Heute soll mein neues Leben beginnen. Die letzten Tage waren ein großes, trostloses Nichts, aus dem ich nun auftauchen muss. Mein altes Leben ist beendet worden. Mit einem Schuss, dessen Klang mir immer noch in den Ohren hallt. Nachts, wenn ich allein bin hält nichts meine Gedanken davon ab durch die Erinnerungen zu wandern. Diese Erinnerungen tun weh, selbst die schönen, denn sie zeigen mir nur, was ich verloren habe.
Ich stehe in der Eingangshalle des Flughafens. Leute eilen an mir vorbei, ziehen schwere Koffer, unterhalten sich in fremden Sprachen und lachen voller Freude. Ich fühle mich fehl am Platz.
Die Schlange an der Gepäckabgabe ist lang. Ein Mann quetscht sich an mir vorbei, wirft mich dabei fast um und stellt sich neben seine Frau.
„Sorry.“, entschuldigt er sich und ich nicke nur. Ich habe keine Energie mehr um mich aufzuregen. Nach dem ersten Schock konnte ich es nicht wahrhaben. Ich habe getobt wie ein Wahnsinniger, geheult und die Einrichtung verwüstet. Schließlich haben sie mich in einen leeren Raum gebracht, damit ich mich beruhigen konnte. Seitdem fehlt mir jede Energie.
Dass ist die Trauer und die Angst. Keine Sorge, Sie sind in Sicherheit.
Ich sehe zu dem Polizisten hinüber, der auf einer Bank sitzt und wartet. Er trägt Zivilkleidung, aber ich weiß, dass er eine Waffe unter seiner Jacke trägt. Er soll mich beschützen. Ich glaube nicht, dass mich jemand erkennen wird. Trotzdem bin ich nervös. Mit zittriger Hand fahre ich mir über die frisch geschnittenen Haare. Sie sind jetzt dunkler, als zuvor. Das helle Braun ist einem Schwarz gewichen.
Das Pärchen vor mir wuchtet seine riesigen Koffer auf das Gepäckband und geht weg. Ich bin dran.
Die Frau hinter dem Schalter lächelt freundlich.
„Guten Tag.“, grüßt sie. Wortlos reiche ich ihr meinen Pass und den Vordruck für mein Flugticket. Es ist kein guter Tag. Professionell ignoriert sie meine Unhöflichkeit und schlägt den Pass auf. Während sie meine Daten bearbeitet, beginnt Nervosität in mir hochzusteigen. Der Pass ist nicht echt- doch, ich muss mich verbessern: Der Pass ist echt, die Daten sind es nicht.
„Sie können ihr Gepäck auf das Band legen.“, ich stelle meine alte Sporttasche ab. Sie wiegt keine sieben Kilos. Ich habe nur wenig eingepackt. Zu viele Erinnerungen, die ich besser hier lasse. Das macht den Neustart leichter.
Sie reicht mir den Pass zurück und gibt mir das Ticket. „Einen angenehmen Flug, Herr Mayer.“ Ich nicke. Ben Mayer. Ich hätte einen schlimmeren Namen erwischen können, aber egal wie gut oder schlimm, der Name ist nicht meiner. Sie werden sich daran gewöhnen .Niemand wird Sie unter Ihrem alten Namen kennen, Sie werden nur noch den neuen hören und irgendwann ganz automatisch darauf reagieren.
Ben Mayer. Irgendwann werde ich das vielleicht wirklich sein…
Während ich zur Sicherheitskontrolle gehe, erhebt sich mein unauffälliger Begleiter und schließt zu mir auf.
„Ich kann Sie mit hinein begleiten.“, schlägt er vor.
Abwehrend schüttle ich den Kopf. „Danke, ich schaffe das allein.“
„Scheuen Sie sich nicht mich anzurufen. Sie haben ja meine Nummer.“ Ich nicke. „Dann viel Glück.“
Langsam gehe ich zur Sicherheitskontrolle und stelle mich in die Schlange von Wartenden. Ich habe kein Handgepäck, also schmeiße ich meinen Geldbeutel mit dem Reisepass und dem neuen Handy, in dem nur die eine Nummer des Polizisten eingespeichert ist, in die Plastikschale. Auf der anderen Seite des Metalldetektors nehme ich sie wieder an mich. Ich habe noch Zeit. Wahllos und ohne Interesse streife ich durch die Geschäfte, die mit „Duty free“ für ihre Produkte werben. Ein Seitenblick in ein Schaufenster lässt mich überrascht anhalten. Bin das wirklich ich? Mein Gesicht ist leblos. Die ungesund blasse Haut steht in starkem Kontrast zu den dunklen gefärbten Haaren und den tiefen Augenringen unter meinen Augen. Ich habe in letzter Zeit weder viel geschlafen noch etwas gegessen.
Plötzlich sind mir die Lichter zu hell und die Farben viel zu bunt. Das passt nicht in meine farblos gewordene Welt. Also verlasse ich die Einkaufsmöglichkeiten schnell wieder und suche ich mir stattdessen einen Platz im Wartebereich meines Terminals. Ungewollt streift mein Blick durch den Raum und bleibt an einer jungen Frau hängen, die in einem Magazin liest. Ihre blonden Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden und sie trägt ein grünes Seidentuch um den Hals. Die Erinnerung durchzuckt mich wie ein Blitz. Es schmerzt. Panisch schließe ich die Augen, doch sie ist schon da. Vor meinem inneren Auge steht sie da, die goldblonde Mähne zusammengebunden, freudestrahlend das grüngemusterte Seidentuch in der Hand, dass ich ihr letztes Jahr geschenkt hatte. Meine Siri…
Erzählen Sie was passiert ist. Nehmen Sie sich Zeit
Wir waren spät dran, sonst hatten wir niemals die Abkürzung genommen. Sie hatte sich so aufs Theater gefreut. Sie liebt Theater… Sie liebte Theater…
Dann waren da diese Männer. Siri hat meine Hand gegriffen und mich zurückgezogen… Da habe ich den Toten gesehen… Da war Blut, soviel Blut… Siri hat geschrien. Warum hat sie geschrien? Einer hat sich umgedreht und… hat geschossen. Sie ist sofort umgekippt… und ich bin gerannt. Ich war so feige!
Es war das einzig Richtige. Es hat Ihr Leben gerettet. Sie hätten nichts tun können, di e Autopsie hat ergeben, dass sie sofort tot war.
Aber das wusste ich doch nicht. Ich hab sie einfach liegen gelassen statt etwas zu tun! Und dabei liebe ich sie doch so sehr… Ich fühle mich so schuldig. Der ganze Abend war meine Idee… ich wollte doch nur, dass sie glücklich ist. Und dann habe ich sie einfach im Stich gelassen.
Sie habe das Richtige getan. Auch wenn das für Sie jetzt schwer zu glauben ist. Als erstes werden wir Ihnen eine neue Identität verschaffen. Sie haben ja keine Angehörigen mehr, richtig? Das macht es einfacher.
Einfacher? Ich habe jetzt niemanden mehr…
Umso sicherer für Sie, dann müssen Sie niemanden zurücklassen und können sich ein ganz neues Leben aufbauen.
Ich will kein neues Leben. Ich kann nicht. Nicht nach …Siris Tod.
Sie würde nicht wollen, dass Sie aufgeben.
Ich kann nicht.
Sie müssen es wenigstens versuchen.
…
Ich wache auf. Meine Hände klammern sich um die Armlehnen. Ich zittere am ganzen Körper. Ich werde dieses Gefühl einfach nicht los, diese Schuld. Die anderen Fluggäste betreten schon die Maschine. Ich gehe zur Stewardess und reiche ihr Pass und Ticket.
„Willkommen an Bord“
Ich habe einen Platz am Fenster.
Die Reise beginnt und damit mein neues Leben. Ich bin jetzt ganz allein mit meiner Trauer. Ich weiß, ich muss vergessen um weiter machen zu können.
Aber wie kann ich sie jemals vergessen?
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2012
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