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Das Mädchen wanderte durch den dämmernden Wald. Auf Wegen und Pfaden, durch Gestrüpp und Dickicht kam sie zu einem Teich, der inmitten einer Lichtung im Mondschein lag.
Silbrig schimmerte das Wasser, und das Mädchen setzte sich ans Ufer.
Eigentlich mochte sie das Wasser nicht, denn es schimmerte nur an der Oberfläche. Darunter, so wusste sie, wurde es dunkler und dunkler, Schlingpflanzen wucherten dort, die Knöchel greifen und Körper in die Tiefe ziehen konnten.
Und Steine lagen dort am Grund.
Sie wusste nicht mehr, wie viele es waren, wie oft sie schon welche in den Teich geworfen hatte; Stein um Stein, immer mehr über all die Jahre. So, dachte sie, ist der Teich wenigstens nicht mehr einsam, nicht mehr leer.

Wie sie am Ufer so halb träumend saß, hörte sie eine Stimme aus der Ferne.
Sie war leise, kaum vernehmbar, doch irgendwo her kannte sie ihren Klang.
Das Mädchen schaute sich um und sah plötzlich neben sich einen Stein.
Sie erschrak und wollte flüchten, doch wie in einem Traum kam sie nicht von der Stelle.
Da öffnete der Stein die Augen und sprach: ”Warum willst du weg laufen? Bin ich denn so hässlich und abstoßend?“
„Lass mich!“, schrie das Mädchen, „Ich will dich nicht sehen!“
Der Stein aber sprach weiter: „Ich gehöre zu dir und liege nicht zufällig an diesem Ufer.“
„Ich werde dich in den Teich schmeißen!“, rief das Mädchen. „Du sollst hier nicht offensichtlich liegen bleiben. Das will ich nicht!“
Der Stein sagte: „Ich bin sehr alt. Früher einmal war ich größer. Doch mit der Zeit zerbrach ich in Stücke und liege seitdem verstreut an den Ufern und in den Wassern dieses Teiches.“
„Hier liegen wirklich sehr viele Steine.“, sagte das Mädchen nun etwas ruhiger.
„Das ist wahr.“, bestätigte der Stein. „Und du bist hier schon vielen von meiner Sorte begegnet.“
„Woher weißt du das?“, fragte das Mädchen.
„Nun, wir mögen zwar Steine sein, aber auch wir sprechen untereinander miteinander. Wir tun dies in Bildern und Melodien, mit Gefühlen und Gerüchen.“
Das Mädchen legte zwei Finger an die Stirn und den Daumen auf die Backe, blickte auf den Teich und erinnerte sich, auch schon die Sprache der Steine vernommen zu haben.

Plötzlich aber rief sie: „Ich will das nicht! Lasst mich! Mit euch will ich nichts mehr zu tun haben!“
Der Stein blieb ruhig liegen und sagte: „Wir gehören zu diesem Teich wie dieser Teich zu dir gehört. Wir gehören auch zu dir, wie du zu uns gehörst.“
„Ich werde dich in den Teich werfen!“, schrie sie aufgebracht und nahm ihn in ihre Hand.
An der Stelle, wo der Stein lag, spross nun Schilf mit scharfen Blättern in die Höhe, die das Mädchen schnitten.
Das Mädchen aber hielt den Stein fest in der Hand.
Immer mehr Schilf wuchs aus dem Boden.
Da sagte der Stein: „Das passiert immer, wenn einer von uns in den Teich geworfen werden soll, wenn wir vergessen werden sollen. Erinnerst du dich?“
„Ja!“, schluchzte das Mädchen. „Aber es ist besser so. So muss ich wenigstens nicht mit euch reden und kann euch vergessen.“
Da sagte der Stein: „Für den Moment magst du Recht haben. Doch der Lauf der Dinge ist folgender: Dieser Teich ist lebendig. Er wandert durch den Wald. Und irgendwann wird er soweit gewandert sein, dass der ehemals von Wasser bedeckte Grund zum Ufer wird. Und dann liegen wir wieder hier. Dann sprechen wir nicht mehr einzeln zu dir, sondern als Chor. Und es mag den Menschen schwer fallen, fast unmöglich sein, dann noch Ordnung in die unsrige Sprache der Bilder und Melodien, der Gefühle und Gerüche zu bringen.“
Das Mädchen ahnte, was der Stein ihr damit sagen wollte. Schon öfters hatte sie das Gefühl, die Kontrolle über sich zu verlieren. Das war eine schreckliche Vorstellung, die sie ängstigte. Doch woher wusste das der Stein?
„Wir Steine sprechen untereinander miteinander.“, sagte er ruhig. „Stetig und immer.“
„Worüber sprecht ihr?“, fragte das Mädchen und legte den Stein wieder ans Ufer. Das scharfblättrige Schilf sank darauf zu Boden.

„Wir sehnen uns, endlich wieder vereint zu sein.“, seufzte der Stein. „Wir wollen wieder zusammen gehören und nicht zersprengt und verstreut in der Gegend liegen.“
Das Mädchen schluckte schwer: „Das ist aber unmöglich. Ihr werdet nie wieder zu einem großen Stein werden.“
„Das stimmt wohl“, sagte der Stein. „Wir wurden zerrissen und Steine kann man nicht flicken.“
Auf einmal spürte das Mädchen eine tiefe Verbundenheit mit dem Stein. Wie er dalag und alles in einer so traurigen aber wirklichen Stimme sagte, wie viel er über das Leben wusste. Und sie wurde auch sehr traurig und schluchzte: „Das war alles so schrecklich.“
„Ich weiß“, sagte der Stein mitfühlend. „Es schmerzte sehr und schmerzt immer noch. Auch wir fühlen mit den Bildern und Melodien mit, wir sind die Mosaiksteine des großen Bildes, das zerstört wurde.“
„Habe ich daran Schuld? Habe ich euch zerstört?“
„Nein, das hast du nicht. Das waren andere. Sie haben all die Bruchstücke hier an das Ufer des Teiches gebracht. Und als du das erste Mal hierhin gekommen bist, hast du diesen großen Scherbenhaufen gesehen. Und es tat dir sehr weh. Du hast dann Stein um Stein in diesen Teich geworfen, weil du den Anblick nicht mehr ertragen konntest.“
„Was hat das große Bild gezeigt? Kannst du mir das sagen?“

Der Stein seufzte: „Leider nicht, nein. Wir liegen weit zerstreut und zu tief unter der Oberfläche des Teiches. Deshalb zerfließen unsere Ahnungen vom großen Bild, das einst hier abgeladen wurde. Wir wissen nur, dass wir viele sind. Jeder für sich ein Bruchstück des Mosaiks. Wir spüren zwar, dass wir zusammen gehören, sehen Teile davon. Doch sind sie ungeordnet; wie ein großes Puzzle, weißt du.“
„Das kenne ich sehr gut“, sagte das Mädchen. „Auch ich erinnere mich manchmal an einzelne Bilder oder Szenen und spüre, dass sie irgendwie zusammen gehören. Aber sobald ich sie ordnen will, wird es dämmrig und dunkel.“
„Ja, das sind die Momente, wo du durch den Wald wanderst und zu diesem Ufer kommst. Du sprichst mit uns Steinen und fragst, ob wir uns an das große Bild erinnern können. Leider müssen wir dir immer wieder diese Antwort geben. Und du wirfst uns dann in den Teich. Dann wächst wieder das Schilf aus dem Boden und du spürst den Schmerz. Wenigstens den spürst du dann, sagst du zu dir.“
„Wir haben viel gemeinsam, Stein“, sagte das Mädchen. „Was wünscht du dir?“
„Was ich mir wünsche? Dass du uns irgendwann einmal zusammen führst und uns zu einem Mosaikbild zusammenlegst.“
„Aber wie soll ich das schaffen? Ich weiß doch gar nicht, wo ihr alle seid!“
„Alles auf einmal wird nicht klappen. Das ist richtig. Doch habe ich dir gesagt, dass der Teich wandert. Mit der Zeit werden die Steine des Grundes zu Ufersteinen, zu solchen, wie ich es bin. Dann wirst du wieder die Wahl haben: Uns wieder in den Teich zu werfen oder uns hier zu sammeln, Stück für Stück und Schritt für Schritt, um uns wieder zu vereinen. Wir werden dann immer noch gebrochene Steine sein, aber nicht mehr verstreut. Dann wirst du unsere Stimmen hören und die Bilder verstehen, weil sie nicht mehr von allen Seiten und aus allen Tiefen durcheinander schallen, sondern als ein geordneter Chor dir viel zu erzählen haben.“
„Aber das schaffe ich nie! Ich würde ja gerne, aber wie soll ich das alleine hinbekommen? Manche von euch waren so schwer, dass ich nur mit geballter Kraft sie ins Wasser werden konnte. Danach war ich so schwach, dass ich fast gestorben wäre.“

Der Stein nickte: „Das habe ich geahnt. Je schwerer die Steine sind, desto mehr Schilf wächst aus dem Boden. Das Schilf ist scharf und mit jedem Tropfen Blut wird das Wasser des Teiches dunkler, bis du dann den Stein nicht mehr auf dem Grund des Teiches sehen kannst.“
Das Mädchen nickte: „Ja, so ist es. Es ist schwer, euch in den Teich zu werfen, und danach will ich einfach nur vergessen. Das Schilf hilft mir dabei, weißt du.“
„Ich glaube schon.“, sagte der Stein. „Denn immer dann, wenn das Schilf sprießt und Blut fließt, wird unsere Sprache klanglos und kalt, bis wir fast vergessen haben.“
„So ist das auch bei mir.“
„Aber auch wir Steine können niemals ganz vergessen. Es ist die Sehnsucht, wieder vereint zu sein.“
„Bei mir ist es die Angst, euch zu vereinen, die mich zögern lässt.“
„Das ist ganz natürlich.“, sagte der Stein. „Du brauchst dich nicht unter Druck zu setzen. Lass mir dir ein Geheimnis sagen: An diesen Teich kommen noch andere Menschen. Du hast sie wohl noch nicht gesehen, aber ich. Sie sind wundervolle Wesen, weil sie helfen, uns Steine wieder zusammen zu führen. Sie hören oft lange Zeit nur zu, worüber andere Menschen mit uns Steinen sprechen. Sie können das gut.“
„Was?! Hat man etwa auch mir schon zugehört?“
„Das kann schon sein. Diese Menschen hören auf vielerlei Weisen. Sie lauschen etwa den Bildern. Oder sie spüren die Melodien. Das ist wunderbar. Sie können aber auch in der Sprache der Menschen sprechen, mit Worten. Sie sind, wie würde man sagen? Ja, sie sind Dolmetscher der Natur.“
„Dolmetscher der Natur?“
„Ja, das klingt auf den ersten Blick seltsam. Und irgendwie ist es auch so. Auch wir Steine haben durch solche Menschen die wörtliche Sprache kennen gelernt. Und andersherum können sie dir auch die Sprache von uns Steinen beibringen. Das ist eine große Hilfe, wenn du vorhast, uns zu ordnen.“
„Aber was ist, wenn diese Menschen Böses im Sinn haben? Woher weiß ich denn, dass ich ihnen vertrauen kann?“
„Nun, dies ist eines der Geheimnisse unserer Sprache.“, sagte der Stein. „Man kann es nie genau wissen, doch intuitiv spürt man es. Verlasse dich da getrost auf deine innere Stimme und schaue mit dem inneren Auge. Dann wirst du es erfahren.“
„Das hört sich nicht schlecht an, was du sagst. Kannst du mir einen solchen Menschen vorstellen?“
„Ich kann mit dir sprechen, weil ich ein Teil von dir bin. Ich kann dir das Gefühl geben, es sei richtig und wichtig, mit solchen Menschen zu sprechen: über den Teich mit den Steinen, über das Ufer und Schilf, über dich und die Gefühle in dir, in uns. Das kann ich tun. Und du kannst zu solchen Menschen gehen und mit ihnen sprechen. Auch über mich. Sie verstehen das, wenn du sagst: ein Stein am Ufer eines Mondscheinteichs hat mir diesen Schritt ans Herz gelegt. Das ist das Wunderbare an solchen dolmetschenden Menschen.“
Das Mädchen lächelte sanft: „Ich glaube, ich spüre, was du mir sagen möchtest.“
„Was ich dir und was du dir sagen möchtest.“
Und der Stein schmunzelte.
„Ich werde wieder kommen, hier, an diese Stelle am Ufer. Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich nicht doch hin und wieder nochmals Steine in den Teich werfe, aber du hast mir Mut gemacht. Ehrlich.“
„Das freut mich sehr, Nina.“
„Woher kennst du…?“
„Wir sind wir sind wir…“

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Texte: Titelfoto: http://www.christowski.de/mittelformat/13_steine.jpg
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2009

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