Cover


Er saß auf einem kahlen Zweig und ließ die dünnen Beinchen baumeln. Mit kleinen, schwarzen Augen beobachtete er das plätschernde Wasser des Baches unter ihm. Vor kurzem war er noch gefroren gewesen. Festgehalten in der Bewegung. Kein Rauschen. Keine Wassermassen, die sich überschlugen, als seien sie auf der Flucht. Der Winter ist still.
Stets war er, der Frostgeist, der erste, der kam und der letzte der ging. Dann fegte er über die Wiesen und Felder und kleidete die langen Halme in zartes Weiß. Dann wartete er sehnsüchtig auf den Winter, den Einzug der Winterseelen.
Doch nun waren die Winterseelen längst wieder in den kalten Norden gezogen. Weg von der Wärme. Es war viel zu warm. Ein viel zu warmer Wintertag.
Wenn er die Augen schloss konnte er sie noch sehen, die Winterseelen.
Er liebte es ihnen zuzuschauen, wie sie zwischen den im Wind tanzenden Schneeflocken umherwirbelten. Er liebte es, wenn die Welt von Schnee und Eis bedeckt war. Wie in einem Bilderbuch. Wie ein weißer Traum.
Er war wieder der letzte, der geblieben war. Die Winterseelen waren fortgezogen, der Schnee war geschmolzen und er versuchte vergeblich jeden Morgen aufs Neue, Frost über die Gräser zu hauchen, bis sein kleiner Hals schmerzte. Doch das Wasser taute und Tropfen rannen über die Blätter.
Seufzend dachte er an den Norden. Dort wo das Eis und die Kälte herrschten. Wo der Schnee im Sonnenlicht glitzerte, bunter als jeder Regenbogen. Wo die Winterseelen und Frostgeister ewig tanzten.
Bald würde er den anderen folgen. Bald.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 19.03.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /