Wie sooft stand er vor den Türen der kleinen Landklinik. Und wie sooft trat er ein, ohne dass ihn jemand bemerkte. Eigentlich müsste er auffallen wie ein bunter Hund: Er war groß und völlig von einem schwarzen, bodenlangen Umhang verhüllt, so dass es aussah, als würde er über der Erde schweben. Dennoch schien niemand Notiz von ihm zu nehmen. Es hatte gar den Anschein, als ginge er durch alles und jeden hindurch.
Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen – schon seit sehr langer Zeit –, hatte gesehen, wie sich die Welt stetig veränderte, hatte beobachtet, wie Königreiche entstanden und auseinanderbrachen. Nur er war stetig derselbe geblieben. Seit er denken konnte, tat er das gleiche, und er kannte jeden Teil dieses Kosmos.
So war ihm auch dieser Landstrich nicht fremd. Ganz früher war hier nichts außer wilde Wiesen und Wälder. Dann begannen allmählich, Menschen sich anzusiedeln. Zunächst waren es nur vereinzelte, die sich die fruchtbare Erde nutzbar machten, die Bäume abholzten, das Gebiet umpflügten und allerlei Kulturpflanzen aussäten, um diese schließlich zur eigenen Ernährung sowie zum späteren Verkauf zu ernten. Diese Leute wurden sesshaft und gründeten Familien. Im Laufe von Jahrhunderten entstanden immer mehr kleine Dörfer. Seitdem kam auch er immer häufiger her.
Die nächste, größere Stadt war einige hunderte Meilen entfernt. Sehr lange war nur dort ärztliche Versorgung zu erreichen, was für die Landbevölkerung ein großes Problem darstellte. Besonders bei Notfällen hatten sie keine Möglichkeit, rechtzeitig in ein Krankenhaus zu gelangen. Dennoch lohnte es sich nicht, ein Hospital auf dem dünn bewohnten Land zu gründen. Der Bedarf war dafür nicht ausreichend.
Erst als die gestressten und überreizten Städter die Ruhe und den Frieden der Wildnis für sich entdeckten und anfingen, jenes in vollen Zügen zu genießen, fand sich eine geeignete Lösung: Mitten in der Einsamkeit der platten Gegend wurde eine Kurklinik gebaut mit genügend medizinischer Betreuung. Sogar eine Notaufnahme, ein Geburtensaal und eine kleine Station für werdende Mütter und Neugeborene waren enthalten.
Ab und zu besuchte er nun dieses Gebäude. Seine Arbeit dort war meist nicht gern gesehen (wie fast überall). Viele hatten Angst vor dem, was er zu tun hatte – sehr große Angst. Allerdings gab es da ebenso Personen (wenn auch nur wenige), die ihn herzlichst willkommen hießen und sein Erscheinen regelrecht herbeisehnten. Seine Lebensaufgabe war nicht immer einfach. Jedoch, er war nicht böse. Vielmehr konnte er sich keinerlei Gefühle leisten. Er musste stets neutral bleiben, komme, was wolle.
In aller Ruhe schritt er durch die weitläufige Empfangshalle. Durch die zahlreichen, bis zur hohen Decke reichenden Fenster war die Sonne zu sehen, die gerade mit blutrotem Schein am wolkenlosen Horizont versank und alles in ein unwirkliches Zwielicht tauchte. Die Deckenleuchten sprangen an, erfüllten den Saal mit hellem Kunstlicht und ließen zahllose Schatten erscheinen. Sein Körper warf jedoch keinen.
Noch herrschte reges Treiben an den Ein- und Ausgängen. Vielschichtiges Stimmengewirr ging davon aus. Patienten, welche auf dem Wege der Besserung waren, verabschiedeten ihre Besucher. Kinder trippelten voller Bewegungsdrang an der Hand ihrer Eltern von einem Bein auf das andere. Ebenfalls verließen schluchzende Angehörige das Haus, die über den besorgniserregenden Zustand eines lieben Verwandten trauerten.
Doch all das interessierte ihn nicht. Keiner von denen war für ihn von Bedeutung – jedenfalls noch nicht. Ohne auf irgendjemandem zu achten, strebte er einem Gang zu, der weiter ins Innere des Gebäudes führte. Die Dunkelheit der beginnenden Nacht hatte die Außenwelt nun fast im Griff, und die Helligkeit der Lampen erleuchtete den Weg, den er ging.
Der Flur war menschenleer und totenstill. Nur das leise Surren der Neonleuchten war zu hören. Bald kamen aber noch andere Geräusche hinzu: Aus der Ferne drangen aufgeregte Stimmen heran, und eine Frau schrie immer wieder aus Leibeskräften. Er näherte sich diesen, hatte jedoch vor, daran vorüberzuziehen. Auch das war nicht sein Ziel.
Plötzlich flog vor ihm eine Tür auf. Zwei Ärzte schoben hektisch ein weißes Kinderbettchen heraus, an dem allerlei Gerätschaften hingen, welche sämtliche Vitalfunktionen überwachen oder unterstützen sollten. Die Mediziner eilten damit sofort davon. Dennoch konnte er einen kurzen Blick hineinwerfen. Der Moment schien eine Ewigkeit zu dauern. Er sah einen winzigen Menschen inmitten reiner Tücher liegen. Zahlreiche Schläuche und Kabel verliefen von dem kleinen, äußerst zerbrechlich anmutenden Körper zu den piepsenden Apparaten. Das Neugeborene wimmerte und blickte ihn direkt an. Dann war alles vorüber.
Fasziniert starrte er ihm nach. Wie konnte ihn dieser Säugling sehen? Niemand sonst vermochte das. Vielleicht war es aber auch nur Zufall gewesen. Daran wollte er allerdings nicht so recht glauben. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren kamen Zweifel in ihm auf. Für diese hatte er jedoch wirklich keine Zeit. Gleich war er wieder bei der Sache und lief weiter, um seine Aufgabe zu erfüllen...
Tag der Veröffentlichung: 12.10.2014
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Widmung:
Lektorat: Sebastian Steger,
Cover: Dr. Claudia Feger,
Coverlayout: Kopfschussfoto