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ErinnerungsVermögen

Zuweilen spüre ich noch deine Arme,
wie sie sich zärtlich um die Taille schlangen.
Dein Barthaar kratzte frech an meinen Wangen;
die Finger glitten hauchzart über warme
und wollüstig erschauernde Regionen.
Wenn wir uns für ein paar Minuten trennten,
strich Kühle um entzweite Körperzonen.
Noch immer zehre ich von den Momenten,
die sich in meine tiefsten Schichten stanzten
und unvergängliches Entbehren pflanzten.


Schritt.weise


Du lehrtest mich geduldig erste Schritte.
Wie oft ging ich als Kind an deiner Hand!
Du schienst so stark wie das, was uns verband.
Ich fand mich ohne Zweifel in der Mitte.

Jahrzehnte sind seit jener Zeit verstrichen.
Ich glaubte Dich für immer unversehrt.
Urplötzlich sind die Rollen umgekehrt:
Mit einem Schlag ist deine Kraft gewichen.

Nun setzt du mühsam Schritt um Schritt wie einst,
doch bist du nicht so hilflos, wie du meinst:
Jetzt reiche ich dir stützend meine Hand,

die zuverlässig stets die deine fand.
In meinem Kopf jedoch klingt eine Weise:
Das Leben tanzt mit sich und uns im Kreise.


Aufbrechen


Durchs Flügelfenster weht ein Frühlingshauch;
die Sonne zaubert Kringel an die Wand,
es brechen Knospen auf, die Amsel singt.
Wie traurig dieses schöne Lied mir klingt:
Erschlafft liegt deine Hand in meiner Hand.
Dein Herz und Deine Augen brachen auch.





Scheinbar

Aus deinem Fenster fällt ein mattes Licht
auf jenen Weg, den ich oft gehe.
Es scheint mir manchmal so, als sähe
ich schemenhaft verschwommen dein Gesicht.

Mir ist, als winktest du wie einst mir zu,
und fast bin ich geneigt, zu warten,
bis hinter dünnem Stoff die zarten
Konturen mir verraten, dort stehst du.


Längst verziehen

Wohl könnte ich aus tiefsten Gründen hassen,
wenn ich mich lang genug darum bemühte,
denn das, was ich seit Jahren herzlich hüte,
mag zweifellos ins untre Schubfach passen.

Ich würde deiner voller Hohn gedenken,
nur Schlechtes blieb zurück aus jenen Zeiten,
und nichts und niemand könnte mich verleiten,
auch nur das kleinste Lächeln dir zu schenken.

Doch warst auch du, genau wie ich, zerrissen,
man hat um Kostbarkeiten dich betrogen,
und du hast dich verloren zwischen Fronten.

Ich hab dir längst verziehn mit diesem Wissen,
man hat auch dich verraten und belogen.
Was traurig macht: Dass wir nicht anders konnten.


Koma

Schwer lastet
Ungesagtes im Raum
bricht sich in Tränen Bahn
fast schon kalt dein Leib
die Abstände werden größer

zwischen den Welten
atmest du deine Erinnerungen

aus.


Heimgang


Du schienst unendlich weit entfernt;
war es schon Mündung, war es Quelle?
Der Leib so welk, der Sinn entkernt,
umnachtet selbst bei Tageshelle,

ein Unverwandt-ins-Leere-starren,
ganz selten dämmerte Erkennen,
ein Immerfort-im-Traum-verharren,
vertraute Namen flüsternd nennen.

Man sagte mir, du riefst auch meinen.
Ich sollte dankbar sein - nicht weinen.


Namenlos


Dein Herzschlag war Musik in meinen Ohren.
Zwei Tage später hieß es: „Tut uns leid!“
Du hattest deinen festen Halt verloren,
wir hatten für den Abschied wenig Zeit

Sie zwangen uns, einander los zu lassen.
Für einen Lidschlag konnte ich dich sehen:
Sah Äuglein, Beine, Arme, kleine Zehen.
Schon kamen fremde Hände, dich zu fassen.

Man nahm dich mit. Sie nennen das Entsorgen.
Die beiden längst vergilbten Babyschuhe
verwahre ich in einer alten Truhe.
Und tief, ganz tief in mir, bist du geborgen.


Was nie verjährt


Der Humus haftet an den Händen
wie Worte, die wir niemals sprachen,
Versprechen, die wir meistens brachen,
im Hirn. Ich kann es drehn und wenden,

es wird erst enden zu der Zeit,
da ich in dieser schweren Erde
- genau wie du - vermodern werde.
Dann ruht es für die Ewigkeit.

Ich pflanze dir Vergissmeinnicht;
im Lampenglas bricht sich das Licht.
Die Amsel singt dein Lieblingslied,

als ob sie wüsste, einer schied,
der Vögel liebte, Menschen mied.
Das nie Gesagte hat Gewicht.


Wildwechsel

Fast märchenhaft erschien mir jener Morgen,
als erste Strahlen durch den Nebel drangen
und aus dem Dickicht lautlos Rehe sprangen.
Ganz grundlos machte ich - nur kurz - mir Sorgen.

Der zarte Schleier hob sich für Sekunden,
und Sonnenlicht durchbrach die Nebelmauer.
Für eines Atemzuges kurze Dauer
empfand ich mich dem Leben tief verbunden.

Ich kehrte um, die Angst war längst gewichen,
zu schön der Tag, um Zweifeln nachzuhängen.
Und dennoch: Etwas schien mich heim zu drängen.

Die Nachricht sprach mir Mutter auf das Band:
Ein Schluchzen, Weinen und ganz leis dazwischen,
dass sie den Vater tot am Boden fand.


Impressum

Texte: Janna Ney
Bildmaterialien: Janna Ney
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Am Ende müssen wir Abschied von uns selbst nehmen.

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