Mein Name ist Melissa.
Es war ein sonniger Tag im August, als ich das Licht der Welt erblickte. Gut, Licht ist hier vielleicht das falsche Wort, denn genau genommen gab es da überhaupt kein Licht. Und wenn man es so will, war es auch gar kein Tag mehr, sondern bereits Nacht, aber es klingt so einfach schöner. Was hätte ich denn sonst sagen sollen? „Es war eine ziemlich schwüle Nacht, als meine Mum mich den Dreck der Welt erblicken ließ“? Wirklich nett klingt das nicht gerade. Allerdings muss ich zugeben, dass es der Wahrheit entspricht.
Meine Mutter war eine der wenigen glücklichen Frauen, die zweimal kurz pressten und Vóila, das Kind ist da. Leider hatten die Wehen gerade angefangen, als sie draussen nach unserem Hund gesehen hatte und so war ich auf der Wiese unseres Gartens zur Welt gekommen. Mein Vater hatte sie so schnell weder nach drinnen, geschweige denn ins Krankenhaus bringen können.
Anfangs hatten beide total panisch reagiert, zumindest erzählten sie mir das später so. Naja, immerhin saß Mum ja auch im Garten auf dem Boden, mit einem Neugeborenen zwischen ihren Beinen, einem schwanzwedelndem Hund neben ihr und einem völlig hilflosen Ehemann, der sogar vergessen hatte, wie die Nummer für den Notarzt lautete und der wie ein aufgeschrecktes Huhn um sie herum rannte.
Nachdem meine Mutter und ich später im Krankenhaus jedoch untersucht worden waren und der Arzt erklärte, dass es uns beiden so gut ging, wie es nur möglich war, waren meine Eltern sehr erleichtert. Sie waren nun der festen Überzeugung, dass meine frühe Konfrontation mit der Natur mich von Geburt an gestärkt hatte. Man sagt ja, dass Kinder ein schwächeres Imunsystem bekamen, wenn sie immer von Keimen ferngehalten werden, daher sagte Mum ich hätte eigentlich nur noch gesünder werden können, wenn ich in einen Haufen Kuhdung gefallen wäre. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie glücklich ich danach über meine Wiese war.
Mein Vater machte immer gerne Scherze darüber, dass ich sicher den grünen Daumen haben würde, wenn ich erstmal älter war, denn immerhin war mir die Natur regelrecht in die Wiege gelegt worden. Zu seiner eigenen Verwunderung behielt er damit sogar recht.
Sobald ich alt genug war um eine Schaufel und eine Gießkanne zu halten, entwickelte ich ein erstaunliches Talent im Umgang mit Pflanzen. Zunächst half ich als kleines Kind meiner Mum dabei Unkraut zu zupfen oder Blumensamen auszustreuen, doch bald schon legte ich meine eigenen kleinen Blumenbeete an und sie waren die Prächtigsten der ganzen Nachbarschaft.
Über die Jahre hinweg wurde unser Garten zu einem regelrechten Paradies, das viele neidische Blicke von Passanten auf sich zog. Das ganze Jahr hinüber blühte es bei uns. Die Blumen, die ich gepflanzt hatte, erblühten früher und länger als üblich, sie trugen farbenprächtigere oder größere Blüten und mit meinen Rosenbüschen hätte ich der Herzkönigin aus ‚Alice im Wunderland‘ noch Konkurrenz machen können.
So kam es nun eines Tages, dass ein Brief bei uns ankam. Scheinbar hatte sich die Pracht unseres Gartens herumgesprochen, denn der Brief stammte von einer alten Lady, die gut eine halbe Stunde mit dem Fahrrad entfernt wohnte und ich bezweifelte sehr stark, dass eine Frau in ihrem Alter in unserer Gegend spazieren ging. Es war nicht unbedingt der schönste Teil der Stadt, abgesehen von den paar Quadratmetern Grün hinter unserem Haus.
Die Dame hieß Madame Clarice Monét, doch ich nannte sie später eigentlich immer nur noch Tante Clary. Sie war Französin und aus sehr gutem Hause. Genauso wie man sich eine edle Lady vorstellte. Ein bißchen erinnerte sie mich auch an Julie Andrews. Mary Poppins in grau und ein wenig faltig, aber sehr adrett und charmant.
Tante Clary lebte schon seit einigen Jahren alleine in einem großen Haus, zudem ein noch größerer Garten gehörte. Sie hatte mir in ihrem Brief geschrieben, dass sie gerne meine Hilfe für den Garten hätte. Als ich das erste Mal zu ihr kam, erklärte sie mir, dass ihr verstorbener Mann sich immer um alles gekümmert hatte und sie alleine nun in ihrem hohen Alter einfach nicht mehr damit fertig wurde. Mit Begeisterung willigte ich dazu ein, ihr bei der Pflege des Gartens zu helfen, denn solche Arbeit machte mir nunmal Spaß und außerdem würde ich mir so mein Taschengeld ein wenig aufbessern können.
Das Beste an der Sache aber war, dass sie mir völlig freie Hand ließ. Ich durfte den Garten gestalten wie ich wollte. Ihre einzige Bedingung war, dass er zum Haus passen sollte. Nun, ich hatte ohnehin nicht vorgehabt plötzlich einen Zen-Steingarten anzulegen oder Palmen zu pflanzen, also war das keine wirkliche Einschränkung für mich.
Es gab nur ein winzig kleines Problem.
Wie gesagt war Monsieur Monét bereits seit einigen Jahren tot und Tante Clary nicht erst seit gestern in die Jahre gekommen. Der Garten war überwuchert mit Unkraut und Efeu und das Gras stand beinahe kniehoch an manchen Stellen.
Aber bisher hatte es noch keinen Urwald gegeben, den ich nicht hatte bändigen können! Bewaffnet mit Schere und Rasenmäher machte ich mich selbstsicher an die Arbeit. Ich kürzte den Rasen, zupfte das Unkraut, stutzte die Büsche und räumte herumliegende Steine und Äste weg. Das alleine kostete mich zwei Tage und auch wenn die Arbeit anstrengend war, machte ich sie gerne. Vor allem weil Tante Clary mich mit Wassermelone und Limonade versorgte, wann immer ich eine kleine Pause einlegte. Die Limonade hatte sie sogar selber gemacht, weswegen sie gleich noch viel besser schmeckte. Kaum noch jemand machte heutzutage Limonade selbst, zumindest keiner, den ich kannte. Eigentlich eine Schande.
Am Ende des zweiten Tages konnte man die Grünfläche hinter dem großen Haus endlich wieder als Garten erkennen und ich war bis hierhin schonmal sehr stolz auf meine Arbeit, auch wenn noch nichts gepflanzt worden war. Ich saß auf einem Rattanstuhl auf der Terrasse und genoß meine kühle Limo, während Tante Clary drinnen eine Kleinigkeit zum Abendessen kochte. Sie bestand darauf, dass ich wenigstens einen Happen zu mir nahm, bevor ich die halbe Stunde auf dem Fahrrad zurück nach Hause fuhr. Sicher hatte sie Angst ich würde umkippen oder so. Dabei war mir sowas noch nie im Leben passiert.
Für einen Moment schloss ich meine Augen, um die letzten Sonnenstrahlen zu genießen, als ich die leise Melodie des Windes hörte, der durch die Bäume neben dem Haus pfiff. Ein wundervoll natürlicher Klang. Und dennoch wurde ich stutzig. Wenn man so oft draussen war wie ich, dann kannte man die wenigen Klänge der Natur, die man in einer Großstadt hören konnte. Es waren wunderschöne Töne, wenn man sich nur auf sie konzentrieren und den Autolärm im Kopf ausschalten konnte. Doch das was ich gerade hörte, klang ZU natürlich. Ein solches Windspiel erwartete man im tiefsten Wald oder auf einem einsamen Berg, jedoch nicht im Garten einer alten Lady, die nahe an der Hauptstraße wohnte.
Verwirrt erhob ich mich aus meinem Stuhl und ging ein paar Schritte auf den Rasen zu. Der Wind fühlte sich nicht einmal stark genug an, um so deutlich hörbar zu sein. Was war hier nur los? Selbst die Blätter der Bäume wippten nur ganz sanft hin und her und doch hörte ich die Melodie ganz klar. Es klang wie ein komplettes Orchester, das nur aus Blumen, Gräsern, Bäumen und Büschen bestand und der Wind war sein Dirigent. Keine Philharmonie der Welt würde solche Töne erschaffen können. Es war das Lied von Mutter Natur.
Ich spürte ganz genau, wie sich ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete und ich langsam begann mich zu bewegen. Was genau ich tat, das wusste ich in dem Moment nicht, aber ich wusste, dass es richtig war. Eine leichte Drehung, ein Schritt nach rechts, die Arme ausbreiten und wieder drehen. Wie ein Tanz und der Wind zeigte mir, wie ich mich bewegen musste. Der kleinste Hauch reichte und ich änderte meine Haltung, als wenn ich einen unsichtbaren Tanzpartner hätte, der mich über das Parkett eines Ballsaals führte.
Vor meinem inneren Auge entstand langsam ein Bild. Ein prachtvoller, edler Garten mit gepflegten Rasenflächen, Bögen aus Rosenbüschen, kleinen, runden Blumenbeeten und einem zierlichen Springbrunnen. Ich befand mich genau im Zentrum dieses Gartens auf der Wiese und um mich herum tanzten Glühwürmchen im Wind. Sie bewegten sich im Takt dieser wunderbaren Melodie, die noch immer an meine Ohren klang und es schien als würden sie mich langsam mit sich ziehen. Noch immer bestimmte der Wind meine Bewegungen, doch die Glühwürmchen flogen mir voraus und auf einmal befand sich vor mir der prachtvollste Baum, den ich jemals gesehen habe.
Die Musik verstarb.
Ich blinzelte verwirrt, als mir langsam bewusst wurde, dass ich nicht mehr tanzte und es um mich herum still war. Still, bis auf Tante Clary, die von drinnen nach mir rief, damit ich zum Essen kam. Meine Füße wollten sich jedoch noch nicht bewegen. Sie zwangen mich stehen zu bleiben und auf den Baumstumpf herunter zu blicken, der sich vor mir befand. Eine tiefe Traurigkeit überkam mich beim Anblick des toten Holzes. Eben noch hatte dort ein solch wunderschöner Baum gestanden. Einer von denen, unter die man sich sofort mit einer Decke setzen wollte, um in ihrem Schatten ein gutes Buch zu lesen und sich am schönen Wetter zu erfreuen. Jetzt konnten nicht einmal mehr Vögel oder Eichhörnchen sich auf ihm einnisten.
Tante Clary rief erneut nach mir und diesmal drehte ich mich um und lief zurück zum Haus. Eine Gänsehaut überzog meine Arme, doch ich wusste nicht, woher sie kam. Es war doch gar nicht so kalt gewesen.
„Süß hast du getanzt da draussen“, sagte Tante Clary, als ich die Küche betrat. Das sanfte Lächeln auf ihren Lippen wurde nur noch größer, als sie die aufkommende Röte auf meinen Wangen bemerkte.
„Oh entschuldige Liebes, ich wollte dich nicht beobachten, aber ich konnte einfach nicht wegsehen. Du hast ausgesehen wie eine kleine Elfe“ Sie stellte einen Teller vor mir ab. Crêpes Suzette. Eigentlich war das nichts, was ein junges Mädchen zu Abend essen sollte, doch sie wusste von unseren Gesprächen ganz genau, wie gerne ich Süßspeisen aß und für französische Crêpes hatte ich eine ganz besondere Schwäche. Ausserdem würde ich später mit Mum und Dad ja noch etwas Richtiges essen.
„Das stimmt doch gar nicht“, verteidigte ich mich kleinlaut. Es war ja schon peinlich genug, dass sie mich beim Tanzen gesehen hatte, aber mich dann auch noch mit einer Elfe zu vergleichen, trieb mir erst recht die Schamesröte ins Gesicht.
„Und überhaupt. Woher willst du denn wissen, wie Elfen tanzen, Tante Clary? Ich dachte die fliegen nur.“
Tante Clary lachte und ihr Gesicht wurde noch faltiger als sonst. Sie musste schon immer ein sehr fröhlicher Mensch gewesen sein, denn die meisten Falten auf ihrem Gesicht kamen ganz offensichtlich vom Lachen.
„Nun, ma petite fleur...“ Sie nannte mich gerne ihre ‚kleine Blume‘. „Das ist doch sonnenklar. Ich habe sie tanzen sehen. Mit meinen eigenen Augen.“
„Aber das ist doch gar nicht möglich!“, erwiderte ich ein wenig trotzig, „Es gibt gar keine Elfen.“
Tante Clary schien darüber äußerst amüsiert zu sein. „Und das willst du mir weismachen, nachdem du selbst wie eine getanzt hast? Natürlich gibt es Elfen. Sie kümmern sich darum, dass alles wächst und gedeiht. Ein bißchen so wie du, wenn du dich um meinen Garten kümmerst. Wer weiss, vielleicht bist du ja in Wirklichkeit eine kleine Elfe?“
„Das wüßte ich“ Prompt kam mir der Gedanke von meinem Vater in grünen Strumpfhosen und mit Flügeln auf seinem Rücken. Nein, eine Elfe konnte ich ganz sicherlich nicht sein. Paps hatte eigentlich immer nur seine alten Lieblingsjeans an und Mum hatte Höhenangst, also fielen Flügel bei ihr auch schonmal weg.
Später Zuhause fragte ich meine Eltern, ob wir vielleicht eine Elfe in der Familie haben könnten. Die beiden lachten daraufhin nur und Paps meinte, dass wir seines Wissens nach nicht mit einem Elf verwandt waren. Allerdings hatte Großonkel Jürgen ziemliche Ähnlichkeit mit einem Hobbit. Zumindest was die beharrten Füße anging.
Die nächsten fünf Tage verbrachte ich Zuhause in unserem eigenen Garten, denn in der Woche hatte ich Schule und nach den Hausaufgaben blieb keine Zeit mehr, den langen Weg zu Tante Clary hin- und zurückzufahren. Zumindest nicht, wenn ich bei ihr auch irgendwas machen sollte.
Schade war es jedoch nicht, denn unser Garten konnte auch ein bißchen Wasser vertragen und vereinzelt hatte sich ein wenig Unkraut an meinen Blumen vorbeigeschlichen. Ich verbrachte daher den Nachmittag hinter unserem Haus und als es langsam dunkel wurde, setzte ich mich auf den Rasen und versuchte dem Wind zu lauschen. Hören konnte ich ihn tatsächlich, aber es war in keinster Weise mit der Melodie zu vergleichen, die ich in Tante Clarys Garten hatte hören können. Es war als hätte man einer berauschenden Oper gelauscht und hörte nun im Radio einen Werbejingle. Nicht, dass der Wind sich bei uns nicht auch schön angehört hätte, aber es war einfach nicht das selbe. Auch spürte ich nicht plötzlich den Drang zu tanzen und wenn ich meine Augen schloss entstand kein Bild in meinem Kopf, sondern es herrschte einfach nur die übliche Dunkelheit.
Als im am selben Abend dann in meinem Bett lag, ließ mich diese Frage einfach nicht mehr los. Was war so besonderes an Tante Clarys Garten? Mein Physiklehrer in der Schule hätte das sicherlich mit der Plazierung der umliegenden Häuser erklärt, durch die der Wind einfach stärker um die Ecken pfiff. Allerdings standen keine anderen Häuser wirklich nah an dem alten Herrenhaus.
Die Bilder in meinem Kopf konnte man vielleicht einfach auf die Anstrengung schieben oder ich hatte einfach einen Sonnenstich gehabt. Vielleicht hatte Tante Clary auch zu viel Zucker in die selbstgemachte Limonade getan.
Aber irgendwie gefiel mir die Vorstellung mehr, dass es vielleicht doch Elfen gab und sie mich zu einem Tanz eingeladen hatten, weil sie sich darüber freuten, dass ich mich um ihren Garten kümmerte.
Nur der Gedanke an den alten Baumstumpf machte mich dabei wieder traurig. Wenn Elfen im Garten von Tante Clary wohnten, dann waren sie sicher unendlich traurig darüber, dass so ein prächtiger Baum nun nicht mehr war als ein Stück totes Holz.
Bei meinem nächsten Besuch hatte Tante Clary Kekse und Kuchen vorbereitet und bat mich, mit ihr in das alte Kaminzimmer zu gehen, das ihr verstorbener Mann immer als Lesezimmer benutzt hatte. Es war unglaublich gemütlich, mit dunkler Holztäfelung, einem plüschigen dunkelroten Teppich auf dem Boden und Dutzenden von Bücherregalen, die die Wände säumten. In der Mitte des Raums, vor dem Kamin, der um diese Jahreszeit natürlich nicht benutzt wurde, standen zwei große, einladend wirkende Ledersessel und man erkannte genau, welcher von beiden Monsieur Monét gehört haben musste, denn er hatte eine deutliche Po-förmige Kuhle im Sitzkissen. Ich versank regelrecht darin, als Tante Clary mich bat, mich zu setzen. Sie lächelte mich an und ich erkannte dieses eine besondere Lächeln, das ihr Gesicht immer ein paar Jahre jünger erschienen ließ, trotz all ihrer Falten. Sie lächelte so, wenn sie von ihrem Ehemann sprach.
Aus einem der Regale holte sie ein altes Fotoalbum hervor und als sie sich auf den Sessel neben mir hatte sinken lassen, schlug sie es auf und zeigte mir die Fotos darin.
"Weisst du, ma petite fleur, bisher wollte ich dir dies hier nicht zeigen", begann Tante Clary und ihre Stimme hatte einen nostalgischen Klang, "Dies sind Fotos von unserem Garten, so wie er aussah, als mein lieber Gatte ihn noch gepflegt hatte. Du solltest dich nicht gezwungen fühlen, ihn genauso aussehen zu lassen wie früher, aber nun weiss ich, dass du dieses Bild gar nicht brauchtest." Ihre langen eleganten Finger glitten zu einem Foto, auf dem man den Garten in all seiner Pracht sehen konnte. Es war schon ausgeblichen und die Farben erinnerten eher an Sepia-Töne, doch man erkannte dennoch, wie wunderschön er gewesen sein musste.
Und er sah beinahe so aus, wie heute.
Jedes Beet, jeder Busch, fast alles war genau so, wie ich es zurecht geschnitten und angelegt hatte. Die Rosenbüsche waren am selben Platz, die Steine auf dem Boden in der selben Reihenfolge. Selbst die Blumen in den Beeten waren genau die selben Sorten. Auch der alte Springbrunnen war heute noch da, aber ich war noch nicht dazu gekommen ihn zu säubern.
Nur eines befand sich auf dem Bild, was es heute nicht mehr gab. Ein majestätischer Baum, der seine Äste über dem Garten ausbreitete, wie ein Vater die schützenden Arme über seinen geliebten Kindern.
"Mein Mann behauptete immer, die Elfen würden ihm zuflüstern, was der Garten brauchte", fuhr Tante Clary fort. Für einen Augenblick hatte ich vergessen, dass sie noch immer neben mir saß.
"Anfangs belächelte ich seine Worte und hielt sie für einen seiner träumerischen Scherze. Doch mit der Zeit begann ich daran zu glauben. Er saß manchmal Stundenlang im Garten, mit geschlossenen Augen, und lauschte dem Wind. Und sobald er seine Augen wieder öffnete, begann er einen Busch von abgestorbenen Blättern zu befreien oder pflanzte eine Blume um, die im Schatten einer anderen nicht genug Wärme bekam."
Tante Clary lächelte und ich war mir sicher, dass sie sich das Gesicht ihres Mannes vorstellte, während er im Garten saß. Ein paar Flecken auf seiner Nase oder seiner Stirn, weil er sich mit seiner dreckigen Hand den Schweiß von der Stirn gewischt hatte und seine Haut glänzend braun im Licht der Nachmittagssonne.
"Eines Tages dann, habe ich es gesehen. Es war schon Abend und mein Mann bat mich nach draussen. Er trug seinen alten Smoking, den er schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte und an seinen Händen trug er schneeweisse Handschuhe. Er sagte nichts, sondern hielt sich den Zeigefinger an die Lippen und führte mich nach draussen. Keine einzige Lampe war angeschaltet, doch der Garten erstrahlte in einem so hellen, warmen Licht, wie ich es noch nie gesehen hatte. Tausende Glühwürmchen wogen sich hin und her. Und dann entdeckte ich sie. Kleine Gestalten, die verschwanden, sobald man sich zu sehr auf sie konzentrierte. Wie genau sie ausgesehen haben, das kann ich dir nicht sagen. Ich könnte schwören, sie sahen aus wie junge Mädchen und Buben mit Flügeln auf ihren Rücken, doch da spielt mir vielleicht auch die Fantasie einen Streich. Doch sie tanzten um den Baum herum und oh, wie wunderschön haben sie getanzt! Mein Mann sah mich lächelnd an und dann nahm er meine Hand und führte mich auf den Rasen. 'Darf ich um diesen Tanz bitten?', hatte er mich gefragt. Es war ein so schöner Abend. Später erklärte er mir, dass die Elfen feierten, weil ein neuer Baum geboren worden war. Der große Baum in unserem Garten ließ jeden Herbst seine Früchte fallen und aus einem seiner Samen war ein kleiner Sprössling geworden."
Die alte Dame hörte auf einmal auf zu lächeln und strich liebevoll über die Seite des Fotoalbums, bevor sie umblätterte.
Ein einziges Foto war auf der nächsten Seite.
Es zeigte den Garten, über und über mit Asche überzogen.
"Es war ein schrecklicher Unfall. Auf der Straße fuhren zwei Wagen ineinander und zwar wurde zum Glück niemand schwer dabei verletzt, doch der eine Wagen fing Feuer und es breitete sich unglaublich schnell aus. Der Sommer war so trocken gewesen. Unser Gartenzaun brannte und kurz darauf die Büsche und der Rasen. Beinahe hätte das Feuer auch den kleinen Sprössling verbrannt, doch dann passierte ein Wunder. Ein schreckliches Wunder. Das Feuer breitete sich nicht weiter aus, sondern wanderte an dem großen Baum hinauf, so als würde er es zu sich rufen. So als würde er sagen 'Nimm mich und nicht meine Liebsten!'"
Ich sah, wie sie sich eine Träne vom Augenwinkel wischte, doch ich sagte dazu nichts. Tante Clary war eine sehr stolze Frau. Sie mochte es nicht, wenn jemand sie in einem schwachen Moment ansah.
"Die Feuerwehr tat ihr Möglichstes und bald schon war das Feuer gelöscht, aber die Hälfte des Gartens war bereits verbrannt und der große Baum tot. Wir mussten ihn fällen lassen, weil er sonst eine Gefahr für die Passanten oder für das Haus dargestellt hätte. Mein Mann war so unglücklich darüber, dass er bald schon krank wurde. Er musste ins Krankenhaus gebracht werden und kam niemals wieder zu mir zurück."
Tante Clary stand auf. Sie deutete mir an, dass ich mit ihr kommen sollte und ich folgte ihr.
"Ich habe versucht den Garten wieder zum Leben zu erwecken, aber ausser Gras zu sähen und den Zaun erneuern zu lassen, ist mir nicht viel geglückt."
Sie trat ans Fenster heran und zeigte mit einen Pflanztopf, in dem ein zarter junger Baum stand. Doch seine Blätter waren gelblich und hingen schlaff nach unten.
"Den Sprössling habe ich retten können. Doch wo immer ich ihn auch anpflanzte oder wo immer ich ihn hinstellte, er wollte sich nicht wieder erholen und er ist seit damals kein bisschen gewachsen."
Ich betrachtete den kleinen Baum und strich über eines seiner Blätter. Tante Clary nahm meine Hand und sah mich an.
"Du hast diesen Garten wieder zum Leben erweckt. Ich weiss, dass mein Mann unbeschreiblich glücklich darüber wäre und ich bin es genauso. Du hörst die Stimmen der Elfen und hast den Pflanzen dabei geholfen, zu ihrer alten Pracht zurückzufinden. Dafür danke ich dir. Danke, meine kleine Blume."
Sie umarmte mich und ohne dass ich die Tränen in meinen Augen bemerke, fing ich an zu weinen und hielt mich an ihr fest.
Den ganzen nächsten Tag über konnte ich an nichts anderes denken, als an Tante Clarys Garten. Er war so schön geworden und ich war stolz auf das, was ich dort geschaffen hatte, aber ohne den Baum hatte ich das Gefühl, als wenn er nicht vollkommen wäre. Als würde etwas fehlen. Ein Familienmitglied in einer Familie aus Blumen, Gräsern und Büschen. Meine Eltern bemerkten wie niedergeschlagen ich war, doch was sie auch versuchten, es gelang ihnen nicht, mich abzulenken. Oft erwischte ich mich selbst dabei, wie ich nach draussen in unseren eigenen Garten sah und leise seufzte. Ich fragte mich, ob es wohl wirklich Elfen gab, die sich um die Natur kümmerten, oder ob Tante Clary das nur erfunden hatte, um mir diese traurige Geschichte etwas märchenhafter zu erzählen. Vielleicht war es etwas, dass sie sich gerne selbst einredete, obwohl sie wusste, dass es nicht der Wahrheit entsprach, einfach weil es sie glücklicher machte, an eine schöne Fantasie zu glauben. So wie an Engel, die einen tagein tagaus beschützten oder an diesen netten alten Mann mit dem großen Bauch und dem Rauschebart, der jedes Jahr den Kindern in der heiligen Nacht Geschenke brachte.
Ich wusste nicht, was ich glauben sollte doch je länger ich nachdachte, desto mehr festigte sich ein Entschluss in mir: Ich würde dafür sorgen, dass Tante Clarys Garten wieder vollkommen war.
Ende des zweiten Kapitels
Texte: Das Cover dieses Buches wurde von Riedel erstellt. Alle Fotos sind entweder von ihr selbst gemacht oder freie Stockbilder von diversen Internetseiten.
Tag der Veröffentlichung: 28.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine gute Freundin Riedel, die ein wahrer Quell der Inspiration für mich ist