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Irland, In der Nähe von Dublin, Jahr 2012


Er saß auf dem zerfledderten Sofa im Salon seines irischen Landguts. Das Zimmer war spartanisch eingerichtet – um genau zu sein, war das Sofa das einzige Möbelstück im ganzen Raum. Ihn störte das jedoch nicht. Nichts würde ihn momentan stören können. Er hatte sein Ziel erreicht. Die Aufgabe, die seit dem Tod seines Vaters sein Leben bestimmt hatte, war erfüllt. Er musste es ihm am Sterbebett versprechen und er hatte sie fertig gebaut, die Zeitmaschine, die sein Vater begonnen hatte.
Langsam stand er auf und fuhr andächtig mit den Fingerspitzen über die Schweißnähte. Es war Zeit sie auszuprobieren und … sein Versprechen vollständig einzulösen.
Er knöpfte sein Hemd auf. Wie alles was er besaß war auch seine Kleidung alt und abgenutzt, doch die Maschine hatte das gesamte, einst erhebliche, Familienvermögen gnadenlos aufgefressen. Vorsichtig legte er sich den Kontaktstreifen auf die Brust. Sein Herz schlug wild und er spürte nicht einmal den Schmerz mit dem die feinen Nadeln sich tief in seine Haut bohrten. Zufrieden knöpfte er sein Hemd wieder zu und stich die Falten glatt.
Sein Blick ruhte auf der Maschine, als er sein Jackett anzog und dem leisen Summen lauschte, dass sie von sich gab. Noch einmal holte er tief Luft, dann kontrollierte ein letztes Mal die Eingaben und aktivierte den Zeitsog.
Elektrische Pulse jagten, von den Nadeln ausgehend, durch seinen Körper. Er schloss die Augen, ergab sich dem Schmerz und sprang durch die Zeit.

Terra City, Jahr 2587


Zeit ist etwas Seltsames, dachte ich, als ich den Sonnenaufgang vom Panoramafenster des Foyers im Hauptquartier aus beobachtete. Ich, Amarante Sol, war Zeitagentin der Abteilung zum Schutz und der Erhaltung der Timeline, doch die Zeit war trotz all unserer Forschung noch immer unbegreiflich.
Mein Armbandkommunikator vibrierte. Mit einem Tastendruck nahm ich den Anruf an.
„Agent Sol, bitte in mein Büro.“, das war die Stimme von Noreen, der Leiterin der Abteilung.
Schnell machte ich mich auf den Weg. Noreen wartete nicht gerne und außerdem war ich aufgeregt. Vielleicht ein neuer Auftrag?
Die Tür öffnete sich sofort, als ich sie erreichte und ich betrat den Raum. Noreens Büro war groß und hell, was vermutlich an dem großen Fenster an der Kopfseite des Raums lag, das eine herrliche Aussicht auf die fliegende Stadt Terra City bot, der Hauptstadt der Menschen im Jahr 2587. Direkt vor dem Fenster befand sich Noreens Schreibtisch hinter dem sie saß und mir ungeduldig entgegenblickte.
„Wird auch langsam Zeit.“, nörgelte die ältere Frau und erhob sich. Fragend hob ich eine Augenbraue, sagte aber nichts. So spät war ich doch gar nicht? Ich hatte mich extra beeilt, dachte ich empört.
„Ich habe eine wichtige Mission für Sie.“, Sie winkte ungeduldig mit der Hand. Und da trat plötzlich jemand neben mich. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass jemand hinter mir stand, doch erschien neben der Tür gewartet zu haben.
„Agent Sol, Ihr Partner für diese Mission wird Agent Varth sein.“ Ich drehte mich zu dem dunkelhaarigen jungen Mann um, der mir etwas überheblich zulächelte. Rodon Varth hatte mit mir die Zeitakademie besucht und war ein unglaublicher Besserwisser. Wir hatten beide erst vor kurzem den Abschluss gemacht und das war unsere erste gemeinsame Mission.
„Oh.“, sagte ich trocken, Begeisterung konnte ich wirklich keine aufbringen. Mit einem selbstverliebten Besserwisser zusammenzuarbeiten ist nicht nur anstrengend, sondern ist auch tödlich für die Nerven.
Er versuchte etwas, was vermutlich ein liebenswertes Lächeln sein sollte, doch ich kannte den Teufel hinter dem Engelsgesicht zu gut um darauf hereinzufallen.
Noreen ignorierte unsere offensichtliche Abneigung und wandte sich dem Wandbildschirm zu. „Unsere Beobachter haben einen Zeitsprung angemessen. Ausgangszeit war das Jahr 2012, um genau zu sein der 20. Februar um 17:24 Uhr. Es handelt sich dabei um einen Sprung, der von einer unautorisierten Zeitmaschine ausging. Wahrscheinlich eine Eigenkonstruktion des Mannes, auf dessen Grundstück wir den Sprung lokalisieren konnten.“ Ein Bild von einem Mann mit grauen Haaren und stechenden Augen erschien auf dem Bildschirm. Er sah schon irgendwie gruselig aus mit seinen Narben, die ihn vom rechten Ohr aus quer übers Gesicht liefen.
„Das ist Alexej Sergejewitsch Sorokin. 57 Jahre alt zum Zeitpunkt des Sprungs. Keine Familie. Auf seinem Landgut in der Nähe von Dublin haben wir eine Zeiterschütterung gemessen.“
„Meine Güte!“, entfuhr es mir. „Wo hat der denn seine Narben her?“
„Das fragen Sie ihn am besten selbst, wenn sie ihn in Gewahrsam nehmen.“, antwortete meine Chefin säuerlich. „Ich muss Ihnen beiden nicht erklären, welch verheerende Folgen eine Veränderung der Timeline mit sich bringen kann. Die kleinste Veränderung könnte die Realität wie wir sie kennen grundlegend verändern, was zur Folge haben könnte, das wir alle nicht mehr existieren.“ Das war ja typisch, jetzt erklärte sie ja doch! Als wüsste sie was ich gerade gedacht hatte, sah sie mich sehr ernst an.
„Wir werden unser Bestes geben.“, versicherte ich ihr.
„Das reicht nicht!“, zeterte sie. „Schnappen Sie Sorokin und verhindern Sie jeden Eingriff in die Timeline.“ Gemäßigter fuhr sie fort: „Ihre Ausrüstung liegt im Sprungraum bereit. Viel Erfolg.“, damit ging sie wieder zum Schreibtisch und das Bild auf dem Bildschirm verschwand.

Irische See, Jahr 1955


Die Zeitreise hatte ihn erschöpft. Noch immer fühlten sich seine Glieder taub an und sein Kopf brummte von den elektrischen Schlägen. Aber er hatte es geschafft! Die Zeitmaschine hatte funktioniert … oder wird funktionieren?
Ehrwartungsvoll blickte er auf das stürmische Meer hinaus. Das Schiff unter ihm schwankte, die Luft schmeckte nach Salz und dunkle Wolken ließen die See noch grauer erscheinen. Er tastete in seine Jackettasche. Es war noch da. Gut, denn er würde es schon sehr bald brauchen.

Terra City, Jahr 2587


Als wir den Sprungraum betraten lag unsere Ausrüstung tatsächlich schon bereit. Varth schnappte sich sofort seinen Klamottenstapel und ging in Richtung Umkleidekabine, während mein Blick an der im Licht der Deckenlampen glänzenden Zeitmaschine hängen blieb. Die Maschine war riesig. Sie füllte beinahe den ganzen Raum, der mit seinen Ausmaßen schon fast als Halle bezeichnet werden konnte. Die nahtlose Metallverkleidung schirmte die empfindliche Elektronik im Inneren perfekt ab und würde nur von den Bedienungsbildschirmen an der Vorderseite unterbrochen. Und natürlich war da noch die Sprungkabine…
Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich zuckte zusammen und mir wurde peinlich bewusst, dass ich mal wieder mit offenem Mund die Zeitmaschine anglotzte. Was soll ich sagen, diese Technik faszinierte mich jedes Mal aufs Neue.
Varth grinste mich an. „Man sollte meinen du seist eine erfahrene Zeitagentin, aber du stehst da, wie ein Neuling von seinem ersten Sprung. Na, schon aufgeregt?“, spottete er.
„Halt den Mund.“, knurrte ich und ging nun selbst mit meinen Kleidern in die Umkleidekabine. Diesmal hatte ich eine schwarze Stoffhose und eine dunkelblaue Bluse. Ja, das passte in den Anfang des 21. Jahrhunderts. Die richtige Kleidung war sehr wichtig, denn wir sollten immer so unauffällig wie möglich aussehen und oft gab es in nur ein paar Jahrzehnten grundlegende Veränderungen in der Mode, aber Anzüge hatten sich erstaunlich lange gehalten und unterschieden sich auch im Laufe der Zeit nicht sonderlich. Es soll sogar schon vorgekommen sein, dass sich jemand im Jahr vertan und mit seinem Aussehen ein paar neue Trends gesetzt hatte. Unter den Tarnkleidern trug ich natürlich noch meinen Anzug aus hochelastischen Kunstfaserproteinen, der mit Rhodiumfäden durchzogen ist, die bei Bedarf mit ihrer kristallinen Ausrichtung einen Verbindung zur Zeitmaschine herstellt und einen Rücksprung ermöglichen.
Nachdem ich den Anzug geprüft hatte, ging ich wieder zu Varth zurück.
Er stand bereits in der Sprungkabine und stellte das Datum am Chronometer ein. Auch er trug Tarnkleidung, einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd – ein Klassiker.
„Na endlich.“, sagte er in einem Ton als hätte ich ihn Stunden warten lassen.
„Als ob ich so lange gebraucht habe.“, antwortete ich mürrisch. Er sah mich nur mit hochgezogener Augenbraue an.
„Bereit?“, fragte Varth.
„Ja.“ Und wir dematerialisierten.

Irland, Gegend um Dublin, Jahr 2012


Wir materialisierten wieder und ich fiel prompt auf den Hintern. Wir waren auf einem umgegrabenen Acker und ich war über einen Erdklumpen gefallen. Wenigstens hatte es nicht geregnet, denn die Erde war trocken. Ich stand auf und klopfte mir die Erde von der Hose. Natürlich hatte Varth mehr Glück mit der Wiederverstofflichung gehabt und war nicht auf einem Erdklumpen gelandet.
„Sag mal wo genau sind wir gelandet?“, fragte ich in möglichst neutralem Ton. Er brummte etwas Unverständliches.
„Wie bitte?“
„Auf einem Acker.“
„Nein, wirklich? Hatte ich noch nicht bemerkt.“, er warf mir einen sehr bösen Blick zu.
„Wir sollten auf dem Landgut ankommen.“, wieder ein böser Blick. „ Erinnere mich daran, dass ich nächstes Mal die Zeitmaschine selber einstelle.“
„Ich habe die Zielzeit und den Zielort so weit wie möglich übereingestimmt.“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Und ich muss dir nicht erklären, wie schwer es ist die Erdumdrehungen und die Erdlaufbahn miteinzuberechnen um nicht nur zur richtigen Zeit, sondern auch am richtigen Ort anzukommen.“
Beim den ersten Zeitreisen war es schon vorgekommen, dass die Zeitreisenden im Weltall materialisierten, weil sie an genau dergleichen Stelle ankamen, die Erde sich in der Zielzeit aber auf einem anderen Punkt ihrer Umlaufbahn befunden hatte.
„Ich werde mich mit dem GPS verbinden.“, ich stellte meinen Minicomputer aus der Hosentasche und suchte eine Satellitenverbindung.
„Hm ... Wir befinden uns ungefähr 15 Kilometer westlich von Dublin und … 5 Kilometer vom Zielort entfernt.“, sagte ich, als die Verbindung hergestellt war.
Vasth sah aus, als hätte er in eine besonders saure Zitrone gebissen.
„Das müsste zu machen sein, schließlich haben wir noch ein Zeitfenster von zwei Stunden, oder?“, Ich sah auf mein Chronometer. 16:47 Uhr Ortszeit. „Verdammt!“, schimpfte ich herzhaft. „Wann war der Zeitsprung nochmal?“
„Er wird um 17:24 Uhr stattfinden, wenn wir es nicht verhindern, wieso?“, jetzt schaute auch er auf sein Chronometer und ich sah wie das Blut sein Gesicht verließ.
„Mist, wir haben weniger als eine Stunde. Wie kommen wir jetzt zum Zielort?“
„Mir fällt schon was ein.“, sagte Varth gereizt.
„Sicher“, meinte ich. „Gleich packst du deine Flügel aus und fliegst uns rüber… Warte mal…“, ich hatte etwas entdeckt. Ein alter, furchtbar dreckiger Traktor ratterte gerade hinter einem Hügel hervor auf uns zu. „Schau mal, da ist unsere Mitfahrgelegenheit.“, grinste ich und lief mit den Armen wedelnd auf den Traktor zu.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mich Varth verbissener Gesichtsausdruck die gesamte, holpernde Fahrt auf dem alten Traktor sehr erfreute und ich eine gewisse Schadenfreude empfand.
Der freundliche Ire, der mindestens genauso alt war wie sein Gefährt, lächelte uns zahnlos zu, als er uns an einer Landstraße absetzte.
Das Landgut war atemberaubend. Jedenfalls war es das mal gewesen. Der Efeu wand sich an dem heruntergekommenen Gebäude empor und verlieh ihm etwas Mysteriöses. Und trotz des vielen herumliegenden Schrotts ließ sich die einstige Pracht von Hof und Garten noch immer erahnen.
„Lass uns reingehen.“, sagte ich bestimmt und schritt auf die große, verwitterte Eingangstür zu.
„Wir sind zu spät.“, entgegnete mein Partner und zupfte nervös an seinem Jackett.
Doch ich war schon im Haus verschwunden. Das Gebäude sah von innen genauso verwahrlost aus wie von außen. Im dämmenden Licht konnte ich kaum irgendwelche Möbel entdecken und die Tapete an den Wänden löste sich in großen Bahnen.
Ich ging durch den Flur direkt in den Salon und blieb sofort stehen. Der Raum war über und über mit Zetteln vollgehängt. Notizen an den Wänden, Pläne und Skizzen auf dem Boden und dem einzigen Möbelstück im Zimmer, einem alten Sofa. Nur ein Fleck auf dem Bodens war gänzlich frei von allem und das Papier um ihn herum war leicht angesengt.
Varth trat hinter mich. „Er ist weg. Hab ich doch gesagt.“, meinte er und blickte durch den Raum. „Wahrscheinlich hat dort die Zeitmaschine gestanden.“, er deutete auf den freien Fleck am Boden.
Ich brummte zustimmend und hob ein Blatt Papier auf. Es stand ein Name darauf. Ein Name und ein Datum. Ethan Blackwell, 4. März 1955. Ich hielt es Varth hin, der immer noch sauer aussah.
„Reiß dich zusammen, Varth, und sieh dir das an. Sorokin muss einen Grund gehabt haben in der Zeit zu reisen. Komm wir suchen nach Hinweisen.“
Wir suchten eine ganze Stunde lang. Schließlich hatten wir etwas gefunden, was uns weiterhelfen konnte. Es war eine Liste mit Namen und Lebensdaten, sowie Wohnorten. Einige Namen waren eingekreist und einer war besonders dick markiert: Ethan Blackwell.
„Schon wieder dieser Name. Ethan Blackwell. Was will Sorokin bloß von ihm?“, fragte ich mich laut.
„Wer weiß. Vielleicht will er ihn umbringen oder es ist sein Vorfahre, oder so.“, mutmaßte Varth.
„Nein, ich glaube nicht.“, widersprach ich. „ Sorokin ist Russe, auch wenn seine Familie in ganz Europa Wohnsitze hat, und Blackwell ist Amerikaner. Schau, seine ganze Familie lebte ab 1898 in den Staaten.“
„Schon, aber Blackwell war wieder 1955 in London. Vielleicht haben sie sich getroffen.“
„Da war Sorokin aber noch ein Baby!“, protestierte ich.
„Dann könnte es ja sein, dass Blackwell sein Vater ist oder so.“ Ich war noch immer nicht überzeugt.
„Wir sollten nach London ins Jahr 1955 reisen. Ich bin mir sicher wir finden ihn dort.“, ich konnte das Leuchten in seinen Augen sehen und seine plötzliche Begeisterung verschlug mir die Sprache.
„In Ordnung.“, sagte ich und wedelte mit dem Blatt. „Die Adresse haben wir ja.“


London, Jahr 1955


Die Londoner Märznacht war kalt und nass. Es nieselte aus der dichten Wolkendecke, die keinen Blick auf die Sterne zuließ. Wir standen auf der Straße, umgeben von den wunderschönen viktorianischen Stadthäusern, einige Meter von Blackwells Adresse entfernt.
„Kannst du irgendjemanden sehen?“, fragte ich ganz leise und sah mich um.
„Nein, oder ich hätte dir Bescheid gesagt.“, meckerte Varth zurück, als gerade die Tür von Blackwells Haus leise aufging. Hastig drückten wir uns an die Mauer des nächsten Hauses und spähten zu der dunklen Gestalt in einem langen Mantel hinüber, die das Gebäude verließ.
Gerade als wir ihr folgen wollten, löste sich ein Schatten von der Hauswand gegenüber. Er folgte der Gestalt.
„Los, hinterher!“, zischte ich und packte Varth am Arm.
Wir folgten beiden in eine enge Gasse. Sie war stockdunkel, sodass wir ganz vorsichtig hineingehen mussten, weil wir nicht sahen, was uns dort erwartete. Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich sah wie der Mantelträger auf dem Boden lag und der Schatten sich über ihn beugte, ein langes scharfes Messer in der Hand. Der Schatten sprang auf.
„Varth…“, ich drehte mich zu ihm um und wollte ihn warnen, als ich den kalten Stahl eines Messers an meinem bloßen Hals spürte.
Varth blieb wie versteinert stehen und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von Entsetzen und Überraschung zu maßloser Wut.
„Wer seid ihr? Warum folgt ihr mir?“, die krächzende Stimme mit starkem russischen Akzent war nah an meinem Ohr und der Atem in meinen Nacken ließ mich erschaudern.
„Sorokin…“, knurrte Varth drohend. Nun war es an dem Fremden überrascht zu sein. Doch sein Erstaunen hielt nur einen Moment, dann erhöhte er den Druck des Messers, sodass der Stahl in meine Haut schnitt.
„Ich bin Agent Amarante Sol“, sagte ich hastig. „und das ist mein Partner Agent Rodon Varth.“
„Geheimpolizei?“
„Zeitpolizei.“, sagte Varth in einem Anflug von Sarkasmus. „Wir werden Sie nun festnehmen wegen dem Verstoß gegen die Zeitsprunggesetze und wegen versuchter Veränderung der Timeline.“
Sorokin lachte. „Ich habe Ihre Freundin. Sie werden mich gehen lassen.“
„Sie wollten diesen Mann umbringen!“, sagte mein Partner aufgebracht.
„Falsch. Ich habe ihn umgebracht.“ Er drehte sich mit mir um und stieß einen Wutschrei aus. Der andere war weg. „Er wird sie umbringen!“, keuchte Sorokin, stieß mich auf Varth zu und rannte die Gasse entlang.
Varth fing mich auf und half mir auf die Beine, dann hetzten wir ihm hinterher. Ich atmete schwer, meine Seite schmerzte, doch ich rannte weiter durch die Gassen und Straßen von London. Beinah wäre ich in Varth reingerannt, der plötzlich stehen blieb. Sorokin kniete vor uns auf dem Kopfsteinpflaster und eine Frau lag vor ihm in einer Blutlache. Ihr hübsches Gesicht war blass und ihr braunes Haar mit Blut verklebt.
Stumme Tränen liefen über Sorokins Gesicht und die Narben glänzten im Licht der Straßenlaternen. „Es ist noch nicht zu spät, Mutter.“, flüsterte er. „Es ist noch nicht zu spät.“ Dann drehte er sich um und rannte in die Dunkelheit.
Ich sah Varth an. „Jetzt wissen wir den Grund: Blackwell hat seine Mutter ermordet.“
„Was wird er jetzt tun?“, fragte er mit einem Blick auf die tote Frau.
„Er will Blackwell töten. Dazu muss er weiter in die Vergangenheit.“
„Seine Zeitmaschine muss irgendwo sein. Wir müssen sie finden, los ihm hinterher!“
Und wieder rannten wir. Blutige Fußabdrücke wiesen uns den Weg, bis zu einem alten, verlassenen Haus. Die Tür stand offen. Varth schob mich beiseite und betrat den Flur. Es war noch dunkler als die Nacht, wenn das überhaupt möglich war. Unsere Schritte waren unglaublich laut in der Stille des Hauses. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, doch ich ging weiter. Meine Augen hatten sich gerade wieder an die Dunkelheit gewöhnt, als wir eine Tür entdeckten, unter der ein schwaches Licht hervorschien. Langsam schlichen wir uns heran. Ich verfluchte das Waffenverbot für Zeitagenten. Alles was wir hatten, war ein Paralysator, den Varth aus dem Halfter zog und auf die Tür richtete. Wir sahen uns an und ich zählte mit erhobener Hand bis drei, dann stieß ich die Tür auf. Sorokin stand neben den kleinen Metallkasten, sein Gesicht vor Schmerz verzerrt. Die Maschine leuchtete auf und das Licht tanzte wild um seinen Körper. Ich konnte gerade noch Varths Arm packen und sprang auf Sorokin zu. Ich erwischte ihn am Handgelenk. Die elektrischen Impulse gingen auf uns über, doch die Rhodiumfäden unserer Anzüge leiteten sie ab und wir sprangen mit Sorokin weiter in die Vergangenheit.

London, Jahr 1896


Als ich die Augen aufschlug, merkte ich, dass ich auf dem Boden lag. Und ich war allein. Mühsam rappelte ich mich auf und sah mich um. Ich war in einem hübsch eingerichteten Raum, ein kleiner Salon im viktorianischen Stil. Es schien niemand da zu sein, doch ich schlich trotzdem zur offenstehenden Tür und betrat den Flur. Zum Glück auch menschenleer. Im Nebenzimmer fand ich Kleider. Ich quälte mich in den Unterrock und zog ein dunkelgrünes Kleid über. Sogar einen passenden Hut, unter dem ich meine Haare zusammenstecken konnte, fand ich. Gut, so konnte ich nun unauffällig auf die Straße gehen. Schließlich musste ich noch Varth und Sorokin finden. Weit konnten sie nicht sein. Ich vermutete, dass wir nicht weit voneinander materialisiert waren. Die Straßen waren voll. Leute liefen zwischen den gelegentlich vorbeifahrenden Kutschen herum und ein Zeitungsjunge rief die Schlagzeilen des Tages in die Menge. Unauffällig näherte ich mich ihm und erhaschte einen Blick auf das Datum der Zeitung. 1896. Ich lief weiter und hielt Ausschau nach den anderen beiden. Zwei Stunden später lief ich immer noch durch die Straßen, doch meine Beine schmerzten und die Gesichter der Menge verschwammen vor meinen Augen. Ich stolperte über einen Stein und ruderte nach Halt suchen mit den Armen durch die Luft. Da packte mich jemand, gerade noch rechtzeitig, bevor ich mit dem Hintern in den Pferdeäpfeln landete. Ich sah zu meinem Retter auf. Er war um die 30 und hatte ein freundliches Gesicht unter seinem Zylinder. „Verzeihung.“, entschuldigte ich mich und kam auf die Füße. „Passen Sie auf, die Straße ist voller Gefahren.“, sagte er lächelnd. „Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist John Blackwell.“, er verneigte sich leicht. Blackwell? Da bemerkte ich einen kleinen Jungen, der sich an sein Bein klammerte. „Ihr Sohn?“, fragte ich und deutete auf den Kleinen. Stolz sah er auf seinen Sohn hinunter und nickte. „Das ist Daryl.“
„Daryl Blackwell“, murmelte ich und erinnerte mich an den Stammbaum der Blackwells. Ethans Vater.
„Ganz recht.“, sagte Mr. Blackwell und sah mich etwas komisch an. Ich schenkte ihm ein herzliches Lächeln. „Ein wunderschönes Kind.“, sagte ich. „Auf Wiedersehen.“ Schnell ging ich weg, bis ich sicher war, dass er mir nicht hinterher schaute, dann machte ich Kehrt und folgte ihnen in sicherem Abstand. Sorokin würde sicher bald auftauchen. Und tatsächlich entdeckte ich Sorokins vernarbtes Gesicht, noch bevor er mich sah. Gerade wollte ich mich wegdrehen, als sein stechender Blick mich traf und zu den Blackwells weiterwanderte. Verdammt! Ich hörte einen Aufschrei in der Menge und sah nun auch Varth, mit blutender Stirn auf uns zu rennen. Er sah übel zugerichtet aus. Mit einer Schnelligkeit, die ich Sorokin nicht zugetraut hätte, erreichte er Blackwell und zog sein Messer. Die Leute schrien auf, Blackwell schob Daryl hinter sich und Varth und ich stürzten uns auf den Angreifer. Varth verpasste ihm einen Schlag in den Bauch und ich trat ihm in die Hüfte. Das war nicht gerade üblich für eine feine Londoner Lady, doch keiner beschwerte sich im Moment über mein unschickliches Verhalten. Sollten die Leute denken was sie wollten. Viel wichtiger war es Daryl Blackwell zu retten, und mit ihm die Timeline. Jetzt kamen auch andere Männer hinzu und versuchten den tobenden Sorokin festzuhalten. In einem verzweifelten Versuch warf er sich noch einmal nach vorne und Blackwell erstarrte. Ich sah den roten Fleck auf seinem weißen Hemd erst, als Sorokin seine Hand zurückzog. Die Menge erstarrte und alle beobachteten, wie der Fleck sich langsam ausbreitete. Mit riesigen Augen stand der kleine Daryl neben seinem Vater, der langsam in die Knie ging. Diesen Moment nutzte der Mörder, rannte in eine enge Gasse und verschwand um eine Hausecke. Noch bevor ich reagierte war Varth ihm auf den Fersen. Die Leute umringten den Toten und ich rannte los. In einem kleinen Hinterhof holte ich die beiden ein. Sorokin lag am Boden und Varth schlug auf ihn ein. „Hör auf.“, schnaufte ich. „Du bringst ihn noch um!“ Verächtlich sah er auf ihn hinab. „Das verdient er auch.“, spuckte er aus.
„Ich habe es versprochen.“, nuschelte Sorokin und Blut lief aus seinem Mund. „Ich musste es meinem Vater versprechen. Sein ganzes Leben verbrachte er damit die Blackwells zu suchen und die Zeitmaschine zu entwickeln.“ Zitternd zeigte er auf die Narben, die sein ganzes Gesicht entstellten. „Es war ihm egal was mir bei seinen Experimenten passierte. Dafür müssen die Blackwells bezahlen.“ Ich schüttelte traurig den Kopf. Er war von Rachsucht zerfressen und wir konnten ihm nicht mehr helfen. „Wir werden Sie jetzt mitnehmen. Sie werden vor das Gericht von Terra City gestellt und werden sich für Ihre Taten verantworten müssen.“, sagte ich entschieden. Ich krempelte den Ärmel meines Kleides hoch und wollte die Zielzeit in den Armmonitor meines Anzuges eingeben, als mir die blinkende Energieanzeige ins Auge sprang. „Varth, wir können ihn nicht mit unseren Anzügen transportieren, dazu reicht die Energie nicht mehr.“
„Die Zeitmaschine!“, sagte er.
„Wo ist sie?“
„Dort wo wir angekommen sind, in einem finsteren Seitengässchen.“, er deutete kurz auf seine Stirn. „Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, bei der dieser Irre mich mit einem Backstein am Kopf erwischt hat. Sonst wäre er mir nie entkommen.“
„Davon bin ich überzeugt.“, beschwichtigte ich ihn. „Aber wir sollten jetzt los. Ich will 1896 noch verlassen bevor es dunkel wird.“
Leider schafften wir es mit Sorokin im Schlepptau nicht ganz bevor die Dunkelheit hereinbrach, denn wir mussten auch die belebten Straßen meiden. Als wir schließlich doch in dem – ich muss zugeben wirklich finsteren – Seitengässchen ankamen hielt ich den gefangenen fest, während Varth die Zeitmaschine bediente.
„Mist, die Zeitmaschine schafft es nicht bis ins Jahr 2587. Das Weiteste ist 2012. Tut mir leid.“
„Das muss reichen. Vielleicht schaffen wir den Rest dann auch ohne.“, hoffte ich.
Er nickte und regelte die letzte Einstellung. Dann gab er mir die Hand und wir wirbelten durch die Zeit.

Irland, Jahr 2012


Sorokin klammerte sich an mir fest. Sein Gesicht war blutleer und sah schon halbtot aus. Verärgert stieß ich ihn von mir weg. Da riss er seinen Arm hoch. Zu spät sah ich das Messer in seiner Hand. Unfähig zu reagieren starrte ich die Klinge an, die auf mein Herz herabsauste. Es geschah alles blitzschnell, Varth drehte sich zu uns um und schlug das Messer weg, als es mich gerade erreicht hatte. Die Messerspitze fuhr über meine Haut und hinterließ eine blutige, schmerzhafte Spur. Ein kräftiger Schlag von Varth brachte Sorokin zu Boden. Ich stand da und meine Hände auf der blutverschmierten Brust. Der Schnitt war nicht tief, es war viel schlimmer. Mein Anzug war zerstört. Sorokin rührte sich nicht mehr. Ich sah in Varths besorgte Augen uns spürte einen Kloß in meinem Hals.
„Amarante…“, er brach ab, weil ich auf den Boden sank. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ohne Anzug keine Heimkehr, das wusste jeder Agent.
„Keine Sorge.“, meinte er. „Ich springe zurück und hole dich dann nach. Mir fällt schon was ein.“ Fleißig begann er die Daten einzutippen, als plötzlich ein leises Piepen ertönte.
„Was…?“, fragte ich alarmiert.
„Ähm… Meine Batterie hat sich verabschiedet.“, sagte er entschuldigend. „Der Energievorrat ist verbraucht.“
„Jetzt kannst du auch nicht mehr in die Gegenwart zurück!“, jammerte ich.
Er sah mich an. „Wir sind jetzt in der Gegenwart.“, sagte er lächelnd, nahm meine Hand und zog mich auf die Beine.
ENDE



Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.01.2012

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