Pillen = Bonbons ?
Sie saß mit ihrer Familie am Tisch zum Mittagessen.
Ihre Geschwister, Marie und Lennard, unterhielten sich mal wieder über die nächste Party heute Abend. Sie hatten die Qual der Wahl zwischen 2 Partys. Wut kochte in Lara hoch. Jedes Wochenende war es die gleiche Leier. Diese beiden gingen auf eine Feier nach der anderen und sie saß zu Hause und langweilte sich. Sie würde alles dafür geben auch mal hier raus zu kommen. Doch ihre Eltern sahen das etwas anders. Natürlich. Sie war ja erst 12.
>> Irgendwann darfst du auch << pflegte ihre Mutter immer zu sagen.
Sie konnte es nicht mehr hören.
>> Gehen wir lieber zu der Clubparty. Da ist mehr los. Ich hab keinen Bock auf so einer Hausparty zu vergammeln << meinte ihre Schwester.
>>Aber die Hausparty ist nicht so weit weg. Zum Club müssen wir durch halb Stuttgart fahren<< entgegnete Lennard während er mit der Gabel lustlos in seinem Essen herumstocherte.
Marie rollte mit den Augen, beugte sich dann vor um ihrem Bruder etwas ins Ohr zu flüstern. Dieser zog die Stirn kraus.
>> Ok gehen wir zum Club. Du hast Recht << änderte er auf einmal seine Meinung.
Lara schaute die beiden misstrauisch an. Sie hasste es wenn sie Neuigkeiten nicht auch erfuhr.
>> Wir werden heute auch ausgehen << warf ihre Mutter ein. Na toll, alle hatten Spaß nur sie musste daheim bleiben.
>> Euer Vater und ich gehen zum Bowling mit ein paar Arbeitskollegen. Ich denke wir werden zwar früher zurück sein als ihr, aber ich wollte es nur zur Info für euch sagen << sagte sie und zwinkerte Lennard zu.
Später am Abend saß sie alleine auf der Couch und starrte in den Fernseher.
Ihre Geschwister waren schon gegangen, weil sie vor der Party noch bei Freunden vorbei schauen wollten und ihre Eltern wurden bereits von ihren Kollegen abgeholt.
Das Haus war bis auf den Fernseher still. Im TV kamen nur irgendwelche Serien die sie bereits kannte. Langeweile stieg in ihr auf und sie überlegte wie sie den Abend rumbringen konnte. Sie stand auf und ging in das Zimmer von Marie.
‚Eine DVD wäre jetzt gut‘ dachte sie. Die Filme waren in einer Kiste neben dem Schreibtisch untergebracht. Lara ging in die Hocke und kramte nach einer guten DVD. Viele der Filme hatte sie auch schon gesehen. Ihre Eltern meinten immer sie würde zu viel fernsehen. Was sollte sie auch sonst den ganzen Abend machen?
Endlich hatte sie einen Film gefunden. Sie richtete sich auf und wollte grade zurück ins Wohnzimmer gehen als ihr Blick auf den Schreibtisch ihrer Schwester fiel. Dort lag ein Zettel auf dem in großen Buchstaben „HAUSPARTY“ und eine Adresse drauf standen.
Sie las den kleinen Zettel und im sekundenbruchteil hatte sie eine Entscheidung getroffen. Schnell schmiss sie die DVD zurück, schnappte sich das Blatt Papier und eilte in ihr Zimmer. Sie riss ihren Kleiderschrank auf und holte ein türkisenes Top mit Pailletten und einen schwarzen Rock heraus. Beides zog sie schnell an. Dann rannte sie ins Bad um sich zu richten. Sie kämmte die Haare und legte noch Wimperntusche auf. Als sie sich sicher war das sie so aus dem Haus gehen konnte holte sie ihre kleine schwarze Tasche, warf ihren Geldbeutel und ihren Schlüssel hinein und ging dann aus dem Haus. Zur U-Bahn Station waren es nur 3 Minuten. Sie setzte sich an den Bahnsteig und wartete auf den nächsten Zug.
‚Ein Glück das ich die Adresse kenne sonst hätte ich ja noch ewig auf dem Stadtplan suchen müssen‘ dachte sie bei sich.
Der Zug kam und sie stieg ein.
Als sie aus der U-Bahn stieg war es bereits dunkler geworden. Sie durchquerte den Bahnsteig und stieg eine steile Treppe nach oben. Um zu dem genannten Haus zu kommen mussten sie noch 2 Straßen weiterlaufen. Das Haus lag auf der rechten Seite und mit großen Ziffern war die Zahl „18“ am Haus angebracht. Die Gegend hier war ruhig, nur ab und zu fuhr ein Auto vorbei. Vor dem Haus war ein kleiner Garten angelegt. Alles hier schien still. Auch aus dem Haus kam kein Geräusch.
‚Bin ich am richtigen Haus? ‘ fragte sie sich und schaute an der Hauswand empor. Im 2. Stock sah sie einen schwachen Lichtschein.
Sie ging langsam auf das Haus zu. An der Haustür wollte sie klingeln aber dann versuchte sie zuerst ob die Tür bereits offen war für die Gäste. Tatsächlich war die Tür offen. Sie schlüpfte hinein und versuchte möglichst leise zu sein. Vor ihr lag ein langer Flur mit getäfelten Wänden. Am Ende sah sie eine Treppe die in das 2. Stockwerk führte. Die Stufen waren mit Teppich belegt, deshalb erzeugte sie keinen Laut beim hinaufgehen.
Oben angekommen stand sie in einem kleinen Raum. Vor sich war eine Tür die einen Spalt breit offen war. Durch diesen Spalt drang diffuses Licht. Sie schob die Tür auf und sog überrascht die Luft ein. Sie stand in einem großen Zimmer mit vereinzelt herumstehenden Sofas und Sesseln. Auf dem Boden lagen Kissen und die Lampen waren mit Tüchern behängt. An der rechten Wand stand ein großes, braunes Sofas mit einem Tisch davor. Gegenüber von ihr sah sie eine zweite Tür mit bunten Aufklebern die geschlossen war. Im ganzen Raum saßen Leute auf den Sofas und Sesseln oder sie lagen auf den Kissen. Die meisten hatten ein Bier in der Hand und unterhielten sich. Es wurde keine Musik gespielt.
Rechts von ihr stand ein Bierkasten. Sie nahm sich ein Bier und ging zu dem braunen Sofa an der Wand. Niemand beachtete sie als sie durch den Raum schritt und sich setzte.
Eine Weile saß sie nur da und nippte an ihrem Bier.
‚Oh man eigentlich mag ich doch gar kein Bier‘ dachte sie ‚aber es scheint ja nichts anderes zu geben‘.
Sie hörte den anderen Gästen zu und beobachtete sie ein bisschen. Eigentlich hatte sie sich den Abend anders vorgestellt. Sie wollte tanzen und Musik hören. Gerade als sie sich überlegte zu gehen kam eine Frau zur zweiten Tür herein. Sie war groß und schlank. Ihre Haare hatten einen blauen Schimmer und gingen ihr bis weit über den Rücken. Am Arm hatte sie ein verschlungenes Tattoo. Sie trug eine große Schale mit vielen kleinen, bunten Pillen. Die Frau kam direkt auf sie zu und stellte die Schale vor ihr auf den Tisch ab.
>> Hey, kommt her! << rief die Frau in den Raum hinein. Sofort waren alle hellwach und drängten sich um den Tisch herum.
Ganz selbstverständlich schmiss sich ein junger Mann rechts neben sie aufs Sofa und legte den Arm um sie. Sie starrte ihn an und bemerkte dass er sehr attraktiv war. Zu ihrer Linken saß bereits die Frau mit den Pillen.
>> Man Jackie fang endlich an << rief ein Junge der nicht viel älter als sie aussah.
‚ Jackie? Ist sie das? ‘ überlegte sie und schaute zu der Frau zu ihrer Linken auf.
Jackie grinste und griff in die Schale um eine Handvoll Pillen herauszuholen. Jeder bekam von ihr eine Pille.
Sie schaute ihre eigene an. Sie war rosa und es war eine Elfe auf beiden Seiten eingestanzt. Sie war sich sicher das es Drogen waren obwohl sie noch nie welche gesehen hatte.
‚Das werden wohl kaum Bonbons sein‘
Sie hatte noch nie Drogen genommen. In der Schule und im Fernsehen hörte man immer wieder wie schlecht Drogen seien.
Jackie zählte von drei runter und alle schluckten ihre Pillen als sei es nichts. Auf einmal sahen alle zufriedener aus.
‚ So schlimm können Drogen dann ja auch nicht sein wenn alle sie nehmen oder? ‘ fragt sie sich.
Die anderen Gäste nahmen sich weitere Pillen und gingen dann nach und nach zu den Sitzplätzen zurück. Jackie setzte sich zu ein paar anderen Frauen. Der Mann neben ihr blieb. Sie merkte dass er sie beobachtete und schaute zu ihm auf.
>> Hi ich bin Jan << sagte er und lächelte sie an.
>> Hi. Ich heiße Lara << antwortete sie ihm und ihre Stimme klang auf einmal sehr schrill.
>> Schluck die runter << er deutete auf die Pille in ihrer Hand.
>> Danach geht’s dir besser glaub mir <<
Sie zögerte noch kurz dann schmiss sie sie schnell in den Mund und spülte mit einem Schluck Bier nach.
Sie spürte wie die Flüssigkeit ihre Speiseröhre hinunterlief.
>> Woher kommst du?“ fragte Jan ganz nebenbei als er sich ein Bier, das auf dem Tisch vergessen wurde nahm. Er durchbohrte sie mit seinem Blick und wartete auf eine Antwort. Einen Moment konnte sie nur in seine Augen schauen, dann blinzelte sie zweimal und fing an zu erzählen.
Langsam spürte sie die Wirkung der Pille. Sie konnte nicht mehr klar denken und lachte immer wieder grundlos. Ihre Bewegungen wurden unkontrolliert.
Ihr Blick fiel auf die Uhr. Sie brauchte eine Weile um zu verstehen wie spät es war. Als sie es bemerkte stieg Panik in ihr auf. Ihre Eltern müssten schon längst wieder zu Hause sein und gemerkt haben, dass sie weg war. Lara wollte schnell aufstehen um zu gehen aber ihr Körper bewegte sich nicht so wie sie es wollte. Sie taumelte seitwärts und musste sich auf dem Tisch abstützen um Halt zu finden. Langsam tastete sie sich an dem Tisch entlang, stieß sich ab und war in 2 großen Schritten bei der Tür. Sie ging den Weg entlang den sie gekommen war nach draußen. In der Dunkelheit wäre sie beinahe gestürzt. Vor ihren Augen war alles etwas verschwommen. Als Lara in der Kälte stand sog sie rasch die Luft ein. Die Luft war kalt und feucht. Es musste geregnet haben. Sie wartete einige Augenblicke bis das Schwindelgefühl verschwunden war und lief dann langsam in Richtung U-Bahnhof. Keine Menschenseele war in dieser Gegend noch unterwegs. Auf einer Bank an der Haltestelle lag ein Obdachloser. Sie setzte sich soweit wie möglich von ihm entfernt auf eine Bank und lehnte sich an die Wand. Gegenüber war die Wand mit Graffiti bemalt. Sie starrte mit leerem Blick auf die Wand und wartete.
Als die U-Bahn endlich kam war sie erleichtert. Lara raffte sich auf und stieg ein. Sie ließ sich auf einen der Sitze am Fenster fallen und lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe. Sie fühlte sich schlecht und ihr ganzer Körper glühte.
Sie wollte gerade die Augen schließen um sich auszuruhen als sie Jan sah. Er ging mit schnellen Schritten auf ihre U-Bahn zu. Sie versuchte den Kopf zu drehen um zu sehen in welchen Waggon er einstieg aber sie durchfuhr ein Schwindelgefühl sobald sie sich bewegte. Sie drehte ihren gesamten Körper zur anderen Seite und sah Jan auch gleich vor sich stehen. Er setzte sich wieder neben sie und legte wie schon auf der Party den Arm um sie. Ein wohliges Gefühl stieg in ihr auf und sie musste lächeln als sie ihn ansah.
Die U-Bahn fuhr los. Gerade als sie überlegte wie viele Stationen sie fahren musste sprach Jan sie an.
>> Wo musst du aussteigen? <<
>> Uhlandallee << antwortete sie nach einigem überlegen. Sie wusste nicht warum sie so lange zum überlegen brauchte. Ihre Antworten kamen langsam und das hätte ihr Angst machen sollen aber Lara ignorierte dieses Gefühl. Sie schielte immer wieder nach oben um Jan zu beobachten.
Sie hörte eine Lautsprecherdurchsage aber sie konnte nicht verstehen was gesagt wurde. Jan beugte sich zu ihr rüber und meinte das sei ihre Station. Sie realisierte das sie aussteigen musste. Jan stützte sie beim aufstehen. Auf dem Gang zwischen den Sitzen stolperte sie und wäre fast hingefallen aber sie konnte sich im letzten Moment an einer Stange festhalten. Sie zog sich an der Stange hoch und blickte in der ratternden Glastür der U-Bahn ihrem eigenen Spiegelbild entgegen. Ihr rechtes Knie war blutig. Sie musste sich irgendwo gestoßen haben. Lara überlegte aber konnte sich nicht mehr erinnern. Ihr Top saß schief und ihre Haare waren zerzaust. Ihre Haut war ganz blass und ihre Augen sahen müde aus. Sie ließ die Stange los um sich mit den Fingern durch die Haare zu fahren, krallte sich aber sofort wieder an der Stange fest, da sie sonst gefallen wäre.
Die U-Bahn wurde langsamer und hielt schließlich ganz. Die Tür öffnete sich und ihr Spiegelbild wurde vom Grau der U-Bahn Station abgelöst. Lara stieg aus und musste erst einmal kurz stehen bleiben um sich zu fangen.
Hinter ihr schloss sich die Tür wieder und die U-Bahn fuhr weiter. Sie schaute ihr hinterher und ein Gefühl der Enttäuschung stieg in ihr hoch. Jan war nicht mit ihr ausgestiegen und drehte sich auch nicht nochmal zu ihr um.
Als sie auf die große Uhr an der Wand gegenüber blickte stieg wieder die Panik in ihr auf. Sie musste schnell nach Hause und eine glaubwürdige Geschichte brauchte sie für ihr Verschwinden auch noch. Sie ging mit langsamen Schritten zum Ausgang.
Plötzlich hörte sie ein lautes Lachen hinter sich das ihr unangenehm bekannt vorkam. Sie drehte sich schlagartig um was ihr ein mächtiges Schwindelgefühl einbrachte. Ihr Blick verschwamm kurz um dann wieder klar zu werden. Aus einer U-Bahn stiegen einige Menschen aus und Lara suchte nach einem bekannten Gesicht dem sie das Lachen zuordnen konnte. Dieses fand sie auch. Ihre Schwester stand auf dem Bahnsteig und lachte. Neben ihr stand Lennard. Jetzt war es nicht nur Panik sondern pure Angst die sich in Lara breit machte. Sie musste von hier weg. Marie und Lennard durften sie unter keinen Umständen hier sehen. Sie wollte weglaufen aber ihre Beine bewegten sich nicht. Sie konnte sie nicht von der Stelle bewegen als hätte jemand sie einbetoniert. Sie wollte etwas tun aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Lara konnte nur auf ihre Schwester starren.
Dann drehte Marie sich um und blickte ihr in die Augen. Ihre Schwester blieb abrupt stehen und Lennard, der hinter ihr lief, prallte gegen sie. Er schaute sie verständnislos an und folgte ihrem Blick bis auch er Lara sah.
Beide sahen fassungslos zu ihr rüber. Lara wurde klar was für einen Anblick sie bieten musste. Eine zwölfjährige mit zerzausten Haaren, verschmierten Make-up, blutigem Knie und leichten Klammotten stand mitten in der Nacht an einem Bahnsteig.
Marie lief auf sie zu und endlich konnte sie ihre Beine wieder bewegen. Sie lief rückwärts. Wollte einfach nur noch weg egal ob ihre Beine sie tragen würden.
Sie lief immer weiter rückwärts. Lennard der hinter Marie herlief rief etwas aber sie hörte nur das Rauschen in ihrem Kopf.
Lara machte einen weiteren Schritt nach hinten und dann noch einen.
Plötzlich verzerrte sich das Gesicht der beiden vor Entsetzen. Sie fingen an zu rennen und Marie war jetzt so nah das Lara verstehen konnte das sie ihren Namen brüllte. Sie begriff zu spät warum.
Der Boden unter ihren Füßen sackte beim nächsten Schritt ab. Sie fiel rückwärts und das nächste was sie spürte war ein Schmerz jenseits ihrer Vorstellungskraft als ihr Rücken auf die Schienen prallte. Ihr wurde schwarz vor den Augen.
Als sie wieder zu sich kam sah sie weit über sich Marie die ihr etwas zurief und Lennard der beide Hände nach ihr ausstreckte. Lara wollte sich aufrichten aber keuchte sofort unter den Schmerzen.
Dann hörte sie ein Geräusch. Erst leise dann immer lauter. Die nächste U-Bahn kam. Sie wandte den Kopf und sah für den Bruchteil einer Sekunde das schmutzige Gelb der Außenwand. Dann umfing sie die Dunkelheit.
ENDE
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2010
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