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Es war ein grauer Tag, die Wolken verhießen Regen, aber es würde wohl eher schneien. Nicht diesen weichen, romantischen, reinweißen Schnee, nein, diese traurige Mischung aus Schnee und Regen, der schon fünf Minuten, nachdem er die Erde berührt hat eine braungraue Masse bildet. Diese Art von Schnee. Die erste Art hätte wohl auch nicht hierher gepasst, denn in Ghiorac, Rumänien, ist es grau und traurig. Jedenfalls hier, vor dem großen, ordentlich anmutenden Gebäude, welches einige Frauen gerade betraten, hier in Cighid. Langsam öffnete die erste die Tür, noch ein Blick ging zum düsteren Himmel, ein trauriger und weicher Blick, bevor sich der Ausdruck in den stahlgrauen Augen verhärtete. Vesna Ceauşescu tauchte in die halbdunkle Ebene zwischen der traurigen Außenwelt und dem noch traurigeren Inneren von dem ehemaligen Jagdschloß ein. Hart sein, sagte sie sich, alles abschotten musst du. Und so versteckte sie ihr Herz und ließ einen abwesenden Ausdruck in die Augen kommen.
Die anfängliche Stille im Eingangsbereich täuschte einen, fast konnte sie sich einreden, dass alles normal sei in diesem Haus der Hoffnungslosigkeit. Doch um so näher die Frauen den Treppenabsatz kamen, umso mehr nahmen sie das schwache Wimmern wahr, als wären hunderte Geister ruhelos in diesem Gemäuer. Wären es nur doch nur Geister, seufzte Vesna innerlich. Sie traute sich nicht den anderen Frauen nachzuschauen, die langsam aber sicher in unterschiedlichen Nischen und Ecken verschwanden, den obwohl sie alle hier das selbe taten und auch dies als die einzige Möglichkeit sahen, etwas dazuzuverdienen, fürchtete die junge Frau sich vor den Vorwurf in den Augen anderer. "Los geht's", versuchte sie sich selbst anzutreiben, betrat die Küche des dritten Stockes und sammelte sich die wenigen Zutaten zusammen, die sie für den Brei für die Kinder brauchte. Kurz trug sie in ein Büchlein das Datum ein, der 6. Januar 1989. Dann kam der schwerste Gang des Tages für sie, mit einem tiefen Luftholen schaut sie auf die widerliche Masse in dem großen Topf, nicht mehr als Schweinefraß, eigentlich unbekömmlich. Aber das ist alles was sie ihr hier gegeben haben, als sie zum ersten Mal hier war um ein wenig Geld dazuzuverdienen, das war das 'Essen', das sie zubereiten sollte für die Kleinen. Mit dem Topf und Näpfen schwer beladen ging sie den halbdunklen Gang entlang, blieb vor der großen Flügeltür stehen. Einen Moment noch, nur einen kleinen Moment wollte sie sich als Mensch fühlen, dann schaltet sie alle Gefühle ab, versuchte sich innerlich noch mehr abzuschotten. Ihr Arm hob sich schwerfällig, fühlte sich an, als würden viele Tonnen daran hängen, aber schließlich berührten die gepflegten Finger das kalte Eisen des ellenlangen Riegels und wie in Zeitlupe schob sie diesen zur Seite, ihr Herz klopfe schnell, alles tief in ihr wollte das nicht, wollte den Riegel wieder zu schieben, sich umdrehen und einfach gehen, dass alles hier vergessen. Aber sie konnte die Kinder nicht ihrem Schicksal überlassen. Obwohl was für ein Schicksal war das schon? Der Tod.
Mit diesem Gedanken schob sie die Tür auf, ein dünner Lichtstrahl fiel in das schwarze Dunkel des Raumes. Warme abgestandene Luft schlug Vesna entgegen, mit ihr der Geruch von Exkrementen und Erbrochenen, danach kamen die Schatten, große Augen in ausgemergelten Gesichtern die blinzelnd sich ans Licht gewohnten, die Gestalt im Türrahmen aber nicht wirklich wahrnahmen. Zwischen den kalten Stäben des Bettes, die an Gitter erinnern, sitzen die kleinen Körper, wie groteske Puppen. Ein Bett aus mehreren Gestellen zusammengeschoben, mit Pressholz, sonst nichts. Keine Wärme, kein Licht, keine Menschlichkeit. Die siebzehn Kinder, die hier zusammengepfercht im "Izolator" vor sich hinvegetierten, horchten langsam auf, geblendet von dem grauen Licht, krochen teilweise auf die junge Frau zu. Genauso kroch eine kalte Angst in ihr hoch, kurz ging der Blick zu der Tür, ja, die war gesichert. Mit ruhiger Stimme lockte sie die Kinder zu sich, drückte ihnen einen Napf in die Hand und schlug eine Kelle des Breis in den Napf. Einige entfernten sich sofort wieder, wie Tiere versuchten sie ihr Essen zu schützen. Vesna versuchte, die Kinder nicht zu genau anzusehen. Jede Nacht verfolgten sie die Kinder in ihre Träume, grausame Träume. Vornübergebeugt und auf den Knien schaufelten kleine Hände das Zeug in den teils zahnlosen Mund, lachten zwischendurch irre. Ein Mädchen kam zuletzt zu ihr, ihr Name war wohl Karolina, aber Vesna nannte sie ab und zu in unbeachteten Momenten Veveriţă, Einhörnchen, aufgrund ihrer roten Haare und ihrem Wesen. Veveriţă konnte nicht sprechen, nicht richtig laufen, nicht schreiben oder lesen. So wie die meisten der Kinder hier. Eigentlich alle.Das rothaarige Mädchen strich Vesnas Hand, suchte ihre Augen und lächelte leicht. Wie ein Kind hier Lächeln kann, dass fragte Vesna sich immer. Aber Veveriţă tat es, sie war ungewöhnlich anhänglich und warm im Charakter für die Kinder hier, stand in der Gewaltrangfolge aber auch weit unten.
Kurz schaute Vesna aus der Tür raus, dann zog sie zögerlich ein Buch aus ihrer Schürzentasche und ging weiter in den Raum hinein. Die Kinder wischten ihre Hände an den Wänden ab, zogen ihre wenigen Fetzen zusammen und wurden ein wenig ruhiger, jedenfalls die, die noch über ein wenig geistige Stärke verfügten. Einige wiegten sich vor und zurück, stießen unmenschliche Laute aus. Vesna setzte sich ganz am Rand des Bettes hin, achtete darauf, sowenig Dreck wie möglich mitzunehmen und schlug das Buch auf. Die Kinder sammelten sich um sie, Veveriţă schmiegte sich an sie, Vesna zuckte kurz zusammen, nahm sie dann aber in den Arm, ignorierte den Gestank, der von dem Kind ausging und begann mit leiser Stimme vorzulesen. "Es war einmal ein armes Weib, das lebte mit ihren zwei Mädchen in einem Wald. Das eine hieß Rosenrot und das andere Schneeweißchen..." Während Vesna vorlas, wanderte ihr Blick immer wieder zur halboffenen Tür und lauschte auf Schritte. Was sie hier tat, war verboten, es heiß eigentlich, dass die Frauen schnell die Kinder füttern sollten und dann wieder verschwinden. Aber ein wenig vorlesen konnte ja nicht falsch sein, obwohl diese Kinder als der Abschaum der Menschheit in Rumänien galt, aussortiert worden waren aus den Waisen als die Unwiederbringlichen, die der Gesellschaft nichts nützen, geistig und körperlich behindert, Zurückgebliebene. Das erzählte die Regierung, schickte die Kinder hier in den Warteraum zum Jenseits.
Das Märchen ging zu Ende, ein Ende wie alle Märchen: „ Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute...“ Traurig schaute sie in die großen Augen der Kinder, denn sie wusste, dass die Kinder kein glückliches Ende finden konnten. Nicht mal ein glückliches Leben war ihnen bestimmt gewesen, nicht mal ein menschliches Leben. Etwas heißes lief über ihre Wange, die Tränen, die schon so lange in ihrem Herzen wohnten, liefen plötzlich über, obwohl das nicht das erste Mal gewesen war, dass sie vorgelesen hatte. Sie spürte noch was auf ihrer Wange, eine kleine kalte Hand wischte die Tränen weg, die meisten Kinder hatten sich schon wieder sich selbst zugewandt, aber Veveriţă schaute sie aus mitleidigen Augen an. Vesna umarmte das Kind, ungeachtet dessen abstoßenden Geruchs. „Ruhig, mamă. Alles ok.“ Überrascht schaute Vesna auf, strich erstaunt über den Mund des Mädchens. „Du kannst reden?“, stammelte sie. Veveriţă nickte und zeigte auf das Büchlein. Ein kleines Lachen kam über Vesnas Lippen, getragen von ihrem traurigen und stolzem Herzen. Dieses Kind konnte reden und denken, warum, warum hatte sie bis jetzt die Augen verschlossen? Weil sie feige war.
Die Rothaarige hatte sie mamă genannt, sie als Mutter? Ja, dass wollte sie sein, die Mutter dieser von Gott und den Menschen verlassenen Kinder. Aber was konnte sie tun? In einer plötzlichen Hektik stand sie auf, strich Veveriţă über das schmutzige verklebte Haar und stürmte aus dem Raum, unverschlossen, denn die Kinder würden den Raum nicht verlassen. Sie lief durch das Haus, sammelte einige Unterlagen und Karteien zusammen, versteckte sie heimlich zwischen den Buchseiten. Die anderen Frauen waren längst gegangen. Diese Seiten wollte sie raustragen, als einen kleinen Beweis des Schreckens. In den Westen sollten die Zettel kommen, sollten der Welt berichten und den Kindern helfen. Nachdem sie einiges zusammengetragen hatte, ging sie zurück. Ein kleines hoffnungsvolles Lächeln umspielte die Lippen, als sie zu den Kindern trat, die zusammengerollt schliefen. Veveriţă sah auf, Vesna beugte sich zu ihr hinunter und schaute ihr endlich und ehrlich in die Augen, strich über die schneeweiße Wange. „Ich kann dich hier nicht einfach raustragen, meine kleine Veveriţă, aber ich werde alles tun, damit ihr Menschen sein dürft.“ Immer noch schrie ihr Herz danach, zu weinen, aber sie hatte ein Ziel. Langsam beugte sie sich vor und küsste Veveriţă auf die Stirn, ein kleiner zärtlicher Kuss, der aber Stunden zu dauern schien und ein kleines Licht in den Raum zu bringen schien. Und als Vesna das Mädchen anschaute, lächelte das Kind, zum allerersten mal, klar und wach und herzlich, denn was all diese Kinder nie erfahren hatten, war plötzlich in ein Leben getreten. Veveriţă spürte das erste Mal Wärme. Spürte das erste mal Liebe. Und mit diesem heimlichen Kuss hatte Vesna ein kleines Herz geweckt. Sie hatte die Hoffnung wachgeküsst.

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Tag der Veröffentlichung: 18.07.2011

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