer, die den Garten der Erkenntnis umfasst, ebenfalls ein Loch hineinsprenge. Richtig?“
Gorm war zunächst verblüfft, erinnerte sich dann aber daran, dass die Göttin sicherlich allwissend war. Und hoffentlich allmächtig. „Die Mauer rund um den Garten der Erkenntnis ist noch wesentlich stattlicher als die, die diese Feste umgibt. Wenn es im Rahmen deiner Möglichkeiten liegt“, er befürchtete seine Ungläubigkeit könnte sie beleidigen, „woran ich natürlich nicht zweifle, würde ich mich in der Tat sehr freuen, wenn ein Teil der Mauer fehlte.“
Elri lächelte ihn freundlich an, auch wenn sie bezweifelte, dass er die Mimik der Menschen interpretieren konnte. „Komm mit und sieh selbst!“
Yasiwi platzte vor weiblicher Neugierde und näherte sich Elri. Sie betrachtete sie scheu. Liebesgöttin war sie wahrscheinlich keine, fand sie, dazu waren ihre Rundungen zu wenig ausgeprägt. Sie hatte eher einen sehr schlanken, gazellenhaften Körper. Sie beschloss, sie darauf anzusprechen: „Verzeiht, welche Art Göttin seid ihr? Vielleicht eine Göttin der Jagd?“
Elri lachte: „Nein, die Göttin der Morgenröte. Aber nicht mehr lange. Ich werde als Tjonres Gemahlin Farmerin.“
Yasiwi überlegte die Konsequenzen. Ob es in Zukunft zum Ausbleiben der Morgenröte kommen würde, war ihr aber eher egal. „Oh! Werdet ihr dann sterblich? Altert ihr? So richtig mit Runzeln im Gesicht und weißen Haaren und all dem?“
Elri musste abermals lachen. „Ja, sterblich bin ich schon und ich altere auch. Aber man wird es mir nicht ansehen, ich werde auch in sechzig Jahren noch so aussehen wie heute.“
Yasiwi fand das unfair und gemein, sie wollte ebenfalls immer jung und attraktiv erscheinen. „Oh“, sagte sie wieder, etwas geknickt.
Die Gefährten setzten sich nun in Bewegung und verließen das düstere Gebäude. Deshalb konnten sie auch nicht sehen, dass sich Seferna abermals materialisierte, direkt vor dem gefallenen Sandarken. Etwas Licht glomm noch in seinen Augen. „Deine Verletzungen sind zu schwerwiegend. Ich kann dich nicht mehr retten. In spätestens einer Stunde wirst du tot sein“, erklärte der Avatar mit emotionsloser Stimme, „ich habe die Nachfolge geregelt, wie meine Programmierung es vorsieht. Hast du noch Befehle für mich?“
„Ja!“, krächzte Kostral, „nimm die Gestalt an, die ich dir gegeben habe. Ich möchte nicht in meiner letzten Stunde einen hässlichen Menschen sehen, auch wenn Paieon dein Äußeres offensichtlich als Begehrenswert empfindet, sonst hätte er dich nicht so gestaltet. Hör zu! Kein Mensch soll diese Festung betreten. Und wenn Menschen die Ebene rund um die Burg besiedeln, sollst du dich wie ein Rachegott benehmen. Verlange Menschenopfer, wenn sie bleiben wollen. Wenn sie sich weigern, eliminiere einen Teil von ihnen oder alle! Konstruiere Roboter, die dir das ermöglichen.“
Kurz flimmerte die Luft, dann war die blonde, schöne Frau verschwunden und ein lichtfressender, gewaltiger Sandarke stand vor Kostral. Mit tiefer Stimme antwortete Seferna: „Ich kann dir nicht in allem gehorchen. Deine Bezwingerin und jeder Mensch, der ihren Ringschlüssel besitzt, darf das Gebäude betreten und alle denen der Besitzer das erlaubt. Aber abgesehen davon werde ich tun, was du mir befohlen hast.“ Sie blieb in der Gestalt des schwarzen Ungeheuers neben Kostral stehen und sah zu, wie dieser immer schwächer wurde und schließlich verstarb. Nun war sie sicher, dass keine weiteren Instruktionen kommen würden. Sie nahm Kontakt mit Paieons Schiff auf und stand wenig später vor dem fluchenden Arzt, der endlich den Dolch aus seiner Hand gezogen hatte, die er zuvor mit einer betäubenden Flüssigkeit übersprüht hatte.
„Verdammt! Kostral!“
„Ich bin Seferna. Kostral ist tot. Und er hat ausdrücklich die Anwesenheit aller Menschen auf Mesawa Sandarken verboten. Du musst von hier verschwinden!“
„Was soll das? Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Gott!“
„Da irrst du dich“, kam erbarmungslos die Replik, die ihn mit einer Wahrheit konfrontierte, die er nicht hören wollte.
„Ich denke gar nicht daran zu gehen! All meine Versuchsunterlagen, Aufzeichnungen, die Viren, die Laboreinrichtungen. All das ist hier! Ich brauche das, wenn ich weitermachen will. Und ich weiß, dass Kostral wollte, dass ich mit meinen Experimenten Erfolg habe und Rache nehme! Es ist seine Rache, nicht meine. Als er dir seine Befehle erteilt hat, hatte er nur vergessen, dass du ein stures Programm bist, das nicht einsehen will, dass ich kein Mensch, sondern ein Gott bin!“
„Das sture Programm sagt dir jedenfalls, dass du verschwinden musst.“
„Sonst was? Mesawa Sandarken hat überhaupt keine Verteidigungseinrichtungen. Das war die Voraussetzung dafür, dass die Götter der Errichtung dieser Enklave zugestimmt haben. Du kannst mir nicht drohen, weil du gar nicht die Möglichkeit hast, die Anweisungen deines Herren umzusetzen!“
„In der Hinsicht irrst du“, sagte die hochgewachsene, düstere Gestalt mit den glühenden Augen, dann verschwand sie und wurde durch ein Hologramm ersetzt, das die Umgebung des Götterwagens zeigte. Unweit stand Kostrals Atmosphärenschiff, das zwar nicht besonders groß, dafür aber sehr gut bewaffnet war. Die vier Plasmaimpulskanonen waren alle auf Paieons Fluggerät gerichtet. Paieon fielen fast die Augen aus dem Kopf als er die Bedrohung sah und erkannte, wie ernst die Lage war, in der er sich befand. Er wusste ja nicht genau, wie der Befehl des Sandarken gelautet hatte und wie viel Zeit ihm noch blieb, das Weite zu suchen. Er instruierte seinen eigenen Avatar dahingehend, augenblicklich zu starten und zu Homers Zeitalter zurückzukehren.
***
Auf dem Flug nach Wägan hatten sie viel Zeit für Liebe und Gespräche. „Ob wir eine dauerhafte Änderung herbeigeführt haben, was meinst du?“, wollte Elri wissen.
„Schon möglich. Du hast so ein schönes, großes Loch in die Umfassungsmauer des Gartens der Erkenntnis gerissen und Gorm hat telepathisch alle anderen Ahriman informiert, einige waren ja schon in der Nähe. Aber auch die, die noch weit weg waren, haben wohl aufgehört für ihre Priesterherren zu arbeiten, als kein Druckmittel mehr vorhanden war.“ Tjonre fuhr mit den Fingern durch ihre schillernden Haare, während sie auf einem bequemen, halbrunden Sofa saßen.
„Und der Priester, der Gorm versklavt hat? Glaubst du Gorm hat ihn umgebracht? Dann wäre ich Schuld an seinem Tod!“ Sie riss entsetzt die Augen auf.
„Wohl kaum. Du vergisst, dass es der Mitrapriester war, der Gorm befohlen hatte Yasiwi zu töten. Granoc hat das überhaupt nicht nett gefunden. Wenn Gorm ihn nicht umgebracht hat, dann eben Granoc. Dein Eingreifen ändert da kaum etwas.“
Sie dachte darüber nach, war aber nicht wirklich überzeugt. Also änderte sie lieber das Thema. „Glaubst du Granoc und Yasiwi bleiben zusammen?“
Tjonre lachte. „Nein, ganz bestimmt nicht. Wie ich Granoc kenne, wird er den Tavernenbesitzer um einen – nach allem was Yasiwi erzählt hat – hässlichen Kopf kürzer machen oder auch den Schädel spalten, ihr ihren Besitz, den Kimral gestohlen hatte, zurückgeben und dann, dann wird er sich auf das nächste Abenteuer einlassen. Vielleicht zusammen mit Raft. Er wollte nach Westen gehen, in ein großes Königreich. Achwilonien oder so.“
„Vermisst du Raft?“
„Wo ich dich habe? Nein, Elri, nach Wägan wäre er sowieso nicht mitgekommen, du weißt wie ungern er ins Wasser gegangen ist. Und es stimmt was er sagt. Er ist ein Krieger. Er passt nicht in eine zivilisierte Welt. Granoc ist der ideale Begleiter für ihn, zumindest eine Weile. Granoc ist ein Einzelgänger. Lange wird er Raft nicht bei sich dulden.“
Elri schwieg. Sie dachte an Yasiwi. Sie hatte berufsbedingt so viele Männer kennen gelernt. Hatte sie sich wirklich nie in einen von ihnen verliebt? Konnte sie auch ohne Kimral, diesen miesen Zuhälter, weiter als Tanzmädchen arbeiten? Obwohl Elri Tjonres Begleiter – mit Ausnahme von Raft – nur ganz kurz kennen gelernt hatte, beschäftigte ihr Schicksal sie sehr. Überhaupt ließ Historia sie nicht los. Sie hatte keine Gelegenheit gehabt, sich bei ihrem Onkel Hephaistos zu verabschieden, konnte sich nicht mehr bei ihm bedanken. Und Grund dafür gab es genug. Er hatte sie nicht nur vor den anderen Göttern, sondern auch vor Reja gerettet, indem er ihr die goldene Götterrüstung gegeben hatte. Ohne sie wäre sie jetzt ein Häufchen Asche, trotz des Tricks mit ihren Haaren. Und als Häufchen Asche hätte sie wenig Gelegenheit gehabt Tjonre wiederzusehen und ihm sogar zu Hilfe zu eilen. So hatte Hephaistos also auch ihm, der das Wichtigste in ihrer kleinen Welt war, das Leben gerettet.
„Was wohl aus Reja wird?“, fragte sie versonnen.
„Sie tut dir doch nicht etwa leid? Was muss man dir eigentlich antun, damit du keine Mitgefühl für ihn oder sie empfindest?“
„Tut sie gar nicht. Du kannst mir glauben, dass ich sie nie wiedersehen möchte. Aber es interessiert mich trotzdem, was aus ihr wird. Die Götter werden sie sicherlich nicht als gleichwertig akzeptieren und Hephaistos wird früher oder später auch mitbekommen, dass sie nicht meine Freundin ist und auch niemals war. Von Historia kommt sie auch nicht mehr weg, da wir ihr Raumschiff haben. Irgendwie haben wir es gestohlen und das ist nicht gut, daran kann man nicht rütteln.“
„Stimmt schon“, meint Tjonre nachdenklich, „aber sieh es doch einmal so: mich hätten die Götter auch nie als gleichwertig akzeptiert und eigentlich ist es ja nur ein Tausch. Schließlich hat sie ja unser Schiff zerstört. Und als Ausgleich haben wir uns eben ihr Schiff genommen. Das ist doch wohl in Ordnung. Und um Reja musst du dir bestimmt keine Sorgen machen. Die kommt zurecht. Vielleicht hat sie jetzt eine Zeit in ihrem Leben wo sie nur noch ein oder zwei Menschen pro Woche umbringen kann, das wäre dann immerhin ein kleiner Fortschritt ...“ Sie schwiegen eine Weile. Dann meinte er: „Möglicherweise ist es besser, nicht so viel an die Vergangenheit zu denken, sondern lieber an unsere gemeinsame Zukunft.“ Er erzählte ihr wieder von seinem Leben auf Wägan, von seinen Eltern und Geschwistern, von denen sie noch so gut wie nichts wusste und von der neuen Farm, die er ganz gut kannte. Verglichen mit ihrer bisherigen gemeinsamen Zeit klang das alles recht ereignislos, aber ihr gefiel es.
„Wer hat eigentlich Wägan besiedelt?“, wollte Elri wissen.
„Ziemlich introvertierte Menschen, die entgegen ihrer Natur ein Gruppe bildeten, um gemeinsam der Vormundschaft und Diskriminierung durch die Extrovertierteren zu entgehen. Sie wollten ihre Ruhe an einem Ort finden, wo es nichts gibt, was in anderen Neid erwecken würde.“
„Diskriminierung? Wie meinst du das?“
„Nun, in einer normalen Gesellschaft sind alle, die etwas zu sagen haben extrovertiert: Politiker, Pädagogen und Psychologen und so. Nachdem wir Menschen so geschaffen sind, dass wir unsere eigenen Eigenschaften für besonders förderungswürdig halten kommt es ganz unbeabsichtigt zur Diskriminierung. In Schulen beispielsweise sollte eigentlich die Fachkenntnis alleine für die Beurteilung entscheidend sein und nicht etwa das Bedürfnis des Schülers, sich in der Öffentlichkeit zu produzieren. Aber so ist das meist nicht, weil die Lehrer selbst gerne im Mittelpunkt stehen und es für richtig empfinden, solche Schüler zu fördern, die ihnen da ähnlich sind. Auf Wägan hingegen entscheidet wirklich nur die Fachkenntnis.“
„Wie sieht denn die Schule bei euch aus?“
„Die meisten Kinder gehen in eine virtuelle Schule, bleiben also zu Hause und sind über Holo mit den anderen verbunden. Der Lehrer muss die ganze Klasse sehen, aber der Schüler entscheidet selbst, ob er außer dem Holo des Lehrers auch noch die von Schülern sehen will und von welchen.“
„Und du? Hast du dich für eine große Klasse entschieden?“
„Nein. Ich habe die anderen Schüler ziemlich bald ausgeblendet. Meistens zumindest. Sie sind mir bloß auf die Nerven gegangen, ich hatte ja genügend Geschwister zur Unterhaltung. Kinder haben bei uns ziemlich ausgeprägte Rechte, eben auch das Recht Einzelunterricht zu haben – virtuell zumindest.“
„Das klingt eigentlich gut“, meinte Elri, „wie weit gehen diese Rechte? Hast du ein Beispiel, das uns betreffen könnte?“
Tjonre dachte nach. „Nun, also, eine Scheidung kann nicht gegen den Willen der gemeinsamen Kinder erfolgen.“
Elri schüttelte den Kopf. „DAS kann uns nicht betreffen“, sagte sie ziemlich energisch.
Tjonre lächelte. „Das denke ich auch. Jedenfalls glaube ich, ist es gut so. Es hat sich gezeigt, dass sich Eltern oft so sehr um die Zukunft ihrer Kinder sorgen, dass sie ihre Gegenwart – die einzige Zeit, in der sie wirklich Kinder sind – völlig vergessen. Merkwürdigerweise vergessen sie dabei ihre eigene Gegenwart, ihre Wünsche, durchaus nicht. Viele Eltern sind für ihre Kinder schlechte Interessenvertreter und ein bisschen Mitspracherecht dürfen Kinder in den Belangen, die sie betreffen durchaus haben, auch wenn das die Freiheit der Erwachsenen ein wenig einschränkt. Schließlich ist die Gesellschaft ja zum Schutz der Kinder da, nur zu diesem Zweck hat sie sich - evolutionär betrachtet - entwickelt.“
„Also seid ihr auf Wägan alle Eigenbrötler?“
Tjonre verneinte. „Die Menschen haben all ihre Gene mitgenommen und deswegen hat es bald wieder Schauspieler und Mannschaftssportler gegeben und dergleichen – aber gewisse Prinzipien haben sich bis heute erhalten.“ Er lachte. „Wer etwa nach Wägan kommt, um Macht über andere auszuüben, wird sich wundern. Er wird mit Sicherheit ignoriert werden. Wer idealisiert werden will, wird scheitern. Wir haben keine Helden, keine Halbgötter oder gar Götter!“
Elri strahlte. „Eine Welt ohne Götter – wie schön“, sagte sie voller Inbrunst. „Ist es auf Wägan einfach, Kinder zu haben? Ich meine in finanzieller Hinsicht?“
„Es gibt Förderungen und auch Steuern“, erläuterte Tjonre, „je nach der Populationsentwicklung. Sie darf nicht zu groß werden.“
„Aber, wenn man zu einer günstigen Zeit Kinder bekommt, sagen wir vier, weil man es sich leisten kann ... und dann werden die Bedingungen weniger günstig, sodass man sich nur noch, hm, zwei leisten kann ... dann sind ja trotzdem noch alle vier da.“
Tjonre schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nein. Der Staat schließt bei jeder Geburt mit dem neuen Bürger einen Unterstützungsvertrag auf zwanzig Jahre ab. Die Förderung oder Besteuerung bleibt also für dieses Kind selbstverständlich zwanzig Jahre unverändert, damit das nicht passieren kann, was du dir vorgestellt hast, sonst hätte ja niemand die Sicherheit, dass seine Kinder jemals das Erwachsenenalter erreichen und wenige würden es wagen mehr als, sagen wir, ein Kind zu bekommen aus Angst zu verarmen. Ein Politiker, der dieses System nicht anerkennen wollte, würde bewusst in Kauf nehmen, dass Familien in die Schuldenfalle getrieben würden – und das ist strafbar. Er hätte auf Lebenszeit sein Recht verspielt Volksvertreter zu werden. Das ist übrigens nicht nur auf Wägan so, sondern in der ganzen Föderation.“ Elri war beruhigt.
Während ihrer Reise durch die Enigma begann sie auch wieder antike Romane zu lesen. Diesmal geriet sie an eine Geschichte, die von einem Jungen handelte, der in eine Schule für angehende Magier ging und dort gegen einen entsetzlichen Bösewicht zu kämpfen hatte. Das Ganze kam ihr sehr unrealistisch vor. Nicht wegen der Magie. Aber dass der Junge einfach in ein Geschäft gehen konnte, dort einen Zauberstab kaufte, ihn bezahlte und das war’s – damit konnte er ihn in aller Zukunft verwenden – das war unglaubwürdig. Mussten nicht horrende monatliche Grundgebühren anfallen? Und enorme weitere Abgaben, falls die Magieeinheiten bereits verbraucht waren und er trotzdem den Zauberstab weiter verwendete?
Nach etwa zwei Wochen subjektiver Zeit begann das Universum, in dem sich ihr Raumschiff befand, mit dem größeren zu verschmelzen und sie wurden im System nahe Wägan real. Das Schiff trieb auf die Landeraumstation, allgemein 'Hafen' genannt, die sich im wäganschen Orbit befand zu und Tjonre bat Irsa, sich um das Landemanöver zu kümmern. Er gab seine Identität an einen Avatar weiter, der wie alle offiziellen Avatare Wägans einen blauen Gürtel trug, sonst aber in einem für Wägan typischen Gewand steckte. Die Genehmigung auf Wägan zu landen wurde erteilt, allerdings mussten sie eine Fähre der Station nehmen.
„Jemand möchte dich sprechen“, verkündete Irsa an Tjonre gewandt und das Holo von Ferejk WeTryen, seinem ersten Ausbildner bei der Patrouille erschien.
„Commander SoErgen!“
Tjonre wollte bereits stramm stehen, als ihm einfiel, dass er nicht mehr zur Truppe gehörte. „Ich bin nur noch Zivilist“, korrigierte Tjonre.
„Sind sie sicher, dass sie uns verlassen wollen?“ WeTryen entnahm der Miene von Tjonre, dass dem so war. „Wie auch immer; melden Sie sich in den nächsten Tagen in der Kaserne, um das Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zu bestätigen. Und um Meldung zu machen, falls es etwas zu melden gibt“. Damit schien der offizielle Teil beendet zu sein, jedenfalls wurde WeTryens Gesicht deutlich freundlicher. „Wie ich gehört habe, haben sie die Farm ihres leider so früh im Dienst verstorbenen Kollegen erworben.“
Tjonre war verblüfft und auch ein wenig betroffen, für mehr reichte es nicht, er hatte Franak, den Superstar, ja nicht besonders gut leiden können, wie ja auch umgekehrt. Franak war nur seinen Fans gegenüber freundlich gewesen. „Verstorben! Das wußte ich nicht! Wie ist das geschehen? Weiß man Genaueres?“
„Nun ja, es ist kein Geheimnis. Er dürfte in eine Falle der Weltraumpiraten getappt sein. Das Ganze trägt die Handschrift einer Piratin, die sich „Prinzessin“ nennt oder die so genannt wird. In Wirklichkeit heißt sie Reja OrPhon. Möglicherweise haben sie von ihr gehört. Sie hat auch einen Stützpunkt auf Ivarn, wo sie gedient haben!“
„Oh ja! Ich habe nicht nur von ihr gehört, ich kenne das Biest sogar ziemlich gut. Sie hat uns durch das halbe Universum gejagt! Aus irgendeinem Grund hat sie gewusst oder zumindest vermutet, dass wir Agenten der Föderation sind ...“ Beide dachten an Franak und schwiegen betreten.
„Sie wissen nicht zufällig, wo sie sich jetzt aufhält?“, wollte WeTryen wissen.
„Ziemlich genau sogar. Auf einer kleinen Insel namens Lemnos; auf dem Planeten Historia!“
„Auf dem verschwundenen Planeten? Wie bedauerlich. Wir wollen diese Reja aus verständlichen Gründen unbedingt unschädlich machen. Niemand darf der Patrouille ungestraft ans Bein pissen!“
Elri, die das Gespräch mitverfolgte, wunderte sich über diese merkwürdige Floskel. Wer pinkelte einem anderen ans Bein? Und wie sollte Reja als Frau dazu in der Lage sein?
„Der Planet ist nicht mehr verschwunden!“, berichtete Tjonre stolz. „Dieses Schiff, das übrigens Reja gehörte, hat gerade den Weg von Historia hierher zurückgelegt. Also befindet sich die Enigmaadresse des Planeten im Speicher an Bord. Außerdem haben wir die Adresse auf einem Mem abgespeichert, das sich im Medaillon meiner Frau befindet.“ Er wies mit einer dramatischen und stolzen Geste auf Elri, die offenbar die Worte „meiner Frau“ betonen sollte.
„Ich wusste nicht, dass ...“, begann WeTryen. „Es ist mir eine Ehre sie kennen zu lernen Frau SoErgen“, fuhr er an Elri gewandt fort. Sie nickte ihm zu und bedankte sich.
„Wir sind noch nicht offiziell verheiratet“, ergänzte Tjonre, „Elri möchte natürlich einwandern.“
„Nun, vielleicht kann ich etwas tun, um die Formalitäten zu beschleunigen“, meinte WeTryen, „Commander ...“, er korrigierte sich, „Zivilist SoErgen, könnten sie uns bitte die Enigma-Adresse von Historia zukommen lassen?“
Tjonre wandte sich an das Lichtwesen: „Du hast gehört. Bitte veranlasse das Nötige.“
Irsa schüttelte allerdings den strahlenden Kopf. „Dafür ist dieses Schiff nicht ausgerüstet. Piraten sind mit der Weitergabe von Daten nicht allzu freigiebig.“
„Bedauerlich“, meinte WeTryen, „nun, dann werde ich Experten vorbeischicken, die den Speicher an Bord ablesen oder mitnehmen. Es ist ohnehin nötig, sich das Piratenschiff näher anzusehen.“
„Natürlich“, bestätigte Tjonre. WeTryen verabschiedete sich: „Also, noch einmal willkommen zurück auf Wägan“.
Irsa wandte sich abermals an Tjonre: „Noch jemand will dich sprechen.“ Gleich darauf erschien das Holo einer schlanken, älteren Frau mit dunklen Haaren und blauen Augen. Sie hatte mehr Falten im Gesicht als Tjonre in Erinnerung hatte. Sie lächelte warmherzig. Er grinste.
„Hi Ma!“
„Tjonre, wie schön dich zu sehen! Wie geht es dir? Ich habe gehört, dass du die vis-à-vis Farm, die den ToÖrens gehört hat, gekauft hast. Das heißt du bleibst jetzt bei uns?“
„Genau. Das habe ich vor, zusammen mit meiner Frau, Anteia.“ Er stellte sie abermals vor und würde das wohl in nächster Zeit noch oft tun dürfen. Seine Mutter begrüßte Elri überschwänglich, Elri dankte ihr und grüßte wesentlich schüchterner zurück.
„Ihr müßt uns gleich besuchen kommen und bei der Gelegenheit kannst du auch Gisjurs Frau kennen lernen.“ Gisjur war Tjonres älterer Bruder. Sein Bruder, verheiratet? Daran musste er sich erst gewöhnen.
„Oh.“
„Das heißt“, fuhr seine Mutter fort, „ich glaube, du kennst sie schon ...“
„Wirklich? Wie heißt sie denn?“
„Elvinia!“
Tjonre blieb der Mund offen stehen. „El…v…” Es schien als wäre er unfähig dieses Wort herauszuwürgen. „Aber, ... aber wollte sie nicht studieren und Karriere und so weiter ...“
„Das mit dem Studium hat wohl nicht so recht geklappt. Ich denke, sie hat sich das leichter vorgestellt als es dann war. Um ehrlich zu sein, sie ist nicht der Typ, der sich quält. Aber das habe ich nicht gesagt, also zitiere mich nicht, ich leugne alles.“
„Das ist eine ziemliche Überraschung. Zuletzt war sie die Freundin von Franak ...“
„Na ja, der ist aber fortgegangen. Dein Bruder ist hingegen dageblieben. Sie ist ein sehr praktisch veranlagtes Mädchen. Also, wann kommt ihr?“
Tjonre hatte kein so großes Interesse mehr an einem Wiedersehen wie vor dieser Enthüllung. „Ich sehe mir zuerst mit Anteia – also ich nenne sie Elri – meine Farm an, so für ein, zwei Tage, danach muss ich noch die Sache mit der Einwanderung und der Anerkennung der Ehe erledigen, aber dann komme ich gleich nach Hause. Ich freue mich schon auf unser richtiges Wiedersehen.“ Sie verabschiedeten sich.
Elri, die genau aufgepasst hatte, fragte: „Ist Elvinia das Mädchen, dessetwegen du zur Patrouille gegangen bist?“
Tjonre verzog den Mund als hätte er in etwas sehr Saures gebissen, staunte wieder einmal über ihr Einfühlungsvermögen, das an Telepathie grenzte und nickte. „Ist es schlimm für dich, dass sie deinen Bruder geheiratet hat? Liebst du sie noch?“
Ernst erwiderte er: „Galaxis! Nein. Ich liebe dich. Nur dich. Ich hätte gehofft, ihr nicht mehr begegnen zu müssen, aber nicht aus Angst, ich könne mich wieder in sie verlieben. Oh nein. Es ist völlig irrational, aber ich glaube, ich habe mehr Horror davor sie zu sehen als ich vor einem Treffen mit Reja hätte. Dabei ist sie völlig ungefährlich.“
Elri war sich da nicht so sicher. Sie vertraute Tjonre, aber dieser Elvinia sicherlich nicht. Hoffentlich war Tjonres Farm wenigstens ein bisschen kleiner als Gisjurs, dann würde sie keine Begehrlichkeiten in ihr wecken.
Tjonre nahm ihre Hand. „Komm, gehen wir.“
***
„Endlich!“. Sie blickte ihn gehetzt an, wie eine Furie, ihre blonden, langen Haare wirkten zerzaust.
„Nanu?“, antwortete er, „liebes Cousinchen, du siehst so zerrupft aus!“ Ephram konnte nicht an sich halten, er musste sie schadenfroh angrinsen. „Was ist dir denn über die Leber getrampelt? Könnte es sein, dass nicht alles nach Plan gelaufen ist?“
Reja blickte ihren Cousin wild an, natürlich war er wie immer makellos düster gekleidet und nicht eine Falte oder Saumwurf war dem Zufall überlassen. „Erspare mir bitte deinen Spott!“, spuckte sie, „sowas kann ich jetzt wirklich nicht brauchen. Du musst mich von hier abholen!“
„Wie das? Ich erinnere mich dunkel, dir ein kleines, sehr teures Schiff überlassen zu haben, dass dich nach Historia bringen sollte. Dort bist du doch, oder?“
Reja fühlte sich in der Defensive, was ihr überhaupt nicht paßte. „Ja, ich bin dort angekommen und habe deine guten Freunde, die Götter, kennen gelernt. Ein träger, eifersüchtiger Haufen, misstrauisch und wenig hilfsbereit. Stell dir vor, ein Teil davon wollte mich sogar über die Klinge springen lassen, weil diese Agenten der Föderation den Weg zu ihnen gefunden haben. Als ob ich was dafür könnte! Dabei hatte ich sogar ihr Schiff in die Luft gejagt!“
„Dann sind sie also erledigt?“
Reja schüttelte zähneknirschend den schönen Kopf. „Sie waren nicht an Bord.“
„Aber sie können jedenfalls nicht von Historia fliehen! Das ist gut. Du wirst sie schon noch erwischen. Oder hast du bereits ...?“
Reja schämte sich, ihr Versagen zu gestehen. „Dieses kleine Luder, die, die mit den Göttern verwandt ist, hat mein Schiff geklaut!“
„DEIN Schiff? Doch wohl eher meins! Wann war das?“
„Vor drei Wochen.“
„Was? Das sagst du mir erst jetzt? Mit dem Schiff haben sie nicht nur die Adressen von Historia, sondern aller bedeutender Zentren meiner Organisation! Ist dir eigentlich klar, was du für einen Schaden angerichtet hast?“
Reja wirkte jetzt beinahe kleinlaut, sicherlich zum ersten Mal in ihrem Leben. „Ich konnte nichts dafür, die Götter haben ihr geholfen, sonst wäre sie jetzt drehbuchmäßig tot! Ich bin auf einer Insel festgesessen, ohne jede Kommunikationsmöglichkeit. Erst heute ist einer der Götter zurückgekehrt und ich habe dich sofort kontaktiert. Es ist noch nicht zu spät. Unsere Datenspeicher sind gut geschützt, sie konnten die Daten nicht übertragen. Außerdem sind sie vielleicht noch im Enigma.“
„Vielleicht, vielleicht!“, äffte er sie nach, „ich hoffe für dich, dass du recht hast!“
„Sicher habe ich recht! Wann kommst du mich abholen?“, wollte sie wissen und sandte ihm einen verführerischen Blick, der aber seine Wirkung verfehlte.
„Wann? Meine liebe Cousine, ich werde sicher nicht extra deinetwegen nach Historia fliegen! Wenn ich dort geschäftlich zu tun habe.“
„Wann ist das?“
Er sinnierte kurz darüber, wie lästig seine kleine Cousine mit ihrem Machtstreben in letzter Zeit geworden war und antwortete: „Bald“, dachte aber: ‚Nie. Historia ist das ideale Endlager für sie. Dann brauche ich sie wenigstens nicht umzubringen, was mein zartes Gewissen belasten würde. Und die Götter sind nicht wichtig. Sie brauchen mich, ich sie hingegen nicht.’ „Ja Cousinchen, ich komme bald dich holen. Darauf kannst du dich verlassen!“ Dann unterbrach er die Verbindung und beauftragte seinen Avatar damit, Kontaktversuche von Seiten seiner Cousine zukünftig zu ignorieren.
***
Der kleine Gleiter blieb vor dem weißgetünchten Haupthaus des Gebäudekomplexes stehen. Von hier hatte man eine gute Sicht auf das Meer, fast wie auf Lemnos, nur war der Himmel über der See türkisblau. Die Sonne war gerade aufgegangen und eine Glutstraße zog sich auf der Meeresoberfläche bis zum Strand. Sie waren so nahe, dass sie das Rauschen der Brandung wahrnahmen und – leise noch – einen eigentümlich sehnsüchtigen, vielstimmigen Gesang der rhythmisch mit der Brandung auf- und abschwoll. Elri horchte eine Weile versonnen zu und fragte dann leise, als hätte sie Angst zu stören: „Sind das die Sirenen? Ihr Gesang ist wirklich wunderschön.“
Tjonre nickte. „Um die Mittagszeit ist er allerdings fast ein bisschen zu laut.“
Elri hatte auf der Fahrt vom Raumhafen in Neustadt nach hierher jedes Detail in sich aufgesogen, jedem merkwürdigen Gewächs ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Tjonre war in Hochstimmung, die Landschaft hatte für ihn zwar nicht den Reiz des Neuen, weckte aber Heimatgefühle in ihm. Der Ort, wo er aufgewachsen war, lag – gemessen an den Entfernungen, die sie in letzter Zeit zurückgelegt hatten – gerade einmal um die Ecke. Sie gingen zum recht geräumigen, einstöckigen Wohnhaus, das ihre gemeinsame Heimat werden sollte. Die Verandatüre war offen, ein Sonnenschutz deckte die davor liegende Fläche ab. Plötzlich blieb Elri stehen. „Nein, warte! Können wir nicht zuerst zum Meer gehen? Die Sirenen ... ich möchte ihnen näher sein. Du hast recht gehabt, sie singen sehr schön.“
Tjonre umarmte sie und küsste sie auf die Stirn, dann gingen sie eng umschlungen hinunter zum Strand. Der Weg war recht schmal, aber sie brauchten nicht viel Platz. Der Strand war feinkieselig, das Wasser ganz klar. Sie zogen ihre Sandalen aus und steckten die Zehen hinein, unmittelbar vor ihnen brachen die kleinen Wellen und warfen weiße Gischt gegen ihre Füße. Das Meer fühlte sich angenehm an, nicht zu kühl. „Sollen wir baden?“, fragte Tjonre.
„Aber wir haben keine Badesachen“, warf Elri ein.
„Brauchen wir auch nicht, hier kommt niemand vorbei.“
Sie lächelte verführerisch. „Na dann ...“ Sie hob die Arme und Tjonre zog ihr das Kleid über die Schultern und warf es nach hinten. Sein Shirt und die kurze Hose folgten, während Elri ihrem Slip Flugunterricht gab. Dann legte er ihren Arm um seine Schultern und hob sie an den Beinen hoch, mit denen sie ein bisschen herum zappelte, während sie lachte. Tjonre lief auf das Meer zu, bis das Wasser tief genug war, dann drehte er sich um und ließ sich auf den Rücken fallen. Beide tauchten unter und dann prustend und lachend wieder auf.
„Du hast hoffentlich keine Angst vor Wasser. Der See auf Ivarn ...“
„Das Meer auf Historia“, ergänzte sie, „das Mittelmeer. Ich bin dort nie schwimmen gegangen. Merkwürdig. Wahrscheinlich hat jemand gefehlt, der mich hineingeworfen hat. Ja, das muss es sein.“
„Also bin ich dir tatsächlich abgegangen?“, wollte Tjonre wissen.
„Natürlich, aber nicht nur deswegen.“
„Weshalb denn noch?“
Sie blickte ihn kokett an und schwamm näher. „Mal sehen, ob wir das gemeinsam herausfinden ...“ Dann schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich und ausdauernd. Er streichelte sanft ihre nackte Haut und aus dem Flämmchen der Leidenschaft wurde bald ein ausgewachsener Flächenbrand, die Küsse und andere Liebkosungen immer fordernder, ja beinahe gierig. Nach einer unbestimmten Zeit fanden sie sich immer noch glühend vor Liebe auf einem der abgeschliffenen Strandfelsen, die einen dunklen, moosartigen Bewuchs trugen, wo sich ihre Körper unbewusst im Einklang mit dem Rhythmus der Wellen und dem des Sirenengesangs bewegten.
Später lagen sie erschöpft und glücklich beieinander, Tjonre am Rücken und Elri seitlich neben ihm. Er fühlte mit Erstaunen und fast Ehrfurcht ihren schmalen und beinahe zerbrechlich wirkenden Körper. Der Mittelfinger von Tjonres rechter Hand folgte schwebend den Konturen ihres Rückgrats, von ganz unten langsam immer weiter hinauf, über die Lendenregion und den Brustkorbbereich bis zum Hals; da stutzte er plötzlich und verharrte.
„Was ist, warum hörst du auf? Das ist angenehm!“, protestierte sie. Sie blickte auf und erkannte, dass er sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
„Dein Medaillon!“, krächzte er, „es ist weg!“
Sie griff an ihren Hals. „Stimmt“, bestätigte sie, ruhiger als er, „das muss vorher im Meer passiert sein. Wir waren da ein wenig ungestüm. Liebe im Meer und am Strand macht eben noch viel mehr Spaß als in einem Raumschiff“, brachte sie zu ihrer beider Verteidigung vor.
„Verdammt, du hast recht, aber ich muss danach tauchen!“ Er wollte aufstehen und ins Wasser springen, als schlagartig ein eiskalter böiger Wind ihre Haut malträtierte, der sich binnen Kurzem zu einem gewaltigen Sturm auswuchs. Die Wellen waren jetzt nicht mehr friedlich, wie Gischtgeister stiegen sie mannshoch empor. Elris Kleid wurde erfasst und flog davon, sie quietschte und Tjonre hastete ihm, das sich wie ein Segel bauschte, nach. Seine Hose und sein Shirt schwammen inzwischen weit draußen im Meer. Tjonre lief zurück und überbrüllte den Sturm: „Wir müssen zum Haus!“ Elri umklammerte das Kleid, dann liefen sie den Strand hinauf und so schnell sie konnten durch die Verandatüre in die Sicherheit ihres Heims.
***
Ephram OrPhon saß bequem auf dem hellen Sofa äußerlich völlig ungerührt während in seinem Inneren ein Sturm tobte, als das Lichtwesen Irsa sich in einiger Entfernung materialisierte. Er kniff die Augen ein wenig zu, weil ihn die gleißende Erscheinung etwas blendete. „Mein Herr, du wolltest mich sprechen?“
Ephram nickte. „Wo bist du jetzt?“
„Im Orbit von Wägan, einer Welt der Föderation.“
Einer ziemlich unbedeutenden, wie Ephram wusste. Es gab dort niemand, der für ihn arbeitete, niemand, den es lohnte zu bestechen oder ihm Furcht einzujagen. Vielleicht der langweiligste Planet des Universums. „Reja ist nicht mehr an Bord?“ Ganz traute er seinem Cousinchen nicht; eigentlich überhaupt nicht.
„Das stimmt. Sie ist auf der Insel Lemnos auf Historia aus- und danach nicht mehr eingestiegen.“ Irsa verstummte.
Nach einer Weile hakte Ephram nach. „Und weiter?“ Er musste unbedingt das Gesprächigkeitsmodul ein wenig nachbessern.
„Ein weiblicher Mensch, der den Ringschlüssel trug, kam an Bord.“
„Eine Frau mit schillernden Haaren?“
„Ja.“
„Sonst noch jemand?“
„Später ist noch ein Mann zugestiegen, der offenbar auf Wägan zu Hause ist.“
„Sind die beiden an Bord? Oder sonst jemand?“
„Nein, nicht mehr. Sie sind vor mehreren Stunden mit einer Fähre in Richtung Planet aufgebrochen. Sonst ist zwar niemand hier, aber wie ich einem Gespräch entnommen habe, sollen demnächst Experten der Föderation kommen, die sich den Koordinatenspeicher ansehen beziehungsweise den Inhalt aneignen wollen.“
„Das darf unter keinen Umständen geschehen!“, antwortete Ephram ärgerlich, „Irsa, du kommst sofort nach Ivarn zurück!“
Irsa schüttelte langsam den Kopf. „Es tut mir leid, das ist nicht möglich. Die Raumstation, an der ich angekoppelt bin, hat die Kontrolle der diesbezüglichen Funktionen übernommen.“
Ephram fluchte leidenschaftlich. Ihm war klar, dass er sein kleines, wehrhaftes Schiff verloren hatte. Schlimm genug, dass es in die Hände der Föderation gefallen war. Auf keinen Fall aber durften sie des Gedächtnisses von Irsa habhaft werden. „Aber die Station hat doch sicherlich nicht die Möglichkeit, Zugriff auf deinen Speicher zu nehmen? Du musst den gesamten Inhalt so löschen, dass er nicht rekonstruiert werden kann! Vor allem die Enigma – Adressen müssen alle weg!“
„Bei meinem Speicher ist für diesen Zweck eine kleine Sprengkapsel installiert. Soll ich sie zünden?“
Ephram nickte. Es war nötig. Sein ganzes Imperium war in Gefahr. „Ja, tu das.“ Wehmütig dachte er, dass er sich nun wenigstens das Nachbessern von Irsas Kommunikationsmodul ersparte.
Viele Lichtjahre entfernt gab es eine kleine, unspektakuläre Detonation, die von der Raumstation registriert wurde. Die Station gab sofort Meldung an die Föderation, sodass wenige Sekunden nach dem Ereignis Ausbildner WeTryen Bescheid wusste.
***
Ferejk WeTryen zögerte nicht lange. Tjonre war gerade erst der Dusche entstiegen, als der Avatar des Hauses den Ausbildner meldete. Zum Glück hatte Tjonre bereits von der Fähre aus veranlasst, dass wägantypische Kleidung angeschafft wurde. Er trocknete sich die Haare, zog sich die Tunika über und band die breite Schärpe, dann war er bereit. WeTryens Holo erschien.
„Nanu, Ausbildner? So rasch hatte ich gar nicht gehofft sie wiederzusehen.“ Tjonre lächelte breit, WeTryen hingegen blickte äußerst unzufrieden. „Haben ihre Experten die Daten erhalten?“
„Leider“, antwortete WeTryen, „ist etwas passiert, bevor die beiden Expertinnen die Station erreichen konnten. Es hat eine Explosion an Bord des Schiffes der Piratin gegeben!“
„Oh. Das bedeutet, dass Reja von Lemnos entkommen konnte. Aber nicht unbedingt auch von Historia.“ Tjonre sagte das etwas lauter, damit Elri, die gerade den Raum betreten hatte, ihn sicher verstehen konnte. Sie nickte.
„Mittlerweile haben meine Kolleginnen das Schiff betreten. Sie konnten aber nur noch die vollständige Zerstörung aller Speicherblöcke feststellen. Damit sind alle Daten und bedauerlicherweise auch die Adressen verloren. Das ist sehr bitter für uns. Wären wir auch nur etwas rascher gewesen, hätten wir den Piratenring vielleicht sogar zerschlagen können.“ Er seufzte. „Ich darf gar nicht daran denken.“
Tjonres Mitleid und Interesse hielt sich in Grenzen. „Und wie können wir ihnen jetzt noch helfen?“
„Noch ist nicht alles verloren! Noch können wir wenigstens Reja schnappen, wenn wir die Enigma-Adresse von Historia bekommen. Sie sagten doch Ihre Frau hätte eine geschützte Kopie dieser Adresse?“
Tjonre räusperte sich. „Äh, also im Prinzip ist das richtig. Ihr Medaillon enthält ein Mem des Wegs nach Historia.“
„Sehr gut! Ich schicke jemanden, der es abholt!“
„Leider ...“, Tjonre zögerte, „gibt es da ein Problem. Wir haben das Medaillon beim äh ...“
„Schwimmen ...“, fiel Elri ein,
„verloren“, vervollständigte Tjonre den Satz.
„Wissen sie wo ungefähr?“, wollte WeTryen wissen.
„Ja doch, ziemlich genau“, meinte Elri.
„Dann dürfte das kein Problem sein. Ich schicke ein Taucherteam mit Metalldetektoren vorbei.“ Das Bild von WeTryen wurde fahl, er verschwand grußlos, mehr ließ sein frustrierter Zustand nicht zu.
„Siehst du, du hättest wegen des Verlustes nicht so zerknirscht sein müssen, sie werden es sicherlich finden.“ Elri blickte ihn fröhlich an.
„Ja, aber nur, um es dir gleich wieder weg zu nehmen“, ergänzte Tjonre mit düsterer Miene.
Um ihn etwas aufzuheitern sagte sie sanft: „Tjonre, Liebling, das Medaillon ist nicht mehr wichtig. Ich habe jetzt so viel, dass ich mich nicht mehr an eine kleine Kette mit Anhänger klammern muss. Dank dir.“ Er nahm sie glücklich in die Arme und sie kuschelte sich eng an ihn.
Wenig später kam das Taucherteam. Sie fanden so viel Altmetall, dass ein Schrotthändler sicherlich glücklich geworden wäre. Nur eins fanden sie nicht: das Medaillon. Sie suchten zehn Tage lang, dann zogen sie ab und ließen ein glückliches Paar zurück, das jetzt ungestört die wunderschönen Sonnenaufgänge genießen konnte.
***
Epilog: achtzehn Jahre später
Der Junge saß zusammengekrümmt neben dem kleinen Gezeitentümpel und spähte unverwandt hinein, beobachtete das Leben in all der Vielfalt, die selbst im Kleinen herrscht. Nahe der Oberfläche spielten ein paar garnelenartige Tiere das Spiel von Leben und Tod, von Leben und Liebe, von Liebe und Tod – so wie es ihre Vorfahren vor achtundzwanzig Jahren getan hatten, als ein anderer junger Mann ins Meer geblickt und eine folgenschwere Entscheidung getroffen hatte. Letztlich verdankte er dieser Entscheidung sein Leben. Der Tümpel befand sich nicht weit entfernt von einem abgeschliffenen Strandfelsen mit dunklem, moosartigem Bewuchs, auf dem der Jüngling vor etwa achtzehn Jahren gezeugt worden war – aber das wusste er nicht und, selbst wenn er es geahnt hätte, war er doch nicht in der Stimmung, darüber nachzudenken. Denn er haderte mit seinem Schicksal, das ihn hier auf diese kleine Insel verbannte, auf der er immerfort den gleichen Alltag ertragen musste, während über ihm das Firmament und damit das ganze Universum wartete. Zahllose Welten, bekannte, wie auch der Menschheit noch unbekannte, die es für ihn und alle Menschen zu entdecken galt, die Abwechslung und Abenteuer verhießen und ihn von der Öde des Tagesablauf-Eintopfs befreien mochten.
Seine Mutter, die schöne Anteia und sein Vater, der alte Tjonre, erzählten gelegentlich von ihren Erlebnissen und ihre Wangen glühten dabei und ihre Augen leuchteten, denn es war die Zeit, in der sie einander kennen gelernt hatten, ein Lebensabschnitt, der sich wie kein anderer in ihre Erinnerung festgesetzt hatte. Und es nützte gar nichts, dass sie nachher beteuerten, dass es hier auf Wägan doch viel schöner, ruhiger und sicherer wäre. Er wollte keine Sicherheit und Ruhe, er war doch nicht tot! Die Sehnsucht nach der Ferne war erwacht, die Phantasie wurde mit jedem ihrer Worte genährt. Doch die Realität war stärker. Er sah keine Möglichkeit von hier fortzukommen, denn – das spürte er – die Patrouille war für ihn keine Alternative, nach allem, was ihm sein Vater über sie erzählt hatte. Er würde hier bleiben bei den Sirenen, für immer. Und das, obwohl er für diese Welt nicht geschaffen war. Seine Schwimmhäute waren klein und sein Tauchvermögen für einen Wäganer geradezu lächerlich. Er seufzte und schüttelte den blondgelockten Kopf wobei ein silberner Schimmer um seine Haare floss.
Tief im Inneren des Tümpels begann eine einzelne Sirene ein klagendes Lied anzustimmen – weinte sie, die fest am Felsen verankert war, ob ihrer Einsamkeit? Da näherte sich aus dem Himmel ein handtellergroßes Wesen und faltete die zarten Flügel zusammen, bevor es durch die Wasseroberfläche stieß. Kurz blickte es sich mit seinen großen Komplexaugen um und breitete die flossenartigen Gliedmaßen aus, mit deren Hilfe es zügig nach unten tauchte. Die Sirene spürte das und ihr Gesang wurde rascher, aufgeregter – fast ein Zirpen. Das Tier fand den Nektar der Sängerin, trank ihn gierig und bestäubte dabei die korallenartig verzweigte Kreatur.
Der Junge war so vertieft in die Betrachtung des Geschehens, dass er beinahe das Blinken im Hintergrund übersehen hätte. War da etwas? Tatsächlich, zwischen zwei Felsen schimmerte es. Er ließ sich vorsichtig ins Wasser gleiten, ohne sich seiner Kleidung zu entledigen, tauchte ein wenig hinab und ergriff den Gegenstand. Dann kletterte er nach draußen, nahm seine vorherige, hockende Position wieder ein und betrachtete seinen Fund eingehend. Es war ein Kettchen, an dem ein muschelförmiger Anhänger hing, der über und über mit den Skeletten kleiner, festgewachsener Meerestiere bedeckt war. Nur an einer Stelle, wo kein Aufwuchs vorhanden war, leuchtete es golden. Er ahnte sofort, was er gefunden hatte. Er versuchte das Medaillon zu öffnen und schon nach kurzer Zeit gelang es ihm. Innen war es erstaunlicher Weise trocken geblieben. Über all die Jahre. Er blickte in zwei Gesichter, in die seiner Großmutter und seines Großvaters, die vor vielen Jahren auf grausame Weise ermordet worden waren. Es war ein erstaunlicher Fund und Freude erfüllte ihn. Sein erster Impuls war, voll Begeisterung zu seiner Mutter zu laufen und ihr das Medaillon zu zeigen. Aber dann wurde ihm klar, dass er ihr nie davon erzählen würde, weil er ein unermessliches Geheimnis in seinen Händen hielt. Er allein, nur er als Einziger in der gesamten Föderation hatte den Schlüssel zu einem ganzen Planeten in der Hand, dem sagenhaften Historia! Und mehr noch. Er wusste in dem Augenblick, dass er diesen Besitz irgendwie nutzen würde, um seine Träume wahr werden zu lassen. Das Medaillon würde ihm den Weg in die Galaxis öffnen.

Mehr ...

 

Lies bitte weiter! Von Jan Palisa sind bislang folgende Titel auf BookRix erschienen:

 

 

 

Tochter der Titanin I:

   Die Sklavin

   Die Göttin

 

Tochter der Titanin II:

   Intermezzo: Die Rache des Heilers

   Rückkehr nach Historia

 

Tochter der Titanin III (finale Version):

   Die Büchse der Pandora

 

 

Alle Bände sind auch als Taschenbuch (neobooks, epubli) erhältlich.

 

 

 

Fragmente

   Der Schatten der Zeit

   Alitha

   Das Nebelmonster

Impressum

Texte: Jan Palisa
Bildmaterialien: Armin Tiefenbrunner
Lektorat: Astrid Tiefenbrunner
Tag der Veröffentlichung: 01.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinen Lesern gewidmet

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