Mein Name ist unwichtig.
Ich wurde als Lebensretter gezeugt.
Das haben mir meine Eltern immer gesagt.
Ich wurde geboren, um meinem Bruder das Leben zu retten.
Die Wissenschaftler zogen mich in einem Reagenzglas auf. In einem weißen, kühlen Labor, mit künstlichem, blauweißem Licht. Zumindest stelle ich es mir so vor. Ich war noch zu klein um mich daran erinnern zu können. Natürlich, denn ich war noch ein Embryo. Ein Embryo in einem Glas, umgeben von anderen Embryonen in Gläsern.
Wir alle waren Kinder meiner Eltern. Durch künstliche Befruchtung entstanden. Die Wissenschaftler untersuchten, wessen genetischer Code dem meines Bruders am ähnlichsten war. Wessen Erbanlagen denen meines Bruders so sehr glichen, dass es beinahe seine eigenen hätten sein können.
Ich war der ‚glückliche‘ Auserwählte. Deshalb wurde ich zu meinen Eltern zurückgebracht und durfte im Körper meiner Mutter aufwachsen. 9 Monate lang. In Sicherheit und Wärme gehüllt im Bauch meiner Mutter.
Dann wurde ich geboren.
Die anderen? Sie ähnelten meinem Bruder nicht genug um von Nutzen zu sein.
Mein Bruder litt an Leukämie. Er brauchte eine Rückenmarkspende. Der Spender musste ihm so ähnlich wie möglich sein.
Ich war dieser Spender. Ich wurde geboren um ihn gesund zu machen. Deshalb bin ich auf dieser Welt. Um meinem Bruder das Leben zu retten.
Ich bin ein Wunschkind. Auch das haben meine Eltern mir immer gesagt.
Ich bin ein Wunschkind, weil sie sich wünschten meinem Bruder das Leben zu retten.
Sie wünschten sich das Leben meines Bruders.
Nicht meines.
Sie wünschten sich kein zweites Kind, sie wünschten sich jemanden, der das Leben ihres ersten Kindes rettete.
Das klingt grausam, nicht wahr? Aber es ist so. Nur darum lassen Eltern uns ‚Helfer-Geschwister‘ zur Welt kommen. Damit wir unseren Brüdern oder Schwestern das Leben schenken.
Sie versuchen uns zu erklären, dass sie stolz auf uns sind und wir selber es auch sein sollten. Denn wir haben ja jemandem das Leben gerettet. Wir sind Lebensretter.
Aber was nützt es, jemandem das Leben zu retten, wenn man kein eigenes besitzt?
Meine Eltern behandeln mich gut. Sie haben mich immer umsorgt und genauso behandelt wie meinen Bruder, der immer der perfekte Bruder für mich gewesen ist. Er passt auf mich auf, spielt mit mir, hilft mir mit meinen Hausaufgaben und stellt mit mir zusammen Unsinn an.
Aber das ist alles nur eine Farce.
Eine Lüge.
Ich weiss, dass meine Eltern mir nur Liebe schenken, weil ich meinem Bruder das Leben schenkte.
Ich weiss, dass er mich nur gut behandelt, weil er mir dankbar ist.
Ich weiss, dass man mich nur meiner DNA wegen gewollt hat. Nicht meiner selbst wegen.
Ich weiss, dass sie dutzende meiner Brüder und Schwestern getötet haben, weil ihre DNA nicht gut genug war.
Ich weiss, dass ich lieber als Embryo in einem Reagenzglas gestorben wäre, anstatt mit diesem Wissen zu leben.
Sie wollen mein Rückenmark. Meine Stammzellen. Meine DNA.
Nicht mich.
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Kommentar der Autorin:
Die Idee zu dieser kurzen Geschichte ist mir heute im Bio LK gekommen. Unser Lehrer gab uns einen Zeitungsartikel aus der Süddeutschen Zeitung in dem es unter anderem um die britischen Gesetze der Stammzellenforschung und ähnliches ging.
Der Artikel hat mich wirklich schockiert und in unserem Kurs heftige Diskussionen ausgelöst. Es ist in England tatsächlich erlaubt Kinder nach ihrer DNA auszusuchen, damit sie ihren Geschwistern helfen können.
Ich weiss nicht wie es euch geht, aber mich stößt dieser Gedanke ab. Sicher ist es für die Eltern wunderbar ihr Erstgeborenes mit einem zweiten Kind retten zu können, aber wie wird es den Kindern dann gehen, denen das Leben nur geschenkt wurde, um jemand anderem das Leben zu retten?
Gut, das hier ist nicht der richtige Platz für eine solche Diskussion, aber ich wollte eben meine Meinung sagen.
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2011
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