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I. Der Elefant in der Bibliothek





Das Nachdenken über das Nach-denken, über Gedächtnis, Erinnern und Vergessen, hat in den letzten Jahren einen Raum für interdisziplinäres Arbeiten eröffnet. Der heutige Diskurs setzt sich zusammen aus Beiträgen verschiedener Disziplinen: Geisteswissenschaftler, Naturwissenschaftler, Sozialwissenschaftler, auch Pädagogen und technisch ausgerichtete Forscher befassen sich mit aktuellen Problemen und Fragestellungen. Auf der Suche nach dem, was manchmal etwas reißerisch die Supergedächtnis-Theorie genannt wird, wird versucht, die unterschiedlichen Beschreibungsebenen der Wissenschaften miteinander in Beziehung zu setzen, sie also zu vernetzen. Bereits D’Alembert, einer der Väter des ersten interdisziplinären Großprojekts der Enzyklopädie, beschreibt das Anliegen im Jahre 1751 so: Man wolle die „Gliederung und Verkettung der menschlichen Kenntnisse aufzeigen“ (Einleitung zur Enzyklopädie

(1751)).
Der nachfolgende Text befasst sich aus mehreren Perspektiven mit der Gedächtnisthematik. Darin wird Einblick gegeben in die Geschichte der Erinnerungs- und Gedächtniskultur, genauer: in die Entwicklung von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. Danach wird die technische Entwicklung von Trägermedien und ihre Verbindung zu Gedächtnis-Metaphern untersucht. Anschließend werden Räumlichkeit und Zeitlichkeit in Bezug auf das Gedächtnis thematisiert. Insgesamt wird gezeigt, dass Gedächtnis eine grundlegende menschliche Entität ist, welche sowohl in der phylogenetisch-biologischen Dimension als auch in der ontogenetisch-individuellen und in der historisch-kulturellen Dimension (nach Haidle) verortet ist.




Von Memory-Sticks und Musen


Wie beginnt man einen Text, der das Thema Gedächtnis aus interdisziplinärer Perspektive beleuchten soll? Vielleicht mit der Feststellung: Auch Geisteswissenschaftler besitzen Memory-Sticks. Zwar sind Powerpoint-Präsentationen als visuelle Gedächtnisstützen noch rar in den Seminaren und Vorlesungen, doch seitdem ein guter Teil der Studiengebühren in neue Beamer investiert wird, könnten photokopierte Folien seltener auf Tageslichtprojektoren zu sehen sein.
Gerade eben habe ich einen 2GB-Memory-Stick in die USB-Schnittstelle meines Laptops gesteckt, den übergeordneten Ordner mit dem Titel „Tutorium internationale Literaturen“ geöffnet, darin mehrere abgespeicherte Dateien geöffnet. So funktionierte schon damals der Commodore-64, außer dass dessen Speichermedium, die Floppy-Disk, höchstens 1,2MB sichern konnte. Dieses Gerät kam in den 1980er Jahren auf den Markt, war also zu der Zeit aktuell, als Christa Wolf ihre Erzählung Kassandra

(1983) veröffentlichte.

Das Stichwort: Ich logge mich ins Internet ein, surfe auf der Welle der Suchmaschinen-Ergebnisse, sehe Grafiken und Photographien, überfliege für einen schnellen Überblick, was im Wikipedia-Netzwerk der Hyperlinks steht. Klicke mich von Beitrag zu Beitrag, finde bestätigt, dass Troja am Hellespont, im Nordwesten der heutigen Türkei, von Heinrich Schliemann im Jahre 1871 entdeckt worden sei. Ich erinnere mich, dass mich eine Bibliotheks-Recherche für ein Referat mehrfach auf die Spur der Geschichte des historischen Troja geführt hat. Beziehungsweise genauer: auf den Hinweis, dass es zwischen dem frühen Mittelalter (Spätantike) und der Bronzezeit (ca. 3000 v. Chr.) insgesamt zehn Trojas gegeben habe, die Schicht für Schicht je auf den Ruinen des vorherigen Stadtgebietes neu errichtet worden sind. Ein interessanter Ort mit einer ebenso interessanten Geschichte, dieses trojanische Ge-schicht-e. –
Und Kassandra? Ihr, in der griechischen Mythologie die Tochter des trojanischen Königs Priamos und der Hekabe, ist die Sehergabe beschieden. Darin gleichen sich die Erzählungen zu dieser Figur. Zur Seherin wird sie, wie man schon in Aischylos Die Orestie

(458 v.Chr.) erfährt, durch den olympischen Gott Apollon. Apollon, Sohn des Zeus und der Leto, dem im Kultus das Orakel von Delphi geweiht wurde, nimmt bedeutende Positionen in der griechischen Mythologie ein. In Verbindung mit Kassandra trägt er den Beinamen Phoibos-Apollon: der Sonnengott, der Lichtbringer, der Stifter der Seher-Gabe. Diese wiederum steht in enger Beziehung mit dem Träumen.
In anderen Kontexten ist er auch als Apollon-Musagétes, als der Musenführer bekannt. Die Musen sind die Göttinnen der Künste. In Hesiods (* 700 v.Chr.) Theogonie

sind es derer neun: beispielsweise steht die schönstimmige Muse Kalliope mit ihren Attributen der Schreibtafel und des Griffels allegorisch für die Philosophie und Wissenschaft, für die Rhetorik und epischen Dichtungen. Wandert man noch weiter in der Zeit zurück, so wird bei Homer und zu Beginn der beiden großen epischen Dichtungen, der damals auswendig im Versmaß vorgetragenen Ilias

(730 v.Chr.) und Odyssee

(spätes 8. Jhd. V.Chr.), eine Göttin bzw. die Muse angerufen.
Aus dieser Tradition heraus entwickeln sich drei Musen, die zusammen grundlegende Fähigkeiten des Dichters verkörpern. Neben der Melete (Nachdenken) und der Aoide (Musik) wird als Muse der Erinnerung diese genannt: Mneme. Hier wird deutlich, dass die Musen in Verbindung stehen mit für das menschliche Erleben konstitutiven Eigenschaften oder Fähigkeiten. Wenn man nun fragt, wer die Ursache der Musen gewesen, wer Vater und Mutter aller Musen sei, so wird neben Zeus von Hesiod die Titanin Mnemosyne genannt: sie versinnbildlicht allegorisch das Gedächtnis. Von diesem Begriff leitet sich später das Wort Museum ab, was übersetzt „Heiligtum der Musen“ bedeutet.

Das Kunstverständnis der Antike hat also ursprünglich etwas mit durch die Muse vermittelter Gedächtnisleistung zu tun; sowohl mit Mimesis zur Konservierung von bereits Vorhandenem als auch mit der Inventio von Neuem, beispielsweise von Varianten bekannter Theatermotive oder Figuren-Stammbäumen während der Großen Dionysien, dem Geburtsort der griechischen Tragödie (Allegorie: Muse Melpomene) und der Komödie (Allegorie: Muse Thalia). Unnötig zu betonen, dass beide Formen Gefühle oder Emotionen hervorrufen. Die Tragödie, so Aristoteles in seiner Poetik

(335v.Chr.), vermöge es, Eleos (Jammer, oder Mitleid) und Phobos (Schauder, oder Furcht) zu erregen, wodurch es beim Zuschauer zu einer Katharsis, einer Reinigung von jenen Leidenschaften, kommen solle. Die Komödie mit ihren eher seichten Themen wiederum kann zum Lachen bringen, jemanden verlachen oder etwas lächerlich machen.

Mündlichkeit und Schriftlichkeit


Ein deutliches Merkmal antiker Kunst, auch der Rede-Kunst, ist deren sogenannte Mündlichkeit. Im Gegensatz zum konträren Begriff der Schriftlichkeit bedeutet das, dass es primär das Subjekt ist, welches sich mittels Gedächtnisleistung Theater- und andere Texte oder auch den Aufbau einer Rede einprägt und sie wiedergibt. Wenngleich das menschliche Gedächtnis über die Eigenschaft der Plastizität verfügt, wodurch der gesunde Mensch neue Informationen aufnehmen kann, scheint die Menge aufnehmbarer und abrufbarer Informationen begrenzt, in letzter Konsequenz durch die Lebenszeit; im Gegensatz zur Möglichkeit der Auslagerung des Gedächtnisses auf feste Trägermedien. Zwar gab es schon in der Antike Papyrus, also die Möglichkeit zur Verschriftung. Weit früher waren im alten Ägypten Steintafeln und Hieroglyphen oder Keilschriften bekannt – allerdings war deren Herstellung und Beschreibung aufwendig und nur sehr wichtigen Informationen vorbehalten.

Ein weiterer Aspekt, der eine massenhafte Verbreitung zu dieser Zeit verhinderte: Die Informationsdichte der Trägermedien war gering; dafür erweisen sie sich aber bis heute als besonders langlebig. Es scheint eine Korrelation zwischen dem Verhältnis der Datendichte und der Haltbarkeit eines Trägermediums zu bestehen dergestalt, dass die Haltbarkeit eines Trägers mit der Zunahme an Informationsdichte abnimmt. Dies ist ein Phänomen, das bereits vor der Erfindung des Buchdrucks bekannt war (man bedenke die verbrannten Schriften in der babylonischen Bibliothek), welches aber gerade im digitalen Informations-Alltag zu einem großen Problem geworden ist. Werden die Hieroglyphen in den Pyramiden wohl noch viele Jahrhunderte überdauern und selbst bei potentiellen Bränden noch lesbar sein, beträgt die Haltbarkeit von Papier wenige Jahrhunderte, die einer DVD oder CD vielleicht ein Jahrzehnt – und viele der Informationen auf meinem Memory-Stick sind bereits nach wenigen Wochen gelöscht und überschrieben.

Hinzu kommt bei digitalen Medien das Problem, dass sowohl Hardware als auch Software sich stetig weiter entwickeln, so dass sie mit der Zeit nicht mehr auslesbar sind, entweder weil es kein Abspielgerät mehr gibt oder weil überholte Programme auf neueren Geräten oft nicht mehr funktionieren.
Die seit der Moderne stetig zunehmende, heutzutage rasante technische Entwicklung – die schnelle Abfolge multimedialer Reize, die Geschwindigkeit und Reichweite der Transportmittel, das Stakkato des Lebensrhythmus vieler Orten – geht dabei einher mit der Etablierung einer Konsummentalität. Der beworbene Zeitgeist: Nicht mehr die Konservierung, sondern das Konsumieren und Wiederkonsumieren spiegelt sich in dieser Entwicklung wider.
Wie Osten (2007) nachweist, ist dieser Prozess prinzipiell vergleichbar mit dem Vorgehen Mephistos in Goethes Faust, nämlich denselben fortschreitend seines Langzeitgedächtnisses zu berauben. Nicht soll er im Vergangenen, sondern im Augenblicklichen oder in Vorstellung von etwas Zukünftigem leben. Denn durch diese Eliminierung bekommt Mephisto Zugriff auf momentane Emotionen oder die in die Zukunft gerichteten Wünsche. Wenngleich Goethes Werk auf der Ebene des discours als Memorations-System gelesen werden kann, verkörpert Mephisto durch die schrittweise Auslöschung des Langzeitgedächtnisses den Zeitgeist der Moderne, dem Faust mehr und mehr erliegt. Wenn dieser im 5. Akt des zweiten Teils die Wohnstätte des Philemon und der Baucis zerstören lässt, so ist dies gleichbedeutend mit der Vernichtung der antiken Gedächtniskultur. Die Epoche machende Umwälzungen durch die moderne Gesellschaft, so wird an diesem Beispiel deutlich, vollzieht sich nicht selten auf den Trümmern der Vergangenheit.

Im 19. Jahrhundert kommt es zur Herauslösung verschiedener Disziplinen aus dem großen Feld der Philosophie. In der jungen Disziplin der Psychologie beginnt man, den Menschen positivistisch zu beschreiben. Im weiteren Verlauf wird die Gedächtnisforschung durch verschiedene Experimente begründet. In den 1950er Jahren untersuchte man den Patienten Henry M., der in seiner Jugend an starken epileptischen Anfällen litt. Man entfernte daraufhin beidseitig seine Schläfenlappen (Temporallappen). Seine Anfälle legten sich zwar, jedoch bezahlte er dies um den Preis seiner Fähigkeit, neue Erlebnisse zu memorieren. So zeigte sich, dass diese Region mit der langzeitigen Speicherung von Erinnerungen zu tun haben muss. Weitere prominente Namen in der Gedächtnisforschung sind Hebb und Eric Kandel. Auch der Bielefelder Hans J. Markowitsch gehört zu den führenden Forschern, die dem Gedächtnis auf der Spur

sind.
Man geht nach einem Modell Gaazanigas von einer Untergliederung des Langzeitgedächtnisses in zwei Subsysteme, einen expliziten und einen impliziten Teil, aus. Das explizite Langzeitgedächtnis ist wiederum unterteilt in einen episodischen Bereich, in dem etwa autobiographische Ereignisse wie die Erinnerung an die letzte Geburtstagsparty aufbewahrt sind. Und einen semantischen Bereich, in welchem erlerntes, faktisches Weltwissen wie die Funktionsweise der Nervenzellen im zentralen Nervensystem abgespeichert sind. Der implizite Teil des Langzeitgedächtnisses untergliedert sich in hier nicht weiter erörterte Unterbereiche, die als prozedual, perzeptuell, assoziativ und nicht-assoziativ bezeichnet werden. Diese Untergliederung ist universal, d.h. Kultur übergreifend bei jedem Menschen, der Fall. Sie bildet die Grundlage, die Bedingung der Möglichkeit von Gedächtnis.

Was aber sind die Anfänge, wie entsteht Gedächtniskultur?
In frühen Formen kultureller Entwicklung herrscht in der Gemeinschaft die Mündlichkeit vor. Ins Besondere ältere Mitglieder sind als Träger von Erinnerungen für die Identitätsbildung unabdingbar. Gerade diese Funktion, nämlich ein spezialisierter Traditionsträger zu sein, macht in frühen Kulturen die Stammesältesten zu aktiven und wichtigen Mitgliedern der gesellschaftlichen Struktur. Dabei zeigt sich typischerweise eine Zweiteilung der Gedächtnisinhalte. Zum Einen wird, innerhalb des sogenannten kommunikativen Gedächtnisses, inhaltlich geschichtliche Erfahrung im Zeitrahmen eines Säkulums, also von bis zu vier Generationen, bewahrt. Zum Anderen gibt es das kulturelle Gedächtnis, dessen Inhalte sich auf eine mythische Urgeschichte beziehen, etwa auf Mythen der Kosmogenese oder der Genesis des Menschen. Sie äußern sich in rituellen Formen, etwa in Festen oder Tänzen.
Zwischen den so abgesteckten, zeitlichen Rahmen breitet sich die sogenannte floating gap. Dies ist der Zeitraum dessen, was vergessen bleibt. Dem wird durch die Auslagerung, angefangen durch die Verschriftung, entgegen gewirkt. Ist Gedächtnis erst einmal verobjektiviert und eingelagert, kann es durch Forscher wieder hervorgebracht und kommuniziert werden. Dabei ist es charakteristisch, dass die externen Stätten oder Medien gerade solche Formen aufweisen, welche im menschlichen Gedächtnis nur schwach ausgeprägt sind: etwa numerische Ordnungen der Inhalte, wie sie in Bibliotheken oder auf Festplatten zu finden sind.
Ob dabei die Kommunikation der Vergangenheit in Form eines Re-Discovery derselben oder, wie Derrida meint, in Form eines Re-Telling geschieht, ist eine grundlegende kulturgeschichtliche Fragestellung.

Gedächtnis als Ars und Gedächtnis als Vis


Auch von der europäischen Antike bis ins Hochmittelalter hinein tritt die erwähnte Mündlichkeit deutlich zu Tage. Aleida Assmann stellt in ihrem Buch Erinnerungsräume

(1999) eine Unterscheidung zwischen Gedächtnis als Ars und Gedächtnis als Vis heraus.
Für das Gedächtnis als Ars ist charakteristisch, dass es sich um die Vorstellung eines Speichergedächtnisses handelt, das primär räumlich strukturiert ist. Daher kommt der Begriff der Ars memoria, der Gedächtniskunst oder Mnemotechnik. Die Verräumlichung von individueller Erinnerung geht dabei auf die Anekdote über Simonides von Keos zurück, die der römische Rhetoriker Cicero in seinem Werk De oratore

(55 v.Chr.) beschreibt. Nach dem Einsturz eines Gebäudes soll sich Simonides an die Namen der bis zur Unkenntlichkeit entstellten Toten dadurch erinnert haben, dass er sich ihre Sitzreihenfolge am Tisch gemerkt habe. Auf der arbiträren Verbindung zwischen Orten (loci) und Bildern (imagines) beruht dieses System der Organisation von Vorstellungsinhalten. Antonio Damasio stellt in seinem Buch Descartes Irrtum

(2004) die These auf, dass das Denken in sprachlichen oder graphischen Symbolen auf topographischen Repräsentationen gründe.
Die Mnemotechnik auf kultureller Ebene wird durch die Diaspora des Judentums begründet.
Für das Gedächtnis als Vis, also als menschliche Kraft, hingegen ist die Zeitlichkeit konstituierend. Es wird auch als Funktionsgedächtnis bezeichnet. In einer auch heutzutage in der Rhetorik vermittelten Methode wird eine linear-chronologische Anleitung zur Erstellung einer Rede wie folgt gegeben. In fünf Schritten solle der Redner seine Rede entwerfen (inventio), sie gliedern (dispositio) und in Worte fassen (elocutio), sie sich danach einprägen (memoria) und schließlich vortragen (actio). Wenn man nicht Redner, sondern Rezipient ist, eignet sich die sogenannte PQ4R-Methode zur Aneignung der Inhalte. Besonders im Bereich des Lernens und der Gedächtniskonsolidierung spielt die Zeitlichkeit wohl eine tragende Rolle. Das Einproben von Musikstücken oder rhythmischen Bewegungsabläufen, aber auch in Phrasen eingebettete Vokabeln werden am besten durch periodisch wiederkehrende und bedeutungsvolle Wiederholungen innerhalb mehrerer Stunden, Tage, Wochen und Monate gelernt, wobei die Intervalle mit der Zeit größer werden können. Je besser die Koordination beider Gehirnhälften funktioniert, desto intensiver wird gelernt. Zeitlichkeit auch bei den zwei Schritten der Gedächtnisbildung während den Wach- und Schlafphasen: Die im Wachen erfahrenen Inhalte werden während des Schlafens aus dem Hippocampus ins Gedächtnis überführt.
Ein in jüngster Zeit durchgeführtes Experiment hat gezeigt, dass Probanden sich umso besser an Paare im Memory-Spiel erinnern konnten, wenn sie während des Spielens und des nachts in einer frühen Schlafphase Rosenduft zu riechen bekamen. Die Theorie dahinter: Der nächtliche Rosenduft reaktiviert die tagsüber hergestellte Kopplung von Karten-Muster und Rosenduft genau in der Phase, in welcher die Gedächtniskonsolidierung passiert.

Was hat sich bisher gezeigt? Sowohl das Speichergedächtnis als auch das Funktionsgedächtnis verweisen auf zwei Bereiche, die für das menschliche Verständnis der Welt unentbehrlich sind: auf Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Nach Piaget scheinen sie nicht cartesianisch getrennt, sondern diese beiden Größen fügen sich in der Erfahrung zusammen. Die Sinnesdaten der Wahrnehmung sind raum-zeitliche Ereignisse und bilden so die Basis für das Gedächtnis.

Räumlichkeit und Zeitlichkeit


Nachfolgend werde ich die beiden Bereiche des Räumlichen und Zeitlichen hinsichtlich ihrer ideengeschichtlichen Anwendung im Gedächtnis-Diskurs untersuchen. Bis zum heutigen Tag zeigt sich, dass zur Versinnbildlichung der Funktionsweise des Gedächtnisses immer wieder Metaphern gesucht und gefunden wurden, durch die „Licht in das Dunkel“ gebracht werden sollte. Metaphern sind Bindeglieder zwischen einem Bild- und einem Wortbereich, sind zugleich perzeptiv und verbal-abstrakt, weshalb sie sehr gut erinnert werden können.

Die Raum-Metaphern erscheinen sehr früh in der Geschichte. Man stellte sich das Gedächtnis etwa als einen Tempel vor, dessen vertikal ausgerichtete Säulen die Leistungen großer Dichter oder Barden versinnbildlichten. In Platons Dialog Theaitetos

wird es sowohl als ein Taubenschlag samt dessen Zellen oder auch als eine Wachstafel – Geschenk der Mnemosyne – gedacht, in der sich die Eindrücke aus der Außenwelt einschmiegen. Auf dieser Grundlage basiere das Urteilsvermögen, der Abgleich zwischen Eindruck und Erinnerungsbild. Aristoteles entwickelt diese Vorstellung in De memoria et reminiscentia

weiter. Außerdem fordert er in seiner Poetik

für die Tragödienaufführung auf der Bühne, dass die Einheit des Ortes gewahrt bleibe. Auch Thomas von Aquin greift die Metapher des Wachses auf und charakterisiert die Erinnerung als eine reduzierte Form der Wahrnehmung. In der jüdischen, christlichen und arabischen Philosophie, und ins Besondere auch in der mittelalterlichen Fakultäten-Psychologie, erscheint das Gedächtnis in Form architektonischer Bildlichkeit. In Spensers Fairie Queene

(1596) wird eine an Aristoteles und Galen angelehnte Vorstellung von drei Gedächtniskammern in einem Turm gegeben. Dabei wird die erste Kammer dem Kindesalter zugeordnet, worin die Phantasie mit ihren phantastischen Motiven die dominante Rolle innehat. Der zweite Raum steht für das Erwachsenenalter, worin der Wille und die Verstandestätigkeit etwa Aussagen analysiert, Wünsche und Überzeugungen prüft oder Urteile fällt. Der dritte Raum ist die Sphäre des Greises, worin das Gedächtnis und die darin gespeicherte Erinnerung lokalisiert sein soll (heutzutage geht man, durch Ergebnisse aus der Neurologie, vom Gedächtnis nicht mehr als einen festen Ort aus, sondern von der Konnektivität verschiedener Gedächtnisformen innerhalb des gesamten Gehirns und der daraus resultierenden Konstruktivität der Erinnerung). Analog zu dieser metaphorischen Dreiteilung stellte man sich das Gehirn als ein in drei Ventrikel gegliedertes System vor, in dessen vorderem Teil sich die imaginatio und in dessen hinteren Teil sich die memoria ereigne. Während der Renaissance entwickelt der Engländer Fludd dann die Vorstellung des Gedächtnis-Theaters, für dessen Form er auf die Architektur des elisabethanische Globe-Theaters zurückgreift. All diesen Dichtern und Denkern ist gemeinsam, dass ihre Vorstellungen des Gedächtnisses und die Anordnung der Inhalte auf räumlichen Konzepten gründen.

Auch die Bibliotheken sind in dieser Form aufgebaut, indem sie Wissen räumlich zugänglich machen. Trägermedien in diesen Wissensorten sind Papyrus, Pergament – und Bücher. Der durch Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts erfundene, mechanische Buchdruck gilt als entscheidender Wendepunkt in der Informationsverbreitung. Nicht mehr Abschriften durch Mönche oder die Wiederbeschreibung behandelter Schriftstücke durch das Palimpsest, sondern Massenproduktion von Schriften wurde so ermöglicht. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986) lehnt seine Vorstellung des Gedächtnisses an die Metapher der Bibliothek an. Er erfand die Vorstellung eines Sandbuches, durch welches es dem Benutzer nicht mehr möglich werde, bis zur ersten Seite, bis zur Geburt also, im Gedächtnis zurückzublättern. Seiner Auffassung nach sei das Erinnern die „vierte Dimension der Raum-Zeit“. Besonders im 20. Jahrhundert wird die Vorstellung der Bibliothek, etwa durch Walter Benjamin, auf eine Mediothek hin erweitert. Nun können auch andere Medien, etwa Photographien, Mikrofilme, bewegte Bilder oder Tonträger, darin enthalten sein. Bernhard Schlink, dessen Erzählung Der Vorleser

(1995) teilweise während der NS-Zeit spielt, lässt den Protagonisten sich in Form von innerlichen Projektionsbildern erinnern; und stellt damit eine Verbindung zur technischen Entwicklung her, die das Kino in den 1930er Jahren durchmachte. Die Bücherverbrennung sowohl in der geschichtlichen Realität der NS-Zeit als auch in Radburys Dystopie Fahrenheit 451

(1953) steht für das radikale Vorgehen totalitärer Systeme in der Vernichtung unerwünschter Vergangenheit. In den 1970er Jahren war die Vorstellung des Gedächtnisses als ein Netz en vogue – man bemühte sich in der Kulturanthropologie um Clifford Geertz um die Interpreten abhängige „dichte Beschreibungen“ sozialer Netze oder entwickelte innerhalb des amerikanischen Militär den Vorläufer des Internets. Uwe Johnsons Roman-Tetralogie Jahrestage

(1970-1983) ist geprägt von Bezügen zu Artikeln aus der New York Times im Zeitraum eines Jahres vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968. Der Text basiert auf Archiv-Recherchen. Ein Archiv ist, in diesem Kontext, ein Ort, an dem verobjektivierte Zeit in Form von Zeitungsausgaben gespeichert wird. Heutzutage kursieren Vorstellungen des Gedächtnisses in Form räumlich-projizierter Hologramme, wie sie etwa im Science-Fiction-Film Minority Report

(2002) zu sehen sind.
Eine ähnliche Entwicklung haben die Zeit-Metaphern des Gedächtnisses hinter sich. Überwiegend traten sie später als die räumlichen Vorstellungen auf, waren in der Religion aber schon früh präsent, etwa in der christlichen Eschatologie. In der jüdischen Diaspora sind ebenfalls zeitliche Phasen oder Zeitpunkte entscheidend für die Ausbildung der Erinnerungskultur, etwa das babylonische Exil oder das Wieder-finden des Buches Deuteronomium. Auch Platon stellt sich, als Folge aus der postulierten Unsterblichkeit der Seele, das Lernen ebendieser während des Lebens als ein Wieder-Erinnern (Anamnesis) vor.
Natürlich ist die Unterteilung in räumliche und zeitliche Metaphern wissenschaftlicher Analyse zu zollen. In der Tat treten beide Bereiche in der menschlichen Erfahrung zusammen auf. Wenn es, ein letztes Mal als religiöses Beispiel, zur Flucht der Hebräer aus Ägypten kommt und sie vor der Überquerung des Jordans ins Geheiligte Land stehen, so geht mit dieser Überwindung einer räumlichen Grenze auch der Anbeginn eines neuen Lebensabschnittes, einer neuen Zeitlichkeit, einher. Die Gefahr, im paradiesischen Zustand die Herkunft zu vergessen, schwingt darin mit. Dieses Motiv taucht bereits in der griechischen Mythologie auf, nämlich im Vergessen durch das Trinken aus dem Lethe, einen der das Totenreich umfließenden Gewässer. Man könnte ihn als eine Art ultimative floating gap interpretieren.

Vergessen und Erinnern erscheinen – ebenso wie Zeitlichkeit oder Räumlichkeit – als zwei Seiten einer Entität, nämlich des Gedächtnisses. Nicht selten wird dieses, wie bei Freud und in dessen Vorstellung einer Zaubertafel, als Schicht-Modell interpretiert. Dabei erscheinen verschiedene Schichten als verschiedene Zeiten. Ins Besondere in der Literatur werden geologische Metaphern als Analogien für Bereiche der menschlichen Psyche eingesetzt. Im Mittelteil von Goethes Faust II

steigt ebendieser in die Tiefe, hinab zu den Müttern. Ein Beispiel aus der romantischen Literatur ist E.T.A. Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun

, worin der Protagonist in die Tiefe steigt, um dort der imaginierten Königin zu begegnen. Aber auch anderswo, etwa dort, wo der Ort Troja ins Spiel kommt, ist die Verbindung zum Thema Gedächtnis gegeben. Troja, das ja zehnmal erbaut worden ist, kann dabei als funesianischer Ort bezeichnet werden. Das bedeutet, dass in der Struktur dieses Ortes, seinen Spuren, dessen gesamte Geschichte aufbewahrt ist.

Gedächtnis-Genie


Diese Metapher geht auf eine Kurzgeschichte von Jorge Luis Borges zurück, nämlich auf Funes el memorioso

(1942) (zu deutsch: Das unerbitterliche Gedächtnis

). Dieser Text befasst sich – neben Prousts siebenbändigen À la recherche du temps perdu

(1913-1927) und dem vielzitierten Madeleine-Erlebnis – explizit mit der Erinnerungsthematik eines Gedächtnis-Genies. Borges Protagonist namens Funes ist jemand, der seit einem Reitunfall nicht vergessen kann. Dazu befähigt, schnell viele Sprachen zu lernen, zeigt sich zudem ein photographisches oder eidetisches Gedächtnis: „Er kannte auswendig die Form der Wolken am südlichen Himmel des 30. Aprils 1882 und er konnte sie in seinem Gedächtnis vergleichen mit den gesprenkelten Streifen auf dem Einband eines spanischen Buches, das er nur ein einziges Mal gesehen hatte.“ Die Art und Weise, wie Funes sich erinnert, scheint auf eine reziproke Verbindung zwischen Innenwelt und Außenwelt hinzudeuten. Eine interne Repräsentation (hier: das Muster des Himmels) wird mit der externen Umgebung (das Muster des Bucheinbands) abgeglichen. Dieser Vorgang zeigt, dass es sowohl intern als auch extern Spuren gibt, welche im „Medium Geist“ verglichen werden können. Diese Theorie eines externen Gedächtnisses wird unter Anderen von Dennett (2000) vertreten. Für Borges Protagonisten Funes ist dieses unerbitterliche photographische Gedächtnis allerdings nicht Segen, sondern Fluch: „Die Gegenwart in ihrer Fülle und Schärfe waren fast unerträglich und ebenso erging es ihm mit den entferntesten und trivialsten Erinnerungen.“ Auch erinnert er jedes Detail aus jedem seiner Träume, so dass er sein Träumen mit dem Wachen gewöhnlicher Menschen vergleicht. Dabei laufen seine Erinnerungen automatisch ab, er verfügt nicht über die Fähigkeit, sie produktiv und Gewinn bringend einzusetzen. Schließlich verstirbt er jung.
Zwar scheint diese Inselbegabung wünschenswert, wenn man etwa bedenkt, dass heutzutage forschende Farmakonzerne Milliarden in die Entwicklung sogenannter „cognitive enhancers“, Gedächtnispillen, investieren. Auch wäre Funes wohl ein interessanter Kandidat für die in den 1990er Jahren entbrannte Debatte um die sogenannten „False-Memories“ (wobei sie, genau genommen, keine Erinnerungen sind). Aber eines darf nicht vergessen werden: die unerbitterliche Ausprägung seines episodisch-autobiographischen Gedächtnisses behindert ihn im alltäglichen Leben. Ohne die Fähigkeit zur Abstraktion, d.h. zum Ausblenden unerheblicher Details, ist abstraktes Denken oder die Kommunikation von Wissen unmöglich. Paradoxerweise verhält es sich so: Alles zu wissen, ist gleichbedeutend damit, nichts zu wissen. Aus dieser Perspektive erscheint auch eine Aussage von Borges interessant: Er bringt den Prozess literarischer Schöpfung, der Erinnerung konserviert, notwendig mit dem des Auslassens zusammen: Ohne Vergessen sei keine Literatur möglich. Über sich als Poeten sagt er: „Natürlich, ich lebe in Erinnerung. Und ich nehme an, dass ein Dichter in der Erinnerung leben sollte, weil: Was ist denn letztendlich Vorstellungskraft? Sie setzt sich zusammen, so denke ich, aus Erinnern und aus Vergessen.“


II. Phantasie mit Bewusstsein





Conrad Ferdinand Meyer:
Der römische Brunnen



Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.



Inhaltsverzeichnis
1. Die Entstehung und Aneignung eines Sachtextes
2. Grundlegendes zum Begriff "Gedächtnis"
3. Wozu sich erinnern?
4. Das kulturelle Gedächtnis
5. Das Vergessen
6. Inselbegabung der Savants
7. Strukturen des Limbischen Systems: Der Hippocampus und das temporoamygdaläre System
8. Simulationen
9. Begriffliches Lernen und Repräsentationen
10. Abriss einer Geschichte des Erinnerns
11. Projekt der Aufklärung: Die Enzyklopädie
12. Das Problem der Digitalisierung
13. Kants "Phantasie mit Bewusstsein"



1. Die Entstehung und die Aneignung eines Sachtextes


Wie entsteht ein sachlicher Text über das Gedächtnis? Natürlich durch das Erinnern. Am Anfang steht ein Brainstorming. Alles, was spontan einfällt, wird ungeordnet aufgeschrieben. Assoziationen und Querdenkerei sind erwünscht. Es darf wirklich alles gesagt werden.
Nach dieser Findungsphase bietet sich eine zweite Methode an: die Mind-Map oder auch Cluster-Methode. Sie dient der logischen Anordnung des Gefundenen, so dass verschiedene Äste und Zweige entstehen, welche die argumentative Grundstruktur oder den so genannten "roten Faden" bilden.
Anschließend erfolgt das Formulieren. Die Ideen werden aufgeschrieben, grammatikalisch korrekte Sätze werden mit bestimmter Wortwahl gebildet.
Darauf folgt die Phase des Überarbeitens. Es wird umformuliert, umgestellt, auf Orthographie und Rhythmus der Sätze geachtet.
Schließlich wird der so konstruierte Text mehrmals gelesen. Durch solch mehrmaliges Lesen prägt sich der Inhalt ein, so dass er später, wenn er gebraucht wird, abgerufen werden kann.

Dieses Vorgehen ist aus der Rhetorik bekannt: Die einzelnen Schritte werden darin wie folgt bezeichnet:
1. inventio
2. dispositio
3. elocutio
4. memoria
5. actio

Wie eignet man sich einen Sachtext methodisch an?
Es gibt mehrere Methoden. Eine besonders effektive ist die so genannte "PQ4R-Methode":
1. Preview (Vorausschau): Man verschafft sich einen ersten Überblick, schaut sich die Themen an, gliedert den Text in grobe Abschnitte. Danach wird auf jeden solcher Abschnitte die machfolgenden Schritte an.
2. Questions (Fragen): Man formuliert Fragen, etwa durch das Umformulieren der Kapitelüberschrift.
3. Read (Lesen): Man liest den Abschnitt sorgfältig durch und versucht, die formulierte Frage zu beantworten.
4. Reflect (Nachdenken): Beim Lesen sollte über den Text nachgedacht werden. Dazu gehört der Versuch des Verstehens, das Herausschreiben, das Auffinden von Beispielen und die Verbindung mit bereits vorhandenem Vorwissen.
5. Recite (Wiedergeben): Nach jedem Abschnitt sollte versucht werden, diesen mit eigenen Worten zusammenzufassen und Fragen, die aufgekommen sind, zu beantworten. Wenn man das Gefühl hat, nicht genug Informationen wiedergeben zu können, sollte man den Abschnitt noch einmal durchlesen.
6. Review (Rückblick): Wenn man ein Kapitel durchgearbeitet hat, sollte man es sich als Ganzes schrittweise noch einmal in Erinnerung rufen. Sehr gute Lernende haben das Kapitel so untergliedert, dass eine hierarchische Wissensstruktur entstanden ist.

2. Grundlegendes zum Begriff "Gedächtnis"


Ältere Theorien begreifen das Gedächtnis als eine Art Speicher. Neue Theorien sehen das Gedächtnis als Teil eines komplexen Informationsverarbeitungsprozesses.
Im so genannten Mehrspeichermodell des Gedächtnisses werden drei oder vier Speicher unterschieden. Es gibt verschiedene, Gehirn funktionell unterscheidbare Gedächtnisarten:
Erstens das sensorische Gedächtnis. Darin bleiben Sinneseindrücke ca. 1-3 Sekunden lang erhalten.
Zweitens ein kurzzeitiges Arbeitsgedächtnis mit sehr begrenzter Kapazität, durch welches wir unter anderem uns unserer Umwelt ca. 15-30 Sekunden bewusst sind. Ein mittelfristiges, Stunden oder Tage umfassendes Gedächtnis mit schon größerer Kapazität.
Und das Langzeitgedächtnis, welches die größte Kapazität umfasst. Dabei kommt es zu Veränderungen der Synapsen in bestimmten Bereichen des Gehirns, worauf noch eingegangen werden wird.



Des Weiteren wird unterschieden zwischen einem episodischen Gedächtnis, welches etwa autobiographische Erlebnisse beinhaltet– die Erinnerung an die erste Liebe, die letzte Geburtstagsfeier, und so weiter – und ein semantisches (auch: deklaratives) Gedächtnis, welches etwa in Schule und Universität erlernte Inhalte, etwa die binomischen Formeln oder geschichtliche Daten, umfasst. Darin wird Sachwissen aufbewahrt.
Schließlich gibt es noch das prozeduale Gedächtnis, in dem Handlungswissen abgespeichert ist, etwa wie man mulitpliziert oder Klavier spielt (mit zunehmender Übung automatisieren sich Handlungen, sie werden zur Gewohnheit).

Allgemein spielen bei der Gedächtnisbildung viele Bereiche des Gehirns zusammen. Das Bild des vernetzten Gedächtnisses, eines Netzwerkes, beschreibt anschaulich, dass es sich dabei um ein Geflecht der Informationen handelt. Es werden Informationen sowohl horizontal als auch vertikal integtriert. Horizontale Integration bedeutet, dass die in ihren Funktionen zueinander komplementären Gehirnhälften, die linke (Verbindung zum Bewusstsein; sprachlich; begrifflich; arithmetisch; analytisch und abstrakt) und rechte (keine direkte Verbindung zum Bewusstsein; musikalisch; Bild- und Mustererkennung; geometrisch und räumlich; einheitlich und konkret) Hemisphäre, zusammen arbeiten.

Bei der vertikalen Integration kommt es auf das Zusammenspiel so genannter corticalen und subcorticalen Strukturen an; das bedeutet, dass corticale Großhirnrinde und subcorticales limbisches System (insbesondere: Hippocampus) interagieren. Das hat Einfluss auf Motivation, Lernen, Erinnerungsfähigkeit, und so weiter. Die Verschaltung zwischen corticalen und subcorticalen Bereichen des Gehirns geschieht über den im Zwischenhirn lokalisierten Thalamus.
Arbeiten beide Gehirnhälften koordiniert zusammen, so spricht man von einem holistischen Bewusstsein. Dadurch können Koordinationsleistungen wie Jonglieren oder Spiegelschrift-Schreiben erklärt werden.

In der Gedächtnisforschung kommen verschiedene Disziplinen in einen interdisziplinären Dialog zusammen, weil es sowohl für Geisteswissenschaftler und auch Naturwissenschaftler interessant ist.

3. Wozu sich erinnern?


Immer, wenn etwas Wichtiges oder Außergewöhnliches, d.h. Erinnernswertes, passiert, dann merkt sich das Gehirn diese Informationen oder Erlebniskontexte. Das macht, evolutionär betrachtet, Sinn. Das menschliche Gehirn hat die Fähigkeit, etwas bereits Erlebtes oder sich erschlossen Habendes, wieder zu erinnern: etwa Verhalten in bestimmten Situationen, den Klausurstoff, etc. Das kann auf verschiedene Weisen vor sich gehen. Berühmt ist das Beispiel aus Prousts À la recherche du temps perdu

, worin der Protagonist, ausgelöst durch das sinnliche Madeleine-Erlebnis, sich seiner Vergangenheit in sieben Bänden erinnert. Peter Handke erinnert sich ebenfalls: in Wunschloses Unglück

an seine Mutter, in Die Wiederholung

an die Landschaft Sloweniens. Wenn Bernhard Schlink in seinem Buch Der Vorleser

sich den Erzähler an Jugenderlebnisse erinnern lässt, und ihm dieses vorkommt, als sehe er einen Film ablaufen, dann beschreibt er damit ein bildhaftes Erinnern.
Und auch Christa Wolff erzählt in Sommerstück

, was eine Gruppe Intellektueller nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns in jenem "merkwürdige[n] Sommer" in einem mecklenburgischen Dorf erlebt hat.
Sich zu erinnern scheint dem Menschen wichtig zu sein. Ihm kommt eine Identität stiftende Funktion zu: individuell und kollektiv.

4. Das kulturelle Gedächtnis


Des Öfteren fällt der Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ oder der Erinnerungskultur (vgl. etwa Arbeiten von Jan und Aleida Assmann oder Astrid Erll).
Dieses kollektive Gedächtnis wird als Entität angenommen. In ihm seien Motive der Kulturgeschichte abgespeichert. Mythologische Figuren, etwa die Muse Mnemosyne, Odysseus oder Prometheus, Archetypen und reale Personen seien darin ebenso vorkommend wie die Erinnerung an die Französische Revolution, den Holocaust oder die Anschläge auf das Word Trade Center.
Ein Medium dieses kulturellen Gedächtnisses ist etwa der Bereich der Printmedien. In Uwe Johnsons Jahrestage

etwa wird sich der Vergangenheit durch die Lektüre der sich im Archiv befindlichen Ausgaben der New York Times, der "alten Dame", erinnert.
Es gibt aber auch Ereignisse, die werden in der öffentlichen Meinungsmache bewusst außen vor gelassen – tot zu schweigen versucht. Diese Diskurs-Manipulation ist ein Mittel, wie wir seit Foucault wissen, um die Macht zu sichern. Das Nicht-Erinnern bestimmter, für die Machthabenden negativer Ereignisse, ist bekannt aus der Geschichtsschreibung. Zumeist geschrieben von den Gewinnern, welche unrühmliche Verbrechen gerne verschweigen, so dass nachfolgende Generationen in den Konservations-Medien möglichst ein scheinbar ungetrübtes Bild erfahren. Man erinnere sich etwa an Cesars Commentarii de bello Gallico

.

5. Das Vergessen


Andererseits gehört es aber auch zu den Eigenschaften des Gedächtnisses, Informationen vergessen zu können. Das menschliche Gehirn hat die Fähigkeit, zu vergessen oder, wie man in der Psychologie sagt, etwas verdrängen zu können, wie etwa traumatische Erlebnisse.
Zwei wichtige Theorien zum Vergessen sind die "physiologische Spurenzerfalltheorie" (dabei wird angenommen, dass sich nervliche Bahnen auflösen) und die "Interferenztheorie" (dabei wird angenommen, dass ein Gedächtnisinhalt durch vorausgehende oder nachfolgende Inhalte gehemmt werde).

Mehrere Schriftsteller haben sich diesem Thema gewidmet. So erwacht beispielsweise im zweiten Teil des Goetheschen Faust

ebendieser aus einem Schlaf, welcher ihn all die Verbrechen hat vergessen lassen.
Der Österreicher Thomas Bernhard hat das Werk Auslöschung

geschrieben.
Der Schriftsteller Borges meint sogar, dass ohne das Vergessen überhaupt kein Erinnern erfolgen könne. Für ihn gehört das Vergessen zu den Grundvoraussetzungen von Literatur. In einer Kurzgeschichte aber beschreibt er einen Protagonisten, der nicht vergessen kann, der sich kleinster Details, etwa der Maserung eines Holzmöbiliars, detailliert erinnert, welcher aber im Alltag zu leben unfähig ist.

6. Inselbegabung der Savants


Das erinnert an die Fähigkeiten so genannter „Savants“ – der Inselbegabten. Es gibt derer auf der Welt nicht sehr viele. Diese Menschen, welche ansonsten, wie der Protagonist Borges, den Alltag nicht ohne Hilfe oder nur eingeschränkt bestehen können, verfügen über außergewöhnliche Fähigkeiten. Jemand ist beispielsweise in der Lage, ganze Bibliotheken auswendig zu lernen. Oder, wie eine lebende Kamera, einmal gesehene Ansichten einer Stadt – etwa Rom – detailliert nachzuzeichnen. Letztere Fähigkeit wird häufig als Eidetik bezeichnet. Das sind Vorstellungsbilder, die den Charakter von Wahrnehmungen haben.
Prinzipiell funktioniert das so: Sensationen werden durch die Sinnesrezeptoren der Augen und einen dicken Nervenstrang ins Gehirn geleitet. In der Großhirnrinde (Cortex) befindet sich ein Projektionsfeld: das sensorische Rindenfeld. Anschließend werden die einkommenden Informationen eidetisch abgespeichert. Damit sie dann gezeichnet werden können, muss zur willkürlichen Steuerung der Handbewegung das motorische Rindenfeld aktiviert werden. Fast alle sensorischen und motorischen Felder sind symmetrisch angeordnet, das bedeutet, dass sie in beiden Hemisphären vorhanden sind, wobei jeweils die gegenüber liegende Körperhälfte im Gehirn repräsentiert wird; alles, was außen links ist, wird von der rechten Hemisphäre verarbeitet - und vice versa. So kreuzen sich etwa die Sehnerven (teilweise) im Chiasma opticum; einem selbsterklärenden Terminus.

7. Strukturen des Limbischen Systems: Der Hippocampus und das temporoamygdaläre System


Eine für die Gedächtnisbildung jedes Menschen wichtige Gehirnstruktur, ist der Hippocampus. Diese Struktur, welche übersetzt „Seepferdchen“ heißt, überführt während des Schlafes als wichtig bewertete Informationen ins Gedächtnis, repräsentiert aber nicht das Gedächtnis selbst! – der Hippocampus ist also eine Art Pförtner, und nicht der Speicherraum. Was als wichtig bewertet wird, das kann beeinflusst werden.
Man unterteilt den Hippocampus in einen linken, für die verbale Erinnerung zuständigen Teil, und einen rechten, für die bildliche und räumliche Erinnerung zuständigen Teil. Die in beiden Teilen lokalisierten Synapsen sind in hohem Maße modifizierbar: das bedeutet anschaulich, dass oft frequentierte Synapsen sich plastisch verändern, Aufzweigungen bilden oder sich hypertrophisch verändern. Wenn diese Synapsen nicht oder nur selten frequentiert werden, verkümmern sie.
Durch das Lernen werden so genannte Gedächtnisspuren als räumlich-zeitliche Muster gebildet. Je häufiger diese Gedächtnisspuren also frequentiert werden, desto einprägsamer der darin codierte Inhalt. Der Prozess dieser Festigung der Gedächtnisspur wird Gedächtnis-Konsolidierung genannt.

Mit Lernstrategien wie einer regelmäßigen Wiederholung der zu erinnernden Informationen – üblicherweise nach einer Stunde, einem Tag, einer Woche, einem Monat und sechs Monaten – kann eine Überführung in das Langzeitgedächtnis erwirkt werden. Für das Lernen gilt: je mehr Sinne angesprochen werden, desto besser wird das Gehirn aktiviert. Je größer diese Aktivierung, desto besser wird sich erinnert. So haben Forscher jüngst herausgefunden, dass Rosenduft besonders wirksam beim Erinnern hilft. Probanden, welche sich über Tag in einer nach Rosen duftenden Umgebung Memory-Paare gemerkt haben, wurden in zwei Gruppen geteilt. Der einen Gruppe wurde dann nachts, während der ersten Tiefschlafphase, erneut Rosenduft zugeführt. Der Kontrollgruppe hingegen nicht. Es stellte sich heraus, dass die Gruppe mit nächtlicher Rosenduft-Aktivierung bessere Ergebnisse am nächsten Tag erzielten. Das wird darauf zurück geführt, dass der nächtliche Rosenduft die Assoziation zwischen Memory-Karten und Duft im Hippocampus reaktiviert – was diesem die Abspeicherung erleichtert.

Eine weitere Struktur im limbischen System ist das temporoamygdaläre System, welches für Emotion und Motivation verantwortlich zu sein scheint. Darin werde sensorische Information mit Gedächtnisinhalten verglichen. So wird die sensorische Information bedeutsam. Das führt zur Aktivierung affektiver Verhaltensmustern, welche sich als zweckmäßig erwiesen haben. Beispielsweise ist es dem Erwachsenen dadurch möglich, eine gefährliche Hauptstraße nur bei einem grünen Ampelsignal für Fußgänger zu überqueren - Kinder müssen erst lernen, dass die optische Information des grünen Fußgängerlichtes immer dann aufleuchtet, wenn potentiell gefahrvolle Autos anhalten und dem Organismus somit ein gefahrloses Überqueren der Straße ermöglicht wird.

8. Simulationen


Eine heute noch sehr unterschätzte, besonders effektive Art des Lernens ist das Simulieren. Durch die Simulation einer Situation, welche Anforderungen an die Personen stellt, die auch in der Realität auftreten, wird ein optimales Lernen gewährt. Piloten oder Astronauten durchlaufen entsprechende Trainings-Simulationen.
Aber jeder Schüler, der sich etwa in der Abiturvorbereitung befindet, oder ein Student vor der entscheidenden Prüfung, kann sich zur Vorbereitung vorstellen, wie es am Prüfungsdatum sein wird. Wer sich bildlich vorstellt, wie er das Gebäude durch die Tür betritt, danach die Treppen hinauf steigt, an der Tür anklopft, herein tritt, sich setzt - und dann, in aller Ruhe, eine Frage nach der anderen ausführlich beantworten wird, der aktiviert nicht nur viele Gehirnbereiche zusätzlich und optimiert dadurch das Lernen (positive Verstärkung). Dadurch kann auch drohende Nervosität, die zu GFlüchtigkeitsfehlern führen kann, verhindert werden (negative Verstärkung). Und nach bestandender Prüfung darf sich dann, eine Belohnung gegönnt werden. Dieses Verhalten wird selbstverstärkend genannt: etwa eine beliebte Freizeitaktivität ausführen oder etwas Leckeres zu sich nehmen.
Wenn jemand einmal herausgefunden hat, dass ein solches Vorstellungsverhalten eine positive, hier: erfolgreiche Konsequenz nach sich zieht, so wird sich eine Kontigenz des instrumentellen Lernens einstellen; und zwar in der Form: Wenn Vorstellen, dann Erfolg. Das wird dann mit Thorndike "Lernen am Erfolg" genannt.

9. Begriffliches Lernen und Repräsentationen


Die Bedeutung dieses Lernens ist besonders hoch. Durch Kategorisierungen werden Inhalte geordnet. Durch die Kategorien wird kognitive Orientierung ermöglicht, aus der heraus effizientes und dadurch oft erfolgreiches Handeln erwächst.
Für die Kategorien-Bildung sind zwei intellektuelle Leistungen notwendig: die Abstraktion (vom Einzelfall) und die Hervorhebung gemeinsamer Eigenschaften. Ludwig Wittgenstein hat das treffend in dem Begriff der Familienähnlichkeit zusammengefasst. So haben verschiedene Fußbekleidungen die Familienähnlichkeit, vor einem Untergrund zu schützen oder den Fuß modisch zu betonen. Beide Attribute sind in Form einer inklusiven Oder-Disjunktion gefasst.
Sehr wichtig ist dabei die Bildung von Unterkategorien. Dies ist gleichbedeutend mit einer Differenzierung. So kann die Kategorie der Schuhe differenziert werden in viele Unterkategorien: Straßenschuhe, Wanderschuhe, Sportschuhe (Laufschuhe, Fußballschuhe, Hallenschuhe), Abendschuhe, Lederschuhe, Hausschuhe, etc. Prinzipiell funktioniert das ebenso mit der Differenzierung anderer Bereiche - beispielsweise wird der Begriff des Lernens in folgende Subkategorien differenziert: Reiz-Reaktions-Lernen, Instrumentelles Lernen, Begriff und Wissen, Handeln/Problemlösen, sowie hirnbiologische Grundlagen, und Emotion und Motivation.
Eng damit verbunden ist eine Fähigkeit, welche im angelsächsischen Sprachgebrauch "One-shot learning" genannt wird. Kinder, aber auch manch Erwachsener, hat dadurch die Fähigkeit, nach einmaligem Sehen eines Gegenstandes (oder allgemeiner: eines Inhaltes) entsprechende Kategorien bzw. Unterkategorien, anzulegen. Das bedeutet: Inhalte kategorial zu repräsentieren. Dadurch wird erklärbar, warum Kinder oder lernbegabte Erwachsene in rasanter Zeit Themen verinnerlichen können.



In der Schule wird man mit verschiedenen Sprach-Niveaus bekannt gemacht: so unterscheidet sich die Jugendsprache, welche derb sein kann, von der legeren Umgangssprache oder etwa von der Fachsprache, deren Termini oft lateinische oder griechische Fremdwörter umfasst.
Sprache versetzt uns in die Lage, die Welt zu begreifen. Wer nicht über entsprechende Begriffe verfügt, die Welt oder sich zu begreifen, dem bleibt die Welt oder das Selbst un-begreiflich. Frei nach einer Formulierung des frühen Wittgensteins im Tractatus logico-philosophicus

könnte formuliert werden: Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt.
Besonders Erklärungsbegriffe wie "Photosynthese" oder "Adhäsion und Kohäsion" oder "Magnetismus" werden im schulischen Alltag auftauchen. Ein Begriff gilt als erlernt, wenn jemand die damit zusammenhängende Theorie verstanden hat. Der Gefahr eines bloßen mechanischen Auswendiglernens begegnet man am besten mit anschaulichen Demonstrationen und einem spiralförmigen Curriculum, welcher nach dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels Inhalte auf je höheren Ebenen wiederkehren lässt.

In der Wissenschaft kommt es häufig auf Definitionen an.
Als Realdefinition müssen sie den nächsthöheren Oberbegriff (genus proximum, Gattungsbegriff) und die Angabe des artspezifischen Unterschieds (differentia specifica) enthalten. Beispiel: Ein Kubus ist ein gleichseitiges Hexaeder, das durch sechs kongruente Quadrate ein dreidimensionales Gebilde bildet.
Eine Nominaldefinition setzt ein unbekanntes Wort mit einem bekannten Wort gleich. Dadurch werden etwa Fremdwörter erklärt. Beispiel: Ein Terminus technicus ist ein fachsprachlicher Begriff.
Eine operante Definition gibt für einen Begriff ein typisches empirisches Beispiel. Beispielsweise: "Hell" ist, wenn die Sonne scheint.
Ein Erklärungsbegriff wird durch eine Theorieangabe definiert. "Bei der "allgemeinen Relativitätstheorie" beziehe ich mich auf die Erkenntnisse Einsteins. Er erklärt damit die Wechselwirkung zwischen Materie einerseits, und andererseits Zeit und Raum."

Definitionen müssen eindeutig sein, um Begriffe eindeutig gebrauchen und sich auf diese berufen zu können. Ferner dürfen sie keinen Zirkelschluss dadurch enthalten, dass der zu definierende Begriff in der Definition selbst vorkommt.

10. Abriss einer Geschichte des Erinnerns


Das Gedächtnis hat Menschen immer schon beschäftigt. Bereits vor 35.000 Jahren, so wurde in einer Höhle entdeckt, haben Menschen durch Zeichnungen sich ihrer Umgebung erinnert, etwa eines Pferdes. Diese Zeichnung repräsentierte ein Tier der Außenwelt.
Auch die alten Ägypter gebrauchten Hieroglyphen, also bildliche Repräsentationen von etwas.
Aus der Antike ist bekannt, dass Menschen ihre Reden mittels Mnemotechniken merkten. Ciceros „De oratore“ ist eine dreier Hauptquellen der rhetorischen Literatur, in welchen solche Erinnerungstechniken beschrieben sind. Neben bildlichen Methoden ist aber auch das Merken durch akustische Hilfen, etwa Rhythmus und Reim, Alliterationen und andere Hilfsmittel, bekannt.
Bis in das 12. nachchristliche Jahrhundert war es zudem üblich, sich ganze Gedichtbände durch mechanisches Auswendig-Lernen zu merken. Man spricht in der Mediävistik von der Mündlichkeit. Schon früher - aber besonders intensiv zu dieser Zeit - setzt, besonders durch die Klöster und die dort arbeitenden Mönche, die Verschriftlichung und die Verschriftung ein.
Mit Gutenbergs Erfindung des Schriftdrucks wurde es dann möglich, große Informationsmengen langfristig in Trägermedien zu konservieren. Der Buchdruck gilt als eine, vielleicht sogar die bedeutendste kulturelle Errungenschaft.

11. Projekt der Aufklärung: Die Enzyklopädie


Während der europäischen Aufklärung wurde das erste große Kooperationsprojekt der Wissenschaften, die Enzyklopädie, begonnen. Diderot und andere Geistesgrößen ordneten in ihr das Wissen ihrer Zeit alphabetisch an – ohne Bewertung stehen heilige und profane Artikel nebeneinander. Es wurde versucht, alle damals relevanten Bereiche zu erfassen. Unter dem Verstand wurden drei übergeordnete Kategorien gebildet: Vernunft und Einbildungskraft – und das Gedächtnis. Daraus wurden dann Felder abgeleitet: unter der Kategorie Gedächtnis waren Formen der Geschichte gefasst. Unter der Vernunft etwa die Philosophie. Und unter der, sehr begrenzten, Kategorie der Einbildungskraft etwa die Künste wie Dichtung, Musik oder Architektur.
Seitdem haben sich auch noch andere Formen der Enzyklopädie herausgebildet. Während der deutschen Fröhromantik befasst sich beispielsweise Novalis mit einem Enzyklopädistikprojekt. Im Gegensatz zum alphabetischen Ordnungsprinzip des Rationalismus versucht er, Wissen ästhetisch umzusetzen. Jean Paul wird in seiner Vorschule der Ästhetik

von einer "poetischen Enzyklopädie" sprechen.

12. Das Problem der Digitalisierung


Heutzutage sind wir durch die Erfindung des Computers und die Digitalisierung allerdings vor ein Problem gestellt, nämlich dass die riesigen Datenmengen nur ein geringes „Haltbarkeitsdatum“ haben. Fehlen in einer digitalen Datenmenge entscheidende Bits und Bites, so ist die gesamte Datenmenge beschädigt – oder zerstört. Das weiß jeder, welcher schon einmal einen langen Kratzer auf einer DVD hatte. Dieses Problem, wie die digitalen Datenmengen langfristig und kostengünstig zu sichern sind, ist ein großes und wichtiges unserer Zeit.

13. Kants "Phantasie mit Bewusstsein"


Springen wir wieder zurück ins 18. Jahrhundert: Ein anderer Aufklärer dieser Zeit war Immanuel Kant, über den unter Anderem Eisler Einiges geschrieben hat. Ihrer beider Ansicht nach ist das Gedächtnis „Phantasie mit Bewußtsein“. Dabei könne das Gedächtnis – anders als die reproduktive Einbildungskraft – etwas willkürlich reproduzieren. Wer etwas ins Gedächtnis fasse, der gebrauche formale Vollkommenheiten desselben: erstens das sich auf etwas Besinnen und zweitens das Behalten desselben. Das als bewussten Vorgang zu praktizieren, meinte er, komme nur den Wenigsten zu.
Das methodische ins Gedächtnis fassen wird memorieren (memoriae mandare) genannt. Es gebe drei Arten, auf welche dies geschehen kann: mechanisch, ingeniös oder judiziös. Das ingeniöse Erfasssen erfolgt durch eine Methode, durch welche bestimmte Vorstellungen mit Nebenvorstellungen, etwa Zahlen durch Laute, assoziiert werden. Diese haben gewöhnlich keinerlei Verbindung, sondern diese Verbindung wird durch ein systematisches und festes Verbinden gestiftet.
Ein Beispiel dafür ist das aus der Mnemotechnik bekannte Major-System. Unter einer judiziösen Methode wird eine tafel der Einteilung eines Systems, der Topik, verstanden. Diese Loci-Methode ist ebenfalls aus der Mnemotechnik bekannt. Einer Anekdote nach reicht diese Loci-Methode bis in die Antike zurück: Simonides von Keos soll sich damit die Personen gemerkt haben, welche in einer festen Stuhlfolge am Tisch gesessen haben.

Kant nun fasst dies alles unter der Formel zusammen, dass Gedächtnis „Phantasie mit Bewußtsein“ sei. Es sei die Fähigkeit, sich willkürlich Beliebiges einprägen zu können. Das können in der Tat Handynummern oder Geburtstage, Vokabeln oder Kartenspiele sein. So ist es möglich, ansonsten niemals erinnerbare Informationsmengen zu behalten. Es gibt Menschen, die können sich mehrere zehntausend Nachkommastellen der Zahl Pi oder ganze Wörterbücher merken – und sie sind keine Savants! Es ist die Fähigkeit, durch Kombination mehrerer Methoden, sich feste Routen mit Routenpunkten (Loci) zu suchen, und auf diese festen Loci variabel bekannte Bilder abzulegen, welche wiederum in Worte übersetzt werden, welche wiederum Laute enthalten, genauer: Konsonanten, die dann Zahlen repräsentieren. Das alles ist also kein Zauberwerk oder muss keine geniale Veranlagung sein. Es braucht dafür, wie Kant sagte, zwei Fähigkeiten: etwas Phantasie und Bewusstsein.


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Quelle unter Anderem:
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- Edelmann: "Lernpsychologie"


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Tag der Veröffentlichung: 30.04.2009

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