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1. Verganzungssehnsucht



Manchmal habe ich, sagte er, das Gefühl, als sei der Menschen Bewusstsein wie der Baum, der unweit meiner Wohnung des nachts vom gelblichen Licht der Straßenlaterne an manchen Stellen gestreift wird. Wenn dieses wirklich sehr interessante gelbe Licht dann einige Partien des ansonsten im Dunkel der Nacht stehenden Baumes berührt, so treten ein paar Besonderheiten hervor. Einige Strukturen der Rindenmaserung sind erkennbar, ein paar Äste und ihre Ästchen auch. Der Anschein einer kugeligen Krone. Aber der Rest, sagte er, der Rest liegt doch in ununterscheidbarer Finsternis. Es liegt so ununterscheidbar im Finsteren, dass es nicht nur nicht erkennbar ist. Sondern man wüsste eigentlich gar nicht, dass es überhaupt existierte, wenn nicht das Bewusstsein, ein zerstücktes Etwas, auf Erden sich nicht zu kategorisieren getraute. Das tut es wegen unserer Mitmenschen, sagte er, denn nur wegen der Anderen getrauen wir uns oft nicht, etwas Ungewöhnliches öffentlich vorzustellen. Die als wichtig erachteten Meinungen der Anderen sind es, die zurückhalten, uns etwas Ungewöhnliches in der Welt vorzustellen. Die Konvention, die wir mit den Anderen meist unreflektiert ausbilden, ist das Gewohnte, sie hält uns für gewöhnlich zurück, uns den Baum einfach als zerstückt und atomar vorzustellen. Also fügen wir Kräfte hinzu, imaginieren die fehlenden Zwischenstücke einfach hinzu, fügen die fehlenden Stammesabschnitte und Aststücke und Ästchenabschnittchen hinzu, so dass nun nicht mehr ein zerstücktes Etwas in der Welt ist, sondern der Anschein einer Einheit. Eines einheitlichen Zusammens aller Teile, die in einer Gestalt vereint sind; zu einer einheitlichen Gestalt vereint das Bewusstsein der Menschen die Teile, diese zerstückelten Verschnitte, zu einem Ganzen. Ein scheinbares Ganzes steht ihnen zwar nicht vor Augen, aber sie bestehen felsenfest darauf, dass dieses in Stücken ihnen vor Augen stehende Etwas nicht nur ein eigentlich unnennbares Etwas ist, sagte er, sondern ein Baum. Ein Baum sei es, wo doch jeder, der diese Einzelheiten sieht, eigentlich nicht willkürlich von einem Baum sprechen dürfte, eigentlich vom Eindruck her gar nicht von einem Baumganzen sprechen dürfte, sondern nur von einem im Wahrnehmungsbild zerstückelten Etwas. Von etwas, das niemand in diesem Dunkeln des Bewusstseins klar und deutlich je gesehen hat, sondern von dem alle immer nur meinen, sie hätten es gesehen. Die meinen, sie hätten einen Baum gesehen, wo sie doch tatsächlich immer nur irgendwelche Teile gesehen haben, die sie für Teile des übergeordneten Ganzen halten. Sie halten diese Stückelchen des Ganzen zugehörig, obwohl niemand, der hinschaut, es je als Ganzes sehen würde. Vielleicht geht jemand etwas herum, sieht aus anderen Standpunkten, wechselt sozusagen seinen Beobachtungsstandpunkt – in der horizontalen oder der vertikalen oder der diagonalen Ebene. Aber immer nur werden augenblicklich andere Teile sichtbar, irgendwelche Teile eines angenommenen Ganzen werden sichtbar. Doch im gelben Licht der Laterne wird nie ein Ganzes gesehen werden, sondern nur irgendwelche Teile, die als Teile eines Ganzen angenommen werden. Das ist allzu menschlich, sagte er, es ist dem Menschen in einer Art enzyklopädischen Wunsch allzu eigen, von Teilaspekten auf ein scheinbares Gesamtwissen, ein System der Systeme, zu schließen.

Der Mensch, der so schließt, sagte er, ist in seinem Schließen von Teilen aufs Ganze ein Sehnender. Er sehnt sich, sagte er, nach einem Ganzen, weil ihm nur so die Teile sinnvoll erscheinen. Ohne das Ganze, sagte er, könnten die Teile sinnlos sein. Sie könnten bedeutungslos erscheinen. Plötzlich skelettiert, könnten sie unbedeutend daherkommen. Der Mensch selbst könnte sich, als Teil der Welt, bedeutungslos erscheinen. Und die Erde, Teil des Sonnensystems, könnte nun plötzlich ohne besondere Bedeutung durchs Weltall rotieren, auf elliptischen Bahnen um den gelben Stern herum, aber ohne Bedeutung, sagte er, nicht mit Bedeutung, wie es die Menschen des Mittelalters oder die Anhänger des ptolemäischen Weltbildes glaubten, sondern schlicht und einfach ohne Bedeutungshaftigkeit. Der Mensch aber ist ein Wesen, der einen Sinn braucht, weshalb er auf Erden weilt. Er braucht diese Sinndimension, denn ohne Sinn wäre sein Leben sinnlos. Es wäre unerträglich, ohne jeglichen Sinn auf Erden zu vegetieren, weshalb sich der Mensch die Kunst und die Wissenschaft erschaffen hat. Die Dichtung und die Religion und die Philosophie. Nur deshalb, weil der Mensch Sinnstiftung braucht, erfindet er nebenbei die ganze menschliche Kultur. Irgendwann einmal fängt er an, etwas zu denken, erfindet so einen Anfang – und fortan wird das Erfundene weiterentwickelt. Aber am Anfang steht der Wunsch, das Selbstgewahrwerden des Bewusstseins für bedeutungsvoll zu erachten. Nicht als bedeutungslos, aber als etwas, das Bedeutung hat. Es kann eine kleine Einsicht sein, mit der es anfängt, aber der Wunsch nach Bedeutung ist schon in der allerkleinsten Einsicht da.

Es ist dem Menschen wichtig, nicht als schlichte Materie zu sein. Sondern sich dessen bewusst zu sein. Und dadurch schon wieder auf einer anderen Stufe zu sein als, sagen wir, ein bloßer Stein, sagte er. Irgendwie ist es seltsam, aber selbst der härteste Naturwissenschaftler wird sich nicht gleich einem Stein setzen. Er wird die Genese des Steines herleiten können, aus den Bedingungen des Planeten Erde in einem früheren Zeitalter. Dann vielleicht auch die Genese der Erde als einen durch die Astrophysik erklärbaren Prozess. Und so weiter, bis zum Urknall. Aber was dabei immer leicht übersehen wird, das ist die Konstruktivität, sagte er, dieses Konstruieren einer Verkettung von Ursache und Wirkung, ohne aber eigentlich etwas Konkretes erklären zu können. Man weiß auch heute nicht, was den Menschen, als Lebendigen, von toter Materie unterscheidet, sagte er. Man weiß darauf keine Antwort in den Wissenschaften. Man hat Teilerklärungen, wie es sich verhalten mag, und verkauft diese Teilerkenntnisse als die große und allumfassende Wahrheit. Früher in der Theologie, dann in der Philosophie, seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis hinein in unsere Tage in den Naturwissenschaften. Man mag zwar einzelne Schritte erklären können, aber eigentlich ist das alles verschwindend gering. Der Mensch ist so besessen darauf, dem allen einen Sinn, eine besondere Bedeutung zu geben, dass er es aufbauscht, dass er es darstellt, als ob es der Wahrheit letzter Schluss zwar noch nicht ganz, aber ganz nah an diesem sei. Das tut man an verschiedenen Stellen, zu verschiedenen Zeiten, wodurch es dem nachdenkenden Mensch eigentlich schon längst hätte auffallen müssen, dass dieses ganze Streben nach Bedeutungshaftigkeit eine allzu menschliche Eigenschaft ist, seinem Dasein – als phylogenetischer Menschheit als auch als ontogenetischem Individuum – einen Sinn zu geben, der nicht weniger zu sein hat als etwas Besonderes. Denn wäre es nicht etwas Besonderes, so wäre es gewöhnlich. Und dann schon nicht mehr interessant, sondern eben schon gewohnt. Das Gewohnte ist nicht mehr so bedeutend, wie es zum Zeitpunkt seines öffentlichen Durchbruchs war. Damals war es groß, jetzt nicht mehr. Das ist alles. Selbst für die naturwissenschaftlich Argumentierenden… –

Es ist das Gefälle. Der Mensch oder die Menschheit schreiten vor, aber sie tun es auf einer schiefen Ebene. Diese fällt ab, so dass alles Gefahr läuft, abzurutschen in die Unbedeutsamkeit, sagte er, das ist die ungeschminkte Wahrheit. Der Mensch sehnt sich nach Sinn und Bedeutung, aber er erlebt den Verfall. Nichts ist für immer. Selbst Gott ist gestorben. Und das nicht erst seit Nietsche oder dem tollen Menschen. Schon vorher ist Gott gestorben in den Bewusstseinen von Menschen, aber es ist nicht offen gesagt worden. Die Norm verbot diese allzu menschliche Figur des Denkens. Man verbot, um sich nicht konfrontiert zu sehen mit dem Vakuum der modernen Relativität. Kleine, ab und an vorbeischwirrende Teilchen sind es, aber das Große und Ganze ist angefüllt mit ganz viel Nichts. Es ist da, man schließt darauf, weil man es sich nicht anders vorstellen kann, aber das Ganze ist nicht erkennbar, sondern nur Teile. Teile sind da, wie Planeten und Staub und Sterne und Sternenstaub. Und dazwischen ist ganz viel Dunkelheit. Wir sehen immer nur Teile, Ästchen oder Sonnensysteme, Stammteile oder Superhaufen. Aber dazwischen ist ganz viel Nichts. Wir schließen zwar darauf, dass da etwas sein muss, wir können oder wollen uns nicht vorstellen, dass da tatsächlich nichts sein könnte – ein für alle Menschen seiendes Nichts. Das wäre kränkend für den Menschen. Also postuliert man die dunkle Materie. Und wir stellen Hypothesen auf, vermuten Eigenschaften, die wir direkt nicht nachweisen können, sondern die wir für sinnvoll erachten. Die wir annehmen müssen, damit das große Materielle nicht bar jeder Sinnstiftbarkeit existiert – oder gleichbedeutend: außerhalb menschlicher Kategorien und Kategorisierungen! Sondern Einzug hält in den Strudel der menschlichen Sehnsucht nach Sinn und Bedeutung. Sich im Ganzen des Universums zu sehen, das ist der Mensch und sein Wunsch, das ist der Wunsch nach der Bedeutsamkeit des Menschseins. Gerade auch des naturwissenschaftlichen Menschens, sagte er, gerade auch der wolle Sinnhaftigkeit.

Und schon in der Bibel ist er niedergeschrieben, dieser Wunsch nach Formen der Bedeutung, der grandiose Wunsch, Gottes auserwähltes Geschöpf zu sein. Der Mensch braucht dieses Denken, sagte er. Er ist darauf angewiesen. Sonst stürben die Kinder. Sonst würden sie niemals erwachsen werden in einer Welt, die ohne Bedeutung ist. Also schaffen wir da Bedeutung, wo naturgemäß keine ist. Wir kreieren die Kultur, damit in dieser Sphäre der Mensch sich als bedeutungsvolles Wesen spiegeln kann. In der Sphäre der kulturellen Schöpfungen, der Zeichenhaftigkeit, ist Bedeutung. Außerhalb ihrer nicht. Innerhalb der Sphäre: ja. Jenseits der Grenze: nein. Aber die Grenze ist nicht starr. Der Mensch erweitert die Grenze, manchmal fällt die Grenze auch wieder zurück. Der Mensch erkennt und vergisst, er ist Mensch, indem er Bedeutung schaffen will und die Grenze immer weiter verrücken will. Dadurch fühlt der Mensch sich bedeutungsvoll. Er erlebt sich dadurch als jemand, der zu schaffen und zu verändern fähig ist. Im Universum kann er nichts gegen die Prozesse tun, die sich in der physikalischen Welt abspielen; oder nur sehr begrenzt. Er kann es aber innerhalb dieser Kultursphäre, und darin versucht er, die Grenze zu verschieben, auch die der physikalischen Erkenntnis. Der mathematischen auch. Der Zeichenhaftigkeit überhaupt. Diese Sphäre des Menschen, die Bedeutung hat und Sinn stiftet, sagte er, ist die der Zeichen. Das ist bezeichnend, nicht wahr, dass der Mensch im selbst Kreierten Sinn und Bedeutung zu finden sucht, sie dann findet, dann meint, sie sei tatsächlich bedeutsam, und so den Sinn der menschlichen Existenz stiftet. Das ist es, sagte er, das ist des Pudels Kern. Der Mensch wird gestrebt durch sein Sein hin zum bewussten Sein innerhalb der Zeichensphäre. Und er bildet sich dann ein, dass dies tatsächlich bedeutsam wäre. Er findet Teile, weil er aus einer bestimmten Bewusstseinsperspektive schaut oder denkt oder erkennt, und in dieser Vorstellung kommt dann durch einen einfachen Analogieschluss die scheinbare Gewissheit, dass es ein Ganzes gäbe.

Wir können darauf schon verfallen, wenn wir das Zusammen zweier Elemente zu erkennen meinen, sagte er, schon zwei Teile können in uns die Vorstellung eines Ganzen, des Geeinten, des unter etwas darüber Seienden, hervorrufen. Der Mensch, der zwei Teile als zueinander gehörig zu erkennen glaubt, meint, dass es das Ganze gebe. Viele andere Menschen wähnen sich nicht einmal dessen, wenn sie ihr Leben lang alle Eindrücke erfahren haben. Aber im anderen Extremfall reichen schon zwei Teile aus.
Dann, sagte er, könne die Vorstellung eines Sphärischen entstehen, das man „Ich“ nennt. Menschen sagen oft ohne jegliche Bedeutungshaftigkeit: „Ich…“. Sie benutzen oder gebrauchen das Personalpronomen der ersten Person Singular, als sei es klar und deutlich, was dieses „Ich“ denn sei. Sie gebrauchen es aber, ohne es zu wissen. Sie wissen nicht, was das „Ich“ bedeutet, genauso wenig wie ich es weiß, sagte er. Aber wir gebrauchen es tagein tagaus, ohne Bewusstsein, als wüssten wir, worauf sich dies Element eines Satzes genau bezieht. Wir meinen, dass sich das Ich auf etwas bezieht, wir gehen davon ohne Hinterfragung oft genug aus. Auch ich, der hier frage, tue es für gewöhnlich im Alltag, denn wir können uns nicht immer mit dem „Ich“ beschäftigen, weil es zur Stagnation führen könnte, der Stagnation des Bedeutungswahnes. Aber das wäre subversiv gegenüber dem Menschlichsein, denn wir brauchen doch die Bedeutungshaftigkeit, selbst die der Bedeutungslosigkeit, sagte er. Die Bedeutungshaftigkeit der Bedeutungslosigkeit ist es, die uns nicht verweilen lässt im schlichten Vegitieren auf Erden. So streben wir hinein in die Hörsäle, in die Kirchen, in die kulturellen Institutionen, so schauen wir an die Sendungen oder hören die Programme, so veröffentlichen wir unsere Gedanken doch nur deshalb, weil es uns graust vor der Bedeutungslosigkeit. Wäre dem nicht so, niemand würde doch irgendetwas tun. Wir würden uns fortpflanzen, Geschlechtsverkehr betreiben wie die Paviane.

Sind wir Paviane? Ist das Ich ein Pavian? Oder wie ein Pavian? Der Pavian ist doch wiederum nur ein Begriff. Etwas, das sich im Bewusstsein befindet, und von dem wir gerade größtenteils gesagt haben, direkt oder indirekt, dass wir nicht identisch sind mit einem Pavian. Wir könnten das mehr oder weniger bewusst getan haben – oder mit Verweis auf Shakespeare, auf Novalis oder Musil, auf Einstein oder Jesus, auf eine Tochter oder einen Sohn, den Geliebten oder Verherten, kurz: auf Gefühle. Wir fühlen doch oft genug, ohne uns dieses Fühlen durch den Begriff des „Gefühls“ oder der „Liebe“ bewusst zu machen. So auch mit dem Ich, sagte er. Auch mit dem Ich verhält es sich ähnlich. Wir meinen, ein Ich zu sein oft genug, ohne es uns begrifflich vor Augen zu führen. Aber wenn wir dies tun, dann entschwindet es uns, und wir sehen ein, dass es nicht weit her ist mit der Reflexion, dass sie unbefriedigend ist, weil nichts endgültig Sinnvolles dabei herumkommt.
Das gleiche Problem hatte schon Augustinus mit der Zeit; wir haben das Problem mit dem Ich und dem Gefühl – insgesamt also: mit der Reflexion über diese dem Menschen doch intuitiv so Evidenten Seinsspezifika. Es ist dem Menschen und seinem Sein eigen, Sinnstifter sein zu wollen. Aber oft genug, wenn wir gerade meinen, jenen bedeutungsvollen Sinn, jene sinnvolle Bedeutung zu haben, da rollen sie die Ebene hinab, hinein ins Unbestimmbare. Der Mensch, ein Wesen auf dieser schiefen Ebene, ist so befangen, dass es ihm für gewöhnlich nicht nur nicht möglich ist, sich eindeutig zu erkennen, sondern dass es ihn auch zu viel Kraft kosten würde, permanent es zu versuchen.

Der Versuch, sich zu erkennen, sagte er, kostet Kraft. Das ist kräftezehrend. Aber es kommen immer wieder Menschen daher, die es dennoch versuchen. Die sich Gedanken machen über die Begriffe „Mensch“, „Ich“, „Zeit“, „Dasein oder Existenz“ „Sosein oder Bewusstsein“, die es immer wieder versuchen, zu verschiedenen Zeiten an den gleichen Orten oder zur gleichen Zeit an verschiedenen, die Kraft aufwenden und immer doch im Wechselspiel zwischen Reflexion und Gefühl befangen sind, frey sind in dieser unendlichen Thätigkeit. Das ist doch deprimierend wie beglückend, sagte er, dass es dem Menschen wohl immer so ging und immer so gehen wird, aber dass wir dennoch Stück für Stück weiter kommen, mal kleineren und mal größeren Schrittes auf dieser schiefen Ebene. Das können wir direkt nachweisen, aber was wir nicht nachweisen können, sagte er, dass diese Ebene ein Ganzes ist. Sie könnte sich auch unendlich in Spiralform einem Unendlichen, Unbedingten, Absoluten annähern, ohne die modale Kategorie der Möglichkeit des Erreichens je zu bewahrheiten. Das hat der Mensch zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten immer wieder erkannt – aber immer wieder kommen Menschen zu diesen Einsichten und Gedanken, zur Einsicht in diese Form von Weltauffassung, aber immer auf eine je andere Weise. Es sind vielfältige Weisen, in denen der Mensch zu solchen Einsichten und Erkenntnissen kommen kann. Der eine in jenem Medium, der andere in diesen Worten, sagte er, und das ist auch gut so. Die Menschheit schreitet wohl fort auf der Ebene, in welcher Form auch immer, und der Mensch versucht immer wieder, diese Teile der Erkenntnisse den Anschein eines stringenten Ganzen zu geben, indem er sie in ein System einzufügen sucht, in das Ganze einzufügen versucht, das man System nennt. Dann kommt die Bedeutsamkeit dem Einzelnen also in dem Maß zu, in dem er dazu fähig ist, die Ganzheit seiner Individualität als Stück in das größere Ganze des übergeordneten Systems einzufügen, heiße dieses nun Familie oder Menschheit, Wissenschaft oder Beruf. Die Menschen sammeln solche Einfügungen, denn sie fügen Teile der Sinnsphäre zu, optimalerweise in Zeichenform, denn diese Zeichen sind es ja, die dem Ganzen die Bedeutung verleihen. Damit das Ganze Sinn macht, machen Menschen das. Ob man das nun gut oder schlecht findet, sagte er, befürwortet oder verwirft, sagte er, das ist die Entscheidung des Einzelnen. Das ist im eigentlichen Sinn die Freiheit des Menschen, sich für das Eine oder das Andere zu entscheiden. Eine Entscheidung ist es, die zugleich eine Ganze und ein Teil ist. Sich dessen bewusst zu werden, das ist nicht notwendig, aber hilfreich. Gerade für junge Menschen sei das hilfreich, sagte er, zu reflektieren und zu fühlen, zu fühlen und zu reflektieren. Das sei wie Pingpongspielen. Willst du Pingpongspielen, fragte er mich, und ich sagte, dass ich das tun wolle; für eine gewisse Zeitspanne wolle ich Pingpongspielen. Und so begannen wir.


2. Kausalität - Wille - Setzung - Freiheit




Ich mag die Naturwissenschaften, sagte er, ich mag sie deshalb leiden, weil sie sich treu bleiben. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass sie immer alles richtig machen. In den besten Ehen gibt es Streitigkeiten oder Streitbares. Aber die Naturwissenschaftler bleiben ihrer Methode treu. Sie sind mit ihr so eng verbunden, dass man auch bei sich häufenden Streitigkeiten nicht davon auszugehen bracht, dass sich diese enge und erfolgreiche Liaison je lösen wird, sagte er. Ich meine, wenn wir genauer hinschauen und fragen, was denn diese Methode sei, der sie in Treue verbunden sind, so wird man den Begriff der kausalen Abgeschlossenheit der Physik hören. Das ist ein interessant klingender Begriff, nicht wahr, und er hat es in sich. Nicht weniger wird durch diesen Begriff gesagt, als dass die Physik oder die physikalische Welt aus nichts Weiterem bestehe als auch kausalen Verkettungen von physikalischer Wirkung und physikalischer Ursache. Eine Verkettung, wie die Treue, so auch hier eine enge und starke Verkettung zwischen Ursache und Wirkung, sagte er. Wenn irgendwo etwas in der Außenwelt geschieht, sagte er, in der Außenwelt: damit meine ich die extramentale Welt. Also, wenn dort etwas geschieht, sagen wir, wie es oft gesagt wurde: wenn eine Fensterscheibe zerbricht, so suchen wir nach der Ursache für das Zerbersten des Glases, für den Splitterhagel und die scharfkantigen Bruchstücke. Wir schauen uns um und suchen die Ursache, die dieses alles bewirkt hat. Und wir mögen einen Stein finden, einen Fußball oder ein anderes massehaltiges Objekt, das mit einer hinreichenden Geschwindigkeit gegen das Fensterglas geprallt und durchgeschlagen war. Das ist eine stringente Herleitung durch physikalische Kausalität. Und die Naturwissenschaftler gehen nun hin und sagen: das wollen wir immer so machen.

Das ist doch eine wirklich interessante Aussage, finden sie nicht, fragte er. Denn wenn man etwas will, so könnte man auch sagen: de dicto. Die Naturwissenschaftler gehen also hin und postulieren: wir suchen nach physikalischen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen. Wir wollen von der kausalen Abgeschlossenheit der Physik reden und uns dieser Methode treu bleiben. Das machen die Naturwissenschaftler so, ohne dass damit gesagt wäre, dass es sich de facto so verhält. Das, sagte er, ist damit ganz und gar nicht gesagt, sondern nur, dass es eine Konvention, also eine Übereinkunft gibt in der Gruppe der Naturwissenschaftler, so an die Ereignisse heranzugehen, physikalistisch an sie heranzugehen und sie physikalisch zu beschreiben: Masse, Energie, Erhaltungssätze, Kräfte und Felder, und so fort. Das ist das Material, das begriffliche Jongliermaterial, wenn sie so wollen, mit denen die Naturwissenschaftler sich und ihrer Methode treu bleiben. Und das nicht zu Unrecht, sagte er. Es ist ja recht erfolgreich, wie sie das tun. Als man Mitte des 19. Jahrhunderts begann, positivistisch die Welt zu beschreiben, da hatte man Erfolg damit. Es löste sich eine positive Naturwissenschaft aus dem philosophischen Überbau heraus. Fortan also war man gewillt, metaphysikfrei und monistisch zu argumentieren, sagte er. Dadurch kamen ja einige interessante Erkenntnisse zu Tage, die weder blind noch leer waren, sondern die kritisch nur demjenigen Erkenntniswert zuschrieben, das in der Welt sowohl beobachtbar als auch mit sinnvollen Begriffen beschrieben werden konnte. Neue Weltbilder entstanden so, moderne Weltbilder, die auch heute noch in der Markthalle der Weltbilder einen sehr großen und mit allerlei köstlichen Erkenntnissen eingedeckten Stand haben. So ist das nun einmal, sagte er. Man kennt Namen wie Einstein oder Newton. Man kennt sie, ohne dass man sie oder ihre Leistungen vollständig oder teilweise verstanden haben müsste. Sie sind präsent in der Markthalle der Weltbilder, man kennt sie, weil man allenthalben an ihnen vorbei kommt auf den Spaziergängen durch die Weltgeschichte. Sie sind so gravitätisch, dass man von ihnen quasi angezogen wird. Man muss sie nicht einmal attraktiv finden, aber ihre Wirkung tun sie dennoch. Das deshalb, weil sie sich durch ihre Entwürfe, Einsichten, Erkenntnisse, Thesen oder wie immer man das Geleistete auch benennen mag; weil sie sich sozusagen eingeschrieben haben in das kulturelle Gedächtnis der Menschheitsgeschichte, sagte er. Ja, das kulturelle Gedächtnis der Menschheit. Dabei ist gar nicht eindeutig nachgewiesen, dass es eine derartige Entität überhaupt gebe. Ein harter Positivist würde dies schlicht leugnen. Er würde argumentieren, dass sich im Gehirn der Menschen keine Region oder Schicht, kein Areal oder Neuronentyp befinde, der diese Entität repräsentieren würde. Der so argumentierende Positivist würde auf das Fehlen der Materialität im Gehirn des Menschen verweisen. Und das, sagte er, ohne das menschliche Gehirn bisher auch nur annähernd verstanden zu haben, sagte er lachend.

Man hat das Gehirn des Menschen nun schon einige Zeit erforscht, aber verstanden hat man immer noch nicht, wie es im eigentlichen Sinn all das leistet, von dem wir annehmen, dass es das tut. Zwar verdrängen die Naturwissenschaftler immer gerne die Philosophen des Geistes, sagte er, aber das ist auch nicht der Königsweg. Scheuklappen mag man Pferden anlegen, aber wer sich als Naturwissenschaftler selbst solche Scheuklappen anlegt, der wäre doch tierischer als jedes Tier. Oft braucht man als Geistesphilosoph nur Begriffe wie „phänomenales Bewusstsein“ oder „Qualia“ gebrauchen, und ein ganzes Heer an Naturwissenschaftlern legt sich schnurstracks Scheuklappen an, sagte er. Diese Begriffe rufen ein so intensives Unbehagen hervor, dass sie auf die Versammlung der Naturwissenschaftler unheimlich wirken wie Bannsprüche. Sie erstarren geradewegs in ihrem Denken, wenn sie solche Begriffe hören, weil diese Bannsprüche sind, für sie und ihre Methode. Diese Begriffe weisen nämlich darauf hin, dass es bisher eben noch nicht möglich ist, das Bewusstsein zu naturalisieren. Man kann naturwissenschaftlich nicht erklären, wie auf Grundlage der elektrochemischen Neuronensprache das Empfinden beim Trinken eines würzigen Glühweins oder beim Riechen und Schmecken einer frischen Madeleine entsteht. Es fühlt sich ja auf eine bestimmte Weise an, in solchen phänomenalen Zuständen zu sein. Und dieses Empfinden ist eines, das in der ersten Person Singular stattfindet. Es ereignet sich im Individuum, das sagen kann: „Ich empfinde den Geschmack des Glühweins so und so, auf diese oder jene Art und Weise.“ Der Naturwissenschaftler aber will objektive Aussagen tätigen. Er will alles in der dritten Person Singular erklären. Nicht ein: „Mir ist dies angenehm so und so“, sondern: „Es ist immer und für jeden Menschen so und so“. Das ist das Bestreben, der Methode treu zu bleiben. Das „Es“ der dritten Person ist irgendwie unpersönlich, also nicht subjektiv, also objektiv, also genau der richtige Modus zum Erklären der Welt. So verbannte man auch die Introspektion als Erkenntnismethode und berief sich fortan auf den Behaviorismus. Sie wissen schon, das Ding mit der Konditionierung, klassisch und operant. Pawlow und Skinner. Reiz und Reaktion – beides äußerlich, also physikalisch messbar. Das Innere – eine Blackbox. Das Äußere hingegen sei hinreichend, um Aussagen über den Menschen zu treffen, ihn behavioristisch zu beschreiben, sagte er. Da erspart man sich dieses lästige phänomenale Bewusstsein, sagte er hämisch grinsend. Das ist der eigentliche Grund, warum es immer wieder Anhänger des Behaviorismus gibt oder gegeben hat, weil man sich damit die Scheuklappenoffenbarungen erspart. Eine reine kausale Verkettung von Wirkung und Ursache, von Reaktion und Reiz. Nichts anderes. Das kommt dem Wunsch, nicht nur eine sehr gute Methode zu haben, sondern sie sozusagen auch ontologisch zu legitimieren, sehr nah. Man leugnet einfach, dass es das phänomenale Bewusstsein gibt. Oder man behauptet, dass es sich lediglich um ein Epiphänomen handele. Erschrecken Sie nicht ob der Begriffe, lassen Sie die Scheuklappen bitte weg, sagte er. Das bedeutet nur, dass manche Naturwissenschaftler das Bewusstsein für ein Beiprodukt der Gehirnaktivität halten. Sie ziehen eine Analogie zur Niere, die ja als Nebenprodukt Urin produziert. Oder eine Dampflokomotive, die als Nebenprodukt den Dampf produziert. So verhalte es sich auch mit dem Gehirn, dessen Bewusstsein eben abfällt bei der Aktivität der Nervenzellen. Ein ganz netter Gedankengang, ein nettes Gedankenexperiment, sagte er, aber nicht wirklich überzeugend, sagte er, mich überzeugt das keineswegs. Der Wunsch, ihrer Methode nicht dummtreu, sondern vollkommen berechtigt treu zu sein, steht natürlich auch hinter dem Epiphänomenalismus. Eine Spielart des Willens zur Macht, wenn man mich früge, um den sich hier in umzirkelnder Form immer dichter annähernden Gedanken zu entgehen, dass auch das Mentale auf die physikalische Welt einwirken könne. Das ist nun ein Satz, der wie ein Drehimpuls wirkt. Immer weiter fort wirkt die Bewegungsrichtung, bis in allerkleinste Abschnitte hinein, die man mathematisch formulieren könnte. Der Drehimpuls bleibt erhalten.

Also: Das Mentale, sagte er, wird jemand, wenn er beispielsweise für sich an einem kalten Wintertag vor dem Kaminfeuer sitzt und sich fragt, wessen er sich denn überhaupt sicher sein könne in der Existenz, in letzter Instanz doch nicht bezweifeln können. Denn auch, wenn alle Inhalte des Bewusstseins in ihrer Existenz nicht sicher bestimmt werden könnten, wenn alles gleichsam eingegeben sein könnte von einem bösen Dämon oder einem Supercomputer, welcher die Sinnesnerven unseres Gehirns per Elektrode reize – wenn all dies also uns dazu brächte, an der Existenz der Außenwelt zu zweifeln, so können wir hingegen doch sicher sein, dass wir es sind, die da möglicherweise getäuscht werden. Ich, sagte er, könnte getäuscht werden und nur wähnen, mit Ihnen hier zusammenzusitzen und zu sprechen, aber es bleibt doch dabei, dass dieses Sosein irgendwie existent ist. Denn ansonsten sprächen noch wüssten wir voneinander. Das Mentale also muss irgendwie mit der Existenz zusammenhängen. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in ihrem Atelier und malen in Acryltechnik und Mischtechnik ein Bild auf eine Leinwand. Dann mag Ihnen die Idee des Bildes vorgeschwebt sein, oder sie erschaffen Sie während des Malens und realisieren ihr Abbild zugleich. Dann übertragen Sie etwas Mentales, genauer: eine Vorstellung auf die Leinwand, allgemeiner: auf ein Trägermedium. Durch die Farben, die man hinsichtlich ihres Pigmentgehaltes oder der von ihnen reflektierten Wellenlängen des Lichtes physikalisch bestimmen könnte, wird eine mentale Vorstellung auf dem Trägermedium zu einem messbaren Sinneseindruck. Dieser Eindruck wäre nicht auf rein natürlichem Wege entstanden, oder die Wahrscheinlichkeit, dass ein identisches Bild auf rein physikalischem Wege, sagen wir: durch die Erschütterung eines Erdstoßes, entstünde, ist doch verschwindend gering. Zwar sind die Handbewegungen, mit denen Sie Pinsel und Spachtel und andere Gegenstände bewegt haben, physikalisch messbare Ereignisse. Aber diese sind doch wiederum nicht die letzte Ursache, sondern selbst wieder verursacht. Und jetzt wird es spannend. Wodurch wurden sie verursacht? Man könnte sagen: durch Reize, die auf efferenten Bahnen vom Zentralnervensystem zu den Muskeln des Arms geleitet wurden. Auch das wäre ein physikalisch messbares Ereignis. Aber wodurch wurden diese Impulse verursacht? Sie kamen nicht zufällig, als wäre der Arm von Krämpfen geschüttelt worden und habe so das Bild gemalt. Die Armbewegungen sind Bewegungen willkürlicher Muskeln. Also von Muskeln, die durch den Willen bewegt werden können. Aber jetzt sind wir an einer Stelle, da es brisant wird. Was ist denn, bitte schön, der Wille? Er ist kein Neuronentyp, kein Nucleus oder sonsteine Struktur. Man könnte ihn am ehesten als eine Kraft umschreiben, wobei das ja eine Metapher ist. Aber sei es drum, sagte er. Auch die Naturwissenschaftler sprechen von Kräften, auch sie gebrauchen den Begriff der Kraft metaphorisch, wenngleich das die Wenigsten wissen. Aber sie tun es unwissentlich, selbstverständlich, wobei es doch gerade nicht selbstverständlich ist, wie auch unser Beispiel es zeigt, nämlich indem wir den Willen eine Kraft nennen.

Möglicherweise ist sie eine Art vorgeschalteter Trieb, der uns solche Handlungen tun lässt, die unser Überleben wahrscheinlicher machen. Man könnte nach dem Zweck fragen, wozu denn das Malen eines Bildes zweckvoll sei? Vielleicht, weil es eine Form der Gefühlsäußerung ist. Dadurch fühlt sich der Mensch besser, wenn er seine Gefühle äußern kann. Das baut Stress ab und lässt unsereins uns besser fühlen. Oder es ist ein sozialer Zweck erreicht, indem andere Menschen das Gemalte interessant oder schön finden. Und diese Menschen sich so besser fühlen, fragen, wer Ihnen dies denn ermöglicht habe, den Künstler genannt bekommen und folglich ihm freundlich begegnen, mit Lob oder Anregungen, mit den durch ihn ausgelösten Gedankengängen oder Empfindungen, und so weiter. Es könnte also die soziale Stellung des Künstlers beeinflussen, ein Bild zu malen. Dies könnte dahinter stehen, der Wille, Einfluss nehmen zu können auf den common sense. Etwas herauszustellen, was Andere dann aufnehmen, fühlen oder auch reflektieren, dadurch sich mit dem Aufgenommenen auseinandersetzen, es mit Lust oder Unlust bewerten, mit Trefflichkeit oder Verfehltheit beurteilen, so evaluieren und in einen Prozess aus Empfangen und Senden einbezogen werden, den man als Grundprozess sozialer Kommunikation überhaupt herausstellen könnte. Ein Geben und ein Nehmen, so sagt es die Bibel. In den Kommunikationswissenschaften spricht man von Senden und Empfangen. Im Behaviorismus von Reiz und Reaktion. Aber damit diese physikalischen Prozesse sich einfügen lassen in solche Schemata, bedarf es doch mentaler Leistungen. Seien diese nun das Erfinden eines Schemata oder Malen eines Bildes. Das sind doch mentale Ereignisse, von denen wir das Gefühl haben, dass sie nicht rein physikalisch hervorgekommen sind. Irgendetwas muss doch noch wirksam gewesen sein, das mit dem Individuum zu tun hat.

Ich spreche gar nicht mehr von einem reflexiven Ich. Das wäre zirkulär, und ist unrettbar seit der Moderne, seit Mach. Aber irgendetwas muss doch gewesen sein, was solche Erfindungsprozesse angestoßen hat. Mag man dies nun eine Empfindung nennen, oder auf höherer Stufe: einen intentionalen Zustand. Das sind solche Zustände des Wünschens, des Hoffens, des Empfindens. Jeder intentionale Zustand ist immer verbunden mit Aboutness. Immer muss ein intentionaler Zustand auf etwas bezogen sein. Wenn ich fühle, dann fühle ich etwas. Ich fühle mich erfrischt nach einem Bad an einem heißen Sommertag, ich fühle mich aufgehoben im Freundeskreis, ich fühle mich angeregt durch Gespräche mit Ihnen. Ich wünsche mir etwas, zum Beispiel weitere solche Gespräche oder zu Weihnachten eine Fragmentsammlung des Novalis oder mit Freunden im Frühjahr in den Winterurlaub zu fahren. Das sind wieder jene Überlegungen, von denen der propositionale Gehalt eine Täuschung sein kann, aber der intentionale Zustand selbst, darüber kann ich mich nicht täuschen. Auch, wenn diese unsere Gespräche gar nicht wirklich existieren, so bin ich mir doch sicher, wenigstens den Wunsch zu haben, dass sie, wenn sie es nicht tun, so doch täten, sagte er. Und vom Wunsch ist es nur noch ein weiterer Schritt, zu überlegen, ob er nicht realisierbar ist.

Das gilt von jedem Wunsch, dass man sich überlegen kann, ihn zu realisieren. Aber jeder Wunsch, den man vorhat, in die Tat umzusetzen, kann Konsequenzen haben, weshalb wir dadurch, dass wir ihn zu realisieren suchen, zu Handelnden werden und somit zu Menschen, die für ihr Handeln verantwortlich sind. Die Freiheit, so zu handeln, wie man will, ist im Rechtsstaat verbunden mit den Konsequenzen für eine solche Handlung. Dadurch, dass wir dem Menschen Freiheit zugestehen, sagte er, gestehen wir ihm zu, nicht determiniert zu sein durch eine ewigwährende und abgeschlossene Kausalitätskette von Ursache und Wirkung. Oder zumindest: nicht vollkommen determiniert zu sein. Der Mensch, sagte er, hat solche Freiheit, davon gehe ich aus und davon geht eigentlich auch jeder Naturwissenschaftler aus. Es ist doch etwas vollkommen anderes, sagte er, ob ich mit Libet von der scheinbaren Determiniertheit einer Fingerbewegung spreche oder von der freien Entscheidung, mein Handeln nach kategorischen Imperativen auszurichten, sagte er, etwas vollkommen anderes sei das, so er. Kein einfacher, sondern ein komplexer Prozess auf einer höher reflektierten Stufe sei das, und da ist Freiheit mit im Spiel. Die Setzung eines kategorischen Imperatives: das ist eine freie Entscheidung. Da ist der Mensch frei, nicht nur im Spiel ist er frei, wie Schiller meinte, sondern auch im Setzen der kategorischen Imperative und dem Handeln also nach dem Sittengesetz ist er frei, wie Kant meinte, sagte er. Und auch im freien Spiel der Erkenntniskräfte ist der Mensch frei, ebenso in der unendlichen Tätigkeit des Wechselerweises zwischen Reflexion und Gefühl, auch da ist der Mensch frei, sagte er. Daraus entstehen dann Handlungen, die in der physikalischen Außenwelt wirksam werden, die ja eigentlich eine Welt des Bedingten ist, nicht wie die Innenwelt eine Welt des Unbedingten und der Freiheit, sondern die Außenwelt sei ja eigentlich eine Welt der Determination. Und vielleicht ist es wieder dem alttestamentarischen Wunsch des Menschen nach Grandiosität gezollt, wenn wir meinen, dass es Freiheit gebe, dass diese Freiheit wirksam werden könne in der Außenwelt, und zwar in Form einer Handlungskausalität aus Freiheit. Aber für mich ist es vielmehr eine conditio humana. Das ist doch ein ganz zentraler Kritikpunkt, sagte er, dass der Mensch handeln kann in einer Art Kausalität aus Freiheit. Ein Gesetztes, als Bedingung des Handelns. Das ist doch, was dem Menschen die Würde des Menschseins gibt, sagte er.


3. Sinnverlust und Sinnsuche



Manche Aussagen provozieren, sagte er. Das können sie aus den unterschiedlichsten Gründen, aber wenn sie es tun, dann fühlen wir uns von ihnen peinlich berührt oder aufgebracht. Manchmal sind Aussagen solcher Art wie eine Eruption oder ein Erdschlag, feurig oder erschütternd, so dass Weltbilder in Flammen aufgehen oder begraben werden unter dem Schutt der Hammerschläge. Wir brauchen nur in die Geschichte der Menschheit einen Blick zu wagen, sagte er, und dann werden wir solche Aussagen antreffen. Sie sind darin eingebettet, sie sind die Vorbereiter von Wenden, von Umbrüchen, von Kehrtwenden, von Paradigmenwechseln, von völlig neuen Sichtweisen auf unsere Welt, auf uns als Menschen, im Allgemeinen und Besonderen, sagte er. Prinzipiell können solche Revolutionen immer und überall geschehen. Aber manche Bereiche sind prinzipieller als andere, wenn man es so sagen kann, prinzipieller und sozusagen akzeptierter. Manche Menschen, die einer bestimmten Gruppe oder Klasse von Menschen angehören, haben zu bestimmten Zeiten so etwas wie eine Deutungshoheit. Das ist mehr als ein Bonus im ernsten Spiel der Meinungen. Es ist sozusagen der Joker. Aussage X hat heutzutage, wenn sie aus der Theologie käme, keinen Nimbus mehr, mitnichten hat sie das, sagte er, denn unsere Zeit ist nicht die der Theologen. Das muss deutlich gesagt werden, wir in Europa sind der Theologie im Allgemeinen eher abgeneigt. Man versucht, sie außen vor zu lassen, mit Gründen versucht man das. Der Atem der Aufklärung reicht bis in unsere Zeit hinein, wir spüren ihn sozusagen immer noch im Nacken, er ist empfindbar und anzutreffen in populären Schinken, die über Gotteswahn oder ähnliche Themen publizieren, sagte er. Das sind die pseudoaufklärerischen Werke unserer Tage, die natürlich längst nicht mehr die Sprengkraft besitzen wie Nietzsche, sagte er. Der hat einen tollen Menschen den Tod Gottes verkünden lassen, wie verrückt lässt er ihn über den Marktplatz rennen, in heller Aufruhr das Ungeheuerliche verkünden – und seine Zuhörer lachten. Sie nahmen es nicht ernst, was der tolle Mensch so toll auf die Formel brachte, sie verlachten diesen seltsamen Verkünder des Verkündungsendes. Sie diskreditierten ihn, sie mussten das tun, weil der Mensch immer so auf Sinnkrisen reagiert, sagte er, sie reagieren durch hilfloses Verlachen, weil sie ansonsten verrückt würden. Sie lachen bis zum Verrücktwerden, um verdrängen zu können, sagte er, lachend verdrängen sie das Ungeheuerliche, versuchen, es so zu verarbeiten durch schallendes Gelächter. Allzu menschlich ist das, sagte er, denn Sinnkrisen sind das Allerschlimmste, was Menschen erleben können. Das brechen Welten zusammen. Und Weltbilder gehen unter, unter schallendem Gelächter werden sie zu Grabe getragen, noch im Beerdigen des Sarges lächeln sie gequält, aber prusten nicht mehr aus voller Brust, denn wenn der Sarg langsam unter feuchter Erde verschwindet, dann wird der Mensch sich gewahr, dass etwas verloren ist, unwiderruflich verloren wurde.

Dabei mehren sich die Anzeichen schon einige Zeit vorher. Die Vorboten sind erkennbar. Für viele erst im Nachhinein, was ja oft so ist. Wenn wir erst einmal wissen, wie etwas funktioniert, sagen wir nur allzu gerne: Na klar, so also ging das vonstatten, das hätte ich auch sehen, machen, tun können! So kommt der Mensch daher. Aber vorher, wenn er seiner vollmundigen Worte eine Tat hätte vorhergehen lassen können – da lacht der Mensch über Menschen, die es wagen. Die den Seiltanz wagen, abzustürzen wagen in das fratzenhafte Gelächter einer zur Seite weichenden Menge auf dem Marktplatz. So eigen ist das den Menschen, sagte er, so widerlich eigen ist des Menschen Selbstüberschätzung, die mit Ignoranz und Verachtung gepaart ist gegenüber allem Ungeheuerlichem. Wäre der tolle Mensch aber ein Naturwissenschaftler gewesen, oh: wäre er es gewesen! Hätte er nachweisen können, dass ein bestimmter Gehirnbereich für allen Gotteswahn verantwortlich sei, eine Überproduktion eines Neurotransmitters oder eine Hemmung bestimmter Strukturen – wie wäre er ehrfürchtig mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. Das wäre der Joker gewesen, der den Tod Gottes nachweisende Naturwissenschaftler. Man wäre ihm voller Ehrfurcht begegnet, Hohelieder hätte man ihm gesungen, sein Wort in Menschens Ohr, sagte er, hätte so bedeutsam geklungen, wie die Worte des tollen Menschen lächerlich klangen. Aber das ist nichts Neues, sagte er – dass Herkunft das gesellschaftliche Gewicht einer Aussage maßgeblich mitbestimmt, das ist doch nichts Neues, bei Weitem nicht. Selbst ins genaue Gegenteil verkehrt ist es gewesen. Denken Sie an Galilei, sagte er, denken Sie an Kopernikus. Das Buch der Natur, welches in der Sprache der Mathematik geschrieben sein soll, war natürlich ein Affront gegen die heilige Schrift. Superbia war eine solche Aussage, gotteslästerlich und also gefährlich. Man lief Gefahr, angeklagt zu werden, einem Großinquisitor begegnen zu müssen, brennen zu müssen für solche Aussagen. Zuvor gefoltert, zerquetscht zu werden in Daumenschrauben, Knochenbrüche erleiden zu müssen im Spanischen Stiefel, Stürze auf den Spanischen Bock, spreizende Mundbirnen und andere solcher höllischen Erfindungen. Damit musste gerechnet werden, wenn man den Menschen vorrechnete, wie es sich im Universum verhalte mit Erde, Sonne und anderen Planeten. Revolutionär waren diese Berechnungen, aber mehr noch: sie waren plausibel und mit Mitteln der damaligen Zeit rational schwer zu widerlegen. Die Rationalität ist überhaupt ein Mittel, das in der Folgezeit immer wieder großen Anklang fand bei den Wissenschaftlern der Natur. Wenn die Naturwissenschaft seitdem ein Deutungsmonopol sich aufgebaut hat, so ist die Rationalität sozusagen die Währung, mittels derer man im Binnenmarkt Handel treiben kann. Ein durchaus abgeschotteter Binnenmarkt ist die Naturwissenschaft, profan protektioniert ist er, sagte er. Man muss hohe Preise zahlen, wenn man Überlegungen aus anderen Wissenschaften oder der Philosophie einbringen möchte, man ist automatisch im Nachteil, wenn man nicht Mitglied dieser geschlossenen Gesellschaft ist. Das würde so natürlich niemand sagen, das wäre rhetorisch ein Faux pas, wie Peanuts, denn man will doch schließlich nicht als elitär verschrieen werden. Das möchte man nicht, auch wenn es die Wahrheit trifft, aber man ist ja schließlich darauf bedacht, gesellschaftlich sozuagen legitim an der Spitze zu stehen, nicht despotisch zu thronen, sondern sozusagen demokratisch die Beste aller Deutungen zu haben – Deutungen? Das eigentlich nicht, man meint, mehr zu haben als Deutungen. Mindestens seien es die Schlüsse auf die beste Erklärung, man könne die Welt am besten naturwissenschaftlich erklären. In Formeln und mit den Mitteln der Logik und der Mathematik. Die Gesetzmäßigkeiten seien nur durch diese Währung sozusagen finanzkräftig aufstellbar.

Dabei kommen viele Erkenntnisse aus anderen Bereichen. Die Menschen sind ja nicht vor den Naturwissenschaften alle doof gewesen, alle dumme Tölpel oder tolle Lunatiker. Wobei hinter vorgehaltener Hand, so unter sich … nevermind, sagte er. Jedenfalls wandern Ideen, es gibt die Mem-Theorie, und es gibt meines Erachtens eine Drift von Ideen, auch hinein in die Naturwissenschaften. Das können bereits bekannte Ideen sein, solche auch, die vergessen und wiedererinnert wurden, neu entdeckte Ideen, wie auch immer. Aber diese können dann irgendwie Einzug finden in das, was man Diskurs nennt. Ein geprägter Begriff, dieser Diskursbegriff, die meisten Wissenschaftler kennen ihn, manche gebrauchen den Begriff auch, so genau weiß man aber nicht, was ein Diskurs ist. Aber das scheint auch nicht vonnöten, denn irgendwie funktioniert der Diskursbegriff. Das ist ähnlich dem Vorgehen mancher Naturwissenschaftler, lachte er, denn auch Naturwissenschaftler gehen nicht immer hin und überlegen im Vorfeld, ob etwas funktionieren könnte. Sie versuchen es einfach. Sie gehen hin, sagte er, und experimentieren hypothesenlos. Einfach mal schauen, was dabei herum- oder herauskommt, sagte er, wie das mit dem Diskursbegriff auch ist. Man wirft ihn ein, und er funktioniert. Also wird er pragmatisch beibehalten, weil vielleicht auch nicht alle Tage jemand kommt, der wirklich triftige Begriffe prägen kann. Das ist sozusagen sternstundenselten, sagte er, dass Begriffe von tiefen- und breitenwirksamer Tragweite geformt werden. Solche Begriffe sind etwa „Semiosphäre“ oder „Überich-Ich-Es“ oder „Evolution“ oder „Quantensprung“, die irgendwie funktionieren, wenn man sie nennt, sagte er. Aber die Wenigsten begreifen sie in voller Bedeutungsextension. Sie werden oft gebraucht, als Schleusungsmittel, um hineinzukommen in den Binnenmarkt, sagte er. Ähnlich, wie früher die Naturwissenschaftler immer auch Zitate aus der Bibel anzuführen wussten. Es gibt sozusagen eine Oberaufsicht, die einem Türsteher gleicht. Wenn man dann in den richtigen Begriffen gekleidet ist, dann kann es sein, dass man hineinkommt in den Binnenmarkt. Man muss sozusagen mit rationalen Begriffen Eintritt zahlen, sagte er. Dann ist man drin. Aber das reicht ja meist nicht. Man muss auch etwas leisten, wenn man nicht als armer Schlucker in Gassen enden möchte. Man muss sich bemühen, weitere Begriffe zu gebrauchen, sie zusammenzustellen, am besten zu Theorien oder gewieften Thesen, damit man Aufmerksamkeit bekommt. Das ist dann vergleichbar dem Getummel auf roten Teppichen. Man versucht, das Blitzlichtgewitter zu erheischen. Manche biedern sich an, manche kokettieren, es ist ein Verteilen der Mittel aus einem Pott. Denn letztlich wollen die Meisten nur das Eine, das ist immer so gewesen. Die Meisten streben nach Anerkennung, nach Finanzmitteln und Posten, nach Professuren und Förderungen, nach Preisen und Auszeichnungen höchster Ehren. Der Naturwissenschaftler ist auch da rational, auch da ist er jemand, der den Willen zur Macht erliegen kann, allzu leicht kann man dem Willen zur Macht erliegen, zeigen auch Filme. Macht ist die dunkle Seite. Das zeigen auch Filme, sie reflektieren das sozusagen. Sie sind die Revolutionen im kleinen Manne, sagte er. Aber das wäre ein anderes Thema. Wir sind ja gerade damit beschäftigt, zu klären, was denn Revolutionen im Großen sind.

Sicherlich ist Mach zu nennen, sagte er. Das Ich, so er, gebe es nicht, es sei unrettbar, sagte er. Das Ich, das Heiligtum der abendländischen Philosophiegeschichte, das durch Descartes und Kant geadelt wurde, ach was! In den Stand des Göttlichen erhoben wurde, das ist unrettbar, sagte Mach. Natürlich gab es im Vorfeld auch schon andere Menschen, die sozusagen die Vorarbeit geleistet haben. Sonderlich in den Künsten ist das geschehen. So haben die Frühromantiker des Jena Kreises sich gegen Fichte und die deutschen Idealisten abzugrenzen versucht durch eigene philosophische und ästhetische Reflexionen. Man hatte gemerkt, dass die Theorien über das Ich zirkulär sind. Man setzte das voraus, was man zu beweisen suchte – eine der beiden großen Fehler, die man in der Philosophie begehen kann. Der infinite Regress, und der Zirkelschluss, sagte er. Und das reflexive Ich kann beides sein. Der höchste Punkt der Philosophie, so Kant, sei das transzendentale Ich, die Wirksamkeit der Kategorien, die dem Cogito noch vorhergehen, sagte er. Und das stürzt nun ein, verbrennt im Gedankenfeuer. Wie Rousseau und die französische Revolution, so die Frühromantiker und das unrettbare Ich, sagte er. Die Ästhetik wird zum Verweisenden auf das Absolute, das Unbedingte. Man suche das Unbedingte, so Novalis, aber finde immer nur Dinge. Das ist symptomatisch. Die Dingenwelt ist dem Menschen zugänglich, über die Sinne kommen Eindrücke ins menschliche Gehirn. Diese bewirken Empfindungen. Und Empfindungen, so Mach, seien die Konstituenten des Bewusstseins, nicht das Ich. Das Ich ist unrettbar, stattdessen: Empfindungen. Es gebe eine physikalische und eine psychologische Wirklichkeit, und die Elemente der psychologischen Wirklichkeit seien die Empfindungen. Das ist schon sehr interessant, sagte er, das ist so zentral für die Moderne und ihre Denker, ihre Künstler. Es gibt nicht mehr die absolute Instanz, die man Gott oder Ich nannte. Sie existiert nicht mehr, diese Ichinstanz. Der Mensch ist nicht mehr das Ich, das durch die Mittel der Rationalität und Logik widerspruchsfrei nachweisbar sei. Das Ich ist eine Illusion. Es ist nicht existent, es scheint da zu sein, man gebraucht den Begriff „Ich“ immer so, als komme ihm der logische Stellenwert der Existenz zu – Im Sinne von „Ich bin ich“. Das funktioniert im Alltag ja auch ganz gut. Aber eigentlich funktioniert es nicht, sondern es scheint zu funktionieren. Es ist die Illusion des Funktionierens, aber eigentlich ist es trügerisch, vom Ich zu sprechen. Denkt man das konsequent weiter, sagte er, so müsste man eigentlich auch das Subjekt eliminieren. Welch Aufschrei! Man hat das versucht, sagte er, Foucault und Derrida haben das versucht, sie wollten das Subjekt eliminieren, aber das hat einen Aufschrei gegeben sondergleichen! Warum dies? Warum lachten die Menschen nicht? Sie lachten nicht, sagte er, weil es sie existentiell erschüttert hätte. Ein Gott, irgendwo im Metaphysischen, das kann man verrkaften, auch wenn er tot wäre. Aber das Sterben der allertiefsten Wurzeln, vom Wechselerweiß des Gefühls und der Reflexion, die wir in der Sprache finden können, diese Struktur aller Strukturen für die menschliche Sinnstiftung – die soll tödlich erschüttert werden durch die Elimination des Subjekts? Die ganze Logik der Prädikation von Prädikaten in Bezug auf ein Subjekt – soll vernichtet werden? Das ist so offensichtlich ungeheuerlich, dass es dem Menschen gar nicht anders möglich war, als laut aufzuschreien, voller Furcht vor den existentiellen Schmerzen einer solchen Sinnvernichtung. Das ist der Grund, warum in Deutschland diese poststrukturalistischen Theoretiker einen schweren Stand haben, sagte er.

Wenn die Sprache sich als fehlbar erwiese – was sie ja ist. Die Sprache ist fehlbar. Sie ist mehrdeutig, ungenau, verwirrt des Öfteren, fügt Strukturen ein, die so nicht existieren. Es gibt keine Subjekt-Objekt-Struktur in den Dingen, sondern nur in der Sprache, die sich auf die Dinge bezieht. Aber man schließt oft unbewusst, dass die Sprache ein Abbild der Dinge wäre. Man meint, dass die Sprache in einer Art Abbildtheorie doch die Strukturen der Welt grammatikalisch erfasse. Dabei ist es der Mensch, sagte er, der durch die Sprache der Welt eine Struktur gibt, um sie so sinnvoll erfassen zu wollen. Aber das ist ein Trugschluss. Es gibt nicht die ideale Sprache, die dessen möglicherweise fähig wäre, sie existiert nicht. Der frühe Wittgenstein, sagte er, ist tot. Keine Isomorphie zwischen Sprache und Welt. Konsequenterweise kann man berechtigt darüber nachdenken, das Subjekt zu eliminieren. Aber dem Menschen graust es vor Sinnverlust. Bang starrt er auf die Möglichkeit des Sinnverlustes, und schreit auf. Der tolle Mensch hat solchen Sinnverlust empfunden, der durch die Norm sogenannte Verrückte ist nicht verrückter als die Normierten, nur anders verrückt, weil er andere Anordnungen von Sinnstiftung vornimmt. Das menschliche Gehirn scheint Ordnung zu brauchen.

Man braucht Ordnung, um sich orientieren zu können in der Welt. Das ist das Verbindende all dessen, was hier diskutiert wurde. Wir suchen Ordnung und Sinn, damit wir überleben können. Wir brauchen Konstanz in unserer Welt, auch wenn diese gar nicht wirklich existiert. Nichts ist ewig, Gott ist tot. Aber auch nichts ist langandauernd. Die Identität ist tot. Das Ich ist unrettbar, wir sind heute andere Menschen als vor sieben Jahren. Nur wenige Wochen, und der menschliche Körper verändert sich auf zellularer Ebene grundlegend. Die Biologie legt uns nah, dass Identität in der Natur nicht gewährleistet ist. Selbst die Grundstruktur der Biologie, die Desoxyribonukleinsäure, verändert sich durch den Vorgang des Kopierens. Original und Kopie sind unterschiedlich, wusste auch Derrida. Der Wunsch nach vollkommender Identität ist der Wunsch nach Konstanz, nach festen Grenzen, nach einem Ich oder sonsteiner Instanz. Nach einer übergeordneten, den Wandel überdauernden Instanz im Menschen. Platon nannte es die Unterblichkeit der Seele, so auch im Christentum. Die Seele, als unsterblich gedacht, ist der Wunsch nach Konstanz, selbst über das materielle Leben hinweg. Der aufgeklärte Descartes versucht noch einen ontologischen Gottesbeweis, den Kant dann destruiert. Kant versucht, wenigstens im Leben des Menschen das transzendentale Ich als konstant zu retten, dem dann Mach endgültig den Todesstoß versetzt. Aber die Sprache sei doch etwas Konstantes, deren Strukturen. Nein, so die Poststrukturalisten, auch das stimmt nicht, ist Illusion, ist nicht zu retten. Doch diesen Sinnverlust hat der Mensch irgendwie nicht wahrnehmen wollen. Zwar lachte er nicht, aber verdrängt hat er auch das. Die Angst vor dem Sinnverlust ist so groß, dass dieser verdrängt wird. Willkommen, Freud. Das ist doch hochinteressant, sagte er: Wir befinden uns in einer Zeit, in der es gärt. Unsere Zeit ist ein Hotspot, sagte er. Es ist etwas Neues, ein Entstehen, ein Werden …


4. Kristallisationen



Ja, sagte ich, ich spüre mich wieder. Das Gefühl strömt wieder in meinem Körper, ich spüre ihm nach durch die Vorstellungskraft: vom Scheitel an abwärts, in meine Arme, an meiner Vorderseite entlang, mein Bauch, das Zentrum. In die Oberschenkel hinein, an den Kniegelenken vorbei, hineinströmend in die wärmer werdenden Füße, der Spann, meine Zehen. Und auf inneren Bahnen wieder hinauf zum Scheitel, meinen Rücken hinunter, Schulterblätter, Wirbel, Steiß. Po, hintere Oberschenkel, kribbelnde Waden, Ferse - und endlich: die Sohle. Ich spüre mich wieder, sagte ich, und fühlte in der Körperlichkeit etwas Verbindendes, mich mit der Außenwelt in Kontakt Bringendes, Beweltlichendes. Das kommt mir vor wie eine Wiedergeburt, ein Wiederkehren entbehrter Empfindungsfähigkeit. Vom Gipfel aus Granit geschaut, erblicke ich auf dem höchsten und tiefsten Gestein lebendiges Moos. Auf dem Feurigbunten grünt es. Es lebt das Leben auch im Kargen, lebt auf, ertrotzt oder erschleicht oder bemächtigt sich leise, doch sichtbar, seinen Platz. Wie aus dem Wasser, das weiter unten am Fels brandet, wie das belebende Nass, aus dem das Leben entstand, in dem das Leben auch ein Artensterben überlebte, so kehrt nun auch die Artenvielfalt langsam, aber sicher, zurück in meinen Geist, des Lebens wundervolle Mannigfaltigkeit wirkt belebend, es ist ein Kribbeln, gespürt ist es, das Wiederkehrende. Und mit dem Belebenden keimen auch die einst verkapselten Gefühle, sie keimen im nährstoffreichen Boden, der Brach lag in der Gemengelage, jetzt Wachstum spendet durch seine Feuchte und seinen Mineralgehalt. Mineralsalze nähren die Wurzeln der Pflanzen, die durchs Dunkel des Erdbodens sich schoben, um zu sprießen auf dem Feld der Gefühle. Ein weites Feld, so empfinde ich jetzt, ist es; mit weitaus mehr Varianten als man ahnt. Es ist etwas Ähnliches, aber doch Verschiedenes, zu wissen und zu empfinden; beides gehört zu einander, wie Gefühl und Reflexion, wie Passivität und Aktivität, wie Geben und Nehmen, wie Zurück und Vor, wie Verteidigung und Angriff, wie Weiblich und Männlich, Weichheit und Härte, ein Absinken und Aufrichten, das "Mu" und das "Om", sagte ich, wie Einatmen und Ausatmen, gehört das zusammen und kann nur zusammen dem Menschen das Menschsein begreiflich und erlebbar machen. Ich denke, ich fühle, ich empfinde, ich stelle vor, ich spüre und intuiere, ich lebe und lasse leben – und langsam, wie ein sich zusammenschließender Kreis, wie eine gewellte Linie, die Dunkles und Helles trennt und auch verbindet, wie konträre Punktuationen im großen Ganzen, wie Verweis und Wechselerweis, bilden und ergeben sich Urformen des Menschlichen. Der Mensch, erkennend und empfindend, sich und das ihn Umgebende, das Kleine und Große, das Kleinere und Größere, sodann das Kleinste und Größte, Mikrokosmos und Makrokosmos, Analogien, Verbindungen, Verweise, Vorstellungskosmos und der Keim des Gefühls, so dicht beieinander, so vertraut, so weit entfernt, so gegensteitig – so reziprok. So verwandelnd wieder sich dieser abstrakte Begriff in ein Hin und Her, wie Ebbe und Flut am Meer, wie Berge, an deren Fuß der Urwald grünt, auf deren Rücken die Nadelhölzer wachsen, auf deren Kuppe Schnee und Gletscherwelten sich auftun – die Natur in ihrer vielfältigen Ganzheit, sie ist es, nach der ich mich sehne, sagte ich. Ich sehne mich danach, die Welt zu entdecken, sagte ich, zu reisen, Welt erleben, nicht mehr nur durchdenken, kantisch sozusagen über Afrika schreiben, nein, Erfahrung soll hinzukommen, sie belebt, sie verbindet sich mit den Salzen zu Kristallisationen. Kristallisation, oh du Sinnbild! Du chemischer Prozess, naturaler Dialogpartner, im Außen wie im Inneren bist du sinnbildlich beidseitig, aber mehr, ein Zusammen und ein Getrenntes zugleich, mal Mischung und mal Gemisch, je nach klimatischer Umgebung, nach Umweltbedingungen, nach Erlebniswelt. Durch Gestein sickernder Regen, sich anreichernd mit Mineralsalzen, durchsickernd die Schichtungen, tropfend in Höhlen, fließend in Rinnsalen zur Quelle, Quelllauf, Bäche, Flüsse, Ströme, Mündungen, Meere, Ozean – Verdunstungsprozesse, Sedimentierungen und Wiedergeburt des großen Kreislaufes in trauter Atmosphäre des blauen Planeten. Atmosphärische Prozesse, sagte ich, empfindend und erlebend, durchdenkend und begreifend, verstehend und vermittelnd, medial in Zeichen- und in Formelform, mathematisch und semiotisch – wechselseitiges Prinzip, Übersetzbarkeit, enzyklopädisches Vernetzen in sich bildenden Formationen, durchsickernd der Regen, belebend die Felder. Auf dass es grünt auch in dir, sagte ich, auf dass wir wieder im Geiste experimentieren, verbindend Erlebtes und Gedachtes – in der Biosphäre, der Semiosphäre, im gelebten Leben – als ganzheitliche Menschen.


Impressum

Texte: Ttitelbild: "Passanten", Margret Hofheinz-Döring, Öl.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2009

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