Hallo Morgenstern!
Ein Blick aus dem beschlagenem Fenster auf das gegenüberliegende Haus versicherte mir, dass Johanna ebenfalls die Festlichkeiten auf der Straße beobachtete. Es strömte neugieriges Volk vorbei, Fahnen mit Hakenkreuzen wurden geschwungen, Fackeln angezündet. Es war der 30. Januar des Jahres 1933. Hitler wurde zum Reichskanzler ernannt und das wurde von vielen gefeiert. Unzählige waren auf dem Weg zum Brandenburger Tor, denn dort wurde ein riesiger Fackelzug veranstaltet aber Johanna und ich standen nur am Fenster, die Arme auf das Fensterbrett gelegt und schauten zu. Dabei wollte mich Vater eigentlich mitnehmen, er selbst machte natürlich mit. Aber Mutter meinte, wir würden am Ende noch zertrampelt werden, bei so unzähligen Menschenmassen. Nein, wir Kinder sollten zu Hause bleiben. Und Johanna ging nicht hin, weil ihre ganze Familie nicht zu diesem Ereignis wollte. Eigentlich waren unsere Familien das genaue Gegenteil von einander. Wir, Familie Holland, waren zu viert, also Vater, Mutter, Peter und ich, Luise. Johannas Familie bestand aus ihr und ihren Eltern und vier Geschwistern. Wenn ich dort war, war es immer unglaublich laut, aber auch lustig. Bei uns mussten wir still sein. Und noch einen Unterschied gab es. Wir waren Christen. Johanna und ihre Familie waren Juden.
Wir verfolgten weiter das Spektakel. Zwar schielte mein Vater schon böse zu Johanna herüber und ihre Mutter murmelte teilweise wüste Beschimpfungen auf meinen Vater und alle Nationalsozialisten, trotzdem hatten wir alle keine Ahnung, wie es enden sollte.
Nachdem die Massen verschwunden waren, schaute ich zu Johanna, sie schaute zu mir und gleichzeitig lösten sich unsere Körper vom Fenster und wir liefen auf die Straße. Dort in der Mitte trafen wir uns und blickten den schwachen Lichtern der Fackeln nach. „Mein Vater sagt, jetzt wird alles besser.“, meinte ich in diesem Augenblick. Johanna schluckte leicht und flüsterte fast: „Nein, Luise. Ich glaube nicht.“ Ich warf einen kurzen Seitenblick auf sie und mich überlief ein eiskalter Schauer. als ich sie so stehen sah, die weit aufgerissenen Augen immer noch starr geradeaus gerichtet. Mein Blick glitt an ihr vorbei an die Wand ihres Hauses, in dem auch der Laden ihres Vaters untergebracht war. Und quer über das Schaufenster leuchteten in aggressiver roter Farbe die Worte „JUD VERRECK!“. Ich starrte noch einen Moment auf die Wörter, deren Sinn ich nicht ganz erfassen konnte, aber ich spürte wie sie mich erzittern ließen . Ich schaute wieder nach vorne, sah dem nun kaum mehr sichtbaren Zug hinterher und hatte plötzlich Angst. Ich wusste nicht warum. Schnell legte ich meinen Arm um Johanna, um mich zu trösten, um sie zu trösten. Im Hintergrund hörte ich, wie Johannas Mutter und Vater aus der Tür kamen. Sie lasen die Schrift und Johannas Mutter fing an zu weinen. Aber ich achtete nicht darauf. Meine Gedanken waren viel zu verworren.
„Großartig! Einfach großartig, der Mann“, meinte Vater mit strahlenden Augen beim Frühstück.
Er verlor sich weiter in Lobesreden über den Führer. Aber keiner hörte ihm richtig zu, Mutter nickte ab und an. Ich saß mit halb abgewendetem Körper zu den anderen, schaute aus dem Fenster. Johanna kam nicht mehr zur Schule, das wurde verboten, allgemein durfte sie fast nichts mehr. Einmal waren Männer gekommen und nahmen alle Fahrräder mit. Konfisziert. Dann kamen weitere Regeln, Johanna durfte nicht mehr nach einer bestimmten Uhrzeit raus. Und immer wieder wurde in dem Geschäft randaliert, die Scheiben wurden eingeschlagen, die Einrichtung zerstört. Und früher treue Kunden kamen nicht mehr, weil Herr Morgenstern, Johannas Vater, ein Jude war. Ich traf mich nur noch selten mit Johanna auf der Straße und immer wirkte sie bedrückt und traurig. Gelacht hatte sie schon lange nicht mehr.
„Luise, dreh dich um! Das ist unhöflich!“, sagte Mutter in diesem Moment und mit einem Seufzer drehte ich mich wieder meiner Familie zu, die mich alle vorwurfsvoll anstarrten. „Luise, dein Benehmen lässt in letzter Zeit stark nach. Das liegt bestimmt an dieser Jüdin von gegenüber, mit der du dich immer triffst.“ Verständnislos blickte ich in die Runde. Was hatte denn Johanna bitte mit meinem Benehmen zu tunß „Erstens heißt sie Johanna. Zweitens hat das überhaupt nichts mit ihr zu tun. Und drittens ist sie meine beste Freundin!“, konterte ich mit einem Zischen. Es konnte doch nicht sein, dass Vater Johanna an allem Schuld gab. „Wie bitte?“, brauste dieser gerade auf. „Sie ist deine beste Freundin? Herr im Himmel, das ist ja schlimmer als ich gedacht habe.“ Er schaute kurz zu Mutter, dann fixierte er mich mit festem, strengen Blick. „Ich verbiete dir ab sofort jeglichen Kontakt mit dieser Person. Hast du verstanden?“ Ungläubig starrte ich ihn an. Das konnte er unmöglich von mir verlangen. Einen Moment noch saß ich absolut unfähig mich zu bewegen da, dann sprang ich auf und brüllte ihn mit Tränen in den Augen an: „Nein, werde ich nicht! Was hast du gegen sie? Du und dein bescheuerter Hitler könnt mich mal!“ Dann stürmte ich aus dem Esszimmer, in mein Zimmer, schlug die Tür mit aller Kraft zu und schmiss mich auf's Bett. Ich wollte nie wieder etwas mit Vater zu tun haben. Nie wieder.
Es waren ein paar Wochen vergangen und ich lehnte am Fenster, schaute herüber zu Familie Morgenstern. Ich sah, wie Johannas Vater im Laden stand, einsam, es gab keine Kunden. Wie hätte sich auch einer hinein getraut, es standen schließlich zwei Soldaten vor dem Laden, sie hatten Schilder mit Aufrufen gegen Juden in der Hand und trugen Waffen. Mein Blick glitt höher und ich sah Johanna. Ich winkte ihr zu, aber sie reagierte kaum. Nur ein apathisches Nicken. Ich runzelte die Stirn und rief zu ihr herüber: „He! Johanna! Was ist denn los?“ Jetzt endlich schien sie mich richtig anzusehen und fing auch gleich in wütendem Ton an zu sprechen. „Was meinst du, was los ist? Hm? Frag doch mal deinen Vater.“ Und schon war sie vom Fenster weg. Im gleichen Moment fing sich vor dem Laden an etwas zu regen. Mehrere Soldaten standen vor dem Laden, einer zerrte gerade Herr Morgenstern heraus. Und dort stand mein Vater. Er schaute ein wenig verunsichert, aber gleichzeitig freute er sich anscheinend. Die Worte des einen Soldaten halten durch die Straße: „Ab sofort ist dieser Laden Eigentum von Herrn Holland, nicht mehr deins, du Saujud!“ Er warf Herr Morgenstern auf die Straße, trat ihn noch in den Bauch. Ich konnte das alles gar nicht glauben. Mit welchem Recht nahmen diese Leute Johannas Familie den Laden weg. Ich schüttelte nur den Kopf und verfolgte weiter mit ungläubigen Augen die Szene. Vater wurden nun Schlüssel und Papiere gereicht, während Johanna und ihre Mutter zu Herr Morgenstern stürzten und ihm aufhalfen. Und dann spuckte Vater auch noch auf Johannas Vater. Mein Vater nahm einem anderen Menschen seine Arbeit weg und bespuckte ihn danach auch noch. Mir schwirrte nur noch die Frage nach dem Warum im Kopf herum. Plötzlich und in unheimlicher Wut sprang Johanna auf und ging auf meinen Vater los, die Hände mit den Fingernägeln nach ihm ausgestreckt, das Gesicht verzerrt von Wut und Schmerz. Bevor sie aber Hand an ihn legen konnte, knallte Vater ihr seine Hand ins Gesicht, mit voller Wucht. Es gab einen schrecklichen Ton und Johanna sank zu Boden, hielt sich das Gesicht und wimmerte leise. „Und jetzt verschwindet in eure Teufelshöhle!“, brüllte mein Vater sie an. Ich verstand nicht, warum alle nur zuguckten, nichts taten. Langsam schleppten sich Vater und Mutter Morgenstern ins Haus, ihre Gesichter waren voller Tränen und Hoffnungslosigkeit. Nur Johanna stand noch dort, starrte die Soldaten an. Schnell lief ich zu ihr hinaus, stürzte fast die Treppe herunter. Sie sah mich nur von der Seite an, ihre Hand noch an der schmerzenden Wange. „Das tut mir leid, Johanna!“ „Ach wirklich? Schau dir nur deinen Vater an, was für ein schrecklicher Mensch er ist. Und dann frag dich, ob du nicht wie er denkst.“. Sie zeigte mit ausgestrecktem Arm auf Vater. „Hitler bringt den Tod über Berlin. Und dein Vater hilft ihm dabei.“ Ich schaute sie ungläubig an. Was hatte sie da gerade über Vater gesagt. „Mein Vater ist kein Mörder, du Jude!“ Und nun tat ich das gleiche wie mein Vater, diese entsetzliche Geste und spuckte vor ihr auf den Boden, ich fühlte mich unglaublich mächtig in diesem Moment. Johanna drehte sich um und rannte ins Haus, ihr Gesicht verbissen und verzweifelt. Ich hatte meine beste Freundin verloren. Einer der Soldaten kam zu mir herüber und meinte: „ Hast du gut gemacht.“ Gleichzeitig fiel mein Blick auf ein Plakat. „Die Juden sind unser Unglück“ stand darauf. Auf einmal kam mir das ganze wie ein Alptraum vor und ich rannte davon, wollte flüchten, auch vor mir selbst, dass ich so schrecklich dachte.
Ich saß in letzter Zeit viel am Fenster, starrte auf das unendliche Häusermeer hinaus. Aus dem Radio berichtete eine knarrende Männerstimme vom Krieg. Eine Ansprache vom Führer wurde abgespielt, er rief zu einer Vernichtung der Juden auf, sie seien das Übel und Schuld am Krieg. Ich warf einen Blick in Johannas Wohnung und sah sie dort sitzen, alle beisammen. Nur Herr Morgenstern war nicht bei ihnen. Vor drei Tagen kamen SS Leute, als er alleine war und nahmen ihn mit. Einfach so. Und viele haben es gesehen, ja sie sahen die Angst in den Augen des ehemaligen Freundes und schauten weg. Er ist nichts wert, redeten sie sich ein. Ich wollte etwas sagen, ihm helfen, aber ich konnte nicht. Etwas in mir sagte nein, ich hatte auch Angst. Alle wussten, dass er in eines der Konzentrationslager gebracht würde, wir alle hatten die Geschichten gehört. Geschichten von sich zu Tode arbeitenden Männern, von Menschen die frieren und verhungern, an Krankheiten sterben. Von den grausamen Methoden, die dort angewendet wurden. Aber trotzdem konnten wir alle nicht helfen, weil wir nicht das Schicksal mit diesen Menschen teilen wollten. Ja, wir waren zu feige um etwas zu tun. Ich hatte auch von Leuten gehört, die sich auf bäumten, aber sie endeten wie die, die sie verteidigten. Vater stimmte dem Führer in allem zu, er war froh. Sein Geschäft lief gut. Aber ich konnte nicht vergessen, wie ich mich von meiner Überlegenheit hinreissen lassen konnte. Obwohl ich ihn verachtete, war ich nicht besser als mein Vater. Ich saß weiter an meinem Fenster und schaute in ihr Fenster, das mir wie ein Tor in eine andere, düstere Welt erschien. Ich bemerkte eine kleine Familie auf der Straße. Ich sah den gelben Stern an ihren dunklen Mänteln, ich sah wie die Masse ihnen auswich, als hätten sie eine Seuche. Andere rempelten sie an. Ein Vater, eine Mutter und zwei kleine Mädchen. Und alle vier wirkten sie erschöpft und verzweifelt. In ihren Koffern hatten sie wahrscheinlich ihre letzten Habseligkeiten. Ich spürte, wie Traurigkeit und Hilflosigkeit in mir hoch stieg, ich wollte etwas tun, aber ich konnte nicht.
Es wurde langsam Abend und Nacht, ich saß immer noch am Fenster, die Menschen gingen in ihre Häuser. Bei Johanna war es dunkel, dort schliefen schon alle. Aber in der Dunkelheit sah ich Johannas todtraurige Augen vor mir. Noch in Gedanken schaute ich auf zum Sternenhimmel und wünschte mich weit weg, denn mir tat das Herz weh, weil ich sie verraten hatte. Einen Moment später hörte ich schwere Schritte von einer Gruppe Soldaten. Abwesend verfolgte mein Blick die Gruppe, beachtete den Transportwagen kaum, der langsam hinter ihnen herfuhr. Doch dann blieben sie vor der Tür der Morgensterns stehen, klopften wie wild. Ich sah das Licht gegenüber angehen, sah wie Frau Morgenstern hinunter rannte und die Tür öffnete. Als sie der Soldaten gewahr wurde, spiegelte sich in ihren Augen die Gewissheit wieder, sterben zu müssen. Sie hörten dem Soldaten nicht zu, schüttelte nur den Kopf wie wild und schrie ihn an, er solle verschwinden. „Entweder Sie kommen jetzt freiwillig mit oder Sie werden es bereuen!“ Aber Frau Morgenstern hörte ihn nicht. Der Kommandant befahl den Soldaten etwas, diese packten Johannas Mutter an den Armen, zogen sie aus dem Haus. Andere Soldaten stürmten in das Haus und zerrten Johanna und ihre vier Geschwister heraus. Bei dem Versuch, alle in das Auto zu packen, fing die Familie an laut zu schreien. Starr vor Entsetzen und Ungläubigkeit, sah ich wie sie sich verzweifelt wehrten und die Tränen in den Gesichtern. Schließlich faste der Kommandant einen Entschluss und befahl allen, um die Ecke zu gehen, was mir die Sicht jedoch nicht behinderte. Was sich nun abspielte, war wie ein verrücktes Theaterspiel. Johanna und ihre Familie mussten sich an die Mauer einer Wand stellen, mit den Händen erhoben. Die Soldaten zielten auf die wehrlosen Bündel vor ihnen, die dort zitternd standen, im Angesicht des Todes. Ich hielt den Atem an, es konnte alles nicht wahr sein, dass alles war nicht möglich. Dann brüllte der Kommandant etwas und gleichzeitig warf sich Frau Morgenstern vor ihre Kinder. Die Gewehre knallten laut, ein schrecklich verzerrter Schrei drang an mein Ohr. Ich schloss die Augen, öffnete sie wieder und es war vorbei. Dort lagen sechs schmale Körper, regungslos. Ich wollte schreien, erstickte den Schrei aber in meinem Schal. Tränen schossen mir in die Augen, ich konnte nicht mehr denken, es ergab einfach alles keinen Sinn mehr. Ich drehte mich um, lief auf die Straße und stolperte zu Johanna. Aber einer der Soldaten hielt mich auf. Ich sah das Blut an der grauen Wand, das langsam herunterlief. Dann schaute ich hinunter in die Augen meiner besten Freundin. Eine Träne lief noch über ihre Nasenspitze. Aber ihre Augen waren leer und ausdruckslos. Meine Knie gaben nach und ich sank nieder. Ich suchte ihre Hand, war nun unbeachtet von den Soldaten. Meine warme Hand umschloss ihre kälte werdenden. Sie hatte Recht behalten. Die Welt hinter meinem Fenster war untergegangen.
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2011
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