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Erster Teil

Kapitel 1
Nachricht aus dem Norden
Müde fuhr sich Davic von Quellingen über die Augen. Der Aussichtsturm vor den Toren des kleinen Dorfes war in dichte, warme Nebelschwaden gehüllt, wie es sie im Sommer hier oft gab. Besonders Nachts waren sie undurchdringlich. Und in seinem Fall hatten sie eine nahezu einschläfernde Wirkung. Ein schwaches Licht schien am Horizont aufzutauchen. Er seufzte erleichtert auf. Der Morgen kündigte sich bereits an, also sollte es nicht mehr lange dauern bis seine Ablösung eintraf und er endlich nach Hause konnte. Beruhigt und voller Vorfreude auf sein weiches Bett und ein ausgiebiges Frühstück ein paar Stunden später döste er gemächlich vor sich hin. Der Stuhl, auf dem er saß, war unbequem, deshalb lehnte er sich weit genug vor, um sich mit den Armen auf der hölzernen Brüstung des Turmes abstützen zu können. Gähnend bettete er seinen rundlichen Kopf darauf und genehmigte es sich, für einen kleinen Moment die Augen zu schließen. Plötzliches Hufgetrappel schreckte ihn jäh auf. Verwirrt blinzelte er in den Nebel und für einen Augenblick war er wie geblendet davon. Schließlich machte er wieder das Licht in der Ferne aus, das ihm vorhin schon aufgefallen war, nur dass es auf einmal gar nicht mehr fern war. Tatsächlich stammte es von einer hell lodernden Fackel, die von der Hand eines Reiters gehalten, mühsam mit der grauen Suppe über dem Weg ins Dorf kämpfte. Sein Pferd raste dem Tor entgegen und Davic erschrak.
Weil es ihm bisher noch nie passiert war, dass wirklich jemand mitten in der Nacht Einlass in das verschlafene Dorf suchte, musste er erst einmal scharf überlegen, bis es ihm einfiel zu rufen: „He, Sie da. Wer sind Sie und was wollen Sie? Parieren Sie Ihr Pferd durch und geben Sie Ihre Ziele preis, nur dann lasse ich Sie ein!“
Doch der Reiter, welcher dem Tor nicht mehr fern war, machte keine Anstalten, dieser Aufforderung nachzukommen. Wie panisch hetzte er sein zierliches Rennpferd weiter. Es war von der edlen Statur der Wüstenpferde von Dakarun, die als die schnellsten und widerstandsfähigsten Tiere der Welt galten, doch trotz seines Temperaments es schien schon sehr müde zu sein. Seine Nüstern blähten sich auf und sein feines Fell war schweißverklebt. Der reitet mir noch das Tor ein, ging es Davic entsetzt durch den Kopf. Hastig bediente er die eingerostete Winde, mit der man die schwere Holzpforte öffnen konnte, und Stück für Stück und mit einem haarsträubenden Quietschen kam diese dem Befehl nach. Gerade, als sich ein schmaler Spalt aufgetan hatte, raste der Reiter auch schon hindurch und verschwand im Inneren des Dorfes. Wie gefesselt starrte Davic ihm nach. Als er sich losreißen konnte, ergriff er das große Horn neben ihm und stieß einen dröhnenden Alarmton aus, der von den Mauern der Häuser widerhallte und noch Sekunden später drohend in der feuchten Nachtluft stand. Der Reiter jedoch war schon längst aus Davics Blickfeld verschwunden. Er jagte wie ein Besessener die Hauptstraße hinunter, bis er irgendwann in eine kleine Seitengasse abbog. Vor einem schmalen, unscheinbaren Häuschen machte er Halt, warf hastig die Zügel seines erschöpften Pferdes um einen Anbindepflock und rannte ohne zu Klopfen die Tür ein. Zielstrebig hielt er auf das letzte Zimmer im Gang zu. Es war dunkel, aber seine Fackel spendete ihm genug Licht, um eine junge Frau aufrecht in ihrem Bett sitzend zu sehen. Sie zitterte am ganzen Leib und starrte ängstlich auf die Silhouette, die sich rasch auf sie zu bewegte.
„Bitte tun Sie mir nichts!“, flehte sie weinerlich. „Ich bekomme bald ein Kind, verschonen Sie mich doch!“ Der Mann hielt die Lichtquelle näher an sein müdes Gesicht und entgegnete beruhigend: „Das weiß ich doch, Liebste. Ich bin es, erkennst du mich denn nicht?“
Die Frau stieß einen Schluchzer der Erleichterung aus und fiel ihm um den Hals. „Natürlich tue ich das, es ist nur so, dass ich nicht zu hoffen gewagt hatte, dich so bald wiederzusehen!“, erklärte sie aufgelöst, doch als sie sich wieder von ihm trennte, bemerkte sie erschrocken, dass ihre Hände und Arme blut- und dreckverkrustet waren. „Lieber Himmel, was ist geschehen? Du bist verletzt!“
Unwillkürlich fasste er an seine linke Schulter, in der Tage zuvor noch eine tödliche Pfeilspitze gesteckt hatte. Sie hatte sein Herz nur knapp verfehlt und nun es war ihm, als bohrte sich immer noch ein Teil von ihr in sein Fleisch, obwohl zuerst sicher gewesen war, sie vollständig entfernt zu haben. Aber er hatte nur begrenztes medizinisches Können, sodass alles möglich war.
„Sorge dich nicht, ich habe nur wenig Zeit“, bat er sie eilig und kramte in seiner schlammverschmierten Tasche. Was er zum Vorschein brachte war ein edler Briefumschlag, dessen makelloses Pergament erstaunlicherweise nicht einen Spritzer Dreck abbekommen hatte. „Ich muss ihn dir zur Aufbewahrung geben, bis ich zurückkehren kann. Erzähle niemandem davon, denn es könnte nicht nur unser beider Leben davon abhängen!“
Verwirrt nahm sie die Botschaft in ihre zitternden Hände. Das teure Material fühlte sich schmeichelnd weich an ihrer Haut an und sie konnte ihre tränenverhangenen Augen kaum von seinem königlichen Schein wenden. In den Blicken ihres Mannes konnte sie erkennen, dass es nicht der passende Moment für weitere Fragen war. Trotzdem wollte sie mit leiser Stimme wissen: „Und wann wird das sein?“
Er zuckte ausweichend mit den Schultern. „Wenn die Gefahr gebannt ist. In ein paar Wochen oder Monaten, ich weiß es nicht...“
Daraufhin seufzte sie unglücklich. Die Geburt ihres ersten Kindes würde in zwei Monaten stattfinden und sie hatte gehofft, dieses Ereignis wie versprochen mit ihrem Mann teilen zu können. „Solange du wieder zurückkommst, soll mir alles recht sein“, gab sie sich geschlagen. Was hatte sie auch für eine Wahl?
Er lächelte liebevoll und küsste sie ein letztes Mal. Danach flüsterte er: „Falls wir eine Tochter bekommen und sie genauso aussieht wie du, sage ihr, dass sie wunderschön ist.“
Hilflos sah sie ihm nach, wie er wieder zur Tür trat und es war ihr, als sollte sie ihn nie wieder sehen.
Doch einmal drehte er sich noch um. „Und denk dran, wenn dich jemand nach mir oder dem Brief fragt, sage, du hättest von beidem nichts gehört oder gesehen“, ermahnte er sie eindringlich. „Egal wer es fragt.“ Nach diesen Worten war er auf und davon und das nächste, was die arme Frau vernahm, war das Trommeln der Hufe seines Pferdes, welches sich langsam aber stetig entfernte und schließlich ganz verstummte.
Am nächsten Morgen traf sie der Trennungsschmerz härter als je zuvor, aber dennoch ging sie zur Arbeit wie sie es gewohnt war und versuchte sich nichts von dem Anmerken zu lassen, das sie bedrückte. Sie war Näherin und hatte einen kleinen aber bei den Einwohnern beliebten Stand auf dem hübschen Marktplatz des Dorfes. Schon auf dem Weg dahin war die Aufregung zu spüren, von der die Menschen nach dem Zwischenfall der letzten Nacht ohne Ausnahme ergriffen waren. So etwas Merkwürdiges ereignete sich in Quellingen immerhin nicht alle Tage. Tatsächlich gab es bis auf die Ältesten niemanden, der jemals einen derartigen Vorfall miterlebt hatte.
Artig hörte sich die Frau des Boten alle Geschichten an, die in Umlauf getreten waren, um kein Misstrauen zu erregen. Die Berichte waren allesamt weit ausgesponnen und die meisten von ihnen stammten ursprünglich von Davic, dem Wachposten. Ihm gefiel die plötzliche Anteilnahme und er ließ sich mit viel Vergnügen bedauern. In Quellingen war es so Sitte, dass man jemanden, der ein Abenteuer durchgestanden hatte, ausgiebig mit Mitleid überschüttete, denn jede Art von Aufregung galt als hier sehr unerwünscht. Trotzdem waren die meisten Bürger im Stillen der Ansicht, ein wenig Dorfklatsch wie dieser könne durchaus nicht schaden. Dabei war herausgekommen, dass der Teufel persönlich auf seinem feuersprühenden Ross aus der Hölle erschienen wäre und im Galopp das Dorf gestürmt hätte wie ein mitreißender Windstoß, der durch die Gassen fegte. Er hätte einen glühenden Stab in der Hand gehalten und damit wäre es ihm angeblich gelungen das Tor aufzubrechen. Hintergrund dieses Märchens war, dass sich der feige Davic jetzt, am helllichten Tag, schämte einfach das Tor geöffnet zu haben, ohne irgendetwas zu tun um den Reiter aufzuhalten.
Diese Geschichte kam ihr oft in allen Möglichen Abwandlungen zu Ohren, doch immer war man sich einig, dass dieser geheimnisvolle Reiter nach seinem Sturm in die Siedlung von niemandem mehr gesichtet worden war. Ebenso wenig hatte jemand in ihm ihren lieben Mitbewohner erkannt, der beim besten Willen nichts mit dem Teufel zu schaffen hatte. Auf irgendeine Weise beruhigte sie das und sie tat ihre Arbeit bis zum Mittag.
Zu dieser Zeit kamen wiederum Fremde ins Dorf, die das Wappen des Königs trugen. Sofort brachte man sie mit den vorherigen Geschehnissen in Verbindung und es bildete sich eine Menschentraube um die vier Reiter, die in würdevollem Schritttempo den Marktplatz erstrebten. Sie hielten vor dem Nähstand und ihr Anführer sprang von seinem Pferd.
„Gestatten Sie die Störung, meine Gnädigste“, unterbrach er die nervöse Frau bei ihrer Arbeit.
Mit zitternden Händen legte sie ihr Nähzeug beiseite. Es war ihr fast unmöglich überrascht zu tun und mit erstaunter Stimme zu antworten: „Bitte, meinen Sie mich, die Herren? Ich bin nichts weiter als eine arme Näherin, was sollten Soldaten des ehrenwerten Königs von mir zu erfahren hoffen?“ Tatsächlich konnte sie sich keine passende Erklärung dazu denken. Wenn irgendwelche Staatsfeinde, mit denen sich ihr Mann am Hofe angelegt hatte, aufgetaucht wären, hätte sie das nicht so sehr verwundert, nach allem, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Doch die Ankunft der eigenen Landsleute beunruhigte sie.
Der Soldat schien sich unwohl in seiner Haut zu fühlen, als er sie so vor sich sah: Ein unsicherer Ausdruck auf dem liebenswerten Gesicht, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen und die nervöse Geste mit der sie sich immer wieder die Haare hinters Ohr strich.
„Es geht uns weniger darum, etwas zu fordern, als etwas in ehrevoller Trauer zurückzubringen“, erklärte er mit Widerwillen. „Verzeihen Sie mir bitte, wenn ich nicht die angemessenen Worte finde, denn ich bin nur ein einfacher Soldat und kein großer Redner.“ Plötzlich trat ein fünftes Pferd aus der Gruppe hervor, aber kein Reiter saß darauf. Über den Sattel gelegt war ein längliches, schlaffes Bündel aus groben Leinentüchern. Einer der Männer trat darauf zu und schlug die Decke zurück.
Als die junge Frau die Augen darauf wandte, taumelte sie erschrocken rückwärts, stützte sich haltsuchend auf ihren Stand und glitt schließlich ohnmächtig zu Boden. Aus der Bürgermenge um sie herum drangen entsetzte Schreie.
Der Hauptmann befahl seinen Leuten eilig: „Deckt ihn wieder zu! Erspart den Frauen diesen Anblick!“ Einige Nachbarn liefen zu der bewusstlosen Ehefrau des Toten, um sie behutsam aufzuheben und zu ihrem Haus zu tragen. Die Menschenansammlung, einschließlich der königlichen Soldaten, begleiteten sie auf dem Weg neugierig, blieben aber letzten Endes vor der Haustür stehen.
Mit der Zeit verlor sich die Menge und zwei geschlagene Stunden später warteten nur noch die vier Männer dort auf das Erwachen der Frau. Als dieses endlich eintrat, wurden sie von deren bester Freundin an das Bett der geschwächten Dame geholt, wo sie ihr Beileid kund taten und um ein vertrauliches Gespräch baten.
„Es tut uns außerordentlich leid, Sie zu dieser unglücklichen Stunde belästigen zu müssen“, ergriff der Hauptmann wieder das Wort, „doch es ist auch außerordentlich wichtig. Haben Sie
Ihren Ehegatten vor seinem Tode noch gesehen?“
Egal wer fragt, ging es der armen Frau unwillkürlich wieder durch den pochenden Kopf. „Nein“, antwortete sie deshalb langsam. „Das letzte Mal traf ich ihn etwa vor einem Monat. Dann ist er wieder an den Hof zurückgekehrt.“
Die Männer schauten sich fragend an und fast war eine Art Enttäuschung in ihren Gesichtern auszumachen. Ihr Anführer fuhr fort: „Nun gut, und Sie haben nie etwas von einem neuerlichen Auftrag gehört, einem Brief zum Beispiel?“ Dabei musterte er die Frau aufmerksam.
Doch diese hielt seinem bohrenden Blick stand. „Mein Mann war Bote. Er hatte also meistens mit Briefen zu tun. Aber wie ich schon sagte, ich habe seit längerer Zeit überhaupt nichts mehr von ihm gehört. Er sprach im Allgemeinen nicht oft über seine Arbeit“, log sie mit fester Stimme. „Wenn Sie jetzt bitte gehen würden! Ich bin in Trauer und wünsche mich eine Weile aus der Gesellschaft zurückzuziehen.“
Die Männer sahen sich wieder an und der Ranghöchste nickte am Ende widerwillig. „Natürlich, Gnädigste“, entschuldigte er sich knapp. „Es ist nur so, dass wir Ihre Aussage für das Protokoll brauchen. Ihr Mann wurde vom Feind ermordet und aufgrund neuster Ereignisse fällt sein Tod daher in den Aufgabenbereich des Militärs.“ Damit machten sie kehrt und verließen endlich das Haus, wie der Bote des Königs es nur etwa zwölf Stunden vorher getan hatte. Und das einzige, was an seinen unerklärlichen Besuch erinnerte, war der Brief, sicher versteckt unter den Dielen ihres Schlafzimmers.

Sufra war eine Stadt mit Geschichte. Diese wurde geprägt von der Politik der drei Reiche Roona, Wobkada und Dakarun. Seit jeher war die blühende Handelsmetropole auch Schauplatz wichtiger diplomatischer Treffen, denn sie lag direkt auf der Grenze zwischen allen drei Ländern.
An diesem Tag stand wieder einmal der Beginn eines solchen kurz bevor. Die ganze Stadt schien in Eile. Das Konferenzgebäude, ein großer, palastähnlicher Steinbau mit schlanken Verstrebungen und edlen, spitz zulaufenden Türmchen, wurde von den Einwohnern mit Blumen aus dem ganzen Reich Roona geschmückt und auch die sandigen Straßen wurden mit solchen verziert. Ein frischer Duft durchströmte die Stadt und gelangte in jeden entlegensten Winkel und eine angenehm kühle Brise aus dem Norden milderte die heiße Wüstenluft Dakaruns, die diese Gegend schon seit einigen Tagen im Griff hielt.
In den Gängen des Verhandlungsortes selbst herrschte angespannte Stille. Die Diplomaten aller Länder waren vor zwei Wochen eingetroffen und saßen auch an diesem Tag bereits seit den frühen Morgenstunden wieder um den ovalen Tisch, um Vorgespräche zu führen. Eine Dienerin kam gegen Mittag in den schattigen Raum und schenkte ein klares Erfrischungsgetränk aus, das neue Kraft in die Vertreter der Reiche bringen sollte, um den anstrengenden Nachmittag, der ihnen bevorstand, erfolgreich hinter sich zu bringen. Am Abend sollten die Herrscher eintreffen und dann mussten die Vorarbeiten zu diesen wichtigen Verhandlungen getan sein. Ziel war ein neues Handels- und Partnerschaftsabkommen, das weltweite Beziehungen festigen und eventuelle Kriege verhindern würde. Die Grenzen sollten weniger scharf überwacht werden als in den letzten Jahrhunderten, sodass eine engere Zusammenarbeit möglich würde und mehr Handel betrieben werden könne. Der roonatische Abgeordnete Botac von Roonata nutzte die kurze Mittagspause, um auf den nahen Innenhof zu treten und die frische Luft zu genießen. Er schickte seine Mitarbeiter fort und schlenderte allein durch die säuberliche Gartenanlage. Die Farbenvielfalt hier war atemberaubend und die Muster, die durch die verschiedenen Blumen entstanden, bildeten wunderbare Mandelas, die zur Meditation anregen sollten. Die Gärten Sufras genossen weit über die Grenzen des Landes hinweg einen hervorragenden Ruf, was ein weiterer Grund war, weshalb die Königin das Treffen hier stattfinden lassen wollte. Und tatsächlich schien sich das angenehme Wetter und die Schönheit der Stadt auf die Laune der Abgeordneten auszuwirken, denn die Verhandlungen liefen bis jetzt sehr zu Botacs Zufriedenheit. Alle Beteiligten strebten eine schnelle Einigung an und vertraten vernünftige Interessen, die in etwa mit denen Roonas übereinstimmten. Der letzte Bote hatte vor einer Woche berichtet, Königin Saliramoon sei mit dem Verlauf der Ereignisse überaus einverstanden und freue sich auf ihre baldige Ankunft. Des Weiteren teilte er mit, dass die Vorbereitungen auf die Abreise Ihrer Majestät gut vorankämen und diese rechtzeitig in Sufra eintreffe.
Botac war ein Mann fortgeschrittenen Alters, der im Laufe der Jahre sehr viel Erfahrung in der Diplomatie gesammelt hatte. Dies würde sein letzter Dienst sein. Danach hatte er vor, sich ein schönes Häuschen in Roonata zu kaufen und dort sein restliches Leben zu verbringen.
Plötzlich vernahm er hastige Schritte hinter sich. Er drehte sich um und sah einen Boten des Königs von Roona auf ihn zueilen. Nachdenklich runzelte er die von ersten Falten gezeichnete Stirn. Ein weiterer Botengang war nicht mehr geplant gewesen, also musste etwas dazwischengekommen sein. Irgendwie hatte er fast mit einer Störung gerechnet, weil die Verhandlungen seiner Erfahrung nach bis zu diesem Zeitpunkt viel zu ruhig abgelaufen waren.
„Seid Ihr Botac von Roonata?“, fragte der junge Mann, als er ihn erreicht hatte atemlos. Botac nickte und er fuhr eilig fort: „Ich bringe dringende Botschaft vom König!“
Das bestätigte die Ahnung des Älteren, dass etwas gewaltig schiefgelaufen war, denn Elirius hatte sich in dieser Angelegenheit bis jetzt zurückgehalten. Laut Plan sollte er noch weitere drei Wochen ungewöhnliche Grenzaktivitäten im Alkarangebirge prüfen. Was hatte ihn nun veranlasst so früh zurückzukehren?
Der Bote schlug einen kleinen Spaziergang durch die Straßen von Sufra vor. „Es wäre nicht klug, hier darüber zu sprechen“, war seine knappe Begründung.
Erst nachdem sie sich fünfzehn Minuten von dem Gebäude entfernt hatten und über einen der äußeren Wege der Stadt bis zum Aussichtsturm gelangt waren, ergriff Botac das Wort: „Ich denke, das reicht jetzt. Sagen Sie, was für Neuigkeiten Sie bringen!“
Der Bote nickte stumm und entrollte ein kurzes Stück Pergament, welches er an seinen Gegenüber weiterreichte.
Dieser las es mit zusammengekniffenen Brauen. Ein erstaunter und zugleich ärgerlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht. Bohrend richtete er seine fast farblosen Augen auf den jüngeren Mann vor ihm. „Was soll das bedeuten“, hakte er in scharfem Tonfall nach. „Die Verhandlungen sind ohne Verzögerungen einzustellen?“ Wütend knüllte er die Mitteilung in der geballten Faust zusammen. Was dachte sich der König dabei? Er hatte monatelang daran gearbeitet, gar nicht zu vergleichen mit Saliramoon, deren Lebenswerkes Vollendung dieses Abkommen sein sollte. So etwas konnte man doch nicht so plötzlich zum Halten bringen!
„Es gab einen furchtbaren Zwischenfall, während der König mit uns Männern am Alkaran gewesen war“, erklärte der Bote mit gesenktem Kopf.
Botac hob fragend die Augenbrauen und befahl herrisch: „Was genau meinen Sie damit? Ich verlange alles über diesen törichten Entschluss zu wissen!“ Es verärgerte ihn sichtlich, dem Mann alles aus der Nase ziehen zu müssen.
Doch dieser wich nur mit merkwürdig leeren Augen seinem Blick aus. Endlich -es waren Minuten verstrichen- erzählte er stockend: „Wir kamen vor gut einer Woche im Alkaran an. Mit wir meine ich den König, die meisten seiner Soldaten und mich und die anderen Eilboten, die seinem Befehl unterstehen. Dort merkten wir schnell, dass die Aufstände und Unruhen, von denen uns die Wobkadaner berichtet hatten, niemals existiert hatten. Alles war friedlich und ruhig. Die Sache machte uns stutzig, denn König Carasca von Wobkada hatte dringendst um Hilfe an der Grenze dort gebeten. Seine Schilderungen waren derartig fatal gewesen, dass Elirius alle seine Männer aus Roonata abgezogen hatte um sofort in den Alkaran zu eilen. Als wir nun da standen und sahen, dass die Einheimischen wie gewohnt ihre Schafherden behüteten und nichts von irgendwelchen Problemen wussten, war dem König schlagartig klar, wo er in diesem Moment gebraucht wurde. Wir jagten zur Hauptstadt zurück, in der wir unsere Frauen und Kinder mit den restlichen Bürgern allein gelassen hatten, doch schon Dutzende von Wegstunden vor unserem Ziel sahen wir das Unheil. Riesige schwarze Rauchsäulen ragten vor uns zum Himmel empor und als wir näher kamen, erblickten wir wütende Feuerzungen, die aus ihnen hervorschlugen und sich um die Türme von Roonata wandten. Der blaue Himmel hatte sich über der Stadt zu einer vom Qualm grauen Wolke verdunkelt und der beißende Geruch des Todes schlug uns entgegen, als wir die verkohlten Tore unserer Heimat durchritten. Wir kamen nicht weit, weil uns das hungrige Inferno noch den Weg versperrte, doch es war eh bereits zu spät. Auch ungeübte Augen konnten leicht erkennen, dass dieses schicksalhafte Feuer schon stundenlang grausamst gewütet hatte. Da war kein Leben mehr. Um nicht tatenlos zuzusehen, wie unsere Häuser den Flammen zum Opfer fielen, durchkämmten wir das Land rings um Roonata auf der verzweifelten Suche nach Überlebenden. Aber wir fanden niemanden. Es war, als wäre die Bevölkerung überrascht und vom Feuer eingeschlossen worden, und zwar alle, ausnahmenslos. Statt unseren geliebten Mitbürgern stießen wir auf eine ganze Horde Männer, die aus den Wäldern um der Stadt flüchteten. Es waren an die Hundert, alle zu Pferd und sie trugen das Wappen von Wobkada auf ihren Schilden und Rüstungen. Einige hielten sogar die Fahne ihres Reiches über ihrem Kopf empor und das Bild des im Fahrtwind flatternden Stoffes prägte sich in unser aller Gedächtnis unauslöschlich ein. Blind vor Zorn und Trauer setzten wir den Mördern nach, doch nur ein paar konnten wir erwischen. Als wir die Jagd aufgegeben hatten und zu den Stadtmauern zurückkehrten, waren die Flammen größtenteils erloschen. Der König setzte eine Rettungsaktion in Gange, aber wir konnten nicht einen Einzigen der Eingeschlossenen lebend bergen. Unsere schöne Stadt, der ganze Stolz des roonatischen Reiches, war bis auf die Grundmauern niedergebrannt und alles, was nicht aus Stein war, hatten wir auf ewig verloren. Das was in jener Nacht geschehen war, ist das grauenvollste Massaker in der Geschichte unseres Volkes und verraten wurden wir von denen, die sich durch Eure Verhandlungen unsere Freunde nennen wollten.“
Botac schwieg fassungslos. Sein erster Gedanke war, dass der Bote gelogen haben musste. „Das ist unmöglich“, sagte er überzeugt. „Die Stadt hatte über fünfhunderttausend Einwohner!“ Das ganze Ausmaß der Zerstörung war ihm unfassbar.
Doch der Andere zuckte daraufhin nur mit den Schultern. „Das dachten wir zunächst auch“, gab er zu. „Aber nachdem wir stundenlang gesucht hatten, ohne auch nur eine Spur von Leben zu finden, innerhalb und außerhalb der Stadtmauern, wurde uns klar, dass es hier nichts Lebendiges mehr gab. Wir begannen die Bergungsarbeiten und bestatteten alle Leichen ordnungsgemäß, erfassten ihre Namen in Listen, verständigten die Angehörigen, falls noch welche da waren, und beseitigten den Ruß und die Asche, von der die Stadt bedeckt war. Die Arbeiten waren noch nicht abgeschlossen, als der König mich schickte, um diese Verhandlungen zu beenden, und meiner Einschätzung nach ist es vollkommen unmöglich das schöne Roonata je wieder so aufzubauen, wie es einst war. Zu viel wurde in jener Nacht zerstört.“
Kopfschüttelnd heftete Botac seine Augen wieder auf die Pergamentrolle in seinen Händen. Die Anweisung war unterzeichnet mit der Signatur des Königs, daran gab es keinen Zweifel, doch der Alte konnte es nicht glauben, er wollte es auch gar nicht. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wobkada eine solche Tat begangen hat. Vielleicht war es nur eine Gruppe von Rebellen, die das Abkommen verhindern wollten. Es muss doch nicht zwingend heißen, dass König Carasca darin verstrickt war“, meinte er nachdenklich. „Lieber möchte ich warten, bis die Königin hier eintrifft, denn es erscheint mir undenkbar, dass es in ihrem Sinne ist, diese Verhandlungen so leichtfertig abzubrechen. Sie wird ein Untersuchungsverfahren durchführen lassen wollen, da bin ich sicher. Ihre Reisegemeinschaft wird bereits am Sonnengebirge angekommen sein, sodass sie in wenigen Stunden hier sein wird. So viel Geduld muss man in einer derartigen Situation aufbringen können. Jetzt ist nicht die Zeit für überstürzte Handlungen.“
Damit war für Botac die Unterhaltung beendet und er wollte schnellstmöglichst zum Konferenzgebäude zurückkehren, weil die Gespräche schon seit einigen Minuten wieder am Laufen waren. Er nickte dem Mann zum Abschied knapp zu.
Doch er war keine zwei Meter weit gekommen, da rief ihm dieser nach: „Ihr verstehen nicht, mein Herr! Die Königin wird hier nicht eintreffen!“
Botac blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. „Was soll das heißen?“, fragte er mit stockender Stimme. Unheil lag in der Luft zwischen den beiden Männern.
Der Jüngere antwortete leise: „Ihre Majestät die Königin von Roona hatte ihre Abreise vom Hofe verschoben, weil ihre Hebamme ihr mitteilte, dass es eventuell zu einer verfrühten Geburt ihres Kindes kommen könne. Sie schickte einen Boten nach ihrem Herrn Gemahl, doch jener erreichte uns erst, als wir das Unglück schon vor uns aufragen sahen. Des Weiteren soll ich Ihnen Einladung zur feierlichen Bestattung unserer geliebten Königin überbringen.“ Er reichte dem totenblassen Botac eine zweite Pergamentrolle.
Dieser nahm sie, ohne einen Blick darauf zu verschwenden. „Saliramoon ist tot?“, wollte er tonlos wissen. „Hat man sich vergewissert?“
Der Bote nickte bedauernd. „König Elirius fand sie in ihren Gemächern im höchsten Turm. Das Feuer war nicht so weit nach oben gelangt, aber ein wobkadasches Schwert hatte der edlen Frau stattdessen den Tod bereitet.“
Der Diplomat senkte den Blick um die Tränen zu verbergen, die in seine Augen getreten waren. Mit erstickter Stimme bat er den Boten ihn nun allein zu lassen. Seine Schritte waren langsam und kraftlos, als er sich den hohen Aussichtsturm hinaufschleppte. In diesem Moment war er nichts weiter als ein vom Leben verhöhnter, alter Mann, in tiefer Trauer um eine Frau, die ihm nahe gestanden hatte, wie eine Tochter. Er war zur Geburt Saliramoons im Schloss von Roonata gewesen und hatte die junge Prinzessin als einer der Ersten erblickt. Ihre ganze Kindheit durch hatten sich ihre Wege immer wieder gekreuzt und später, nach ihrer Krönung zur Königin, war er von ihr zu ihrem persönlichen Berater ernannt worden. Doch vielmehr waren sie Freunde gewesen und dieses Abkommen, das er heute zunichte machen sollte, war das Ergebnis ihrer gemeinsamen, jahrelangen Arbeit. Endlich auf der runden Plattform angelangt stützte er sich auf die steinerne Brüstung und betrachtete das Land unter ihm. Sein Blick glitt über die flirrende Wüste von Dakarun im Südwesten, die felsige Landschaft Wobkadas im Nordosten und blieb schließlich an den tiefgrünen Weiden Roonas hängen, die sich hinter dem Sonnengebirge erstreckten, das an dieser Stelle flach genug war um darüber hinwegzusehen. Ihre sanfte Schönheit war eine Wohltat für seine Augen wann immer er sie auch erblickte und selbst in diesem Augenblick vermochten sie einen winzigen Teil seiner Traurigkeit zu lindern. Saliramoon hatte dieses Land innig geliebt und wäre bereit gewesen für es zu sterben, doch nun würde ihr Tod nichts als Hass und Zorn über die drei Reiche bringen.
Nachdem er einige Minuten so verweilt hatte, machte Botac sich auf den Rückweg zum Konferenzgebäude um dort die Unheilsbotschaft zu verkünden und die Verhandlungen für beendet zu erklären. Im Namen des Königs gab er allen Wobkadanern eine Woche Zeit, Roona zu den Rücken zu kehren. Wer danach dieses Reich noch einmal zu betreten wagte, würde niemals wieder lebendig in seine Heimat zurückfinden.
Dieser Tag sollte allen nur zu gut im Gedächtnis bleiben, denn es war der Tag, an dem die Feindschaft der Völker erneut begann. Die Menschen von Roona weinten viele salzige Tränen und ersetzten die bunten Blumen an den Straßenrändern durch schwarze Tücher, die von den Hausdächern und Fahnenmästen hinabhingen. Nach Sonnenuntergang startete man Trauermärsche und Tausende nahmen schweigend im Lichte der lodernden Fackeln daran Teil. Saliramoon Mandaala, die große Friedensstifterin und Roonas wohl beliebteste Königin, hatte ihr Volk verlassen.

17 Jahre später, Frühlingsbeginn


Kapitel 2
Die Ruhe vor dem Sturm
Mein guter Freund Kordo von Kulta,
Mit diesem Brief entsende ich dir beunruhigende Botschaft. Doch zuerst werde ich dich so schnell wie möglich über die Ereignisse am Hofe in den vergangenen siebzehn Jahren in Kenntnis setzen. Es begann mit der Verlegung des Regierungssitzes nach Valir, die große Stadt an der Verzweigung des Reinquells. Wir ließen unser geliebtes Roonata, von dem nur noch die Grundmauern übrig geblieben waren, hinter uns zurück und zogen in des Königs neue Festung ein, was auch nicht weiter verwunderlich war, wenn man die unendliche Trauer König Elirius’ nach dem Tod seiner Königin bedachte. Jede Erinnerung an Ihre königliche Hoheit treibt schließlich noch heute Tränen des Schmerzes in unser aller Augen und entfacht die Sehnsucht nach den längst vergangenen Zeiten in den Herzen der Menschen von Roona. Aber leider muss ich sagen, sehe ich jetzt die Absichten von König Elirius klarer als damals, und sie erscheinen mir als bedrohlich und nicht der ausgeprägten Moral meines Volkes gerecht werdend. Schon seit vielen Jahren werden in den verschiedensten Winkeln des Reiches Kriegsmaschinen und Rüstungen gefertigt, wie ich zu meinem großen Schrecken entdeckte. Immer auffälliger und eiliger entwickelten sich diese Vorgehen, als drängten sie auf ihren baldigen Einsatz hin, und nichts steht nun der Schreckensherrschaft des Königs mehr im Weg. Den Rat hat er schleichend entkräftet und die einst von Königin Saliramoon geförderte Stimme des Volkes weitgehend zum Untergehen im Kampfgeschrei seiner Soldaten gebracht. Neue Festungen schmücken die Grenze zu Wobkada und die Waffen die er hat entwickeln lassen, sind stärker denn je. Als ich vor einigen Wochen all diese Informationen zusammengetragen hatte, erschütterte mich das Ergebnis meiner geheimen Ermittlungen aufs Tiefste. Ich sprach ein paar Worte mit einem Beamten des Königs, wurde aber nur durch lahme Ausreden abgewimmelt. Also ritt ich persönlich die Grenze entlang, um meine Befürchtungen bestätigt zu finden. Dieser Ritt brachte mich bis in das Wüstenreich und dort wurde ich mit noch fataleren Entwicklungen konfrontiert: Soldaten von Roona bauten Stützpunkte Seite an Seite mit den Dakarunern. Aufgrund dieser Entdeckung schlug ich mich bis nach Shultah. In der dakarunischen Hauptstadt fand ich endlich die Antworten, die mir am Königshof von Roona verwehrt worden waren: Es gab doch ein Abkommen zwischen Roona und Dakarun, obwohl die Verhandlungen vor siebzehn Jahren so plötzlich gescheitert waren. Das genaue Entstehungsdatum befand sich nur wenige Wochen nach dem Tod der Königin. Über den Inhalt war ich mir schon im Klaren, bevor ich die Unterlagen gründlicher einsah. Und ich hatte leider Recht mit meiner Vermutung. Es besteht ein Militärbündnis zwischen Roona und Dakarun, dessen Zweck es ist, den dritten Staat mit gemeinsamen Kräften zu stürzen. Dies ist der gewaltigste Racheakt der bekannten Geschichte und es wird auch der Blutigste, soweit ich das richtig einzuschätzen vermag. Also gebe ich dir folgenden Rat, mein Freund: Rette dich, bevor alle Wege, die aus Wobkada herausführen, versperrt sind! Dein Heimatland ist nicht mehr länger vor dem Zorn meines Volkes sicher. Auch ich werde mich nach Versandt dieses Briefes unerkannt absetzen. Wohin könnte ich dir nicht sagen, selbst wenn ich es per Post wollte. Ich sehe leider keinen Weg, die Taten des Königs zu verhindern, denn solange es keinen Nachkommen der Mandaala-Königinnen gibt, ist sein Anspruch auf den Thron gerechtfertigt und seine grausame Befehlsgewalt uneingeschränkt. Dunkle Zeiten für die ganze Welt haben begonnen. Gnade uns alles, was es an Göttern und Heiligen gibt, dass wir sie überstehen!
Alles Gute,
dein alter Freund Botac von Roonata

Südlich der Mauern von Valir gab es ein kleines Waldstück, das durch die beiden mächtigen Arme des Reinquells vom Großen Wald von Roona getrennt wurde. Sein Gelände war tückisch und gefährlich für Reisende, was auch der Grund dafür war, dass ihn kaum ein Mensch betrat. Bäume von unzähligen verschiedenen Arten drängten sich dicht zusammen und versperrten mit ihren knorrigen Wurzeln die schmalen, halbverwilderten Wege. Ihre gewaltigen Kronen ließen nur wenige Sonnenstrahlen bis auf den von Gestrüpp überwucherten Boden, auf dem allerlei Ungeziefer lauerte. Niemand, der von diesem Landstrich gehört hatte, verspürte auch nur annährend das Verlangen dorthin zu gehen. Es gab auch nichts, was die Gefahr rechtfertigen könnte; keine Früchte, kein wertvolles Holz, ja noch nicht einmal besonders viele Tiere, denn die meisten von ihnen waren nach Süden in den Großen Wald ausgewandert, der mehr Nahrung und Sicherheit für sie bot. Und jene, die es vorzogen unter den verwunschenen Bäumen zu leben, waren entweder zu schwer zu fangen oder zu mager, um eine lohnende Beute zu sein.
Dennoch gab es zwei Menschen, die an diesem Wintermorgen ihr Glück auf die Probe stellten. Erstaunlich schnell schlugen sie sich ihren Weg durch das Dickicht. Ihre Tritte waren nahezu lautlos, als sie durch das Gebüsch um der einzigen Lichtung des Waldes brachen. In deren Mitte war eine kleine Feuerstelle aufgebaut, zu der einer der beiden Männer lief.
„Lass uns ein Feuer machen und sehen ob wir etwas finden, was sich darüber grillen lässt!“, schlug er mit gedämpfter Stimme vor. „Ich kann es klein halten und werde aufpassen, dass es nicht qualmt, dann wird uns niemand sehen können.“
Sein Kamerad gab sein Einverständnis und verschwand wieder im dichten Gestrüpp, Pfeil und Bogen schussbereit.
Er selber begann, trockenes Holz zusammenzutragen und zauberte daraus im Nu eine spärliche Flamme. Kurz hielt er seine abgefrorenen Hände darüber, damit wieder etwas Leben in sie zurückkehrte.
Als der Andere wieder zu ihm kam, brachte er ein kleines, sehr haariges Tier mit sich. Dort, wo der Pfeil es getroffen hatte, tropfte etwas Blut aus der Wunde. „Verzieh nicht so das Gesicht, Maritiim, sondern sei lieber froh, dass ich überhaupt etwas finden konnte!“, befahl er streng. Er setzte sich zu seinem Freund und fing an, seine Beute zu häuten.
Maritiim beobachtete ihm dabei, sagte aber weiter nichts. Seit Tagen hatten sie kein Fleisch mehr gegessen, sondern sich stattdessen nur von bitteren Gräsern und verkümmerten Früchten ernährt, weil sie es nicht wagen konnten, ein Feuer zu entzünden. Der Magen knurrte ihm jetzt zu gewaltig, um Einspruch zu erheben. „Immerhin haben wir einen kleinen Vorsprung“, waren seine nächsten Worte. „Und nach Valir ist es auch nicht mehr weit.“
Sein Gefährte teilte das wenige Fleisch, das sie hatten, und die Männer hielten es an ihren Schwertern aufgespießt über das Feuer. Die Wärme, die von den Flammen ausging, schützte sie vor der bitteren Kälte des Winters, der Mittelroona noch immer fest im Griff hatte.
Maritiim hoffte sehnsüchtig auf den Frühjahrsbeginn. Dieser war vielleicht gar nicht mehr so fern, wie es schien. Immerhin war der Schnee, den es vor ein paar Wochen noch meterhoch gegeben hatte, schon weggetaut.
Schweigend saßen sie so da, bis ihr Essen fertig war. Nach einigen Bissen, gab Maritiim zu: „Es schmeckt gar nicht mal so übel wie es aussieht, Rigon. Wir planen jetzt am besten unsere Route und machen uns wieder auf den Weg, bevor die anderen uns doch noch überholen.“ Es dauerte nur ein paar Minuten, bis er die Nahrung verzehrt hatte. Mehr gab es nicht, denn sie hatten ihre Vorräte schon seit viel zu langer Zeit aufgebraucht.
Rigon nagte immer noch an dem letzten Knochen seines kargen Mahls. Obwohl er es nicht zugeben wollte, setzte ihm diese Aufgabe schwer zu. Es galt, Anlaufpunkte in ganz Roona zu erreichen, dort schriftliche Bestätigungen ihrer Ankunft einzuholen und nach Valir zurückzukehren. Der König, unter dessen direktem Befehl sie standen, hatte die Reitermeute, die aus seinen besten Kämpfern und klügsten Strategen bestand, vor dem Start in zwei Gruppen geteilt. Leiter des Trupps A, zu dem sie gehörten, war Rigon. Trupp B wurde von dessen Konkurrenten Aron befehligt. Der Sinn der Übung war es, den geeignetsten Mann für den Kommandantenposten zu ermitteln.
Für Maritiim stand fest, dass sein Freund für die Stelle wie geschaffen war. Zwar war der Fünfundzwanzigjährige der Ansicht, Rigon könne ein wenig tatkräftiger werden, fand aber dennoch, dass es keinen klügeren und loyaleren Diener des Königs gab. „Wir wären gemeinsam ein gutes Team“, stellte er belustigt fest. „Du leitest die Meute so wie eben nur du es kannst und ich rüttle dich ab und zu mal wach.“
Rigon legte den Knochen zu Seite, der ohnehin spiegelblank war. Prüfend sah er den Anderen an. Ein wilder Funke sprang in dessen schwarzen Augen und nur daran konnte er erkennen, dass sein Freund scherzte. Doch die Wahrheit in jenen Worten war Rigon schmerzlich bewusst, auch wenn es nicht so gemeint war: Sie waren beide unberechenbar, schnell, gefährlich, vorsichtig, klug und zäh, eben die besten Reiter des Königs, aber Maritiim war der Bessere von ihnen. Und ebenso war Rigon klar, dass er an seinerstatt um diesen Rang hätte kämpfen können, wenn er es nur gewollt hätte. Doch das tat Maritiim nicht. Er bevorzugte es, sich nicht allzu tief in die Meute einzuklinken, und stattdessen den König kritisch zu beobachten. Der herannahende Krieg gefiel ihm ganz und gar nicht und auch sonst war er selten einer Meinung mit der Hoheit.
Rigon dagegen würde für Elirius sterben und nur aus dem Grund ging es bei diesem Rennen um seine Zukunft. Aber angesehen von dem Ersten gab es auch noch eine Reihe weiterer Ränge zu verleihen, was der nächste Zweck des Ganzen war.
Rigon stöhnte innerlich. Wie sehr er auch auf die Chance, sich zu beweisen, gehofft hatte; jetzt wünschte er sich nur noch, endlich wieder daheim zu sein, diesem schrecklich unberechenbaren Wetter zu entfliehen und niemals mehr kleine, haarige Kreaturen essen zu müssen, von dessen Existenz er noch nie zuvor gehört hatte.
Maritiim nahm die Sache scheinbar auf die leichte Schulter, wie es so seine Art war. Er hatte eine Karte aus ihrem Gepäck geholt und studierte sie eingehend. „Wenn wir uns nördlich halten, müssten wir auf einen Pfad stoßen, der uns bis an die Grenze des Waldes bringt“, überlegte er leise. „Nur eine Stunde weiter kommen wir zum Sammelpunkt. Hoffen wir, dass die anderen rechtzeitig eintreffen.“
Rigon beugte sich mit über den Plan und bestätigte die Lage. „Wir löschen das Feuer und brechen auf“, beschloss er erschöpft.
Maritiim nickte zustimmend. Die beiden verwischten alle ihre Spuren und verließen die Lichtung.
Sie wanderten den ganzen Tag lang durch das unwegsame Gelände, hatten jedoch wider Erwarten keine größeren Schwierigkeiten. Maritiims Vermutung erwies sich als richtig und der Weg, dem sie folgten brachte sie zuverlässig nach Norden. Als sie gegen Abend endlich den ungemütlichen Wald verließen, konnten sie weit in der Ferne die ersten Häuser aufragen sehen. „Wie schön es doch ist, nach Hause zu kommen“, seufzte Maritiim erleichtert. „Die Stadtmauer von Valir ist nun nicht mehr fern.“
Rigon konnte nur halb zustimmen, weil er im Gegensatz zu seinem Kameraden nicht aus der Hauptstadt stammte. Er war in Roonata geboren worden und erst mit acht Jahren, als der Regierungssitz verlegt worden war, umgezogen. Trotzdem betrachtete er Valir als seine wahre Heimat. Schließlich waren seine Kindheitserinnerungen verschwommen und sowieso zu schmerzhaft, um gerne daran zurückzudenken. Als das Feuer Roonata zerstört hatte, war er mit einigen Freunden ausreiten gewesen. Seine ganze Familie war in den hungrigen Flammen umgekommen und es war ihm damals nichts mehr geblieben. Er war ein verängstigtes, kleines Kind gewesen und hätte weder ein noch aus gewusst, wenn sich der König nicht seiner angenommen hätte. So hatte der große Herrscher sein ewiges Vertrauen gewinnen können und Rigon konnte sich kaum eine Gefälligkeit vorstellen, die dieses zurückzahlen könnte. Niemand am Hofe hatte sich erklären können, was Elirius veranlasst hatte, sich um diesen armen Jungen zu kümmern, und auch Rigon selbst wusste es nicht. Zwar traf es die Situation nicht direkt, den König als seinen Vater zu bezeichnen, wohl aber als einen Mentor, der ihn vieles gelehrt hatte, das ihn zu dem Krieger machte, der er nun war.
Durch dieselbe Schule war auch der drei Jahre jüngere Maritiim damals gegangen. Er hatte sich durch sein außerordentliches Geschick mit dem Schwert schon als Knabe bei den königlichen Festspielen hervortun können, sodass des Königs Interesse an ihm niemandem ein Rätsel war. Seite an Seite hatte König Elirius ihnen die Regeln des Kampfes und das höfische Benehmen vermittelt. Das war auch die Zeit gewesen, in der sie Freunde wurden.
Am Ende ihrer Kräfte liefen sie auf die Stadt zu, hinter der die Sonne blutrot versank. Auf der weiten Ebene, die sie von ihr trennte, ragte ein kleiner Hügel auf und auf dessen Kuppel stand ein toter Baumstumpf. Bald erreichten sie ihn. Es war der Treffpunkt, den sie mit den anderen ihrer Gruppe ausgemacht hatten.
Ungeduldig blickte Maritiim sich um. „Hoffen wir, dass sie rechtzeitig kommen. Dies ist nicht der beste Ort, um lange zu verweilen.“
Rigon gab ihm Recht. Auf diesem flachen Wiesen waren sie für ihre Gegenspieler eine allzu leichte Beute und weder er noch sein Gefährte wollten so kurz vor ihren Ziel noch ausgeschaltet werden.
Endlich erschienen Reiter in der Ferne, dessen Gestalt schnell größer wurde. Maritiim kniff konzentriert die Augen zusammen. „Sie sind es!“, rief er erleichtert aus.
In wenigen Minuten waren die Kameraden zu ihnen gelangt und einer von ihnen brachte zwei Handpferde mit. „Wir haben alles erledigt“, verkündete er zufrieden und Rigon und Maritiim saßen auf.
Gemeinsam jagten sie den Stadtmauern entgegen, als sei der Teufel persönlich hinter ihnen her. Maritiim lächelte grimmig. Nun war es überstanden. Der Fahrtwind peitschte ihm kalt ins Gesicht und eine merkwürdige Übermut packte ihn.
Sie waren die Reiter des Königs und nichts konnte sie noch aufhalten.


Kapitel 3
Große Pläne
In Quellingen hielt der Frühling Einzug. Eine warme Briese wehte aus Richtung Südost über Nordroona hinweg und auch das kleine Dorf nahe des Reinquells wurde von ihr zum Leben erweckt. Die Sonne strahlte von dem kristallklaren Himmel hinab und streifte die jungen Blümchen sanft, die überall entlang der schmalen Straßen gepflanzt worden waren, und ließ sie bald in ihrer ganzen Farbenpracht aufblühen. Nachdem es den grauen Winter abgeschüttelt hatte, wurde dieser beschauliche Ort zu einem Paradebeispiel Roonas Schönheit. Alles Grüne dominierte auf den vielen, leicht hügeligen Wiesen und leuchtete tief und klar. Das wunderbare Blau des Himmels und des Wassers erfreute eines Jeden Herzen, womit wir auch schon bei den Bewohnern Quellingens angekommen wären. Über die dunkle, kalte Jahreszeit hinweg, in der sie sich Schneestürmen und Überflutungen ausgesetzt gesehen hatten, war ihnen die Lebenslust gründlich vergangen, aber nun, als ihnen morgens helle Sonnenstrahlen durch die Fenster ihrer Häuser auf die müden Gesichter fielen, sprangen sie förmlich aus den Betten und das ganze Dorf beschleunigte seinen Tagesablauf zu einem eifrigen Gewusel. Es summte und brummte wie im Bienenstock, denn es galt Feste vorzubereiten und Freunde zu treffen. Wahrscheinlich war dies die wichtigste Eigenschaft der winzigen Gemeinde: Wenn die Einwohner etwas lieber taten, als Feiern zu besuchen, dann war es, selber solche auf die Beine zu stellen. Und jetzt in dieser Zeit begann der alljährliche Wettstreit, wer wohl am meisten Feste geben könne. Es war ein heimliches Wetteifern, auf das sich die ganze Familienehre stützte.
Für gewöhnlich gab es von Jahr zu Jahr verschiedene Sieger und niemand war imstande vorauszusagen, wer es werden möge, doch dieses Mal gab es eine Familie, deren Aussichten schon zu Frühjahrsbeginn gewaltig anstiegen. Sie lebte im Zentrum des Ortes, nahe des kleinen Marktplatzes, in einem Haus dem man ansah, dass es wohlhabende Menschen beherbergte. Und das waren sie tatsächlich. Der Mann besaß eine gut laufende Kneipe mit einigen Gästezimmern und stand in dem Ruf ein (gast-)freundlicher und traditionsgetreuer Bürger zu sein, was eine vortreffliche Leistung war, denn jemand, der diese beiden Eigenschaften vorzuweisen hatte, war in Quellingen hochgeschätzt. Seine Frau galt als hilfsbereit und war noch dazu eine ausgezeichnete Köchin und Näherin, weshalb sie von allen Nachbarn stets gerne und oft Besuch bekam. Die beiden hatten einen gemeinsamen Sohn, der dieses Jahr seinen siebten Geburtstag feiern würde. Es war ein artiger Knabe, ja ein regelrechtes Musterkind nach Quellingens Maßstäben, namens Lenio. Die Älteren erfreuten sich an seinem ehrbietenden Respekt und seinem Interesse, ihren Geschichten zu lauschen. Dabei war er ein guter Zuhörer, der es verstand, immer aufmerksam und ruhig zu sein und doch an den richtigen Stellen zu lachen, weinen oder neugierige Fragen zu stellen. Tat er dies, wurde er gutmütig zurechtgewiesen, weil Neugier und Wissensdurst in Quellingen nur ungern und mit Missbilligung begegnet wurde. Bei Lenio drückte man jedoch schmunzelnd ein Auge zu, wo er doch sonst so ein herzensgutes Kind war.
So hätten diese netten Leute das makellose Bild einer Quellinger Familie abgegeben, wäre da nicht doch ein schwarzer Fleck in ihrem Leben. Und dieser saß gerade auf einer alten Weide am Ufer des Baches, der aus dem Reinquell abzweigte und an dem Dörfchen vorbei plätscherte. Mit dem Rücken lehnte er an dem mächtigen Stamm, seine Beine hingen lässig zu beiden Seiten des Astes herunter und sein jugendliches Gesicht war von dem Schatten des schäbigen Lederhutes auf seinem Kopf bedeckt. In der rechten Hand hielt er ein Taschenmesser, in der Linken ein Stück Holz, das entfernt einem Bogen ähnelte. Durch das mächtige Geäst des Baumes war kaum etwas von seiner langen Gestalt zu sehen. Am Boden lag schon ein beträchtlicher Spähnehaufen, der darauf hindeutete, dass der Junge schon mehrere Stunden dort oben ausgeharrt hatte.
Ein munteres Pfeifen ließ ihn aufhorchen. Mit seinen scharfen Augen erkannte er einen kleinen Burschen entlang des Baches auf seinen Aufenthaltsort zuhüpfen. Er wartete still ab, aber der Neuankömmling schien genau zu wissen, wonach er suchte.
„He Anisto! Ich weiß, dass du da oben bist!“, rief Lenio seinem Halbbruder fröhlich zu. „Zeig dich!“
Anisto legte sein Werkzeug aus der Hand und kletterte in einer einzigen, raschen Bewegung den Baum hinunter. Er zog den Hut zurück, blinzelte in die Sonne, die schon ihren höchsten Stand erreicht hatte, und konnte sich denken, warum Lenio hergekommen war.
„Bitte, lass mich!“, meinte Anisto missmutig. „Ich bin nicht hungrig.“
Der Kleine strahlte über sein ganzes, rundliches Gesicht und seine blauen Augen funkelten vergnügt. „Mama sagte zu mir, du würdest das sagen“, berichtete er anscheinend erstaunt darüber, woher seine Mutter das gewusst haben konnte. „Und sie wies mich an, dich zu erinnern, dass du sechzehn Jahre alt bist, und zu bitten, dich über deine kindliche Sturheit hinwegzusetzen und zu dem Geburtstag deines Stiefvaters zu erscheinen. Jener fängt nämlich in zehn Minuten an und du wirst die Ankunft der Gäste verpassen, wenn du dich nicht beeilst.“
Der Jugendliche hatte stumm zugehört. Als Lenio fertig war, schüttelte er entschlossen den Kopf und blieb bei seiner Meinung: „Wir haben hier jedes Wochenende Feste. Sie sind mir einfach über, das kannst du ihnen gerne sagen. Noch dazu kommt, dass er gar nicht mein Vater ist.“
„Wenn ich ihnen das ausrichte, bekommst du nur wieder Ärger“, machte Lenio ihn flehendlich aufmerksam.
Sein Halbbruder zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Der Kleinere betrachtete die selbstgemachte Waffe, die Anisto neben sich zu Boden gelegt hatte. „Das wird ihnen gar nicht gefallen“, murmelte er und machte sich mit hängenden Schultern auf den Rückweg.
Der Andere sah ihm kurz nach. Schließlich nahm er wieder seinen Lieblingsplatz auf der Weide ein und machte sich gedankenverloren an die Arbeit. Als erneut Schritte zu hören waren, war der Spähnehaufen schon um das Doppelte gewachsen und die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu. Anisto zögerte wieder und dieses Mal wären sie fast an ihm vorbeigegangen.
Doch als er schon erleichtert aufatmen wollte, rief die Stimme eines Mädchens: „Anisto, bist du da?“
Der Junge verdrehte die Augen, schwang ein Bein über den Ast und vollbrachte einen gekonnten Salto nach unten.
Das Mädchen zeigte sich unbeeindruckt und berichtete: „Deine Eltern entsenden erneut die Aufforderung, dich zu uns zu gesellen. Das Mittagessen hast du zwar verpasst, aber zum Kuchen wärest du noch nicht zu spät.“
Leicht verärgert rieb sich Anisto den Knöchel, mit dem er bei seiner Landung beinahe umgeknickt war, und antwortete ihr, wie zuvor Lenio: „Sei so gut und sage meinen Eltern, dass ich immer noch abgeneigt bin, ihrer Bitte nachzukommen.“ Seine Stimme klang dieses Mal allerdings wesentlich freundlicher. Selbst in so einer unerfreulichen Situation brachte er es nicht fertig, sich mit Valora, die seine beste Freundin im Dorf war, zu streiten.
„Es hörte sich aber viel weniger nach einer Bitte, als einem... Befehl an“, stellte sie richtig. „Doch was ist, wenn ich dich frage?“
Der Junge fühlte sich hin- und hergerissen. „Bleib doch einfach hier“, schlug er vor, obwohl er wusste, das dies nicht zur Wahl stand. „Ich habe beunruhigende Neuigkeiten aus dem Süden gehört.“
Das Gesicht des Mädchens verriet Neugier.
„Aber du weißt, bei den Erwachsenen können wir nicht darüber sprechen“, fuhr Anisto klug fort und sie gab sich lächelnd geschlagen.
„Doch nur einen Augenblick“, forderte sie streng. „Und danach kommst du mit mir.“ Die beiden einigten sich darauf und gingen hinunter zum steinigen Ufer des Baches. Ein besonders großer Fels ragte nicht weit von ihnen aus dem Boden. Sie setzten sich auf ihn, zogen ihre Schuhe aus und ließen ihre Füße im kühlen Wasser treiben.
Anisto erzählte Valora von seinem alten Freund, der vor Jahren nach Valir, des Königs Stadt, gegangen war. Gestern hatte er nun endlich wieder Post von ihm bekommen, der zwischen den Zeilen zu entnehmen gewesen war, dass es einen Befehl zur Heeresaushebung gab.
„Roona rüstet also zum Krieg“, stellte Valora traurig fest.
Doch Anisto war nicht im Mindesten betrübt. „Gib der Armee der roonatisch-dakarunschen Allianz eine einzige Schlacht und sie werden Wobkada die Strafe erteilen, die es verdient!“, urteilte er überzeugt. Seine Augen strahlten bei dem Gedanken an das, was passieren würde. „Rächen wir unsere Königin!“
Das Mädchen schwieg, denn sie wusste genau wie jeder andere im Dorf, dass es sinnlos war, Anisto diese Flusen aus dem Kopf zu treiben.
„Du glaubst immer noch nicht an den Sinn dieses Krieges?“, erriet er kopfschüttelnd.
Valora lachte auf und berichtigte: „Kriege hatten noch nie einen Sinn und die wenigen Ausnahmen meist mehr als einen. Mein Gespür deutet bei der aktuellen Angelegenheit auf Letzteres hin. Du weißt, ich traue unserem König nicht.“
Ihre Diskussion zog sich weiter hin über den amtierenden König Elirius, seine Absichten und die Ausmaße der zukünftigen Schlachten. Wie immer waren sie verschiedener Meinung, aber den Spaß am Argumentieren verloren sie trotzdem nicht. Endlich machte Valora dem ein Ende, erinnerte Anisto an den zweiten Teil der Abmachung und die Jugendlichen machten sich ohne große Eile auf dem Weg zu Wodraks Kneipe.
„Warum möchtest du nur in diesem schrecklichen Krieg kämpfen?“, fragte Valora verständnislos. „Er kostet dich nur viele wertvolle Monate und vielleicht sogar dein ganzes Leben.“
Auf diese Frage hatte Anisto schon gewartet und er antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Du weißt, auch mein Vater stand im Dienste des Königs. Er war ein großer Mann: Mutig, loyal, schnell zu Pferd und geschickt bei den Waffen.“
Valora nickte. Sie gingen die wunderbare, blumengesäumte Straße entlang und das Haus Anistos Familie kam bereits in Sicht. „Er ist dein Vorbild“, erkannte sie wahrheitsgemäß. Immer öfter redete Anisto über seinen Vater und trotz des maßlosen Stolzes in seiner Stimme, hatte sie schon früh gemerkt, wie wenig er in Wirklichkeit von ihm wusste.
„Hast du auch eines?“, wollte Anisto neugierig erfahren. Tatsächlich sprachen sie nur selten über Valoras Wünsche und Vorhaben, vielleicht, weil das Mädchen sie selber schon aufgegeben hatte. Nun errötete sie verlegen, aber Anisto sah sie weiterhin fragend an.
„Du kennst doch bestimmt dieses Märchen“, erzählte sie zaghaft. „Das von der Gründung Roonas. Es spielte dort ein Mädchen mit, dass bei den Einsiedlern als Hexe galt, weil sie immerzu alles wissen wollte und klüger war, als der selbst älteste Mann ihrer Leute. Sie sollte bei Sonnenaufgang auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, obwohl sie noch keine fünf Jahre alt war. Doch in der Nacht erschien eine der Weisen von Roona und nahm sie mit sich zu ihrem Volk auf die heilige Insel Vilistris. Dort wurde das Mädchen alle Künste gelehrt, die sie beherrschten, und sie wurde zur Klügsten unter ihnen. Sie war das Kind der Weisheit...“
„Das Kind Roonas“, führte Anisto den Schluss der bekannten Geschichte zu Ende. Er konnte sich vorstellen, warum Valora das Mädchen zu ihrem Vorbild gewählt hatte.
„Du findest es nicht albern?“, meinte Valora erstaunt. Bisher hatte sie es noch niemandem erzählt und sie hatte auch nicht vor, je wieder darauf zurückzugreifen.
Der Junge sagte nach kurzem Überlegen: „Ich finde es passend.“
Nun wurde sie nur noch verlegener. Eine Weile gingen Beide schweigend nebeneinander her. Die Straße war leer, was darauf zurückzuführen war, dass sich das ganze Dorf auf der Feier aufhielt. Als sie schon das Haus betreten wollten, aus dem ein lautes Stimmengewirr drang, begleitet von dem Duft eines gutes Mittagessens, der noch immer in der Luft schwebte, fiel Valora ein: „Ich möchte dir noch danken, Anisto, für das Geschenk, das du mir gemacht hast. Es ist mir wirklich peinlich, dies fast vergessen zu haben, aber sei gewiss, dass es mir viel Freude bereitet hat.“
Anisto schaute verblüfft drein. „Sag bloß, du hast es schon ausgelesen!“, fragte er im Flüsterton, damit ihn niemand durch Zufall belauschen konnte.
Sie nickte kichernd. Es war bei ihnen zur Gewohnheit geworden, dass Anisto an seine kluge Freundin heimlich jedes Buch abgab, das er bekommen hatte. Er selber fand schließlich keinen Gefallen daran, sondern saß lieber auf der Weide und schmiedete sowohl Waffen als auch Pläne - ganz im Gegensatz zu Valora. Die verschlang nämlich in ihrer Freizeit insgeheim jedes Buch, das sie in die Hände bekommen konnte, anstatt artig Hauswirtschaft zu lernen, wie sie es sollte. So waren sie beide Rebellen in Quellingen, jeder auf seine Art.
„Du wirst einmal die größte Gelehrte deiner Zeit, Valora!“, meinte Anisto überzeugt.
Sie fügte mit betrübter Stimme hinzu: „Und du wirst Bote, wie dein Vater. Dieses Dorf wird dich nicht davon abhalten.“
Der Blick des Jungen war merkwürdig ins Leere gerichtet, als wäre er Hunderte von Wegstunden entfernt. „Das kann es gar nicht“, behauptete er sicher und trat durch die Eingangstür in die Höhle des Löwen.


Kapitel 4
Der Beginn einer Reise
Trotz all seiner Bemühungen gelang es Anisto erst kurz vor Ende der Feier, von der Tischrunde zu entkommen. Seine Rettung waren letztendlich die Nachbarskinder Maurin und Malena, die jemanden brauchten, der sie schnell nach Hause bringen konnte, da es doch zu spät für sie geworden war. Ihre Eltern, gute Freunde seines Stiefvaters, hatten sich kaum von ihren Plätzen erhoben, als Anisto ihnen auch schon seine Hilfe anbot.
„Das ist wirklich außerordentlich nett von dir, Anisto!“, bedankte sich die Mutter der beiden Kleinkinder herzlich.
Der Vater wandte sich an Wodrak und sagte: „Auch wenn er meist ein wenig zu wild und abenteuerlustig ist, was er ja schon immer war, so hast du in ihm doch einen guten Jungen an deiner Seite. Wirklich ein Jammer, dass er zu alt für meine Töchter ist!“
Wodrak nahm das Lob lachend entgegen, aber ohne diese Meinung zu teilen. Er warf seinem Stiefsohn einen scharfen Blick zu, der diesem unmissverständlich mitteilte, dass er es ihm immer noch übel nahm zu spät zu seinem Fest erschienen zu sein und dass sie diesbezüglich noch ein paar Wörtchen zu reden hatten, insbesondere, wenn er plante, sich zu diesem Zeitpunkt heimlich abzusetzen.
Anisto zuckte gleichgültig mit den Schultern und begleitete die zwei Mädchen nach draußen. Dort schlug ihm sofort ein kalter Luftschwall entgegen, denn im Gegensatz zu den sommerlichen Tagen des Frühlings wurde es zur Nacht hin doch recht kühl so weit oben im Norden Roonas. Die Kinder tollten ausgelassen neben ihm her und sie brauchten nicht lange zu ihrem Zuhause.
Nachdem er Maurin und Malena abgeliefert hatte, kehrte Anisto selbstverständlich nicht in das Gasthaus zurück. Stattdessen schlenderte er gemächlich durch die leeren Straßen und es schien ihm, als befände sich ganz Quellingen auf diesem lächerlichen Fest. „Ich gehöre nicht hierher“, murmelte der Junge vor sich hin. Und wieder wunderte er sich, warum er keinen Gefallen an endlosen Veranstaltungen wie diesen fand und was ihn davon abhalten wollte, sein ganzes Leben wie einen einzigen Tag zu verbringen. Er stünde auf, ginge zu seiner Arbeit, irgendeinem althergebrachten Handwerkerberuf, käme am Abend heim zu seiner Frau und seinen Kindern. Die Wochenenden und Feiertage, von denen Quellingen so ungewöhnlich viele zu haben pflegte, verbrächte er auf Grillabenden, Gesellschaften, Festen, Ausflügen (die sich selbstverständlich innerhalb von Quellingens Länderein abspielten) oder in der Kneipe seines Stiefvaters, um dort wie ein braver Sohn auszuhelfen. Bei dem Gedanken schüttelte es ihn.
Aber für seinen Halbbruder dagegen schien dies die richtige Welt zu sein. Überall war er jedermanns Liebling, wie sollte es auch anders sein, denn er war schließlich ein echter Quellinger: ruhig, bequem, respektvoll gegenüber den Älteren, lehrend gegenüber den Jüngeren und, was wohl das wichtigste war, ohne eine Spur von Hast oder Abenteuerlust im Blut. Zwar hatte er, wie es für den Durchschnittsmenschen in Quellingen so üblich war, eine gewisse Sehnsucht nach fernen Orten mit geschichtlichem Hintergrund, die sich jedoch soweit in Grenzen hielt, dass es bei Träumerein bleiben sollte. Ja, Lenio war der richtige Junge für Quellingen.
Ganz im Gegensatz zu mir, wie es scheint, dachte Anisto grübelnd. Bald kam er, wie etliche Male zuvor zu dem Entschluss, dass es die väterliche Ader war, die ihm stets so viel Unruhe bereitete. Eine laut schwatzende Menschenmenge kam im Dunkeln auf ihn zu und teilte ihm mit, dass die Geburtstagsfeier ein Ende gefunden hatte.
Anisto wich von der Hauptstraße ab, um den Gästen nicht zu begegnen und so unangenehmen Fragen, in etwa, warum er sich denn gar nicht mehr hatte blicken lassen, erfolgreich zu entgehen. Über den stillen Hinterhof gelangte er zurück in das Wohngebäude, das direkt an die Kneipe anschloss. Es war ein Bau, wie ihn die wohlhabenderen Bürger des Dorfes besaßen: Drei Etagen gemütlicher Wohnraum mit genügend warmen Öfen und Sitzecken. Es gab ausreichend viele Gästezimmer, um die gesamte Verwandtschaft darin unterzubringen, die Unterkünfte des Gasthofes nicht mitgezählt, was auch dringend notwendig war, um einen guten Ruf aufrecht zu erhalten, der in Quellingen an der Gastfreundlichkeit gemessen wurde. Und der gesellschaftliche Stand der Familie war hoch. Sein Stiefvater bewirtschaftete die gute Stube des Dorfes, wo man sich abends auf ein Bierchen traf, und seine Mutter erfreute sich durch diesen Umstand an reichlich Ansehen und einem überwältigenden Freundeskreis. Überhaupt konnte man getrost sagen, dass es sie hätte schlechter treffen können, als sie Wodrak heiratete, da er nicht nur Geld und Ruf besaß, sondern auch noch ein liebevoller, aufopfernder Ehemann war.
Tatsächlich war der einzige dunkle Fleck in ihrem Familienleben seine Abneigung gegen Anisto, das erste Kind seiner Frau und dazu noch der Nachkomme eines Abenteurers, der sich sein Leben lang herzlich wenig um sein Heimatdorf geschert hatte. Das alles hatte Wodrak ihm natürlich schon oft genug auf die Nase gebunden und Anisto war sich sicher, es würde auch Thema der heutigen Gardienenpredikt sein.
Fast hätte der Junge es bis zur Treppe geschafft, aber in der Tür unmittelbar neben dieser stand sein Stiefvater nahezu regungslos und wartete auf ihn. Er nickte mit seinem breiten Kopf schwerfällig in Richtung des Kaminzimmers und Anisto folgte ihm seufzend.
Seine Mutter saß bereits mit gesenktem Kopf in einem der gemütlichen Korbsesseln und rührte sich nicht, bis auch die Männer vor dem flackerndes Feuer platzgenommen hatten. „Wir hatten gehofft, du würdest uns noch Gesellschaft leisten“, eröffnete sie ihrem Sohn schließlich leise. „Das Fest war von großer Bedeutung für deinen Vater.“
Doch Anisto schüttelte nur störrisch den Kopf und behauptete: „Diese Feier war doch wie alle anderen, die wir andauernd geben! Euer ganzer Lebenssinn scheint sich nur darum zu drehen, öfter einzuladen, als die Nachbarn!“
„Ein Fest wie jedes andere?“, brauste Wodrak wütend auf. „Ja, Kind, genau das ist doch der Punkt: Bei jeder Gesellschaft, die wir geben oder zu der wir geladen sind, machst du dich aus dem Staub, falls du uns überhaupt die Ehre deiner Anwesenheit erweisen solltest! Ich frage mich da doch, für wen sich mein Sohn hält. Irgendetwas besseres vielleicht, das es nicht nötig hat, sich den Sitten seines Stammes zu unterstellen?“
Es knackte im Kamin und die Flammen schlugen jäh um sich. Alle Anwesenden sahen stur in das Feuer, nicht willens, den Konflikt zu lösen.
Endlich erbarmte sich Anistos Mutter dem einen Anfang zu machen. „Ich bin mir gewiss, dass es ein schwieriges Alter für dich ist, Anisto“, versuchte sie ihn zu besänftigen. „Doch solltest du nicht zumindest versuchen, dein jugendliches Temperament zu zügeln, bevor es uns noch in Verruf bringt?“
Niemand im Raum, nicht einmal sie selbst, sah das Alter als Ursache ihrer Schwierigkeiten, aber es war eine Ausrede, die sie immer wieder aufs neue hervorbrachten, solange Anisto zurückdenken konnte. Erst war es der kindliche Übermut, danach die jugendliche Aufmüpfigkeit, doch immer gab es zu bedenken, dass Lenio jedes seiner sieben Jahre mit Bravour gemeistert hatte. Genau das war es, was den Anwesenden durch die Köpfe ging, obwohl es keiner von ihnen laut aussprach. Endlich schnaubte Wodrak verärgert auf, woraufhin die beiden anderen erschrocken zusammenzuckten, erhob sich ohne ein weiteres Wort an sie zu richten und stapfte davon.
Anisto stand auf, um seinerseits aus der bedrückenden Atmosphäre zu fliehen, doch seine Mutter rief ihn zurück. „Lass uns reden, wenn du es so willst“, erklärte sie sich bereit.
Erstaunt darüber, dass sie wusste, er wolle Antworten, wobei er sich über seine Wünsche selber nicht vollkommen im Klaren war, ließ er sich wieder niedersinken.
„Es ist mir bewusst, dass du es mir übel nimmst erneut geheiratet zu haben und genauso weiß ich, dass es Wodrak zuwider ist, dich in seinem Familienstammbaum zu sehen, denn schon mit deinem Vater hatte er sich damals nicht verstanden“, begann sie und ihre honigblonden, schulterlangen Haare leuchteten im Feuerschein, wie verzaubert.
Unwillkürlich musste sich Anisto fragen, ob irgendeine magische Kraft hinter den Ereignissen dieser Nacht stand und sein Schicksal vorherbestimmte. Es sollte nicht das letzte mal sein. Nebenbei fiel ihm auf, wie wenig er seiner Mutter ähnelte. Sie hatte die sonnengebräunte Haut, die hier in der Region verbreitet war, auch wenn ihre Haare die eines Südroona waren.
Er jedoch besaß die blassen, aristokratischen Gesichtszüge des Königsgeschlechtes, von denen man meinte, sie kämen von den sagenumwogenen Inseln Vilistris’, obwohl niemand so recht wusste, ob diese überhaupt existierten. Natürlich war ihm klar, dass diese Verwandtschaft zu weit zurück lag, um nachweisbar zu sein und genügend Anspruch auf einen königlichen Titel geltend zu machen. In der Tat floss in vielen Untertanen des Reiches dieses edle Blut, besonders, wenn ihre Familien einst wie Anistos Vater am Hof gelebt hatten. Dennoch war der Junge stolz darauf. Dazu kam eine Verbindung zu den Fischern von Salcapone, die ihm eine Menge Sommersprossen einbrachte, und die krausen, hellroten Haare Ostwobkadas, auf die man in dieser Zeit jedoch nicht sehr stolz sein durfte. Die Herkunft seiner grünen Augen konnte Anisto beim besten Willen nicht ergründen, doch es ließ sich mit Sicherheit sagen, dass sie nicht aus Quellingen stammten. „Deshalb“, fuhr seine Mutter fort, „ist es auch nicht angebracht, zu viel über ihn zu sprechen. Aber lass uns heute eine Ausnahme machen, wenn es denn sein muss. Ist es nicht das, was dein Herz zu wissen begehrt?“ Ihr Sohn nickte zögernd.
„Nun gut, was soll ich dir erzählen?“, fragte sie schweren Herzens. Eine kurze Zeit lang schwiegen beide.
„Wie ist er gestorben?“, war die Frage, die Anisto am meisten plagte, weil ihn noch niemand darüber aufgeklärt hatte.
Die Frau seufzte, denn dies war zweifellos das, was sie am wenigsten beantworten wollte. Und doch hatte sie genau damit gerechnet. Mit leisen Worten, um niemanden im Haus die Gelegenheit zum Mithören zu geben, berichtete sie von dem Abend, an dem ihr erster Mann endlich nach Hause zurückkehrte, jedoch nur, um sofort wieder aufzubrechen. Für immer war dieser Abschied gewesen und wohl das schmerzlichste Erlebnis ihres Lebens. Trotzdem riss sie sich entschlossen zusammen und enthielt ihrem ältesten Sohn nichts vor. Schließlich war es Anisto so, als hörte er die Hufe seines Vaters Pferdes auf der Steinstraße vor dem Haus davon trommeln.
„Der Brief, dieser verfluchte, unglücksbringende Brief...“, murmelte er traurig.
„Er ist hier“, fügte seine Mutter flüsternd hinzu. „In meiner Hand...“ Der Umschlag, den sie ihm plötzlich hinhielt war auf feinstem Pergament, welches im Feuerschein edel schimmerte. Benommen nahm der Junge ihn entgegen. Als er ihn drehte und von allen Seiten besah, fand er ein ungebrochenes Siegel, das ihn verschloss. Es war aus hartem, roten Wachs und hatte die Form eines Kreises in dessen Mitte ein großer, kunstvoller Buchstabe alter Schrift prangte. Aus dem Schulunterricht wusste Anisto, dass es ein R war, geschrieben in der Art der Gründer von Roona. Eine Schreibweise, längst vergessen und von atemberaubender Schönheit.
„Deshalb musste mein Vater sterben?“, fragte Anisto und ein gewisser Unglaube lag in seiner Stimme, denn so leicht und harmlos lag das Pergament in seiner Hand.
Aber seine Mutter nickte überzeugt. Jahre nach dem Tod ihres Mannes war keine Nacht vergangen, in der sie den Brief nicht bestaunt und sich über dessen Bedeutung gewundert hatte. Allerdings war der drängende Ausdruck im Gesicht ihres Gatten, als dieser sie bat, das Schriftstück sicher in Verwahrung zu nehmen, ebenso klar in ihrem Gedächtnis verankert, sodass es keinen Zweifel mehr für sie gab, was ihre junge Familie damals vernichtet hatte. „Wenn du möchtest, nehme ihn an dich“, gestattete sie ihrem Sohn feierlich. „Du bist nun beinahe volljährig und einer solchen Bürde wohl gewachsen. Betrachte es als das einzige Erbstück, das dein Vater dir hinterlassen hat.“
Ein Weile starrte Anisto nachdenklich in das Kaminfeuer, endlich nickte er langsam. Er fühlte sich merkwürdig benommen. Das prasselnde Feuer wärmte ihn, doch innerlich war ihm eiskalt. Wieder spielte er mit dem Brief in seiner Hand und als das Licht plötzlich heller auf dessen Vorderseite schien, bemerkte er etwas, das ihm vorher entgangen war. „Wer ist Botac?“, entfuhr es ihm, als er den mit goldener Tinte geschriebenen Namen gelesen hatte. Die Buchstaben, welche in der gängigen roonatischen Schrift standen, hoben sich kaum von dem gleichfarbigen Untergrund ab, weshalb er sie zunächst übersehen haben musste.
Seine Mutter zuckte ahnungslos mit den Schultern und antwortete ratend: „Vielleicht der Empfänger? Mir ist der Name vollkommen fremd, tut mir leid.“
Anisto stimmte ihr zu, denn es war das Einzige, was ihm logisch erschien. Gründlich suchte er nach einem Absender, fand allerdings nichts dergleichen. Er fragte sich, warum seine Mutter den Umschlag nach all den Jahren nicht geöffnet hatte.
„Das königliche Siegel sollte nur von dem gebrochen werden, der dazu ausersehen ist, denn es war das Zeichen unserer verstorbenen Königin, deren Willen ich selbst nach ihrem Tod nicht umgehen wollte“, erriet sie seine Gedanken.
„Dann will ich die Botschaft dem wahren Empfänger überbringen“, beschloss Anisto, ohne vorher über seine Worte nachzudenken. Als sie einmal ausgesprochen waren, gab es jedoch kein Zurück mehr.
Seine Mutter schlug entsetzt die Hand vor den Mund. „Das ist unmöglich, Anisto“, warf sie hastig ein. „Du hast doch nicht die leiseste Ahnung, wer dieser Botac ist, geschweige denn, wo er sich aufhält. Das roonatische Reich ist unvorstellbar groß. Du kannst nicht überall nach ihm suchen! Und wer weiß, vielleicht ist er außer Lande oder gar tot!“ Verzweifelt rang sie nach Einwänden und der Junge merkte, dass sie ihn nicht gehen lassen wollte. Diese Erkenntnis wärmte ihn und ließ die Aufregung, die ihn überfallen hatte, abklingen. Sie war seine Mutter und sie hatte Angst um ihn! Schon fast hatte er das vergessen in den letzten Jahren.
„Mein Vater wusste, wo er zu finden war, und auch ich, sein Sohn, werde den richtigen Weg einschlagen“, sagte er überzeugt. „Oder willst du etwa, dass die Ehre unserer Familie -unserer richtigen, wahren Familie- an einer unerledigten Aufgabe zerbricht?“
Sie schüttelte widerwillig den Kopf. „Geh nur, du hast ja so recht“, räumte sie traurig ein. „Und vielleicht ist dein Kopf geordneter wenn du zurückkehrst und deine unruhige Seele hat den Frieden gefunden für ein anständiges Leben an diesem Ort.“
„Wenn du mich nach Erfüllung meines Vaters Aufgabe, die nun meine ist, wiedersiehst, werde ich erwachsen sein“, versprach er und es klang in seinen Ohren wie ein Abschied. „Und jetzt packe ich meine Sachen, um Quellingen noch heute Nacht heimlich und ungesehen zu verlassen.“
Er ging aus dem Raum und schlich leise in sein Zimmer im oberen Stock. Nur das Nötigste fand Platz in seinen Taschen: Ein Zelt, sein Taschenmesser, ein starkes Seil, die leichteste Decke, die er finden konnte, eine Landkarte von Roona, ein paar Kleidungsstücke und all seine Ersparnisse, welche für mehrere Wochen reichen sollten.
Unten in der Küche wartete seine Mutter still auf ihn und gab ihm zwei große Beutel voll mit dem festen, haltbaren Fladenbrot, das sie für Notzeiten aufzubewahren pflegte. „Damit es nicht zu eintönig wird, habe ich auch noch ein paar Einmachgläser mit den Früchten des letzten Jahres eingepackt“, erläuterte sie kurz. „Außerdem findest du in der großen Tasche noch Krüge für Wasser und Kochgeräte, mit denen du dir unterwegs deine Mahlzeiten überm Feuer machen kannst.“
Anisto dankte ihr und sie gingen zur Haustür. Dort zog sie ihn ein letztes Mal an sich und küsste ihn sanft auf die Stirn. „Du hast meinen Segen, Sohn“, sprach sie ernst. „Jeden Abend werde ich für das Gelingen deines Vorhabens und für deine sichere Rückkehr beten, doch nichtsdestotrotz gebe gut auf dich acht!“
Er nickte, wandte sich ab und verließ das Haus. Zurückzusehen wagte er nicht, aus Angst, sofort wieder umzukehren. Also ging er schnell bis zum Ende der Straße, ihre Blicke in seinem Rücken spürend bis er um die Kurve bog. Erst als er die Mauern von Quellingen hinter sich gelassen hatte, wurde er sich bewusst, dass ihm diese Reise wirklich ernst war. Zu seinem Glück gab es nur einem Weg aus dem Dorf heraus und dieser führte in Richtung des Reinquells. So konnte er die Entscheidung, wohin er zuerst gehen wollte, noch ein Stück vor sich herschieben. Der Himmel war wolkenlos und neben dem hellen Mond waren viele Sterne zu sehen. Ihr friedliches Licht beleuchtete die Sandstraße, die sich bis zum Ufer durch Quellingens fruchtbare Wiesen schlängelte. Ja, noch war es keine große Sache, weil er diesen Weg schon etliche Male zurückgelegt hatte, doch bei dem Gedanken an das unbekannte Gelände, das den kleinen Fleck Quellingens auf seiner Karte weit umgab, stieg ihm neben der Abenteuerlust auch die Furcht zu Kopf. Umso entschlossener schritt er aus. Seiner Angst wollte er es schon zeigen!
Plötzlich kam ihm auf dem überschaubaren Weg eine Gestallt entgegen. Anisto fluchte leise, als sie ihr Tempo beschleunigte und auf ihn zugerannt kam. Das war’s also mit seiner heimlichen Abreise! Bald erkannte er, dass es Valora war, und ihm wurde ein wenig leichter ums Herz. Vielleicht konnte er sie noch überzeugen, ihn nicht zu verraten!
„Was machst du denn hier draußen so spät in der Nacht?“, rief er ihr zu.
Sie kam neben ihm zum stehen und antwortete mit einem Körbchen schlenkernd: „Ich habe einige Kräuter gesammelt gegen meine Kopfschmerzen, die finden sich wie man so sagt, gegen Mitternacht am leichtesten.“ Tatsächlich war ihr Korb bis zum Rand gefüllt, was Anisto nicht weiter wunderte. Schließlich stand das Mädchen in dem Ruf, sich mit Kräutern und Beeren besser auszukennen als jeder andere. Insgeheim hegte er Bewunderung für ihre Klugheit.
„Doch sag, wohin zieht es dich?“, fiel es ihr auf einmal ein und sie musterte seine Ausrüstung neugierig.
Anisto versuchte vergeblich Ausreden zu finden, die sie glauben würde. „Weg von hier“, berichtete er ehrlich. „Wohin weiß ich noch nicht, aber meine Reise wird vielleicht eine ganze Zeit dauern.“
Sie sah ihn betroffen an. „Bitte geh nicht!“, verlangte sie. „Du bist doch der einzige, mit dem ich mich richtig unterhalten kann! Die anderen in unserem Alter sind alle so uninteressiert und geistlos. Nur du siehst weiter voraus als bis zum nächsten Fest!“
Anisto lachte und fühlte sich fast so, als hätte er einen Gleichgesinnten gefunden. „Weit wird mich mein Vorhaben durch das Land tragen“, meinte er dann. „In die großen berühmten Städte, die sagenreichen Gegenden, vielleicht auch über die Grenzen hinweg. Aber ein so aufgewecktes Mädchen wie dich werde ich wohl nicht ein zweites Mal treffen!“
Verlegen sah sie zu Boden. Anisto bat sie, keinem von ihrer Begegnung zu erzählen und verabschiedete sich. Doch er war keine fünf Meter gegangen, als sie ihm hinterher rief: „Ich werde mitkommen!“ Erstaunt blieb er stehen und Valora kam zu ihm gelaufen. „Du weißt, wie sehr es mich nach Wissen durstet. Weit mehr, als es mir hier gestattet ist. Ich will dir folgen bis in die alten Städte, wo mein Verlangen gestillt werden kann. Verständnis soll es dort für Mädchen wie mich geben, ist mir zu Ohren gekommen, also sind sie vielleicht meine einzige Chance. Du hast nun meine Neugierde geweckt und so schnell sollst du mich auch nicht mehr loswerden!“
Tatsächlich gelang es Anisto nicht, sie von ihrem Willen abzubringen. Also setzte er seinen Weg mit ihr an seiner Seite fort. Doch sie waren nicht weit gekommen, als sie auf einmal ein Geräusch hinter sich hörten.
„Du meine Güte, was ist denn hier heute nur los!“, entfuhr es Anisto missmutig. Gründlich suchte er mit den Augen ihre Umgebung ab und blieb an einem besonders hohen Grasbüschel hängen, das sich verdächtig gegen den Wind bewegte. Er schlich leise hin und als er mit den Händen die Halme teilte, fand er dort auf dem Boden kauernd keinen anderen als seinen Halbbruder Lenio. Anisto konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. „Was hast du denn hier zu suchen?“, herrschte er den Kleineren fassungslos an.
„Ich bin dir nachgelaufen, als du das Haus verlassen hattest“, gestand Lenio mit zitternder Stimme. „Bitte tu mir nichts, ich war doch nur...“
Valora kicherte, als sehe sie das alles weniger eng, und sprach seinen Gedanken zuende: „Neugierig? Wirklich, du enttäuschst mich! Das gehört sich für einen artigen Quellinger Jungen doch nicht!“
Anisto verdrehte die Augen, weil es ihm unerklärbar war, wie diese beiden Menschen seine perfekte Flucht so zielsicher vermasseln konnten und das auch noch, ohne dass es ihre Absicht war. Natürlich, Valora hatte gut lachen. Sie hielt seine Reise zweifellos für eine Vergnügungsfahrt! „Hört zu, ihr zwei!“, befahl er deshalb streng. „Wenn ihr schon meint, mich begleiten zu müssen, so seit gewarnt: Es wird nicht einfach werden und das Ende unserer Fahrt ist noch nicht absehbar. Gut möglich, dass uns vorher Vorräte und Geld ausgehen, oder wir uns im großen Reich Roona verirren. Wer weiß das schon. Nur sollte es euch klar sein, was auch immer geschieht, ich kehre nicht eher um, als das...“
Beide lauschten gespannt. Das Mädchen sah ihn auffordernd an. „Nun weiter!“, ermutigte sie ihn. „Erzähle uns nur deine Pläne, wir sind doch schließlich deine Verbündeten!“
Stockend berichtete Anisto ihnen alles, was er wusste. Dabei warf er immer wieder unruhige Blicke über die Schulter. Als er geendet hatte, schwiegen sie alle. Er sah in den Augen seiner Freunde, dass sie ihm diese abenteuerliche Geschichte ohne Vorbehalte glaubten, und dachte, es sei vielleicht nicht das schlechteste, zwei gute, vertrauensvolle Kameraden dabeizuhaben.
Nach dieser ungeplanten Unterbrechung folgten sie weiter dem Weg in Richtung des Reinquells. Die Nacht war zwar schon fortgeschritten, aber sie schafften es trotzdem noch bis zum Sonnenaufgang ans Ufer. Valora schlug dort eine kurze Rast vor, damit sie frühstücken und noch ein wenig verschnaufen konnten. Letzteres erwies sich aber als nicht sehr notwendig. Das Marschieren war keinem von ihnen schwergefallen, denn ihre Füße waren ausgeruht und ihr Ziel stand ihnen vorerst klarer vor Augen:
Anisto hatte die schwarze Stadt Valir als ihren ersten Anlaufpunkt beschlossen.


Kapitel 5
Flussabwärts
Als sie die Decke wieder zusammenpackten und den Rest ihres Picknicks in den Rucksäcken verstauten war es bereits zehn Uhr. Die Sonne hatte sich über dem Horizont erhoben und strahlte klar und hell, so wie sie es zu Frühlingsbeginn in Quellingen immer tat. Ihre Wärme weckte ungeahnte Lebenskräfte in den drei Kindern und besonders Anisto konnte es gar nicht abwarten, endlich aufzubrechen. Ein leichter Wind fuhr durch die mit Knospen versehenden Bäume, die den Reinquell, der nicht weit von ihnen friedlich dahinrauschte, ordentlich säumten.
Valora zog sich Schuhe und Söckchen aus und lief zum Ufer. „Kommt, nehmt euer Gepäck auf den Rücken und folgt mir!“, rief sie munter zu den Jungen hinüber. „Es ist ein so schöner Morgen und die Zeit eilt nicht. Lasst uns ein Stück im seichten Wasser waten.“
Anisto und Lenio schulterten ihre Rucksäcke und eilten zu ihr. Das Wasser umspülte ihre Füße in sanfter Strömung. Es war nicht mehr allzu kalt und der Boden war sandig und eben, sodass es den Dreien keine Mühe bereitete, etliche hundert Meter dem Lauf des Flusses zu folgen.
Anisto übernahm nach einer Weile die Führung der Gruppe und brachte sie zu dem kleinen Anlegesteg ihres Dorfes. Mehrere Boote, allesamt flach und aus hellem Holz gebaut, lagen dort und schaukelten auf der leicht gekräuselten Wasseroberfläche behutsam auf und ab.
Zielstrebig hielt Anisto auf sein Boot zu, eines der kleineren, und machte sich daran die Taue vom Steg zu lösen. Die beiden anderen luden derweil ihr Gepäck ein.
„Kannst du denn rudern?“, fragte Valora zögerlich, bevor sie sich ins Innere des nussschalenähnlichen Gebildes setzte.
Anisto lächelte stolz und seine grünen Augen sprühten vor Übermut, als er hinter seinem Halbbruder selber ins Boot stieg und es sicher auf den Strom beförderte. „Mein Großvater hat es mir beigebracht, als ich noch sehr jung war“, antwortete er. „Er half mir auch beim Bau des Bootes. Nach seinem Tod habe ich die Arbeit alleine fertig stellen müssen. Deshalb sieht es nicht ganz so anmutig aus wie die anderen.“
Tatsächlich gab es beim genaueren Hinsehen einige Unregelmäßigkeiten, die auf eine unerfahrene Hand hindeuteten. Trotz allem glitt der schmale Rumpf sicher und rasch durch das glitzernde Wasser und teilte es kraftvoll vor sich entzwei.
„Ich bin noch nie zuvor so gereist“, bemerkte das Mädchen mit leichtem Unbehagen und ihre von Landarbeiten rauen Finger schlossen sich Halt suchend um die Reling. „Meine Familie gehört schon seit Urzeiten auf festen Boden. Wir bestellen Jahr für Jahr unsere Felder mit dem Wasser aus den Nebenläufen des Reinquells, ohne uns näher mit seiner Herkunft vertraut zu machen. Keiner unserer Vorfahren hat in der Schifffahrt gedient.“
Lenio lehnte sich weit über und ließ seine rechte Hand furchtlos durch das kühle Nass streichen. Seine für einen Jungen langgewachsenen Haare hingen dicht über dessen Oberfläche. „Bei uns war es der Großvater mütterlicherseits“, berichtete er. „Er segelte mit der königlichen Flotte in den letzen Krieg. Nur wenige schafften es, als die Schiffe von einem schweren Sturm erfasst wurden, doch er war dabei. Es liegt und also sozusagen im Blut. Anisto hat mir schon einiges gezeigt. Wenn’s hart auf hart kommt, kann auch ich das Boot führen.“
Die Älteren lachten und Valora versicherte, sie sei nun unbesorgt.
„Ich denke nicht, dass dies tatsächlich zutreffen wird“, meinte Anisto bestimmt. „Was ich bei mir trage ist nicht weiter als ein Stück der Vergangenheit. Nur für mich hat es noch Bedeutung.“ Entschlossen ruderte er voran und ließ das Boot eine Weile kräftig vorwärtsschnellen. Lenio starrte in das vorüberströmende Wasser hinab, um einige Fische wie silberne Schatten am Grund zu entdecken. Das Mädchen verfolgte währenddessen, wie die zarten Bäume allmählich ganz verschwanden und stattdessen weite, saftig grüne Wiesen bis an das flache Ufer reichten. Manchmal sah sie ein paar Kühe oder Schafe beim Grasen auf ihren sorgfältig abgezäunten Weiden. Menschen tauchten jedoch nie so dicht am Reinquell auf. Sie bevorzugten es, in ihren Siedlungen zu bleiben, die ein wenig weiter im Landesinneren errichtet waren. Valora wusste, dass sie dieser Abstand vor dem alljährlichen Hochwasser nach Winterabbruch schützen sollte, denn schon oft hatte das zu dieser Zeit stürmische Wasser bis an die Felder ihrer Familie gereicht. Aber dieses Übel galt in diesem Jahr als überstanden, was den einst furchteinflößenden Fluss wieder zu einem leicht passierbaren Gewässer machte.
Nachdem sie mehrere Stunden so verbracht hatten, legte sich Valora rücklings ins Boot. Plötzlich spürte sie die ereignisreiche Nacht und fühlte sich angenehm schläfrig. Die Lider wurden ihr schwer und schließlich fielen ihre Augen ganz zu.
Lenio lächelte seinem Halbbruder glücklich zu. „Es ist alles so aufregend“, flüsterte er leise, um Valora nicht zu wecken. „Wir paddeln einfach darauf los, ohne zu wissen, welcher Ort in diesem großen Reich unser Ziel sein wird. Was glaubst du Anisto, werden wir in einen richtigen Wald gelangen, einen mit dichtgewachsenen, flüsternden Bäumen? Oder sehen wir die roonatische Ebene, über die man unbegrenzten Blick haben soll? Werden wir gar über die Grenzen des Königreiches hinwegkommen?“ Lenios blaue Augen strahlten in seinem rundlichen Gesicht vor Vorfreude, von der sich Anisto prompt angesteckt fühlte. Noch nie hatte er bei dem Siebenjährigen auch nur einen Anflug von Abenteuerlust entdecken können und der ältere Junge vermutete, dass es sich bei dem, was sich hinter dessen übermütigen Gefühlen verbarg, um das Verlangen handelte, die Schauplätze der uralten Geschichten zu sehen, die sich ihr Volk von Generation zu Generation erzählte. „Ich weiß nicht, wohin der Wind uns tragen wird“, hoffte er sehnsüchtig und legte die Ruder neben sich in das Boot.
Sie fuhren jetzt langsamer, doch wie Valora am Morgen schon zu ihnen gesagt hatte: In ihrem Abenteuer ging es nicht um Zeit, weil diese bereits seit dem Tod seines Vaters abgelaufen war. „Aber wir wollen diesen geheimnisumwogenen Botac finden, so wie es meines Vaters Aufgabe gewesen war. Und sollten sich uns auch noch so viele Schwerter entgegenstellen, werden wir ihnen mit ihresgleichen antworten!“ Fest umschloss er seinen halbfertigen Bogen, der neben ihm lag, und nahm sich vor, ihn zu der gefährlichsten Schusswaffe zu machen, die Menschenhände je erschufen. Und das sollte nicht seine letzte Arbeit sein! Nein, ein scharfes Schwert würde dem folgen und im kunstvollen Griff stände sein Name!
Lenios Miene verdunkelte sich und ein Hauch von Angst wehte darüber hinweg. „Du vergisst, was sich gehört, Anisto“, erinnerte er pflichtgetreu. „Töten darf man nicht und selbst, wenn es im Krieg geschieht, ist es keine rechte Sache. Mein Vater hat uns das gelehrt, dir sogar mehr als einmal. Wir wollen die Welt zusammen erkunden und deinen Brief abliefern, wenn dir doch so viel daran liegt, aber sollte es gefährlich werden kehren wir nach Hause zurück.“
Erstaunt bemerkte Anisto, dass etwas in ihm aber regelrecht in Gefahr geraten wollte, und er konnte sich den Grund dafür nicht erklären. Vielleicht suchte er dieselbe Herausforderung, vor der einst sein Vater gestanden hatte, um sie im Gegensatz zu diesem zu meistern? Er wusste es nicht. Seinem Bruder versprach er halbherzig: „Ich fertige meine Waffen nur, um uns im Notfall verteidigen zu können. Nie werde ich damit angreifen.“
Lenio sah beruhigt aus und widmete sich wieder den Fischen. Still zählte er die verschiedenen Arten, die er zu erkennen glaubte, und als die Mittagssonne seinen Rücken wärmte, schien sie bis in sein junges Herz und hob seine Laune wieder empor. Es wird ein wunderbarer Ausflug werden, dachte er bei sich.
Bald knurrte den beiden Jungen trotz des späten Frühstücks der Magen und es kam ihnen gerade recht, dass sich Valora zu recken anfing und schließlich die Augen aufschlug.
„Ich lenke unser Boot jetzt an das rechte Ufer“, teilte ihr Anisto mit. „Was meinst du, kannst du dort noch ein paar Früchte für uns finden? Wir können sie mit einem Stück von unserem mitgebrachten Brot essen.“
Valora betrachtete den Landstreifen, auf den sie gemächlich zutrieben. Er sah fruchtbar aus mit all seinen Büschen und Gräsern, also meinte sie: „Ich denke nicht, dass es schwierig wird. Aber habe ich denn wirklich so lange geschlafen? Die Mittagszeit ist schon beinahe vorüber und zu Beginn der Reise dachte ich nicht daran, in dieser Nussschale überhaupt ein Auge zuzubekommen.“
Kaum merklich liefen sie auf Land und Valora stieg aus dem Boot, froh über den festen Boden unter ihren Füßen. Nachdem Lenio ihr seine Kappe als Sammelkörbchen anvertraut hatte, ließ sie ihre beiden Gefährten dort zurück und hüpfte, behände wie ein Reh, zwischen dem dornlosen Buschwerk hindurch. Als sie wieder ins Sichtfeld der Jungen gelangte, war das Käppchen prall gefüllt mit dem Besten, was es Beeren und anderen Früchten zu finden gab.
„Liebste Valora, du bist Gold wert!“, lobte Anisto, als er ihren Fund mit großen Augen begutachtete. Er war drauf und dran, sich etwas davon zu stabietzen, aber das Mädchen sagte streng: „All das Schleimen nützt dir gar nichts. Gold, wer will schon Gold! Davon würden wir jetzt nicht satt. Bringe du uns nur erst einmal wieder auf Fahrt, dann darfst du dir nehmen, soviel du willst! Bei den vielen Pausen kommen wir ja gar nicht vom Fleck.“
Sofort tat Anisto was sie verlangte und die drei Kinder gönnten sich ein ausgiebiges Mittagessen auf dem Wasser.
Gegen Abend kamen sie in Gasthof an, einem kleinen Gehöft mit Marktplatz und Gästeunterkünften, das auf einem seichten Hügel nahe des Reinquells erbaut worden war. Es gab auch eine winzige Anlegestelle, wo Anisto das Boot festmachte.
Sobald sie durch das Stadttor getreten waren, fanden sie sich inmitten eines munteren Treibens wieder, das rund um die Verkaufsstände herrschte.
„Ist das ein lustiges Dorf!“, bemerkte Lenio verzückt. Zigeunermusik klang von einem Brunnen nicht weit von ihnen herüber. Eine Menschentraube hatte sich um die Musiker gebildet und ab und zu wurden ihnen ein paar Bronzemünzen zugeworfen, um sie zum Weiterspielen zu bewegen. „Lass das nicht die Anwohner hören“, empfahl Anisto, ebenfalls hingerissen. „Sie nennen das hier eine Stadt!“ Die Übertreibung fiel sogleich ins Auge, denn außer ein paar Gebäuden, Ständen und Viehställen gab es hier nicht viel.
„Ich werde mal sehen, ob ich nicht ein Zimmer für uns finden kann“, beschloss der ältere Junge und gab Valora fünf Silbermünzen. „Versuche doch bitte, davon unser Gepäck aufzubessern!“
Das Mädchen nickte freudig und nahm Lenio mit sich. An jedem Stand blieben sie stehen und schauten sich neugierig die Auslagen an. Schließlich erwarben sie neben zwei großen Leiben Brot auch noch drei dünne Decken, die für den Frühling warm genug waren und ihnen keine große Traglast bereiteten, und schlichte, hellbraune Kleidung, wie sie hier in der Gegend getragen wurde. Die fünf Münzen waren damit verbraucht, doch Kleider zum Wechseln waren für alle drei unbedingt notwendig gewesen, da selbst Anisto zu wenig davon mitgenommen hatte. Die anderen beiden besaßen aufgrund ihres ungeplanten Aufbruches nicht mehr als sie am Leibe trugen.
Die Sonne versank hinter der ländlichen Kulisse der Stadt und kühle Nacht hüllte sich um die zwei Kinder, als sie in Richtung der Unterkünfte gingen.
„Werden wir unsere neuen Sachen gleich anprobieren?“, fragte der kleine Lenio aufgeregt, denn er hatte noch nie zuvor andere Kleidung getragen als die Tracht seines Dorfes. „Wir können uns dann noch eine Weile unter die Leute in der Gaststube mischen und niemand wird uns ansehen, dass wir Fremde sind!“
„Meinetwegen gerne“, stimmte Valora zu. Sie freute sich ebenfalls über ihr neues Kleid, auch wenn es nur billig und einfach gewebt war. „Aber überrede du erst einmal Anisto, damit er dich noch zu den anderen Gästen lässt. Jetzt, wo wir von Zuhause weg sind, ist er eine Art Vormund für dich.“
Ihr Einwand bestätigte sich sogleich, als Lenio um Erlaubnis bat. Anisto wartete vor den Unterkünften auf seine Freunde und hatte bereits den Schlüssel für ihr Zimmer besorgt. Gemeinsam betraten sie das große, reetdachgedeckte Gebäude und ein Schwall aus Hitze und Rauch schlug ihnen entgegen. Der Raum, in dem sie standen war lang und seine Wände mit Tischen zugestellt. Die Decke war niedrig und eine bläuliche Wolke Pfeifenqualm hing dicht unter ihr. Lenios Augen eilten neugierig von dem Holztresen, hinter dem ein rundlich gebauter Wirt stand, der seinem Vater nicht unähnlich war, durch den ganzen mit Menschen überfüllten Saal, die verschiedener nicht hätten sein können. Überall wurde eifrig zu trinken ausgeschenkt und trotz der relativ frühen Stunde ging es rau her.
„Ich habe schon zu essen für uns bestellt und man wird es uns aufs Zimmer bringen, sobald es fertig ist“, berichtete Anisto und machte alle Hoffnungen seines Bruders entschieden zunichte. „Aus mehreren Gründen halte ich es für keine gute Idee, hier unten zu essen, nicht zuletzt, weil einige Leute im Laufe der Nacht zu schlechtes Benehmen für kleine Jungen entwickeln. Außerdem sind wir alle sicherlich müde und haben eine Menge Schlaf nachzuholen.“ Er sah Valora fragend an.
„Ist mir recht“, meinte sie schulterzuckend. Nach Lenios Zustimmung wurde erst gar nicht gefragt, also trottete er nur beleidigt hinter den Älteren die schmale Holztreppe zur oberen Etage hinauf. Der Gang, auf den sie kamen, war eng und dunkel. Von unten hörte man noch ein leises Stimmengemurmel, ansonsten war es vollkommen still. An den Türen, die zu beiden Seiten abzweigten, standen Nummern in feinen Silberlettern. Anisto führte seine Kameraden bis zur Vierzehn und schloss die Tür auf. Zu ihrer aller Überraschung war das Zimmer dahinter zwar klein, aber dennoch gemütlich. Durch ein rundliches Fenster konnte man in den dunklen Hof hinaussehen, doch jetzt zur Schlafenszeit waren die orangenen Vorhänge zugezogen und das einzige Licht im Raum ging von einer hübschen Öllampe auf dem runden Tisch in der Mitte aus, die Valora angezündet hatte.
„Lasst uns unser Gepäck hier in der Ecke abstellen“, schlug sie vor. „Seht nur, es sind genau drei Stühle und drei Betten da! Wie für uns eingerichtet.“
Anisto fuhr im Vorbeigehen mit der Hand über die kleine Kommode. Sie war staubfrei. „Ja“, meinte er zufrieden. „Ihr guter Ruf eilt den Unterkünften von Gasthof weit voraus.“
Kaum hatten sich die Kinder eingerichtet, klopfte es an der Tür. „Ihr Essen, mein Herr“, kam es höflich von draußen. Anisto nahm es dankend in Empfang und keine fünf Minuten später hatte Valora alles für ihr Abendmahl auf dem Tisch ausgebreitet und die kleine Gesellschaft begann zu speisen. Als sie alles hungrig heruntergeschlungen hatten und sich so satt fühlten, wie nie zuvor, erhob Valora feierlich ihr Glas und fragte: „Ob es wohl angemessen wäre, auf unsere neu erlangte Freiheit zu trinken?“
„Abgesehen davon, dass mein lieber Bruder eigentlich noch viel zu jung für einen Schluck von diesem köstlichen Wein ist“, meinte Anisto stolz lächelnd, „hat unser Abenteuer es verdient, denke ich.“ Die beiden Jungen nahmen ebenfalls ihre Gläser und überließen es Valora, zu sagen: „Auf unsere Freiheit!“
„Und auf unsere königliche Aufgabe!“, fügte Anisto hinzu.
„Und nicht zuletzt auch auf unsere Freundschaft“, ergänzte der Kleinste im Bunde. Darauf setzten sie die Gläser an ihre Lippen, womit sie den Abend als beendet erklärten.
Schnellstmöglich fanden sie den Weg in ihre Betten und schliefen fast auf der Stelle ein.
Am nächsten Morgen war Valora die erste, die Augen aufschlug, denn sie war das frühe Aufstehen noch von Zuhause gewohnt, wo sie ihrer Mutter vor Sonnenaufgang beim Melken der Kühe hatte helfen müssen. Zuerst wusste sie nicht, warum sie nicht dort war, aber als sie wacher wurde und ihre Gedanken klarer, fiel ihr alles wieder ein. Still blieb sie liegen und lauschte den regelmäßigen Atemzügen der beiden Jungen. Nach einer Weile stand sie leise auf, trat ans Fenster und schob die Vorhänge einen Spaltbreit zur Seite. Es war noch dunkel draußen, aber durch einen vagen Lichtschimmer am Horizont kündigte sich bereits der neue Tag an. Die ganze Stadt schien noch in tiefem Schlaf zu sein und das Mädchen lächelte in Erinnerung an ihr eigenes Dorf. Auch wenn Quellingen nichts von der Munterkeit dieses entzückenden Ortes hatte, so kam es doch morgens schneller in den gewohnt gemächlichen Gange. Sie wandte den Kopf und ihr Blick streifte Lenios Gesicht, das vom Schlaf entspannt unter der weichen Decke herausguckte. Als Valora ihn so daliegen sah, zweifelte sie daran, ob es richtig gewesen war, den kleinen Jungen mit auf ihre Reise zu nehmen. Würde er nicht schon bald Heimweh bekommen, je weiter sie sich von ihrem Zuhause entfernten? Konnte er tatsächlich tagelange Wanderungen aushalten, führten sie auch durch noch so schöne Landschaften? Der einzige Platz, an den ein sieben Jahre alter Junge ihrer Meinung nach gehörte, war das Haus seiner Eltern, mochte Anisto auch anders darüber denken.
Als sie zu dem anderen Bett sah, fand sie Anistos leuchtend grüne Augen schon weit geöffnet vor. „Du bist schon wach?“, fragte das Mädchen erstaunt.
Er nickte, setzte sich auf und antwortete: „Noch nicht lange. Woran denkst du?“
Sie überlegte, ob sie mit ihm über seinen Halbbruder sprechen sollte, entschied sich aber dagegen. Da sie den Kleinen nun einmal in ihre Gruppe aufgenommen hatten, ließ sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel daran ändern, es sei denn, sie kehrten alle nach Hause um. Und das käme für Anisto, wie sie wusste, nicht in Frage. „An unser Dorf“, erzählte sie deshalb ausweichend.
Der Junge sah sie prüfend an. „Willst du zurück?“.
„Nein“, meinte sie zu seiner großen Erleichterung entschlossen. „Als ich mich dir angeschlossen habe, tat ich das nicht nur aus einer Laune hinaus. Ich bereue es nicht.“
Anisto stand auf und gesellte sich zu ihr. Er öffnete das Fenster und kühle Morgenluft strömte erfrischend in den Raum. „Wir werden heute nach dem Frühstück weiterfahren, etwa zur gleichen Zeit wie gestern“, teilte er ihr mit. „Auch wenn wir uns nicht beeilen müssen, ist es sinnvoll, eine Art Reiserhythmus beizubehalten. Fortan wollen wir immer vom Frühstück bis zum Abendbrot unterwegs sein, uns für die Nacht irgendwo einquartieren oder die Zelte aufschlagen und nur über Mittag eine Pause einlegen.“
Valora stimmte ihn zu. „Es drängt dich, den Auftrag deines Vaters auszuführen, ist es nicht so?“, wollte sie mit einem spöttischen Unterton wissen.
„Falls du meinst, dass ich ungeduldig werde...“, begann Anisto mit gekränkter Würde, doch Valora fiel ihm ins Wort: „Genau das meine ich sehr wohl!“
Zuerst schien es, als wollte der Junge aufbrausend werden, aber schließlich lachte er leise. „Du kennst mich doch besser als mir lieb ist. Aber jetzt gehe ich runter und bestelle unser Frühstück. Magst du Brot, Rührei und Speck?“
Die Lage hatte sich wieder entspannt, doch das Mädchen amüsierte sich im Stillen noch immer über den leicht zu verletzenden Stolz ihres Kameraden. „Ist mir nur recht“, willigte sie ein. „Lass uns heute morgen jedoch unten essen. Die Raufbolde von gestern Abend sind jetzt sicher weg und du tätest Lenio einen großen Gefallen damit, glaube mir.“
Anisto warf einen Blick auf das dritte Bett und den schlafenden Jungen darin. „Ich werde mal sehen, was da unten im Moment los ist“, sagte er und verließ den Raum.
Tatsächlich war die Gästestube fast leer. Nur zwei Tische am anderen Ende des Raumes waren besetzt. Der Wirt war damit beschäftigt, Gläser abzuwaschen.
Als Anisto an den Tresen trat, fragte er: „Was soll’s heute sein, Herr - wie war noch gleich Ihr Name?“ Das gleiche Lächeln wie am Vorabend lag auf seinem dicken, rotwangigen Gesicht, aber seine Ausstrahlung war anders, als zuvor.
„Ich meine, ich hatte ihn nicht erwähnt“, antwortete Anisto misstrauisch. Auch wenn er nicht sagen konnte, was es war, gefiel ihm hier etwas ganz und gar nicht.
Der schwere Mann lachte um der plötzlichen Spannung zu entkommen. „Nun“, sagte er schulternzuckend. „Da werden Sie wohl Recht haben.“
„Dreimal Rührei mit Speck und dazu Brot, bitte“, bestellte Anisto, der es nun eilig hatte.
Der Wirt gab seinen Wunsch an einen Angestellten weiter und der Junge reichte ihm schon das Geld für Zimmer, Abendessen und Frühstück. „Sehr vielen Dank, der Herr!“, meinte der Mann und fragte nebenbei: „Wollen Sie bereits nach dem Essen aufbrechen, so in aller Frühe?“
Anisto trippelte unruhig von einem Bein auf das andere und wünschte sich plötzlich ein starkes Schwert an seinem Gürtel. Irgendetwas ging hier vor und es war nicht gut, soviel stand fest. Hoffend, der Wirt möge mit der Fragerei aufhören und ihm bloß endlich sein Essen geben, wich er aus: „Wir sind uns über unsere Abreise noch nicht im Klaren. Weder über den Zeitpunkt, noch über die Richtung, falls dies Ihre nächste Frage werden sollte!“
Damit schien der Andere sich zunächst zufriedenzugeben und leise vor sich hinsummend machte er sich wieder an seinen Abwasch. Der Angestellte brachte das Essen auf einem großen Tablett und wollte wissen, ob er es zu einem der Tische bringen solle.
„Meine Freunde und ich bevorzugen das Zimmer, danke“, verneinte Anisto und nahm das Tablett an sich. Als er sich schon umdrehen wollte, erzählte der Wirt betont beiläufig: „Mir ist heute Nacht, ich wollte schon selber zu Bett, noch so ein merkwürdiges Gerücht zu Ohren gekommen. Von so einem Reisenden aus dem Westen. Man sagt, in einem der kleinen Dörfer entlang des Reinquells seien ein paar Kinder ausgerissen. Mitten in der Nacht, ohne ein Wort des Abschieds. Der ganze Ort sei angeblich auf den Beinen, um sie zu finden. Zwei Burschen und ein Mädel, heißt es. Der Eine sei klein und rund, blauäugig und mit blondem Haar, der Andere ein Halbwüchsiger mit blasser, sommersprossiger Haut, grünen Augen und roten Locken, ein drahtiger Kerl, der Älteste von ihnen. Und das Mädel wie so ein Zigeunerkind, eben mit brauner Haut, Augen wie Bernstein und dunklem Haar, sie soll aber eine Bauerntochter sein. Sagen Sie, ist Ihnen so was über den Weg gelaufen?“
Anisto erschrak heftig, als er das hörte, und alle anderen im Raum, die plötzlich gespannt zugehört hatten, merkten dies auch. Sie suchten sie also! Damit hatte der Junge nicht gerechnet. Zu dem Wirt sagte er versucht gleichgültig: „Also, das ist mir neu. Aber so ist das ja mit den Gerüchten, gerade wenn tüchtig ausgeschenkt wird: Vieles wird falsch verstanden und manches ist auch gar nicht wahr.“ Schnell, aber langsam genug, damit es nicht auffällig hastig wirkte, eilte er die Treppe hoch. In ihrem Zimmer fand er Lenio, der inzwischen auch wach war, und Valora am Tisch sitzend vor.
„Gut, dass du kommst, ich habe schon ein riesiges Loch im Magen!“, rief der Kleinste als Begrüßung.
Valora sprang auf, als sie an Anistos Miene erkannte, dass etwas nicht in Ordnung war. „Was ist passiert?“, verlangte sie erschrocken zu wissen. „Meine Güte, du siehst aus, als sei dir ein Geist über den Weg gelaufen!“
Sofort begann Anisto hektisch ihre Sachen zusammenzuraffen. „Ein Geist war es nicht“, beruhigte er sie. „Aber schlechte Neuigkeiten allemal. Los, helft mir beim Packen! Ich erkläre es euch später. Wir reisen sofort ab!“
Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, trat das Mädchen auf ihn zu, nahm ihm die Tasche aus der Hand, die er gerade in aller Eile vollgestopft hatte, und sprach bedacht: „So wird das nichts. Was auch immer diese Nachricht ist, wir müssen erst denken, dann handeln. Jetzt werden wir frühstücken, wie geplant, und dabei erzählst du uns, was dich so aus der Fassung bringt!“ Widerwillig leistete Anisto ihrem Befehl folge und als sie fertig gegessen und seinem Bericht gelauscht hatten, ließen sie sich einen Augenblick Zeit zum Überlegen.
Der Älteste schämte sich inzwischen seines überstürzten Verhaltens und sah ein, dass er mit einer undurchdachten Flucht ihrer Reise mehr Schaden als Nutzen beigebracht hätte. „Seht“, erklärte er nun ruhiger. „Wir dürfen durch nichts auffallen. Lasst uns gleich aufbrechen, als wäre nichts passiert. Wahrscheinlich ist dem Wirt durchaus bekannt, dass wir die gesuchten Kinder sind, und er wird auch Botschaft nach Quellingen schicken, falls er es noch nicht getan hat. Doch das wird uns nicht weiter hinderlich sein, wenn wir aufpassen, dass uns in Zukunft niemand erkennt. Am besten verlassen wir die Stadt durch das östliche Tor ins Landesinnere, falls uns jemand folgen sollte. Wir verstecken uns im Gebüsch und tauschen unsere Kleider gegen die neuen aus Gasthof. So können wir uns zum Anlegeplatz schleichen und mit dem Boot rasch wieder auf den Reinquell gelangen.“
Valora lächelte angespannt. „So ist es doch schon viel besser“, lobte sie großzügig. „Du solltest nicht so oft die Kontrolle verlieren, sondern gleich denken, dann kommt auch was vernünftiges dabei heraus!“ Sie nahm es in die Hand, alle Sachen sinnvoll in ihren Tragetaschen zu verstauen und Anisto studierte währenddessen die Landkarte, die er immer bei sich hatte.
Endlich stellte er zufrieden fest: „Wenn die Strömung und das Wetter uns freundlich gesonnen sind, sollten wir es bis zum Abend nach Valir schaffen.“
„Sie suchen uns also“, murmelte Lenio traurig. „Hoffentlich nehmen es uns Vater und Mutter nicht allzu übel. Wir hätten ihnen vorher bescheid sagen können, dann hätten sie jetzt nicht solch schlimme Sorgen!“
Tröstend strich Valora ihm übers Haar und nahm ihn bei der Hand, als sie zum Aufbruch bereit waren. Anisto brachte sie sicher und ohne Zwischenfälle aus der Stadt heraus. Das Tor, das sie durchschritten lag auf der entgegengesetzten Seite von jenem, durch das sie am Vortag hereingelangt waren.
Sie gingen eine ganze Weile in diese Richtung und Lenio wollte schon Einspruch erheben, als sein Halbbruder plötzlich vom Weg abbog. Ein paar Meter schlugen sie sich durch das mannshohe Gras, das die kleine roonatische Ebene oberhalb des Reinquells und westlich der Grenzwasser zeichnete.
Endlich blieb Anisto stehen. „Jetzt sind wir zwar weiter nach Osten gekommen, als ich es gewollt hatte, aber sie sind gerade eben erst umgekehrt. Wohl um sicherzugehen, dass wir auch auf diesem Weg bleiben“, erklärte er und stellte seinen Rucksack ab. „Lasst uns hier ein paar Minuten verschnaufen, weil wir auf dem langen Weg zum Fluss kaum eine bessere Gelegenheit bekommen werden.“
Die Kinder ließen sich zwischen den dichten Gräsern nieder. Verwirrt fragte Valora: „Wir wurden verfolgt? Ich habe niemanden entdecken können, obwohl ich mehrmals zurückgesehen habe.“ Auch Lenio konnte man ansehen, dass er nichts von Verfolgern gewusst hatte. Jetzt hatte er stark mit seiner Angst zu kämpfen. Für seinen Geschmack war das viel zu viel Abenteuer und fast wünschte er sich zurück zu seiner Mutter.
„Doch,“ bestätigte Anisto. „Sie waren die ganze Zeit da. Gesehen habe ich sie auch nicht. Dazu waren sie zu geschickt. Immer eine Kurve weiter hinter uns sind sie geritten. Aber die Hufe ihrer Pferde waren gut zu hören, wenn man nur gründlich lauschte.“
Nur wenige Minuten gönnte Anisto ihnen, bevor sie auf dem selben Weg zurück zu den Stadtmauern gingen. Sie hatten sich die Kleidung aus Gasthof angezogen, was sie vor neugierigen Blicken schützte. Zu ihrem Glück waren die Sachen sehr praktisch und zum Wandern wie geschaffen geschnitten. Valoras Kleid reichte ihr nur bis knapp über die Knie, was für diese Jahreszeit zwar ein wenig zu frisch war, es ihr aber ersparte, sich ständig aus dem Unkraut loszumachen. Dies erwies sich als besondere Erleichterung, weil Anisto anstatt Gasthof zu betreten wieder vom Weg abwich und sie querfeldein weiterführte. Das war der schwerste Teil des Weges, obwohl es kein langer Marsch war. Das Gras gab ihnen genügend Deckung und es war keine Schwierigkeit, ungesehen zu bleiben, jedoch brannten ihnen bald die Finger davon, die langen Halme vor ihnen zu teilen.
Zum Schluss atmeten alle auf, als sich die Wiese lichtete und der Reinquell vor ihnen rauschte. Sie warfen sich die weiten Umhänge, die zu der gasthöfischen Tracht gehörten, über und zogen sich die Kapuzen daran tief ins Gesicht. Valora band sich als Veränderung zusätzlich die Haare hoch. So verkleidet nährten sie sich dem Anlegeplatz. Ihre Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet, denn es war kaum ein Mensch dort.
Anisto bezahlte schweigend für das Anlegen und sie stiegen eilig in ihr Boot, das ruhig auf den leichten Wellen schwankte. Erst nachdem sie um die nächste Kurve waren, die der breite Fluss beschrieb, trauten sie sich, die Umhänge abzunehmen und in ihren Taschen zu verstauen.
„Wir sollten unsere eigene Tracht besser nicht mehr anziehen“, warnte Valora unnötigerweise. Ihnen allen war klar, dass es ein nicht vertretbares Risiko war, sich als Quellinger preiszugeben. „Mehr noch“, beschloss Anisto, der das Boot kräftig vorantrieb. „Ab jetzt müssen wir alles zurücklassen: Unseren Namen, unsere Herkunft, unser Alter. Valora, du und ich geben uns ein paar Jahre dazu. Wenn jemand fragt bin ich zwanzig und du achtzehn. Das macht uns zu Erwachsenen und bringt uns mehr Glaubhaftigkeit. Wenn Kinder allein unterwegs sind, horchen alle gleich auf, soviel habe ich gelernt. Ab diesem Moment reisen wir unter dem Namen Wasserau. Wir sagen, dass du, Lenio, unser Kind bist. Unserer Kleidung entsprechend stammen wir aus Gasthof und sind auf dem Weg nach Valir, wo wir meine Schwester Mageret besuchen wollen. Alles so weit in Ordnung?“
Valora kicherte verhalten und erntete einen fragenden Blick der Jungen. „Ist schon gut“, winkte sie verlegen ab. „Die Vorstellung von einem Augenblick auf den anderen vier Jahre älter und dazu noch verheiratet zu sein, sowie ein Kind zu haben, ist nur sehr ungewohnt. Aber überlegt doch mal: Ich bin achtzehn und mein angebliches Kind sieben!“
Jetzt musste auch Anisto lachen. „Nein, das geht wirklich nicht“, räumte er ein. „Aber wer hat denn gesagt, dass Lenio sieben ist. Wir machen mal fünf daraus und geben dir noch ein Jahr dazu. So genau wird schon niemand nachfragen!“
Empört wollte der Siebenjährige widersprechen, doch ihm hörte sowieso keiner zu. Tatsächlich waren wieder alle von der Abenteuerlust gepackt worden und die Vorstellung, ihre Vergangenheit abzuschütteln und jemand anderes zu sein, belustigte sie.
Gegen Mittag kam eine stärkere Brise auf und ihr Boot schoss, einem Pfeil gleich, gen Süden.


Kapitel 6
Die schwarze Stadt
Trotz der hohen Geschwindigkeit, mit der die wilden Wassermassen sie durch das flache Wiesenland beförderten, gelangten sie erst nach Sonnenuntergang nach Valir. Lenios kleine Augen waren vor Müdigkeit zugefallen und Valora hielt ihn fürsorglich in ihren Armen. Ab und zu lief ein ängstliches Zucken, das wohl von einem Alptraum herrührte, durch seinen erschöpften Körper und das Mädchen strich ihm sanft über die roten Wangen. Sie würde die schlechten Träume schon von ihm fernhalten. „Der arme Junge“, flüsterte sie Anisto zu. Sie konnte sich nun nicht mehr länger zurückhalten. „Wir hätten ihn zu Hause lassen müssen. Es macht ihm Angst so lange weg von dort zu sein.“
Anisto runzelte nachdenklich die Stirn und fuhr fort in die Dunkelheit vor ihnen zu starren. An dieser Stelle war das Wasser tückisch, wenn man nicht gut acht gab. Es gab scharfe Felsen, die plötzlich vor dem Boot auftauchen konnten, und die einzige Möglichkeit sie zu umgehen war sie rechtzeitig zu erkennen, wenn die Wellen gegen sie schlugen. „Es macht aber auf mich den Eindruck, dass ihm die Reise gefällt“, setzte er ihrem Einwand entgegen. „Du hast ihn doch gestern gesehen! Das Bootfahren macht ihm Spaß.“ Vorsichtig lenkte er die Nussschale weiter über den Strom.
Valora senkte den Blick und gab ihrem Gefährten im Stillen recht. Doch irgendetwas erweckte noch immer Mitleid in ihr für den Kleinsten unter ihnen. „Vielleicht ist es ihm selber nicht bewusst, wie sehr er sich nach Quellingen sehnt“, vermutete sie leise.
Danach schwiegen sie für eine lange Zeit. Endlich tauchte eine Reihe von Lichtern vor ihnen auf. Die Laternen säumten den Reinquell in gleichmäßigen Abständen zu beiden Seiten. Ihr Schein durchstach die tiefschwarze Dunkelheit wie das Licht greller Blitze. Das Boot war keine hundert Meter zwischen ihnen hindurch gefahren, da kamen auch schon die ersten Umrisse der Türme von Valir in Sicht.
Valora hob den Kopf und starrte ebenso angestrengt in die Nacht wie Anisto. Die Steinbauten waren noch dunkler als der Himmel, in den sie mit gewaltiger Höhe hineinreichten. Ein plötzliches Frösteln überkam sie. Die neue Hauptstadt des Reiches Roona wurde nicht umsonst die schwarze Stadt genannt.
Bald lief das Boot in einen großen Hafen, der mit riesigen Schiffen belegt war. Mehr denn je überkam sie das Gefühl in einer zerbrechlichen, kleinen Wallnussschale über den Fluss zu schippern, als sie zwischen zwei mächtigen Kriegsschiffen, die bereits auf ihren Einsatz warteten, anlegten. Das Mädchen weckte Lenio aus seinem unruhigen Schlaf und der Junge staunte nicht schlecht über ihre neue Umgebung.
Anisto bedeutete ihnen mit einem Kopfnicken auszusteigen und sie gingen auf das eiserne Stadttor vor ihnen zu. Dabei war ihnen mehr als mulmig zumute, denn auch wenn die Türflügel geöffnet waren, besetzten mehrere bewaffnete Soldaten das Wachhäuschen an der rechten Seite.
„Die Stadt gleicht schon jetzt einer Festung“, wisperte Valora, als sie auf sie Wachmänner zutraten. „Dabei hat doch der Krieg noch gar nicht angefangen!“
Anistos Augen glänzten vor Aufregung und er antwortete mit einem ehrfürchtigen Beben in seiner Stimme: „Dies ist die Herrscherstadt des Königs. Hier begann der Krieg schon vor siebzehn Jahren!“
Einer der Soldaten bemerkte sie und legte eine Hand an den Knauf seines Schwertes. Mit der anderen winkte er sie misstrauisch heran. „Was suchen Kinder hier zu dieser späten Stunde?“, fragte er streng.
Anisto führte seine Gruppe zu ihm, hielt aber einen Sicherheitsabstand ein. „Wir sind keine Kinder“, antwortete er wie geplant, „sondern eine junge Familie namens Wasserau aus Gasthof, einer Stadt mit gutem Ruf. Ihr könnt es an unserer Tracht erkennen! Was unsere Absichten angeht, so sage ich soviel, dass mein Weib und ich auf sind, um der werten Verwandtschaft einen Besuch abzustatten. Es geht darum, unseren ersten Sohn vorzustellen. Doch unser Schiff lief mit Verspätung ein, deshalb erbitten wir in dieser fortgeschrittenen Nacht Einlass.“
Der Soldat nickte zufrieden und gestattete ihnen das Tor zu passieren. Vorher aber verlangte er Zoll und Anisto musste schweren Herzens sehen wie sein Geldbeutel immer leichter wurde. Staunend schritten sie durch die breiten, zu dieser Zeit leeren, Straßen. Sie waren gut gepflastert, sodass ein ganzes Heer darüber hinwegmarschieren könnte ohne einen Schaden zu hinterlassen, und ihr Verlauf war schnurgrade. Zum ersten Mal erlebten die Kinder die neuartige Gitternetzbauweise, nach welcher der König jetzt seine Städte errichten ließ. In jedem Quadrat zwischen den Straßen standen eintönige, hohe Bauten, die ohne Lücken aneinander gefügt waren. Die ganze Stadt folgte einem System, das es auf Effektivität, nicht auf Schönheit, anlegte. Nachdem sie beinahe eine Stunde durch das Labyrinth aus Gassen geirrt waren, fanden sie ein kleineres Gebäude mit einem Schild das besagte: Herberge.
Anisto führte sie hinein und mietete ein Zimmer für sie. Im Gegensatz zu ihrer Unterkunft in Gasthof war hier alles unfreundlich und ohne jede Heimeligkeit. Es saß kaum jemand an den wenigen Tischen im Empfangszimmer und auch auf dem schlichten Steingang zu ihrem Zimmer begegnete ihnen niemand. Der Raum selber war klein und ungemütlich kahl.
„Auf Dekoration legt man hier wohl keinen Wert“, bemerkte Anisto bedauernd.
Sie bezogen die einfachen Betten und stellten ihr Gepäck in den einzigen Schrank. Bevor er unter seine Bettdecke verschwand, urteilte Lenio missbilligend: „In Quellingen würden die mit so einem Unternehmen nicht weit kommen. Hier fehlt ein Hausherr mit gutem Geschmack!“
Valora und Anisto warteten noch bis der Kleinste eingeschlafen war, dann hielten sie Lagebesprechung.
„Nun, hier sind wir also“, meinte das Mädchen gedämpft. „Was hast du vor zu tun?“
Ihr Gefährte zuckte unwissend mit den Schultern und antwortete: „Genau kann ich es noch nicht sagen, aber irgendwie glaube ich, dass Botac hier nicht ganz unbekannt war. Ich werde mich einfach mal umhören müssen. Ganz sicher ist aber, unsere Geldreserven gehen langsam aber stetig zu neige. Bevor wir weiterziehen sollten wir sie auffüllen!“
Sie nickte zustimmend und sah nachdenklich in die schwache Flamme der Öllampe, die vor ihnen auf dem Boden stand. Dort saßen die beiden Kinder sich gegenüber, weil es in ihrem Zimmer keinen einzigen Stuhl gab, von einem vernünftigen Tisch gar nicht zu sprechen. Auch ein Fenster hatten sie hier nicht, was ihnen aber weniger schlimm erschien. Der Anblick, der sich ihnen bieten würde, wären dicke, schwarze Mauern einen halben Meter voraus. Diese gehörten zu der Schenke neben der Unterkunft und schmiegten sich eng an die Wände ihres kleinen Eckzimmers. Seit sie die dunkle Stadt betreten hatten, kam Valora nicht über das ungute Gefühl hinweg, zwischen undurchdringlichem Mauerwerk zu wandeln, das sich bei jedem Schritt näher zusammenschloss. Die Straßen wurden zwar von einer beklemmenden Leere beherrscht und schienen verlassen, und doch glaubte sie sich von hinterlistigen, allgegenwärtigen Augen beobachtet.
Anistos Gedanken verloren sich währenddessen ganz wo anders. Angestrengt suchte er nach einem Anhaltspunkt dafür, dass das Mädchen ihn auch weiterhin begleiten würde. Hatte sie je etwas über ihre Absichten gesagt? Da fiel ihm ein, was sie gemeint hatte, als sie zu dieser Reise aufgebrochen waren. Ihren Wissensdurst wolle sie stillen, so waren ihre Worte gewesen, und in die Städte der Ahnen werde sie dieses Verlangen treiben. Schmerzlich wurde ihm bewusst, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Auch wenn Valir eine junge Stadt war, so gab es hier doch die ältesten Bibliotheken und die größten Gelehrten der Neuzeit. Falls es irgendwo einen Ort gäbe, an dem sie als Mädchen Gerechtigkeit und Wissen finden könnte, so war es am Hofe des Königs.
„Du kommst nicht mehr mit, nicht wahr?“, erriet er mit tonloser Stimme.
Valora senkte den Kopf. Alles in ihr sträubte sich gegen diese Stadt, deren kahle Mauern sich um sie schließen wollten wie ein Gefängnis, aber gleichzeitig spürte sie, dass sie hier glücklich werden konnte. In Valir würde sie niemand zwingen ihr ganzes Leben in einer Küche zu verbringen und, wie es sich auf dem Lande für eine Frau gehörte, ihr einziges Interesse der Erziehung ihrer Kinder gelten zu lassen. Also gab sie leise zu: „Du hast recht. Ich werde euch nicht weiter begleiten. Dies ist deine Aufgabe, Anisto, nicht meine. Ich werde mich um einen Studienplatz an der königlichen Hofschule bewerben.“
Der Junge schluckte hart. Ohne das Mädchen, das von klein auf seine beste Freundin gewesen war, diese Stadt zu verlassen warf einen dunklen Schatten auf sein Abenteuer und es erschien ihm zum ersten Mal mehr eine Last als eine Vergnügungsfahrt. „Wann?“, wollte er widerstrebend wissend.
„Morgen früh. Warum sollten wir den Abschied unnötig lange hinauszögern?“ Valora fühlte sich plötzlich sehr müde. Es war ihr zuwider Anisto ihretwegen traurig zu sehen und sie wollte durch nichts von ihrer Entscheidung abgebracht werden.
Still erklärten beide die Unterhaltung für beendet und legten sich schlafen.
Als Anisto am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war das Mädchen verschwunden. Nichtsdestotrotz musste er nach vorne blicken. Valora ging eben ihren Weg, genau wie er den seinen.
Sein Bruder und er nahmen ein karges Frühstück ein und beschlossen solange in der Unterkunft zu leben, bis sie eine neue Spur von dem mysteriösen Botac gefunden hatten, der sie folgen konnten. Außerdem wollten sie arbeiten, um es sich weiterhin leisten zu können, ein Dach über dem Kopf zu haben.
Lenio fand eine Stelle als Laufbursche für ein reiches Handelsunternehmen. Die Bezahlung war schlecht und die Tätigkeit selber anstrengend, aber es boten sich ihm viele Möglichkeiten nach Botac zu fragen.
Anisto ließ sich währenddessen am Marktplatz nieder und schnitzte Pfeile und Bögen aus Holz, das er billig von einem benachbarten Stand aufkaufen konnte. Das Geschäft lief erstaunlich gut und nicht selten war einer seiner Kunden vom Waffenmeister des Königs geschickt worden, sodass er ab und zu Gelegenheit hatte neues über den Krieg zu erfahren, der seinen Gesprächspartnern zufolge nicht mehr fern war. Von einem gewissen Botac wollte allerdings noch niemand gehört haben.
Auch tagsüber war Valir still und trostlos wie eine Stadt der Toten. Die Bevölkerung ging schweigsam und heimlich ihren Geschäften nach, niemand stellte Fragen, niemand gab Antworten. Der Verkehr auf den breiten Straßen verlief geregelt und ohne die in größeren Städten üblichen Staus und Streitigkeiten. Eine Kälte lastete auf ihnen, als hielte die unbezwingbare Stadtmauer den Frühling mit allen Kräften fern von diesem Ort, und das dunkle Schloss des Königs wachte für jeden sichtbar über der ganzen Stadt. Sein einziger Zweck war es eine uneinnehmbare Festung gegenüber seinen Feinden zu bilden und dies erfüllte es zweifellos. Doch Schönheit war dem schwarzen Gemäuer fremd, wie es mit seinen hohen, spitzen Türmen in den Himmel stach und in den tiefen Wolken, die aufgezogen waren, versank.

Vier Tage waren seit der Ankunft der Kinder aus Quellingen vergangen, als Maritiim zum ersten Mal von ihnen hörte. Er saß zusammen mit den anderen Soldaten der königlichen Reitermeute um die Tafel im Speisesaal des Schlosses und beendete seine Mittagsmahlzeit. Es war ein Privileg hier zu speisen und manchmal aßen sie sogar in Gesellschaft des Königs, aber der junge Mann legte nicht sehr viel Wert darauf. Sie alle waren in seinen Augen wie Hunde, die sich um die Essensreste ihres Herren rissen, und wenn auch manch einer von seinen Mitstreitern zu verblendet von dem Gold und Silber der königlichen Gemächer war, so gehörte er gewiss nicht dazu.
Während er sich mit seinem Tischnachbarn unterhielt, sah er sich im Saal um. Ihr Gebieter ließ sich heute nicht blicken und auch Rigon fehlte an der Tafel. Nachdem sie von der Härteprüfung zurückgekehrt waren, hatte dieser wie erwartet das Kommando über die Meute übertragen bekommen. Seitdem klebte er nur zu an den Fersen des Königs und bemühte sich jeden Wunsch von dessen Augen abzulesen. Maritiim beobachtete dieses Verhalten mit Bedauern, weil es drauf und dran war ihn seinen besten Freund zu kosten. Ihm stellte sich die unverdrängbare Frage, wen Rigon für seinen Herren alles ans Kreuz liefern würde.
Doch das war jetzt nicht wichtig. Seine größten Sorgen galten dem Krieg, der in diesen Tagen das einzige Thema bei seinen Männern war. Diese wurden getrieben von der Rachlust, die König Elirius säte und die das ganze Volk ergriffen hatte.
Maritiim kümmerte sie nur wenig. Er war ein nüchtern denkender Mensch, der sich, konnte er auch beizeiten eine gewisse Ungedult nicht volständig aus seinem Herzen verbannen, nicht von anderen zu unnützen, blindwütigen Handlungen hinreißen ließ. Und auch den Krieg sah er nicht nur in seinen schrillernsten Farben. Trotzdem war es seine Pflicht, sich über ihn Gedanken zu machen, ob es ihm nun gefiel oder nicht, denn wider aller Erwarten war ihm der Rang des zweiten Kommandanten zugewiesen worden. Begeistert war er davon nicht gewesen. Es riss ihn schließlich weiter in das Geschehen hinein, als er es zuvor geplant hatte, aber nun gab es kein Zurück. Es war nicht seine Aufgabe, sich den Kopf über die Gerechtigkeit dieser Schlachten zu zerbrechen oder sich zu fragen, wie viele Leben sie unnötig fordern würden. Das musste schon der König selber tun. Auch Rigon hatte ihn immer wieder daran erinnern müssen.
Dieser schritt in eben diesem Moment an der Seite von König Elirius durch die geöffneten Flügeltüren. Der Herrscher sah von den Stufen, die in den Speisesaal hinabführten gebieterisch über seine Leute hinweg, welche sofort schwiegen und unterwürfig den Kopf senkten. Nur Maritiim wagte es die strengen Blicke des älteren Mannes einen Sekundenbruchteil lang zu erwidern. Dessen schwarze Augen bohrten sich kalt in die des Soldaten und zwangen ihn zu Boden zu sehen.
Stolz stand Rigon neben seinem Herren und das Kommandantenabzeichen schimmerte hell auf seiner Brust, als ein Sonnenstrahl die Wolkendecke durchbrach und durch die schrägen Fenster in den Saal fiel. Der König fasste jeden an den langen Tischen durchdringend ins Auge und niemand traute sich auch nur zu laut zu atmen. Er strahlte eine Kraft aus, die allgegenwärtig war, und überall, wohin sein Auge reichte, war seine Erhabenheit zu spüren. Auf seinem von grausträhnigen schwarzen Haaren bedeckten Haupt ruhte die alte Königskrone von Roona. Sie war aus dem härtesten Stahl, das es in der bekannten Welt zu finden gab, und ihr Schmuck waren reiche Edelsteine aus dem Sonnengebirge, die kostbarsten ihrer Art.
Nun drehte sich der Monarch um, wobei sein makelloser purpurner Umhang wehte, und schritt davon ohne auch nur ein Wort an seine Untergebenen zu verlieren. Die Luft schien in den Raum zurückzukehren und ein Murmeln breitete sich aus.
Nur Maritiim schwieg beharrlich. In dem winzigen Augenblick, als sich seine Blicke mit denen Elirius’ gekreuzt hatten, hatte dieser direkt hinter seine Fassaden gesehen. Was war ihm dort begegnet? Misstrauen? Kritik? Selbst Maritiim konnte es nicht eindeutig sagen.
Immer noch wartete Rigon darauf, dass wieder Ruhe in die Versammlung kehrte. Als schließlich keiner mehr sprach, erläuterte er kurz, was der König ihm befohlen hatte: „Es gibt Gerüchte über Fremde, die sich in der Stadt befinden und für Unruhen sorgen. Wenn unser Herr dies alles richtig deutet, tragen sie einen sehr gefährlichen Brief bei sich. Dieser gäbe dem Feind Wissen, das unseren Sieg gefährden könnte, gelänge er in seine Hände. Unsere dringendste Aufgabe ist es nun, die Botschaft ihren Überbringern zu entwenden und dem König zu übergeben. Die Angelegenheit ist äußerst kritisch. Es sollen Fragen über einen gewissen Botac gestellt worden sein!“
Ein Raunen ging durch den Saal. Maritiim kniff die Augen zusammen und überlegte scharf. Natürlich wusste er wer Botac war! Und ihm war auch bekannt in welche Richtung es die Fremden ziehen würde, sollten sie mehr über dessen Abreise aus der Stadt erfahren. Rigons grüne Augen sprühten vor Stolz und Feuer, als er laut ausrief: „Wir kämpfen für Roona! Der Gebieter mahnt uns, dies niemals zu vergessen, egal was unsere Augen sehen und unsere Ohren hören mögen. Denn alles unter dieser Sonne ist geringer und vergänglicher als unsere Liebe und unsere Treue gegenüber der Heimat, dem edlen König und seiner unsterblichen Königin!“

Es war schon spät abends an ihrem siebten Tag in Valir. Anisto kauerte müde am Boden des Marktplatzes. Um sich herum hatte er seine Waffen aufgebaut. Das Geschäft war auch heute noch gut verlaufen, da in Zeiten wie diesen ständige Nachfrage bestand. Die Sonne war dabei hinter dem fernen Horizont zu versinken, so vermutete der Junge zumindest. Diese Stadt schien von ewiger Dunkelheit umgeben und das einzige, was mit Augen zu erkennen war, war ein blutroter Streifen, der über den schwarzen Häusern schwebte und langsam verblasste.
Anisto fuhr sich durch das staubige Gesicht. Er fühlte sich seltsam erschöpft und ausgezehrt. Am anderen Ende des Platzes stand ein hoher Kirchturm und seine tiefen, traurigen Glocken schlugen zur neunzehnten Stunde. Ihr Klang hallte in Anistos Kopf wider und sangen ihn in einen dösigen Halbschlaf.
„Wach auf, bitte!“, flüsterte es da auf einmal am Rande seines Bewusstseins und er schlug die Augen einen Spaltbreit auf. Vor ihm stand sein kleiner Halbbruder und sah ihn besorgt an. Der Ältere merkte wie die Beine des Anderen vor Schwäche zitterten, weil sie erneut einen langen Tag ihren Besitzer über die weiten Straßen von Valir getragen hatten.
Lenio ließ kraftlos sich neben Anisto zu Boden sinken und lehnte den Kopf, der ihm von der Finsternis schwer geworden war, gegen dessen Schulter. „Noch einen Tag schaffe ich nicht“, eröffnete er müde und Anisto nickte wie in Trance. „Ich weiß, wir haben immer noch nicht die leiseste Ahnung, wohin Botac gegangen sein könnte, aber diese verteufelte Stadt macht mich krank.“
Beide Jungen fragten sich voller Verwunderung wie die vielen Bewohner Valirs es hier aushalten konnten. Sie jedenfalls, die sie das freundliche Quellingen gewohnt waren, sehnten sich nur noch weit weg von alledem. Doch auch in diesem Moment fiel der Schatten des Königspalastes drohend auf sie und nahm ihnen jede Lebenskraft.
Anisto versuchte sich mühsam aufzuraffen, schaffte es aber erst beim zweiten Anlauf, weil seine Gelenke vom stundenlangen Sitzen zu steif waren. „Morgen brechen wir wieder auf, und wenn wir die Richtung unseres Weges erraten müssen!“, versprach er aus vollem Herzen und packte seine restliche Wahre ein.
Lenio half ihm dabei und beide kehrten Seite an Seite zu ihrer Unterkunft zurück. Nach dem fünften Tag waren sie einmal umgezogen, um noch mehr Kosten einzusparen. Das neue Quartier lag in einem größeren Gebäude, war aber bei weitem winziger. Viele Menschen wohnten in der Herberge, sodass es dort immer lebhaft zuging. Den Jungen war dies nur recht, denn es bot eine willkommene Abwechslung zu der Stille ihrer ersten Bleibe.
Anisto kündigte für den nächsten Tag ihr Zimmer und brachte seinen müden Bruder zu Bett. Dort gab er ihm nach kurzem Zögern einen flüchtigen Gutenachtkuss. Seit Valora sie verlassen hatte, fehlte in ihrer Gemeinschaft etwas. Es war das Herz ihrer Reise, das mit ihr gegangen war. Denn er konnte zwar Lenio gegenüber die Rolle eines Vaters neben der des Bruders einnehmen, doch eine Mutter vermochte er beim besten Willen nicht zu ersetzen. Er war nicht in der Lage Liebe und Zuversicht zu vermitteln, so wie es seine Mutter immer getan hatte. Valora hatte dies dagegen als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Jetzt merkte er plötzlich, wie sehr sie ihm doch fehlte. Bevor er sich schlafen legte, entrollte er seine Landkarte und betrachtete die Wege, die aus der schwarzen Stadt führten, eine lange Zeit. Jeder einzelne war ihm willkommen, aber entscheiden konnte er sich dennoch nicht. Sein letzter Gedanke war, ob dies das frühe Ende seiner Reise wäre. Darauf übermannte ihn ein unruhiger Schlaf.
Darin war ihm, als höre er die Stimme seines Vaters aus weiter Ferne rufen. Seine Worte konnte er jedoch nicht verstehen. Er befand sich auf einem großen Schiff und segelte durch einen dichten Nebel. Die scharfe Gischt des Meeres peitschte wild in sein Gesicht und brannte wie Feuer auf seiner geschundenen Haut. Er fühlte sich wie jemand, der sehr weit gelaufen war, sein Ziel aber noch nicht kannte. Plötzlich formte sich die weiße Suppe vor ihm zu einem verschwommenen Bild Quellingens. Überrascht und voller Freude sah er die Wiese am Bach und seinen alten Baum. Die Sonne schien ungetrübt und Kinder spielten unter ihr. Ihr helles Lachen drang durch die wellige Oberfläche, die sie von dem Jungen trennte, doch als dieser sehnsüchtig die Hand danach ausstreckte, verwandelte sich das Bildnis wieder zurück in undurchdringlichen Nebel. Und weiter fuhr das Schiff, getrieben von einer unsichtbaren Hand, und Anisto wusste, dass er nicht mehr umkehren konnte. Vergangenes, alles was ihm vertraut war, blieb für immer hinter ihm zurück und vor ihm lagen nur dichte Nebelschwaden, die nicht weichen wollten. Noch nicht...
Da schlug der Junge die Augen auf. Es war bereits Morgen, auch wenn ihm die Nacht viel zu kurz erschienen war. Zu gerne wäre er weitergefahren, um einen Blick in die Zukunft zu werfen, aber dies war unmöglich gewesen. Einerseits war ihm gewesen, als schlüge der Wind und das Wasser tatsächlich gegen sein Gesicht, andererseits war ihm auch schmerzlich bewusst, dass er nichts weiter gesehen hatte als ein Spiegel seiner Ängste und Wünsche. Denn nie zuvor hatte er den Klang seines Vaters Stimme vernommen und nie würde er es tun können.
Als er sich ganz vom seinem Traum gelöst hatte, hörte er Lenio bereits im Zimmer auf und ab eilen. Überrascht setzte er sich auf. Der Jüngere verstaute ihre Sachen und es schien, als sei er schon seit längerem auf den Beinen.
Er bemerkte seinen Bruder und blieb mitten im Raum stehen. „Ich konnte unserem Aufbruch einfach nicht abwarten“, erzählte er lächelnd und hob bestätigend die Tasche in seiner Hand.
Auch Anisto lachte und der Laut schien ihm sowohl fremd als auch wohltuend. Munter sprang er aus dem Bett und half dem Kleineren. Ihn zog es ebenso sehr raus aus der Hauptstadt und sein Traum hatte ihm, so seltsam er auch gewesen war, neue Kraft gegeben.
Innerhalb weniger Minuten waren sie abreisefertig und eilten aus dem Haus auf die Straße, die am hellen Morgen gar nicht mehr ganz so düster aussah. Anisto brach einen Brotlaib und gab jedem von ihnen eine Hälfte, die sie auf dem Weg essen wollten. „Immerhin hat sich der Aufenthalt hier in einer Hinsicht gelohnt“, stellte er zufrieden fest. „Wir haben so viele Vorräte gesammelt, wie wir nur tragen können, und mein Geldbeutel ist schwerer als je zuvor!“
Lenio hüpfte froh neben ihm her und fragte: „Und in welche Richtung gehen wir, wo wir doch gar nicht wissen, wohin wir wollen?“
Die Straße, die sie eingeschlagen hatten, führte sie an eine breite Kreuzung in der Mitte der Stadt. Von dort aus konnte man Valir in alle Himmelsrichtungen verlassen und musste nur dem schnurgeraden Verlauf des Weges folgen.
Anisto zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Aus dem Norden kommen wir. Osten, Süden oder Westen, was beliebt dir am meisten?“
Daraufhin schlugen die Jungen den Weg gen Westen ein. Dieser kam ihnen als der einfachste vor, weil er hinter einem leicht begehbaren Wäldchen nur durch flaches Wiesenland führte. Die südliche roonatische Ebene war die Bezeichnung für dieses Gebiet und das saftige Gras, das auf dem fruchtbaren Boden dort wuchs, war kurz und besonders für Pferdehufe gut geeignet.
„Gestern habe ich unser Boot verkauft“, berichtete Anisto und es war ihm ein wenig traurig zumute, da ihm seine treue Nussschale sehr lieb geworden war. „Für das Geld können wir uns Ponys kaufen. So werden wir schneller vorankommen.“
Lenio jubelte vor Glück. „Echte Ponys!“, rief er aus. „Ich wollte schon immer eines haben!“ Anisto lachte über den Freudentanz des Jungen und er konnte ihn voll und ganz verstehen. In Quellingen hatten sie nie reiten dürfen, doch immer wenn sie zu Besuch bei seinem Großvater gewesen waren, hatte der Alte sie auf seine Zugpferde gelassen.
„Das Geld könnt ihr euch gern sparen! Denn ihr rennt genau in die falsche Richtung!“, kam es von Hinten. Die Jungen erstarrten. Ungläubig drehte sich Anisto um.
Dort stand, mitten auf der Straße, Valora und ihr breites Grinsen schien von einem Ohr zum anderen zu reichen. Nie würde er ihr Bild vergessen, so wie er es in diesem Augenblick sah. Die langen dunkelbraunen Haare flatterten ihr im Wind um die Hüften, in die sie ihre Arme gestemmt hatte. Auf dem Rücken trug sie eine Tasche und ihre bernsteinen Augen blitzten im Sonnenlicht, das jäh auf die Straße fiel. Einen leichten Anflug von Genugtuung konnte sie beim besten Willen nicht von ihrem strahlendem Gesicht vertreiben, als sie feststellte, wie sehr ihr die Überraschung gelungen war.
Lenio fasste sich als erstes wieder und rannte ihr jubelnd in die Arme.
„Du kommst doch mit?“, fragte Anisto stammelnd.
Daraufhin meinte sie: „Ja, denn wenn ich noch eine einzige Stunde in dieser schrecklichen Stadt verbringen muss, bringt sie mich um, das kann ich euch sagen!“
Fröhlich lachte sie über Anistos verwirrtes Gesicht und Lenio, der an ihrer Hand hing, fiel in ihr Gelächter ein. „Willst du denn nicht herkommen, Anisto?“, forderte sie ihn munter auf. „Hier geht es lang!“
Endlich ging er auf sie zu und alle drei marschierten sie los in den Osten. „Woher weißt du den Weg?“, wollte der Junge wissen. Er war von Herzen froh, sie wieder bei sich zu haben.
Da berichtete sie von den Erlebnissen, die sie seit ihrer Trennung gehabt hatte. Ihre Schilderungen begannen bei ihrem Vorsprechen an der Hofschule, das sie mit Erfolg gemeistert hatte, und fuhren damit fort, dass sie Tage danach mit einem jungen Pagen zusammengestoßen war, der sich schon länger am Hofe aufhielt. „Wir sprachen über dieses und jenes“, erzählte Valora vergnügt und ihre Zuhörer hingen ihr nur zu an den Lippen, „und auch über Botac. Das Thema schien ihm verboten zu sein, aber mein neuer Freund schien es darauf angelegt zu haben mir schöne Augen zu machen, sodass er ohne zu denken einfach weiterplauderte. Leider wusste er nicht viel. Eigentlich erfuhr ich nur, dass der Mann vor zwölf Tagen abgereist war und den Weg durch den Großen Wald eingeschlagen hatte.“
Da wurde es Anisto ein wenig düsterer ums Herz, denn eben diese Richtung hatte er meiden wollen. Seufzend sagte er voraus: „Dann wird es auch für uns eine schwere Reise. Der Wald ist dicht, nicht ganz so schlimm wie der südlich der Stadt, aber auch seine Wege sind weit verzweigt und enden oft in Sackgassen. Und die Ponys können wir dort ebenfalls nicht gebrauchen, weil es, wie ich gehört habe, immer wieder Stellen gibt, die nur zu Fuß zu bewerkstelligen sind.“
Lenio machte ein enttäuschtes Gesicht. Aber mehr als alles andere freute er sich wieder bei Valora zu sein. Sie war ihm noch lieber als alle Pferde dieser Welt.
Endlich erreichten sie das östliche Stadttor und kehrten der Valir erleichtert den Rücken. Der Weg, dem sie noch auf freiem Feld folgten, war breit und wand sich in leichten Biegungen um vereinzelte Bäume herum. Die Morgensonne erhob sich strahlend vor ihnen und tauchte den nahen Waldrand in ein freundliches Licht. Ihre zarte Wärme drang auch tief in die Gemüter der drei Kinder und erweckte die Lebensgeister in ihnen.
Gemeinsam entflohen sie den schwarzen Schatten der Königsstadt und marschierten munter einer neuen Etappe ihrer Reise entgegen.

Kapitel 7
Ungebetene Gäste
Bald schon hatten die drei Kinder die grasbewachsene Ebene vor Valir überquert. Vor ihnen erhob sich jetzt groß und mächtig der bedeutendste Wald des Königreiches. In undurchdringlichen Reihen standen dickstämmige Eichen links und rechts vom Weg. Dieser wand sich nun uneben unter dem dichten Blätterdach hindurch und verschwand schon nach einigen Metern um eine Biegung.
Anisto ließ sie halten und blickte ehrfürchtig die Bäumen empor.
Valora trat näher an einen der Riesen heran und legte eine ihrer zarten, braunen Hände auf seine grobe Rinde. „Ihr Alter überwältigt mich“, meinte sie staunend. „Jedes einzelne dieser Gewächse lebt hier schon länger als die Königsgeschichte von Roona zurückreicht!“
Ihr Führer nickte und fühlte sich merkwürdig beklommen, als er dem leisen Rascheln der Baumkronen lauschte. Eine Weile standen sie nur so da und sinnten über die vergangenen Zeiten nach, von denen der Wald sang, doch niemand verstand die klagenden Worte, sodass Anisto endlich beschloss: „Lasst uns hier zu Mittag essen. Frühstück haben wir nur wenig gehabt und außerdem scheint es mir hier im Schatten des Waldes ein geeigneter Ort für eine kurze Rast zu sein.“
Valora breitete auf dem weichen Boden unter der Bäume Wurzeln eine ihrer Decken aus, auf der sie sich ausstreckten. Aus der Stadt hatten sie einige sehr nahrhafte Brote und ein herzhaftes Stück Wurst mitgebracht, über das sie sich jetzt hermachten. Auch wenn sie sowohl Kochgeräte als auch Pfeil und Bogen dabei hatten, warnte sie Anisto davor, jagen zu gehen.
„Alle Geschöpfe hier stehen unter dem Schutz des Waldes. Man lehrte uns daheim, niemals seinen Zorn herauszufordern, sollte man unbeschädigt hindurchgelangen wollen“, war seine Begründung.
Doch das war auch gar nicht notwendig, denn ihr Proviant sollte ausreichen, damit sie sich das ganze Stück Weg durch den Wald ernähren konnten, vorausgesetzt, sie beeilten sich.
Obwohl sie eigentlich geplant hatten zeitig weiterzumarschieren, ließen sie sich noch beinahe eine Stunde lang von der sanften Sonne verwöhnen.
„Ich schlage vor, dass wir im Wald nur rasten, wenn es unbedingt erforderlich ist“, äußerte sich Valora gähnend. Die warmen Stahlen machten sie schläfrig und ihr ging es nicht als einzige so. Auch Anisto döste vor sich hin, als er fragte: „Traust du diesem Ort noch nicht?“ Er für seinen Teil fühlte sich im Wald wohler als in einer Stadt wie Valir, selbst wenn er lieber über die Ebene von Roona gegangen wäre.
Valora setzte sich auf und warf den Schatten unter den hohen Bäumen misstrauische Blicke zu. „Es geht mir nicht um den Wald selber“, erklärte sie nach Worten suchend. „Mehr fürchte ich das Volk, das darin wohnt. In Quellingen betrachtet man es mit Argwohn.“
„Wie so vieles“, konterte Anisto und stand ebenfalls auf. Sie packten ihre Sachen wieder gut ein, was langsam zur Routine geworden war.
Die Kinder konnten nach den zehn Tagen, die ihre Reise nun schon andauerte, bereits stolz von sich sagen, mit dem Umherziehen vertrauter zu sein als mancher andere.
Die Sonne war schon weiter fortgeschritten als es Anisto lieb war und deshalb trieb er die Reisegemeinschaft eilig durch den Wald. Dieser stand schon bald dicht genug, um der Nachmittagssonne den Weg durch sein vielfältiges Blätterdach zu verwehren. Nur vereinzelte Strahlen fielen auf die schmale Straße vor ihnen. Doch für die drei Kinder genügte es vollkommen. Nach fast zwei Stunden begann sich Lenio aber zu fragen, was genau das Ziel war, das sie erstrebten. Anisto hatte keinerlei Städte genannt und abgesehen davon kamen sie auch an nicht einer Siedlung vorbei, und sei sie noch so klein. Hier schien alles verlassen und die Zeit stand nahezu still. Der Kleinste der Gemeinschaft fühlte sich erneut erschöpft und seine kurzen Beine drohten bei dem raschen Tempo nachzugeben.
Unter anderen Umständen hätte Valora ihn vielleicht an der Hand genommen und weitergeschleppt, doch trottete das Mädchen jetzt selber nur mühselig vor sich hin. Sehr bald schon ging sie an dritter Stelle und sah Lenio Meter vor ihr, seinem großen Bruder auf den Fersen. Ihre Schritte wurden immer schwerer und als die Freunde bereits hinter einer Wegbiegung verschwunden waren, gaben ihre zitternden Knie endgültig nach. Ihr ganzer Körper begann zu zucken und ihr Atem ging nur noch stoßweise. Aber das alles waren nur nebensächliche Leiden, verglichen mit dem pochenden Schmerz in ihrem Kopf, der sie wieder befallen hatte. Vor Qual wimmernd lehnte sie sich vor bis sie mit ihrer Stirn den kühlen Erdboden berührte.
Endlich merkten die Jungen, dass sie ihre Gefährtin verloren hatten, und machten erschrocken kehrt. Zum Glück fanden sie das arme Mädchen schnell. Anisto hob sie vom Weg auf und fragte bestürzt: „Was fehlt dir denn? Wie können wir dir helfen?“
Valora schlang schwach ihre dünnen Ärmchen um seinen Hals und er trug sie zu einer kleinen Lichtung, an der sie ein paar Minuten zuvor vorbeigekommen waren. Dort legte er sie vorsichtig ins weiche Gras und schob seine Tasche als Kissen unter ihren Kopf. Die niedrige Sonne schien durch das Loch in den Baumkronen und Valora presste blind vor Schmerz die Hände vor ihr bleiches Gesicht. „Das Licht, so viel Licht!“, rief sie stöhnend.
In Windeseile errichteten die zwei Jungen ihr Zelt auf der Lichtung und brachten die Kranke hinein. Anisto legte noch eine dünne Decke zusätzlich über die Plane ihrer Unterkunft, um so die Sonnenstrahlen so gut wie möglich abzuschirmen.
Sofort beruhigte sich Valora und der Schmerz in ihrem Kopf wich. Nun wurde sie von einer großen Müdigkeit ergriffen. „Das war nun der zweite Anfall“, stellte sie noch fest. „Der erste suchte mich in der Nacht vor unserer Abreise in Quellingen heim. Doch war er nicht so heftig.“ Diese Worte hatten kaum ihre Lippen verlassen, da fiel sich auch schon in einen tiefen, dunklen Schlaf. Fassungslos starrten sich die beiden anderen an.
Anisto bedeutete dem Jüngeren ihm nach draußen zu folgen. „Nie habe ich von einer solchen Krankheit gehört“, entfuhr es ihm, als sie sich weit genug vom Langer entfernt hatten, um das geschwächte Mädchen nicht versehentlich aufzuwecken.
Lenio stimmte seinem Bruder leise zu. Keiner der beiden wusste, was nun zu tun war. Aber fürs Erste konnten sie gar nicht mehr unternehmen als abzuwarten und zu hoffen, dass sich alles mit einer Portion gesundem Schlaf von alleine lösen würde.
„Dazu bringt dieser Zwischenfall das Unglück mit sich, dass wir hier eine weitere Rast einlegen müssen“, nahm Anisto besorgt zur Kenntnis. Lenio kümmerte das eher weniger. Aber der Ältere fügte bekümmert hinzu: „Unsere Vorräte sind nun zu schwach, damit sie uns bis Vosra nähren. Viel zu lange wird die Reise zur Walda dauern und wenn wir diesen Fluss überquert haben, wird uns immer noch mindestens ein Tagesmarsch von dem Dorf trennen.“
„Dann suchen wir einige Beeren!“, schlug Lenio daraufhin vor und deutete auf das fruchtbare Land um ihnen. „Ich habe so viele gesehen, dass wir Monate davon leben könnten!“
Das konnte der Andere nicht leugnen. Und doch hielt ihn etwas davor zurück den Frieden des Waldes zu brechen und seine Früchte unerlaubt zu ernten. Letzten Endes entschloss er sich aber doch dafür, weil ihnen wohl kaum etwas anderes übrig blieb.
Das Umland war ruhig und nichts regte sich, so gründlich er sich auch umsah. Also verließ er zusammen mit Lenio ihr Lager und schlug sich mitten in den großen Wald hinein. Die Büsche, von denen der kleine Junge gesprochen hatte, waren nicht schwer zu finden. In sattem Grün umgaben sie die Ehrfurcht erregenden Bäume und die Früchte, die, mal rot oder gelb, mal blau oder lila, an ihnen hingen und die langen Zweige zum Erdboden zogen, waren allesamt essbar und wohlschmeckend. Die Jungen sprangen so von Busch zu Busch und entfernten sich allmählich immer weiter von der Lichtung, auf der Valora noch immer seelenruhig schlief. Und auch die Zeit entrann ihnen unbemerkt, denn die Sonne, ein feuerroter Ball über den Gipfeln des Waldes, versank nur schleichend hinter dem Horizont. Langsam aber stetig hüllte sich das geheimnisvolle Baumreich in eine dämmrige Dunkelheit und wäre der helle Mond nicht gewesen, hätten die Kinder nur schwer einen Weg zurück gefunden.
Doch Anisto führte sich und seinen Bruder sicher wieder zum Lager, wenn sie auch über die eine oder andere Wurzel fielen und ihre Knie einige Schrammen davontrugen. Ihre Taschen waren prall gefüllt mit dem besten, was der Wald hergab, und die Nahrungsmittelsorgen verblassten wie die Landschaft, die sie gespenstisch still umgab.
„Siehst du!“, rief Anisto mit gedämpfter Stimme. „Hier sind wir wieder! Bin ich froh, dass wir nicht vom Blitz getroffen wurden oder so was. Ehrlich gesagt war mir bei der Sache nicht ganz wohl.“
Lenio wusste genau, was er meinte. Auch er hatte sich gefühlt wie ein Dieb, der sich ungehindert bedient und alles findet, das er sich erträumt hatte, und doch jeden Moment damit rechnen musste erwischt zu werden.
Als aber die Jungen durch das Gebüsch brachen und auf der Lichtung zum Halten kamen, stockte beiden der Atem: Das Zelt war unachtsam zu Boden gerissen und ihr Gepäck hastig durchwühlt worden!
„Was hat das zu bedeuten?“, fragte der Kleinere erschüttert.
Doch Anisto legte nur den Zeigefinger auf die Lippen und schlich vom Grauen ergriffen zu ihrer Raststätte. Dort, unter der Zeltplane liegend, fanden sie Valora. Ihr Kopf lugte unter dem Stoff hervor und nur ihr zarter Körper war von ihm bedeckt worden. Noch immer schlief sie tief und fest.
Lenio stürzte sich erleichtert auf sie und vergewisserte sich, dass sie in Ordnung war.
Anisto suchte leise die ganze Lichtung ab und wagte sich sogar noch einmal unter die im leichten Wind raschelnden Bäume. Doch als er zurückkam, hatte er von den Dieben keine Spur mehr gefunden. Das Mädchen war wach, lag aber noch immer auf den Decken, weil sie zu schwach war um aufzustehen. Der ältere Junge fuhr sich wütend durch die roten Locken und schimpfte: „Es ist doch nicht zu glauben! Da nehmen wir dem Wald seine Früchte und werden dabei heimlich selbst bestohlen! Und du hast sicher nichts bemerkt?“ Ungläubig sah er Valora an, doch die schüttelte nur matt den Kopf. Ihre sonst so braune Haut schien leichenblass.
„Ich fühle mich so unendlich müde, Anisto!“, klagte sie kaum hörbar. „Eine Elefantenherde hätte hier wüten können, sie wäre mir nicht aufgefallen.“ In ihrem Gesicht stand geschrieben, wie leid es ihr tat, aber ihre Gefährten erkannten darin auch die Schwäche, die sie fest ergriffen hatte.
Nun kam der kleine Lenio, sich schon die ganze Zeit vergeblich bemerkbar machend, endlich zum Wort: „Aber schaut doch! Es wurde gar nichts gestohlen. Zwar ist alles ein wenig durcheinander, aber fehlen tut nichts. Die Vorräte sind noch da, wo sie sein sollten, und selbst das Zelt ist in einem Stück geblieben!“
Da merkten es auch die Älteren und Anistos Hand schnellte zu der Innentasche seiner Weste, in der er den Brief stets aufbewahrte. Nicht, weil er glaubte ihn versteckt halten zu müssen, sondern um ihn in den größeren Taschen und Rucksäcken nicht unnötig zu knicken. Das geschmeidige Pergament knisterte kaum, als seine Finger es durch das leichte Futter betasteten.
Valora, die die Augen wieder geschlossen hatte, murmelte beruhigt: „Da haben wir Glück gehabt. Wahrscheinlich haben die Kerle gemerkt, dass es bei uns nichts zu holen gibt, und lassen uns von jetzt an in Frieden.“
Aber Anisto war tief in Gedanken. „Hoffen wir, dass es so ist“, sagte er zu sich selbst.
Sie stellten das Zelt wieder auf und überprüften, ob die Räuber auch wirklich nichts hatten mitgehen lassen. Auf die Hilfe des Mädchens mussten die Jungen jedoch verzichten, denn es war schon eingeschlafen. Lenio tat es seiner Kameradin gleich, sobald alles in Ordnung gebracht war, und nur Anisto fand keine Ruhe.
Er hatte es sich am Zelteingang so bequem wie irgend möglich gemacht und starrte durch die Öffnung nach draußen. Die Nacht war leise und nur selten machte sich ein Tier durch seinen Ruf in der Ferne bemerkbar. Jedes Mal zuckte der Junge erschrocken zusammen und legte Hand an seinen Bogen, den er in Valir fertiggestellt hatte. Einen langen Pfeil drehte er nachdenklich zwischen den Fingern und immer wieder wanderten seine Gedanken zu der Botschaft, dessen Überbringer er nun war. Ob sie wohl einmal wichtig gewesen war? Oder war sein Vater etwa bei einer bedeutungslosen Mission gestorben? Nachdem er stundenlang den Mond über der Lichtung angestarrt und vor sich hin gegrübelt hatte, zwang er sich in einen leichten Halbschlaf. Fast hoffte er, wieder in einem Schiff über das Meer zu fahren. Doch dies war nicht der Fall.

Rigon war außer sich. Er wetterte und fluchte, wobei er immerzu in ihrem notdürftigen Lager auf und ab rannte. Dieses bestand genauer betrachtet aus nichts anderem als einem großen, mit Blättern bestickten Tuch, das sie zwischen vier kräftige Bäume gespannt hatten. Es war mitten in der Nacht und plötzlicher Regen hatte eingesetzt. Kraftvoll drang er durch die Baumkronen und prasselte auf den feuchten Erdboden nieder. Die Reitermeute des Königs hatte sich zum größten Teil im Zelt versammelt. Der Rest der vierundzwanzig Männer war abkommandiert worden um das Quartier der Kinder zu überwachen.
„Was ist das nur für eine Mission!“, schimpfte der Hauptmann wütend. „Drei Kindern sollen wir einen albernen Brief abnehmen. Wir, die besten Soldaten des großen Königs! Und noch nicht einmal das ist uns möglich!“ Wie um seine scharfen Worte zu betonen schritt er noch energischer aus.
Maritiim, der stumm in einer Ecke saß, beobachtete ihn ausdruckslos. Seine zusammengekniffenen Augen verfolgten jeden Schritt des Kameraden, bis er schließlich von diesem aufgefordert wurde, seine Meinung dazu zum Besten zu geben. Daraufhin zuckte er nur mit den Schultern und entgegnete ruhig: „Der Brief war nicht da. Einer der Jungen muss ihn mit sich genommen haben. Es stand nicht in unserer Macht irgendetwas zu tun.“
Rigon blieb wie erstarrt stehen und durchbohrte ihn mit seinen Blicken wie mit Pfeilen.
Maritiim zeigte sich unbeeindruckt. Er kannte den ersten Kommandanten zu gut um sich einschüchtern zu lassen.
„Phase zwei“, murmelte dieser da vor sich hin. „Phase zwei muss her. Um jeden Preis sollen wir diesen Brief abfangen? Nun, so sei es dann!“
Die Männer johlten zustimmend wie eine Horde Hunde, die endlich auf ihre Beute losgelassen werden sollten. Dieser Auftrag beliebte ihnen gar nicht. Ein Krieg stand bevor und es gab eine Menge Ruhm zu ernten, aber während andere eben dies taten um in den Liedern ihres Volkes verewigt zu werden, sollten sie eine kleine Gruppe Halbwüchsiger jagen. In einem durchnässten Zelt saßen sie und sahen zu wie der Regen in Sturzbächen vom Himmel kam, dabei sehnten sie sich nach starken Festungen aus uraltem Stein, auf denen sie bald dringend gebraucht würden. Auch Maritiim seufzte. Bis jetzt hatte ihn diese Mission eher belustigt und aus dem Hintergrund hatte er zugesehen wie vierundzwanzig gutgewachsene, waffenkundige Männer im Verborgenen ein paar Jugendlichen nachschlichen. Für ihn war das hier wie ein übler Scherz, doch wenn er es recht betrachtete war auch der Krieg nichts anderes in seinen Augen. Doch jetzt wendeten sich die Dinge ein wenig.
„Rigon, es sind doch nur Kinder!“, warf er zum allgemeinen Erstaunen ein und stand auf. „Kannst du guten Gewissens in ihr Lager stürmen und sie alle umbringen, nur um an diese Mitteilung zu kommen?“ Es wurde plötzlich sehr still. Wenn ein anderer als Maritiim diesen Einwand vorgebracht hätte, wäre er von den Reitern lauthals als Memme beschimpft worden, doch jetzt traute sich keiner auch nur ein einziges Wort zu sagen.
Rigon wich den Blicken des zweiten Kommandanten aus. Sie waren von einer ungewohnten Schärfe und Intensität, sodass ihnen keiner der Männer hätte standhalten können.
„Wer redet denn gleich vom Morden und Metzeln?“, stellte der Anführer klar. „Ich denke mir schon was aus. Nur kommen wir nicht weit, wenn wir uns wie ein Haufen verdammter Räuber verkriechen!“ Plötzlich sah er Maritiim direkt in die Augen und jeder Zweifel schien wie vom Regen weggespült. „Dies ist eine Mission des Königs. Und ich warne dich das zu vergessen. Jedes Mittel ist recht, wenn es uns nur zum Erfolg führt!“
Die Hand des jüngeren Mannes wanderte an den Knauf seines Schwertes. Lang war es und von wunderbarer Arbeit. Von seiner Kindheit an hatte er hervorragend damit umgehen können und jedem aus der Meute war klar, dass es in seiner geschickten Hand zu einer tödlichen Waffe wurde. „Du drohst mir?“, fragte Maritiim leise und ein gefährliches Funkeln trat in seine tiefschwarzen Augen.
Rigon richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ja, ich drohe dir“, zischte er zurück mit nur einem hauchdünnen Zittern in seiner Stimme.
Gebannt beobachtete die Meute die knisternde Gegenüberstellung.
Maritiims Finger streiften den kunstvollen Schwertgriff nahezu zärtlich und schließlich -es schien einige Überwindung und Selbstdisziplin zu kosten- ließen sie ihn wieder los. Noch eine Weile starrten sich die beiden Männer an, bis der Jüngere von ihnen sich langsam abwandte und in seine Ecke im Zelt zurückkehrte.
Rigon rief: „Was glotzt ihr noch so? Wachen raus, der Rest legt sich schlafen! Morgen ist auch noch ein Tag und ihr werdet eure Kräfte brauchen!“
Die Soldaten gehorchen und traten murmelnd ab. Maritiim und Rigon würdigten sich die ganze Nacht lang keines einzigen Blickes mehr.


Kapitel 8
Über die Walda
Als die Jungen früh am nächsten Morgen aufwachten, war Valora zu ihrer freudigen Überraschung bereits auf den Beinen. Sie stand mitten auf der Lichtung und starrte in den Himmel hinauf. Anisto kam näher und erkannte, dass sie die Augen geschlossen hielt. Der starke Regen prasselte auf ihr Gesicht, dessen kreidebleiche Farbe wieder dem gewohnten Braunton gewichen war. Das Wasser lief ihr über den ganzen Körper, ihre Haare sahen, durchnässt wie sie waren, fast schwarz aus und auch ihr kurzes Kleid war vollkommen aufgeweicht.
Da bemerkte sie Anisto und rief ihm voller Glück zu: „Sieh nur! Es ist wunderbar! Als würde man von den Toten wieder auferweckt!“ Um ihre Worte zu untermalen streckte sie die Arme mit den Handflächen nach oben von sich und drehte sich taumelnd im Kreis.
Der Junge folgte ihrem Blick zu den dunklen Wolken, die sich undurchdringbar über dem Wald aufgetürmt hatten, und fand beim besten Willen nichts Wunderbares daran. Alles, was ihm in den Sinn kam war, dass das widerspenstige Wetter ihr Reisetempo beträchtlich senken würde. Rumorend entlud sich ein Blitz über ihnen und fuhr im grellen Zick-Zack auf die Erde hinab. „Fühlst du dich besser?“, fragte Anisto und er musste Schreien, um den lauten Donner zu übertönen.
Sie hörte langsam auf sich zu drehen, bis sie am Ende ganz stillstand. Ihr Gesicht war vor der Anstrengung gerötet und ihre hellbraunen Augen glitzerten vor Übermut. „Mir ging es nie so gut wie jetzt!“, bejahte sie lachend. „Oh Anisto, ich bin so unendlich froh! Gestern dachte ich noch, ich würde sterben.“
Beide kehrten in das Zelt unter dem Regen ächzende Zelt zurück, wo Lenio auf sie wartete und Valora erleichtert um den Hals fiel. Sein rundliches Gesicht strahlte und ein breites Lächeln lag darauf. „Ein Glück, dass du wieder gesund bist!“, jubelte er ausgelassen. „Ich hatte eine solche Angst um dich!“
Das Mädchen drückte den Kleinen gerührt an sich und Anisto war nun endgültig von ihrer Heilung überzeugt, kam sie auch einem schier unfassbaren Wunder gleich.
Als sie noch in ihr Frühstück vertieft waren, krachte es plötzlich über ihnen und einen Moment später fanden sie sich unter ihrer Zeltplane begraben. Die Wassermassen, die sich darauf gesammelt hatten, strömten zu allen Seiten herunter und überschwemmten die Lichtung endgültig. Keinem der drei war etwas passiert, aber alle schauten ziemlich überrascht drein. Nachdem sie sich von dem Schrecken erholt hatten, lachten sie allesamt laut und ausgelassen. Anisto nahm diesen Zwischenfall zum Zeichen, dass es Zeit war aufzubrechen, und sie packten ihr durchnässtes Gepäck zusammen.
„Es ist noch ein Tagesmarsch bis zur Walda“, erklärte Anisto, während sie dem matschigen Waldweg folgten. „Aber wir müssen uns beeilen.“
„Die Walda? Was ist das, ein Fluss?“, fragte Valora, die raschen Schrittes neben dem Anführer herging. Das Wandern schien ihr heute keine Probleme mehr zubereiten, auch wenn das Wetter die allgemeine Stimmung senkte.
Anisto stapfte unwillig durch den tiefen Schlamm, der schon in seine flachen Schuhe kroch, und wischte sich immer wieder die Regentropfen von der Stirn. „Es ist eigentlich mehr ein dünnes Bächlein als ein Fluss“, berichtige er sorglos. „Wir sollten es ohne Probleme an jeder beliebigen Stelle überqueren können.“
Lenio keuchte schwerfällig hinter ihnen her, so wie es am Vortag gewesen war. Seine kurzen Beine waren noch nie für lange Ausflüge geeignet gewesen, auch wenn es in Quellingen nicht viele davon gegeben hatte, aber der glitschige Boden machte ihm nun ernsthaft zu schaffen. Immer wieder rutschte er aus, sodass seine Kleidung schon dreckverschmiert war, oder seine überanstrengten Füßchen blieben kläglich in dem schlammigen Boden stecken.
Doch Anisto drängte sie unbarmherzig weiter.
Erst gegen Mittag ließ er sie eine kurze Pause machen. Er verteilte etwas von den frischgesammelten Früchten und schnitt ihnen jeweils eine dicke Scheibe Brot ab. „Wenn wir erst in Vosra sind, werden wir auch endlich wieder eine ordentliche, warme Mahlzeit einnehmen“, versprach er, als er Lenios enttäuschtes Gesicht sah.
„Immerhin haben uns diese elendigen Straßenräuber in Frieden gelassen.“ Valora blickte prüfend um sich. „Sie sind uns nicht gefolgt, nicht war?“, stellte sie beruhigt fest und der Ältere nickte. „Nicht, dass ich wüsste“, meinte er ebenfalls erleichtert. „Ich habe den ganzen Tag lang immer wieder nach ihnen Ausschau gehalten. Glaub mir, da ist niemand!“ Das hätte ihm auch gerade noch gefehlt, wo ihre Reisemoral ohnehin schon am Nullpunkt angelangt war. Wo das Wetter ihnen einen so üblen Streich spielte und ihnen das Wandern schwer machte, konnten sie auf Verfolger dankend verzichten.
Nicht einmal eine halbe Stunde hatten sie am Wegrand verweilt, da scheuchte er sie auch schon weiter.
„Ich kann aber nicht mehr!“, maulte Lenio und humpelte wie ein Häufchen Elend hinter den Älteren her.
Anisto blieb gereizt stehen und entgegnete: „Wir müssen den Wald so schnell wie möglich hinter uns bringen. Erstens, weil wir -wie du von Valora gehört hast- sowieso schon etwa zwölf Tage hinter Botac zurückliegen, und zweitens, um möglichst schnell wieder leichten Boden unter den Füßen zu haben. Vertraue mir, die Ebenen hinter dem Wald werden uns keine Schwierigkeiten bereiten!“
Das tröstete den Jungen ein wenig, doch ein paar Minuten später fiel er wiederum auf die Knie und konnte keinen Schritt mehr tun.
Valora ging neben ihm in die Hocke und strich ihm aufmunternd durch das glatte, blonde Haar. „Ich kann dich ein Stück tragen!“, schlug sie freundlich vor und Lenio schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
Aber Anisto schritt entschlossen ein: „Das geht auf keinen Fall! Vergiss nicht, dass du gestern noch sterbenskrank warst. Ich werde den Kleinen nehmen!“ Also lud er sich seinen jüngeren Halbbruder auf den Rücken und für eine Weile gingen die Reisenden schweigend und ohne Unterbrechung weiter.
Valora bemerkte, dass dem älteren Jungen Schweißperlen auf der Stirn standen, doch er kämpfte sich mit zusammengebissenen Zähnen voran. Dies war einer der Momente, in denen das Mädchen ihn sehr bewunderte, wenn sie sich sonst auch über vieles mit ihm streiten konnte. Stundenlang trotteten sie im strömenden Regen, der ihre Sicht wie weiße Schleier verhüllte, den verlassenen Weg entlang. Sie hatten jedes Gefühl für Zeit verloren, da sich kein einziger Sonnendstrahl blicken ließ, nach dem sie sich richten konnten, aber es war später Nachmittag, als Anisto plötzlich Halt machte. Zitternd vor Erschöpfung setzte er Lenio ab und sank zu Boden. Valora sah ihn mitleidig an und fragte besorgt: „Ist es gar zu schlimm, Anisto? Soll ich ihn nicht doch für eine Weile nehmen?“
Doch dieser schüttelte den Kopf und rang nach Atem. „Das ist es nicht“, keuchte er mühsam. „Hinter dem Baumgürtel dort vorne liegt die Walda. Wir sind da.“
Nachdem sich Anisto einige Minuten Ruhe gegönnt hatte, brachten sie auch die letzten Meter bis zum Bach hinter sich. Lenio lief jetzt wieder zu Fuß neben den Älteren her.
Plötzlich hörten sie ein ohrenbetäubendes Krachen. Sofort dachten sie an einen einschlagenden Blitz, doch ganz so schlimm war es nicht gekommen. Stattdessen war ein auf der Walda daherschwimmender Baumstamm gegen einen anderen Treibholzhaufen gerammt und hatte sich mit ihm verkeilt.
„Mein Gott!“, rief Anisto entgeistert aus, denn das, was vor ihnen lag, war nicht länger ein friedliches Waldbächlein. Wegen der Regenmassen war die schmale Walda zu einem reißenden Fluss angeschwollen und ihr Wasser schlug im rasenden Dahinströmen weiße Schaumkronen. Alles, was in ihren Bann geriet, wurde erbarmungslos mitgezogen und zerschmetterte bald an einem der aus dem Strom ragenden Felsen. Und immer noch stürzte der Regen nur so vom Himmel, ohne dass ein Ende in Sicht war. Es schien keinen Übergang mehr zu geben.
„Also müssen wir uns in Geduld üben“, urteilte Valora seufzend.
Aber ihr Anführer wollte sich noch nicht mit dem Schicksal abfinden. „Wir dürfen nicht warten!“, widersprach er uneinsichtig. „Bis der Fluss wieder passierbar ist, könnten Tage vergangen sein und unser ganzes Vorhaben wäre gescheitert. In dem Tempo finden wir Botac nie!“
Lenio starrte angsterfüllt auf den mächtigen Strom unterhalb der Baumreihe, an der sie sich befanden, hinab und bat aus ganzem Herzen: „Lass uns noch nicht hinübergehen, Anisto! Lieber soll unsere Fahrt fehlschlagen, als das wir alle sterben.“
Der Ältere erwiderte nichts, sondern ging den Einsprüchen der Anderen zum Trotz zum Ufer hinunter. Während er sich jede möglicherweise passierbare Stelle genau ansah, ruhten sich Valora und Lenio unter dem Blätterdach der Bäume aus und beobachteten ihren Gefährten besorgt. Dieser folgte dem Strom, bis er um die nächste Kurve verschwand.
„Was, wenn er ins Wasser gefallen und ertrunken ist?“, fragte Lenio zitternd, als sein Halbbruder nach einer dreiviertel Stunde noch immer nicht zurück war.
Das Mädchen wiegte ihn sanft in ihren Armen, um ihm Trost zu spenden, blieb ihm aber eine Antwort schuldig. Sie waren beide nass bis auf die Knochen und die Kälte durchdrang sie von Minute zu Minute mehr. Der Kleine dachte auf einmal an seine Mutter und stellte sich vor, wie sie allein am Herdfeuer saß und den schrecklichen Regen vor ihrem Fenster beobachtete, jeder Tropfen eine Träne, die an ihrem traurigen Gesicht hinunterlief, und da konnte auch er sich das Weinen nicht mehr verkneifen.
Valora sah es und wollte ihm die Augen trocknen, doch stattdessen drückte sie ihn nur fester an sich und verbarg ihr schmutziges Gesicht in seinem feinen Haar. Wie könnte sie ihm das Heulen verbieten, wo ihr doch selber danach zumute war? Das Leben in Quellingen stimmte sie zwar noch verzweifelter, als ihre jetzige Lage, doch einen Augenblick lang überlegte sie, ob es ihr wohl besser ergangen wäre, hätte sie sich für die königliche Hofschule entschieden. Aber sofort verdrängte sie den Gedanken und alles was blieb war tiefe Sorge um Anisto.
Lenio zitterte in ihren Armen und sie nahm eine Decke aus ihrem Gepäck und legte sie über sie. Gelähmt von Angst und erschöpft vom Weinen schliefen die beiden Kinder schließlich ein.
Das nächste, was Valora merkte, war ein ungeduldiges Rütteln an ihrer linken Schulter. Sie schlug die Augen auf und sah verschwommen Anistos Gesicht vor sich. „Du lebst!“, schrie sie vor Erleichterung und fiel dem verblüfften Jungen um den Hals. „Du lebst, du lebst! Ich habe schon fast alle Hoffungen aufgegeben.“
Er befreite sich auf dem plötzlichen Würgegriff und meinte verwirrt: „Natürlich lebe ich! Ich war doch nur ein paar Meter hinter der Flussbiegung. Und stell dir vor: Es gibt dort eine Stelle, an der wir die Walda überqueren können!“
Die Freude des Mädchens war jäh verschwunden. Alles in ihr sträubte sich dagegen, das wilde Wasser zu durchschreiten.
Auch Lenio war wach und hatte seine Worte mitbekommen. „Aber ich habe Angst!“, jammerte er unglücklich.
Doch beide wussten ganz genau, dass ihr Freund jetzt nicht mehr zu stoppen war. Schon nahm er ihre Decke und verstaute sie wieder. „Es ist sicher, glaubt mir!“, beteuerte er zuversichtlich und forderte sie auf ihm zu folgen.
Er führte die widerwillige Gruppe zum Ufer und marschierte daran entlang, bis sie an der besagten Biegung ankamen. Dahinter mussten sie wieder zu den Bäumen hinaufklettern, weil das Flussbett hier zu einem kleinen Staubecken angeschwollen war. Vom Waldrand konnten die Kinder das bildgewaltige Geschehen verfolgen. Das Treibgut, das sie bei ihrer Ankunft gesehen hatten, klemmte nun zwischen zwei starken Felsen und alle weiteren Äste und Schlammmassen, die herangeschwemmt wurden, hatten sich daran angesammelt. Zusammen bildeten sie einen wackligen Staudamm, der dem reißenden Fluss ächzend Widerstand leistete. Hinter dem Damm war das Wasser einigermaßen ruhig und flach, sodass man ohne Schwierigkeiten hindurchwaten konnte. Doch keines der Kind mochte daran denken, was geschehen würde, wenn die schwache Barrikade bräche und sie sich noch nicht auf der anderen Seite befänden.
„Wir haben nicht mehr viel Zeit“, gab Anisto ungern zu. Gerade löste sich ein größerer Ast aus dem Damm und trieb auf dem eilenden Wasser davon. Die drei beobachteten seine Fahrt mit einem mulmigen Gefühl und als er am Ende an einem der scharfkantigen Felsen zerschlug, widersprach Valora zitternd: „Wäre einer von uns jetzt dort gewesen, so hätte ihn der Ast mitgerissen! Das ist zu gefährlich, Anisto! Was, wenn der Damm bricht?“
Aber der Junge rannte ohne auf ihre klugen Worte zu hören auf den schmalen Fluss hinter dem Geäst zu. „Der hält schon!“, rief er über die Schulter und eine merkwürdige Übermut packte ihn. „Ich gehe als erstes, dann werdet ihr es schon sehen!“ Davor hatte er den Brief aus seiner Westentasche genommen und Valora zur Aufbewahrung gegeben.
Jetzt schnürte er sich kühn seine Tasche fester auf den Rücken und tat einen Schritt in das Wasser. Die Strömung war trotz des Dammes stark und er geriet wegen ihr im ersten Moment gefährlich ins Wanken. Außerdem war der Fluss zu dieser Jahreszeit noch eiskalt, sodass seine Beine nach kürzester Zeit zu schmerzen begannen. Also ging er vorsichtig voran, wobei er seine Hände haltsuchend nach dem nächsten Felsen ausstreckte. Bald schlossen sich seine zitternden Finger um den rauen Stein und er zwang sich tief durchzuatmen.
„Alles in Ordnung?“, wollte Lenio besorgt wissen, der neben Valora am Ufer stand.
Der ältere Junge wagte es nicht, sich umzudrehen aus Angst, er könne dabei sein weniges Gleichgewicht verlieren. „Mir geht es gut!“, schrie er stattdessen. Dabei klopfte ihm sein Herz bis zum Hals und seine abgefrorenen Knie, die das schäumende Wasser gerade noch bedeckte, schlackerten vor Furcht.
Doch vor ihm lag noch mehr als die Hälfte des Weges, was er auf etwa zweieinhalb Meter schätzte. Noch dazu gab es keinen weiteren Fels mehr in seiner Reichweite, der ihm hätte helfen können. Mit einiger Überwindung löste er sich von seinem Halt und ging langsam weiter. Nach ein paar Schritten erreichte er eine Stelle, in der die Strömung fast gar nicht zu spüren war, doch sie hielt nicht lange an. Als das sichere Ufer nur noch anderthalb Meter von ihm entfernt war, hatte er schwerer zu kämpfen als je zuvor.
Valora und Lenio konnten kaum hinsehen und die ängstlichen Blicke des Mädchens schweiften immer wieder zwischen ihrem Gefährten, der hin und her schwankte wie ein junger Baum in einem schweren Sturm, und dem wackligen Staudamm. Dessen Ächzen und Stöhnen schwirrte in ihrem Kopf und trieb sie zur Verzweiflung und bei jedem Laut rechnete sie mit dem Schlimmsten.
Endlich schien es jedoch geschafft: Anisto taumelte vorwärts und seine ausgestreckten Hände reichten schon beinahe bis an das erhöhte Ufer. Aber auf einmal hörte er einen entsetzten Schrei: „Achtung, der Damm!“
Im selben Moment, als er Valoras Ruf hörte, riss die plötzliche Strömung Anisto von den Füßen. Ehe er sich versah, befand er sich in einem umherwirbelnden Sog aus aufschäumendem Wasser und Ästen. In seinen Ohren rauschte es, weil ihm eine mächtige Welle über den Kopf peitschte und ihn unter die Oberfläche zwang. Zweige schlugen ihm die Arme, Beine und Gesicht blutig und die leichte Gasthofer Kleidung bot ihm kaum Schutz davor.
Panisch begann der Junge zu strampeln und sich zum Wasserspiegel vorzukämpfen. Doch dieser schien auf einmal weit von ihm weg zu sein und immer wieder drückte ihn die Strömung nieder. Seine Lungen schrieen qualvoll nach Luft, seine Gedanken rasten. Wie lange dauerte es, bis ihm der nächste Felsen ein jähes Ende bereitete? Oder würde er vorher ertrinken?
Er war nur Sekunden unter Wasser gewesen, doch es kam ihm vor wie Stunden. Endlich -wie durch ein Wunder- gelangte er an die Oberfläche, obwohl er schon alle Hoffnungen aufgegeben hatte. Verzweifelt schnappte er nach Luft, wurde jedoch gleich darauf wieder von dem vorstürmenden Wasser überspült. Dieses Mal gelang es ihm, gegen den Sog anzukämpfen, sodass er bald wieder auftauchte. Viel brachte es ihm nicht, denn er hatte die Orientierung vollends verloren. Immer im Kreis herum wurde er gerissen, bis ihm ganz schwindelig war. Sein Widerstand war geschwächt. Er ließ sich jetzt einfach mit der rasanten Strömung treiben und wartete auf das Ende.
Doch was als Nächstes geschah hatte er am wenigsten erwartet: Mit gewaltiger Kraft wurde er gegen das hervorstehende Ufer geschleudert. Reflexiv schloss er seine Finger um das lange, feste Gras, das dort wuchs, und hielt sich krampfhaft fest. Es kostete seine allerletzte Energie, sich mühsam den niedrigen Vorsprung emporzuziehen, aber endlich landete er auf dem weichen Rasen. Unter ihm rauschte das Wasser und es schien ihm ein wütendes Brüllen um die Beute zu sein, die ihm entgangen war.
Das zerkratzte Gesicht ins kühle Gras pressend blieb er noch einige Minuten so liegen und vor Erschöpfung merkte er gar nicht, dass er weinte. Erleichterung durchströmte ihn in hellen Wogen. Er konnte sein Glück nicht fassen. Selbst seine Tasche hatte er dank des festen Knotens nicht verloren. Schließlich stand er wieder auf und taumelte am Ufer entlang, immer gegen den Strom. Eine ganze Weile musste er noch laufen, bis er die Stelle erreicht hatte, an der einst der Damm gestanden hatte, da die Walda ihn viele hundert Meter mitgerissen hatte.
„Anisto!“, rief Valora erleichtert. Sie hatte zusammen mit dem kleineren Jungen das Ufer an der anderen Seite nach ihm abgesucht, jedoch ohne Hoffnung auf Erfolg. „Heute wundert mich gar nichts mehr. Du musst einen echten Schutzengel haben!“
Über den tosenden Fluss hinweg mussten sie brüllen, um einander hören zu können.
„Wie kommt ihr nun nur hinüber?“, fragte Anisto sich nachdenklich und lud seine durchnässte Tasche ab. Ein großer Teil der Vorräte in ihr war jetzt wohl nicht mehr zu gebrauchen, doch er fand schnell nach was er suchte.
Lenio lachte, als er die Seile in der Hand seines Bruders erkannte, und schrie: „Das meinst du doch nicht wirklich ernst? Wie sollen die uns schon helfen können?“
Valora schwieg ahnungsvoll. Ihr schwebte schon ein kühner Plan vor, wie ihn nur Anisto haben konnte. Tatsächlich suchte dieser nach einem kräftigen Baum in seiner Nähe, um den er eines der dicken Seile auf Fußhöhe schlang. Das zweite, das er auf dem Valirer Markt bei einem guten Händler erworben hatte, band er oberhalb eines Astes um den selben Stamm, sodass es ungefähr auf der Höhe seiner Schultern hing. Nun nahm er beide Seile und ging mit ihnen zum Ufer der Walda. Dort fand er mühelos zwei faustgroße Steine, die er an die anderen Enden knotete.
So werde ich sie leichter werfen können, dachte der Junge zufrieden.
„Gleich schmeiße ich die beiden Enden an euer Ufer und ihr knotet sie genauso fest wie ich es hier gemacht habe!“, wies er seine zweifelnden Freunde an. „Sie müssen aber schön stramm gespannt sein.“
Es gelang ihm jedoch erst beim vierten Versuch, die Seile eines nach dem anderen zu Valora hinüberzuschleudern; dreimal musste er sie wieder aus dem brausenden Wasser ziehen.
Danach dauerte es noch mal eine Viertelstunde, bis das Mädchen die Enden richtig festgebunden hatte.
Zuletzt reichten die Seile von ihrem Ufer über den reißenden Fluss bis an jenes, an dem Anisto stand und alles genau beaufsichtigte. Das eine Tau war knapp zwanzig Zentimeter über der Wasseroberfläche gespannt, das andere hing etwa einen Meter sechzig über ihm.
„Und was bringt das jetzt?“, fragte Lenio, der bis jetzt nur zugesehen hatte, ahnungslos.
„Klettert langsam und vorsichtig!“, wies Anisto sie besorgt an. An seiner Konstruktion hatte er keinerlei Zweifel, wohl aber an den Kletterkünsten seiner Kameraden. Besonders Lenio beunruhigte ihn. Was, wenn den Kleinen über dem Fluss plötzlich die Kräfte verlassen würden? „Valora, geh du zuerst!“
Das Mädchen trat zögernd auf die selbstgebaute Brücke. Lenio stand hinter ihr und war zu erschrocken, um zu widersprechen. Mutig begann Valora sich an den Seilen zum anderen Ufer zu hangeln. Dabei war sie stark bemüht, nicht an das tosende und wütende Wasser unter ihr zu denken. Mit aller Kraft krallte sie sich am oberen Tau fest, sodass die Knöchel ihrer Finger weiß hervortraten. Ihre Füße hatten erstaunlich guten Halt, da das dicke Seil unter ihnen noch nicht allzu sehr mit Wasser überspült worden war. Sie hoffte, dass es Lenio nicht viel rutschiger haben würde, und tastete sich weiter.
Anisto lief am anderen Ufer umher wie ein nervöses Raubtier im Käfig. Immer wieder überprüfte er die Knoten und die Spannung des Seils. Endlich brachte das zitternde Mädchen den letzten wackligen Schritt hinter sich und hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Stolz strahlte sie Anisto an und der lächelte erleichtert zurück.
„Du erstaunst mich immer aufs Neue!“, gab er verlegen zu. „Aber nun komm Lenio! Du bist an der Reihe!“
Verloren stand der kleine Junge am anderen Ufer und war hin- und hergerissen. Einerseits wollte er zu seinen Freunden und ebenso lobende Blicke von Anisto erhalten wie es Valora getan hatte, doch andererseits war ihm schrecklich mulmig bei dem Gedanken dem Fluss auch nur noch einen Schritt näher zu kommen. „Gibt es keinen anderen Weg?“, fragte er kläglich und seine Augen lasteten besonders auf dem Mädchen.
Dieses erwiderte seine Blicke warmherzig und ermunterte ihn so zuversichtlich wie es ihr nur irgend möglich war: „Nein, es ist der Einzige. Aber es ist leicht, vertraue mir! Du schaffst das schon, ich glaub an dich!“
Der Junge neben ihr nickte zustimmend.
Gerade hatte sich der arme Lenio also dazu durchgerungen, die Walda notgedrungen wie ein Seiltänzer zu überqueren, als plötzlich laute Schritte und Stimmen hinter ihm erklungen. Er drehte sich neugierig um und sah zu seinem Entsetzen eine große Schar bewaffneter Männer aus dem Wald hervorstürzen.
„LENIO!“, schrie Anisto gellend, doch ehe der Kleine sich versah, hatten ihn auch schon zwei der Soldaten fest gepackt. Einer stach aus ihrer Gruppe hervor. Er hatte braunrote Haare, die in der jäh aufblitzenden Sonne wie Feuer loderten, und dunkelgrüne Augen, in denen begeisterte Entschlossenheit wiederschien. Seine kräftige Gestallt ragte über den Köpfen der anderen Männer auf und er bellte eine Reihe von Befehlen.
Die Zwei, die Lenio hielten, zogen diesen rückwärts in den Wald hinein. Der Junge schrie wie am Spieß und strampelte widerspenstig mit den Beinen, aber es nützte ihm alles nichts.
Mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen musste Anisto am anderen Ufer mit ansehen, wie sein hilfloser Halbbruder davon gezerrt wurde, bis er aus seinem Blickfeld entschwand.
Der Hauptmann entdeckte die beiden älteren Kinder und zeigte herrisch auf sie. Einer seiner Soldaten rannte zu den Seilen und wollte so zu ihnen gelangen.
Anisto bemerkte es gar nicht, aber Valora war zu ihrer beider Glück geistesgegenwärtig genug, um ein Messer aus ihrer Tasche zu ziehen. Damit stürzte sie auf ihre Enden der Seile zu und begann mit aller Kraft auf sie einzuhacken. Der Soldat war bereits auf dem Weg zu ihnen, doch die Hoffnung wuchs in ihr, dass sie es rechtzeitig schaffen könnte.
Zu dieser Auffassung war wohl auch einer der fremden Männer gekommen, denn er rief seinen Kameraden warnend zurück.
Der Hauptmann schien sich dem zwar zu widersetzten, jedoch entglitt ihm das Kommando zusehends und fiel in die sicheren Hände des Anderen, einem großen, dunkelhaarigen Krieger mit einer Ausstrahlungskraft, die bis zu den Kindern hinüberdrang.
Der Soldat schaffte es dank seiner Warnung zurück zu seinem Gefolge, bevor die durchtrennten Seile in den rasenden Fluss stürzten. Sein Retter gab ein energisches Handzeichen zum Rückzug und innerhalb von Sekunden war die Meute spurlos zwischen den dunklen Bäumen verschwunden.


Kapitel 9
Die Botschaft
Und plötzlich waren sie weg. Anisto konnte seinen Augen nicht trauen. Gerade eben hatte dort am anderen Ufer noch sein kleiner Bruder gestanden und war im Begriff gewesen zu ihnen hinüberzukommen und im nächsten Augenblick war er von einer Horde gefährlich aussehender Männer verschleppt worden! Schon viele Minuten war es her, dass ihr Geschrei im gegenüberliegenden Wald verschwunden war, doch der Junge starrte noch immer unbeweglich über die Walda hinweg.
„Oh, Anisto!“, entfuhr es Valora traurig. Sie trat zu ihm und umarmte ihn tröstend. „Was können wir tun?“
Er lehnte seinen Kopf an ihre Schulter und schloss verzweifelt seine Augen. Dabei rollte eine Träne über seine Wange und landete auf Valoras Kleid. Endlich konnte er den breiten Kloß in seinem Hals hinunterschlucken und antwortete wahrheitsgemäß: „Nichts, aber auch gar nichts. Mit unseren Seilen haben wir auch den einzigen Weg über den Fluss zerschnitten und bis dieser sich wieder beruhigt hat, sind diese Teufel doch schon über alle Berge.“
Das leuchtete Valora ein, so schmerzhaft es auch war. Sie wagte gar nicht daran zu denken, was für Ängste ihr kleiner Freund jetzt wohl ausstehen musste. „Dann lass uns gehen“, entschloss sich das Mädchen schweren Herzens. „Wenn wir hier noch länger herumstehen, helfen wir niemandem. Wir haben schließlich einen Auftrag zu erledigen und mittlerweile glaube ich nicht mehr, das der so unwichtig ist.“
Sie gab dem Jungen seinen Brief zurück und dieser verstaute ihn wieder an seinem angestammten Platz. „Was meinst du?“, wollte Anisto wissen. Er konnte sich nicht denken, auch was sie hinauswollte. Sein ganzer Kopf schien sich zu drehen.
Aber Valora zog ihn auf den Weg, der wieder in den Wald hineinführte. „Lass uns erst von hier verschwinden!“, forderte sie unbehaglich. „Ich habe so das Gefühl, das die zurückkommen könnten, um uns mit einigen ihrer wertvollen Pfeile zu versehen. Wenn wir tiefer im Wald sind, erzähle ich dir mehr.“
Also gingen die Kinder weiter des Weges, so wie sie es geplant hatten. Sie sahen ziemlich mitgenommen aus, besonders Anisto, der immer noch triefnass war von seiner Begegnung mit der Walda. Die Bäume schlossen sich schnell dichter um sie, doch trotzdem fielen hier und dort ein paar goldene Strahlen der Abendsonne durch ihre Blätter. Das Unwetter war endgültig überstanden.
Nach einer knappen Stunde wich Valora vom Weg ab. Sie hatte inzwischen die Führung übernommen, weil der tief getroffene Junge nicht mehr in der Lage schien auch nur einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Nun bahnte sie sich einen Durchgang durch das dichte Gestrüpp, wobei sich ihr Kleid viele Male in den Dornen verfing. Erst, als sie von der Straße her nicht mehr zu erkennen waren, machte sie Halt. „Hier können wir die Nacht über bleiben“, schlug sie zufrieden vor. „Dieses Dickicht wird uns schützen, vor was auch immer.“
Sie packten sich und ihre Sachen unter einen hohen Busch, der keine spitzen Dornen zu besitzen schien. Seine dünnen Äste wölbten sich wie eine Kuppel über ihren Köpfen. Selbst wenn der Regen wider Erwarten aufs Neue beginnen sollte, würden die beiden Kinder hier kaum etwas davon merken.
Sofort rollte der Junge sich am Boden zusammen und bettete sein Gesicht in den Händen.
Auch Valora fühlte sich entkräftet von diesem schrecklichen Tag und die Energie, die am Morgen noch in ihren Knochen gesteckt hatte, war jetzt fast gänzlich verschwunden. Fürsorglich holte sie ein paar Früchte hervor und hielt sie Anisto hin.
Doch dieser schüttelte nur traurig den Kopf. „Ich habe auch keinen Hunger“, gab sie zu und legte sich erschöpft nieder. Die Erde war feucht und kalt und sie hatten keine Decke auf ihr ausgebreitet, jedoch störte es sie nicht. Zweifellos war dies das schlechteste Quartier, das sie bis jetzt auf ihrer Reise gehabt hatten. Um ihre Laune stand es nicht viel besser. Zwar hatten sie vor der Überquerung der Walda auch mit Unmut und Müdigkeit zu kämpfen gehabt, doch waren sie dort wenigstens noch vereint gewesen.
Leise summend stimmte das Mädchen ein altes Schlaflied aus Quellingen an, das ihr gerade in den Sinn gekommen war.

„Schlafe ruhig und schlafe tief
Unterm Dach der Bäume.
Weit von Fern ein Männlein rief.
Es ist der Herr der Träume.

Er wird dich holen in sein Reich,
So wunderschön und rein,
Und wenn du dann erwachest seicht,
Wird alles besser sein.“

Ihre Stimme klang schwermütig und traurig und doch so wunderschön, dass Anisto die Augen schloss und verzaubert lauschte. Ein bisschen Zuhause schien in die ungemütliche Höhle unter dem Busch Einzug zu halten und daraus schöpfte er neue Kraft.
Nachdem sie mit der letzten Strophe des Kinderliedes geendet hatte, schloss Valora ihre müden Augen. Anisto hörte ihr Atmen ruhig und regelmäßig an seiner Seite, aber er wusste, dass sie noch nicht eingeschlafen war.
„Was hält dich wach, Valora?“, fragte er verwundert, denn ihn selber hielt nichts davon ab, im nächsten Augenblick in tiefsten Schlaf zu fallen.
Das Mädchen drehte sich auf die Seite, sodass sie ihn begutachten konnte. „Du siehst erschöpft aus“, stellte sie zu Recht fest. „Ich will dich nun nicht mit den Gedanken eines ängstlichen, dummen Mädchens belasten.“
Er sah sie scharf an und erinnerte sie ernst: „Ich habe dich nie als ein solches gesehen und das weißt du auch. Du hast das Herz eines tapferen Kriegers und den Geist eines weisen Gelehrten. Nichts an dir ist ängstlich oder gar dumm!“
Daraufhin lächelte Valora dankbar. Die Nacht war kalt geworden, darum wühlte sie in ihrem Gepäck nach einer der Decken. Zu ihrem großen Leid waren diese jedoch allesamt nass. „Wenn du so große Stücke auf mich hältst, so höre auf meinen Rat und schlafe jetzt“, meinte sie fürsorglich. „Ansonsten wird dich die Kälte bald wach halten. Hier, nimm meinen Umhang auch noch! Ich brauche ihn weniger dringend als du, schließlich habe ich kein Bad in der Walda genommen.“ Sie nahm sich ihren Mantel von den Schultern und legte ihn über den des Jungen, sodass ihr einziger Schutz vor Nordroonas kühlen Frühlingsnächten ihr dünnes Leinenkleid war. Doch Anisto gab ihr den Umhang sofort wieder zurück. „Du bist ein durch und durch guter Mensch“, lehnte er dankend ab. „Und deinen Rat halte ich für vernünftig. Aber du kennst mich doch: Ich bin ein Abenteurer und die tun nicht immer was klug und weise ist. Also vergessen wir unsere Müdigkeit, die Kälte und den harten Erdboden und du erzählst mir, was dich schon die ganze Zeit beunruhigt!“
Seufzend gab sich das Mädchen geschlagen, da sie ohnehin keine andere Reaktion von ihrem Kamerad erwartet hatte. Nach einem Augenblick der Stille hatte sie sich vergewissert, dass niemand in ihrer Nähe herumschlich. „Es war ihre Kleidung, die mich stutzig gemacht hatte“, erzählte sie leise.
Anisto runzelte nachdenklich die Stirn. Soweit er sich erinnern konnte, hatten die Fremden graue, weite Roben getragen. Nicht sehr ungewöhnlich für Herumstreunende, Räuber oder Nomaden, denn sie waren schlicht, unauffällig und äußerst praktisch. Der Junge musste zugeben, dass ihre eigenen Umhänge auch nicht viel anders waren.
Aber Valora fuhr flüsternd fort: „Ich spreche von dem, was sie unter ihren Roben versteckt hielten. Als zwei von ihnen mit Lenio gerungen haben, ist dem Einen sein Umhang aufgegangen. Und jetzt pass auf: Darunter trug er die eine Militäruniform!“
Anisto machte große Augen. „Ein Soldat!“, rief er ungläubig und ließ alle Vorsicht fallen. „Aber was will der von unserem kleinen Lenio? Der hat doch keiner Fliege was zu Leide getan und Staatsgeheimnisse kennt er auch nicht! Keiner von uns tut das!“
Valora sah ihn lange und abschätzend an. „Tatsächlich?“, wollte sie geheimnisvoll wissen. „Und was hast du da in deiner Tasche?“
Der Junge erstarrte und sah sie fassungslos an. Ihre Miene war vollkommen ernst und ihr Blick richtete sich auf seine Weste. Unwillkürlich fasste er in deren Innentasche. Das Pergament knisterte leise, als er den Umschlag herausholte. Er senkte seine Augen auf ihn und fühlte sich plötzlich wieder hellwach.
Valora beobachtete mit Neugier wie seine Finger über das Familienerbstück fuhren, falls man es denn so bezeichnen wollte, und sein Gesicht einen verschlossen Ausdruck annahm. An was mochte er denken, fragte sie sich nachdenklich. Vielleicht an den Tod seines Vaters? Oder zweifelte er etwa an der Wahrheit ihrer Worte? „Also ich frage mich, was darin ist“, sagte sie laut.
Aber er ging nicht auf sie ein. „So vieler Menschen Schicksal hat er schon bestimmt“, murmelte er zu sich selbst. „Vater zuerst, jetzt Lenio und wer weiß, was kommt... Ich möchte wissen, warum er so bedeutend ist -warum wir so bedeutend sind. Es ist nur ein einfacher Brief! Was findet Wobkada -dieses bis ans Ende der Welt verfluchte Land- nur daran?“
„Sei vorsichtig damit, wen du verwünschst!“, mahnte ihn das Mädchen und ihre Stimme zitterte vor Aufregung. „Dieser Soldat, er trug kein Grau unter seinem Umhang und nirgendwo sah ich einen Steinadler mit ausgebreiteten Schwingen. Nein, seine Uniform war dunkelgrün und darauf prägte ein steigendes Pferd mit wirbelnden Hufen. Golden war es!“
Anisto erwachte aus seiner Trance und schnappte überrascht nach Luft. „Roona!“, rief er scharf aus. „Die Reiter des Königs!“ Vor seinem inneren Auge sah er das prunkvolle Wappen des Heimatlandes, so wie sie es in der Schule kennen gelernt hatten. Ein dunkles Grün und mitten darin ein in goldener Farbe lodernder, steigender Hengst. Schön und stark war er, so wie auch Roona schön und stark war, und seine Hufe wirbelten kraftvoll in der Luft. Eine stumme Warnung für die Feinde des Reiches. Bei der geringsten Bedrohung schlügen sie energisch um sich, um das Land und seine Bewohner mit allen Mitteln zu verteidigen. Doch warum waren sie, harmlose Kinder, eine solche Bedrohung? Was hatten sie getan, womit sie den Zorn des Herrschers von Roona auf sich gelenkt hatten?
Valora verfolgte seinen Gesichtsausdruck aufmerksam. Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus und berührte die seine sanft. Dabei strichen ihre Finger auch über den geheimnisumwobenen Umschlag und sein leises Knistern holte Anisto zurück in die Gegenwart.
„Großer Gott!“, flüsterte er zitternd. „Das ist eine richtig große Sache. Es ist dieser Brief, oder? Ich meine, er muss es sein.“
Das Mädchen nahm den Umschlag und drehte und wendete ihn prüfend zwischen ihren Fingern. Anisto beobachtete mit angehaltenem Atem jede ihrer Bewegungen. Es tat ihm merkwürdig weh, die Botschaft in ihren Händen zu sehen, denn es war immerhin die seine. Die Aufgabe war seinem Vater zugetragen worden, also hatte nur er, als dessen Erbe, das Recht diesen Schatz zu hüten.
Zu seinem gewaltigen Entsetzen schlug Valora vor: „Lass ihn uns öffnen, Anisto! In diese schreckliche Lage hat sicherlich er uns gebracht, doch noch immer stehe ich vor einem Rätsel. Vielleicht löst sich alles von selbst, wenn wir ihn lesen.“
Der Junge griff blitzschnell nach dem Brief und presste ihn schützend vor seine Brust. „Das können wir nicht machen!“, herrschte er Valora an, die vor seiner heftigen Reaktion zurückgeschreckt war. „Er ist für Botac bestimmt und kein anderer hat die Erlaubnis das Siegel zu brechen. Das ist eine Anordnung der Königin und mein Vater hat damals einen heiligen Eid darauf geleistet, ihren Befehlen jederzeit Folge zu leisten.“
Eine Weile schwiegen beide betreten. Valora sah beleidigt zu Boden und wagte es nicht, auch noch einen Blick auf Anistos großes Geheimnis zu werfen. Dieser hatte seine Freundin nicht anschreien wollen und es tat ihm leid, doch gleichzeitig hielt er es für seine Pflicht, jenen rätselhaften Brief zu schützen. Er strich vertieft über das ebene Pergament und murmelte unverständlich vor sich hin.
„Ich weiß ja auch nicht, was wir tun sollen“, räumte er endlich ein. Flehend sah er Valora an und wenn auch immer noch Vorsicht in seinem Blick lag, so war doch das Misstrauen daraus gewichen.
Sachte kroch sie unter den Dornen zu ihm heran und entgegnete mit sanfter Stimme: „Ist schon gut, ist schon gut. Ich verstehe ja, dass dein Vater die Aufgabe hatte den Brief ungeöffnet und unversehrt zu seinem Empfänger zu bringen. Aber du bist nicht er und das scheinst du vergessen zu haben, seit wir aus Quellingen aufgebrochen sind. Du musst ihn ja nicht aufmachen, wenn du nicht willst, nur vielleicht hilft er uns das alles hier zu verstehen.“
„Und Lenio zu befreien“, fügte Anisto hoffnungsvoll hinzu.
Sie zuckte unschlüssig mit den Schultern, aber der Junge hatte seine Entscheidung, wenn auch schweren Herzens, getroffen. Langsam zog er sein Taschenmesser hervor. Er zögerte einen kurzen Moment lang, dann öffnete er vorsichtig den Umschlag. Das wertvolle Pergament knisterte vorwurfsvoll bei jedem Zentimeter, den das Messer tat.
Beide Kinder wagten kaum zu atmen, als Anisto ehrfürchtig den Briefbogen herausnahm und entfaltete. Angestrengt richtete er seine Augen auf die feine, schwarze Schrift, die dieses in säuberlichen Zeilen bedeckte. „Lieber Botac“, entzifferte er mühsam. „Ach, mache du das besser, Valora!“
Sie nahm das Papier sachte von ihm entgegen und musterte es neugierig. Die Buchstaben waren schmal und schwungvoll. Eine solch elegante Handschrift war ihr bisher noch nie vor die Augen gekommen und das musste schon etwas heißen, denn ihre eigene war selber alles andere als schlecht. Mit leisen, atemlosen Worten begann sie zu lesen:
„Lieber Botac, ich schreibe zu dir in der scheinbar schlimmsten Lage. Roonata wurde in den frühen Morgenstunden angegriffen. Wir haben keine Verteidigung, weil alle unsere Soldaten zum Alkaran abkommandiert worden waren. Einige wackere Männer kämpfen noch auf den Straßen, aber es ist aussichtslos. Die ersten Gebäude brennen schon in hellen Flammen und es kann sich nur noch um Stunden handeln, bis unser schöner Königshof nichts weiter als eine Geisterstadt ist. Flammen und Krieger versperren uns jeden Ausweg, außer den einen. Doch jener muss geheim bleiben, da längst nicht alle durch ihn entkommen könnten und ein Gedränge vermieden werden muss. Du weißt, ich spreche von dem alten Gang, der im Schloss beginnt und einen tief unter der Erde bis an die Küste bringt. Ich habe zwar einige meiner Dienerinnen durch ihn ins Freie geschickt, aber ich selber werde in den Feuerzungen meines Reiches sterben. So wird auch die Friedenskönigin letztendlich das Schicksal ihres Volkes teilen. Schon höre ich die schweren Stiefel des Verräters auf der Wendeltreppe zum höchsten Turm. Unter dem Fenster wartet mein treuster Bote. Er ist der einzige, der in der großen Panik bei seiner Herrin geblieben ist, und nun ist er meine letzte Hoffnung zu dieser üblen Stunde. Denn höre, was ich zu sagen habe, und es wird dir, in den ich all mein Vertrauen setze, helfen das Reich Roona zu retten: Keiner unserer Verbündeten hat den Verrat an mir begangen. Es war der, der uns am nächsten stand, und es trotz dieser grausamen Tat wagt, die Königskrone Roonas weiterhin auf seinem Haupt zu tragen. Durch seine Hand werde ich den Tod finden und ich spüre, dass mir nur noch wenige Minuten bleiben.
Also lebe wohl, mein alter Freund, und bewahre mein Land vor dem nahenden Unheil, sodass ich für immer in ihm weiterbestehe!
Saliramoon Mandaala von Roona”
Je weiter sie gelesen hatte, desto schneller waren Valora die Worte von den Lippen geglitten. Ihr Herz schlug wie wild und sie dachte kaum daran Luft zu holen, bis sie geendet hatte. Bewegt starrte sie auf die Unterschrift der größten Königin, die Roona jemals gehabt hatte. So hatte jene Legende also ihr Ende gefunden. Durch Verrat ermordet, genau wie all die anderen Bürger Roonatas.
„Das ist unglaublich“, entfuhr es ihr mit zitternder Stimme.
Ihr Gefährte nickte überwältigt. Plötzlich erschien ihm vieles in einem ganz anderem Licht. Er musste an seinen Vater denken. Die Wobkadaner hatten ihn nicht getötet. Sie waren alle unschuldige Opfer einer mächtigen Intrige geworden und nie hatte es jemand erfahren - bis zum heutigen Tage.
„Der König von Roona ist unser wahrer Feind“, erkannte er angsterfüllt. „Er lässt uns und den Brief suchen - und hat Lenio in seiner Gewalt! Aber warum? Wie konnte er seinem eigenem Land so etwas antun? Und vor allem seiner Frau, der Königin!“
Valora wusste genau, wie ihm zumute war. Auf einmal sahen die Kinder den größten und mächtigsten Gegner vor sich, den man zu dieser Zeit nur haben konnte. Dabei hatten sie doch nie im Sinn gehabt, sich mit ihrem König anzulegen! Doch jetzt war es zu spät: Sie waren die Gejagten. Leise flüsterte das Mädchen: „Es ist der Krieg, Anisto. Er hat ein Feuer in den Herzen der Menschen von Roona entfacht, das ihn zum Sieg führen wird. Ob wir hier wohl wieder lebend herausgekommen? Ich bezweifle es. Elirius hat schon so viele Menschen auf dem Gewissen, da wird er auch bei uns kein Erbarmen zeigen!“
Anisto legte beschützend einem Arm um ihre Schulter und lauschte in den nächtlichen Wald hinein. Die gewohnten Geräusche klangen plötzlich wie Kanonenschläge und Hufgetrappel in seinen Ohren und im Innersten seines jungen Herzens musste er Valora recht geben.
„Aber umso wichtiger ist es, Botac zu finden!“, beschloss er trotzdem tapfer. „Gerade jetzt wo wir wissen, dass alles auf dem Spiel steht, müssen wir die Mission erfüllen. Und vielleicht hilft uns dieser zweifellos sehr kluge Krieger, meinen Bruder zu retten!“
Das leuchtete dem Mädchen ein und ein Ziel vor Augen half ihr über einen Teil der Furcht hinweg. Schließlich waren sie so weit gekommen und jetzt hatten sie einen zusätzlichen Vorteil: Sie waren gewarnt. Von nun an würden sie auf der Hut sein. „Wenn das so ist, lass uns gleich aufbrechen“, schlug sie dem Jungen vor und blinzelte die Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, entschlossen weg. „Wir dürfen keine Zeit mehr verschwenden!“
Anisto ließ sich von ihrem Tatendrang anstecken und half ihr rasch dabei, alle Spuren die sie an diesem Ort hinterlassen hatten, zu bewältigen. „Trotzdem“, wandte er bedächtig ein, „sollten wir nur nach Sonnenuntergang reisen und uns von den Straßen fernhalten. Wenn wir den Wald lebend und als freie Menschen hinter uns bringen wollen, müssen wir uns vorsichtig und ohne Spuren fortbewegen.“
Das nahmen sich die Kinder nun zum wichtigsten Vorsatz, als sie parallel zum Weg weiter in Richtung Vosra wanderten. Ihre wunden Füße schmerzten und vor Müdigkeit fielen ihnen die Augen beinahe zu. Doch mit zusammengebissenen Zähnen setzten sie tapfer einen Fuß vor den anderen, denn nun ging es um mehr als jugendliche Abenteuerlust und einen alten, längst vergessenen Auftrag.
Es galt ein Königreich zu retten.


Kapitel 10
Unerwartete Hilfe
Die ganze restliche Nacht lang schleppten sich die beiden Kinder mühsam vorwärts. Der unwegsame Boden machte ihnen stark zu schaffen. Immer wieder fiel Valora über eine im Dickicht verborgene Wurzel und Anisto musste ihr aufhelfen. Dieser hatte Mühe und Not seine Augen offen zu halten, doch die Sorge um den kleinen Lenio trieb ihn unaufhaltsam voran. Er mochte kaum daran denken, was für Qualen der arme Kerl jetzt wohl erleiden musste. Dabei war er für Abenteuer doch gar nicht geschaffen! Wenn sie nur mich erwischt hätten, wünschte sich Anisto immerfort. Vielleicht hätte ich entkommen können! Und selbst wenn nicht, alles wäre besser gewesen, als dass dieser unschuldige Junge in die Gewalt dieser Männer geriete!
Das Mädchen war hinter ihm stehen geblieben. Erschöpfung zeichnete sich auf ihrem gebräunten Gesicht ab. Anisto nahm sie bei der Hand und zog sie sanft weiter.
Hilfe, was sie brauchten war Hilfe! Und das so schnell wie irgend möglich!
Es musste wohl in den sehr frühen Morgenstunden gewesen sein, als die beiden Jugendlichen plötzlich ein leises Wimmern vernahmen. Beide wandten neugierig die Köpfe in Richtung der Straße, denn von dort schien das Geräusch, wenn auch kaum hörbar, gekommen zu sein.
„Es könnte eine Falle sein“, wisperte Anisto zu seiner Kameradin.
Diese kämpfte sich jedoch mit Händen und Füßen einen Durchgang zum Weg frei. Das Gestrüpp war in dieser Region besonders stark. Dank der ersten Sonnenstrahlen fand sie die Ursache des Jammerns schnell: Auf der sonst verlassenen Straßen lag ein kleines Kind. Es war unter einem umgestürzten Baum begraben, der auf den Weg gefallen war. Valora eilte sofort zu ihm und sah, dass es der Bewusstlosigkeit nahe war.
„Anisto!“, rief sie und ließ mit einem Mal alle Vorsicht fallen. „Komm her und hilf mir!“ Gemeinsam räumten die Beiden den Baumstamm aus dem Weg, der zum Glück nicht allzu schwer war. Sogleich kniete sich das Mädchen über den kleinen Jungen und begutachtete dessen Verletzungen. Sein rechtes Bein war in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt und über seine zerschrammte Stirn zog sich ein blutiger Riss, der von einem der Äste stammen musste.
„Sieht nicht gut aus“, murmelte Valora und gab acht, dass ihre offenen Haare nicht auf das Gesicht des Kleinen fielen. Wie alt mochte er wohl sein? Vier oder fünf, schätzte sie, als sie ihn behutsam untersucht hatte. „Wie heißt du?“, fragte sie ihn sanft und strich ihn zärtlich einen Haarschopf aus der Stirn.
„Foldar“, antwortete er schwach und blinzelte sie aus halb geschlossenen Augen staunend an. „Bist du ein Engel? Gibt es Engel mit dunklem Haar?“
Valora lächelte tief berührt und schüttelte sachte den Kopf. „Warum sollte ich auch ein Engel sein?“
Der Junge sah sie ernst an und antwortete: „Weil du mich gerettet hast.“
Dann sank ihm sein kleines Köpfchen auf die Schulter und seine blauen Augen schlossen sich langsam. Erschrocken tastete Valora nach seinem Puls und stellte beruhigt fest, dass er nur schlief.
Anisto ging neben ihr in die Hocke und blickte sie und den Jungen abwechselnd fragend an.
„Er lebt“, beantwortete sie die stumme Frage. „Aber wir brauchen schnell einen Arzt, sonst kann ich nicht versichern, dass es so bleibt.“
Der ältere Junge nickte verständnisvoll. „Ich baue eine Trage aus einer unserer Decken und danach schaffen wir ihn erst einmal weg von der Straße.“
Während er genau das tat, wachte das Mädchen sorgevoll neben dem Kranken und sah wie sie diesen von Minute zu Minute mehr verloren.
Nach einer quälend langen Zeit kam Anisto mit einer provisorischen Trage zurück und sie luden Foldar mit aller Vorsicht darauf.
Als sie weit genug von der Straße weg waren, erkundigte der Junge sich zweifelnd: „Schafft er es bis zum Sonnenuntergang? Ein weiterer Marsch bei helllichtem Tage könnte verheerend für uns sein!“
Doch das Mädchen schüttelte entschlossen den Kopf. Sie war in der Heilkunde nicht ganz ungebildet und sie hatte sofort gesehen, wie die Dinge standen. „Es würde ihn umbringen“, erklärte sie eindringlich. „Es tut mir leid, unseren neuen Plan so bald schon zu durchkreuzen, aber er hat nicht mehr viel Zeit. Wir müssen JETZT weitergehen!“
Anisto sah den bittenden Ausdruck in ihren Augen und wusste schweren Herzens, dass sie keine andere Wahl hatten. Wären sie nur einige Meter weiter entfernt vom Weg gegangen, so hätten sie das Weinen des Kleinen wohl kaum gehört. Aber sie hatten es nun einmal getan und jetzt war es ihre Pflicht, Foldar zu helfen.
Also nahmen sie ihr Gepäck und je ein Ende der Tragbahre und setzten ihre Reise in noch eiligerem Tempo fort. Die zusätzliche Last zerrte an ihren Kräften und ihnen wurde vor Müdigkeit fast schwarz vor Augen.
Zum Glück erreichten sie nach einer knappen Stunde endlich die Außenmauern des kleinen Dorfes Vosra.
Valora hätte vor Erleichterung weinen können. „Lasst uns durch!“, rief sie dem Wachtposten schon von Weitem zu. „Wir haben einen Verletzten! ...Foldar!“
„Foldar!“ Der Mann, der aussah, als sei er von ihrem Geschrei aufgeweckt worden, fuhr erschrocken hoch. Er bellte einige Worte in das Wachthäuschen und kam den Kinder kurz darauf mit zwei anderen Männern entgegen. Sie nahmen ihnen die Trage ab und hasteten damit durch das geöffnete Tor ins Dorf.
Anisto und Valora taumelten noch bis hinter die Mauer, dann brachen sie vor Erschöpfung in sich zusammen.
Als sie wieder erwachten, fanden sie sich in einer gemütlichen Holzhütte wieder. Eine Frau in den mittleren Jahren kam lächelnd auf sie zu, sobald sie gesehen hatte, dass ihre beiden Besucher die Augen geöffnet hatten. Sie trug ihr schwarzes Haar in einem ordentlichen Knoten zusammengebunden und hatte eine Schürze über ihren einfachen Kleidern an.
Den Kindern stieg der Duft einer frisch gekochten Mahlzeit in die Nasen und plötzlich merkten sie wie sehr hungrig sie doch waren. Wie lange war es her seit sie das letzte Mal etwas gegessen hatten? Sie wussten es nicht.
„Ihr seid endlich wach!“, begrüßte sie die Frau erleichtert. „Was ein Glück! Als ihr in Vosra angekommen seid, saht ihr aus wie lebende Geister. Aber erlaubt, dass ich mich euch vorstelle: Mein Name ist Baranda. Ich bin Foldars Mutter.“
„Und ich sein Vater“, fügte ihr Mann hinzu, der unbemerkt in der Tür erschienen war. Auf seinem Gesicht lag ein ernster und zugleich sehr müder Ausdruck. „Nennt mich Ferdor!“ Aufmerksam wanderten Anistos Augen vom Einen zum Anderen. Schließlich befand er, dass man den beiden trauen konnte. „Wie geht es Foldar?“, erkundigte er sich besorgt.
Valora musterte dessen Eltern eingehend und erkannte eine tiefe Erschöpfung in ihren Augen. „Er hat es doch geschafft, oder?“, wollte sie ängstlich wissen.
Ferdor nickte mit einem dankbaren Lächeln. „Er lebt und das ist euer Verdienst“, berichtete er und nahm den Kindern damit eine große Sorge ab. Ganz besonders Valora hatte den Kleinen so lieb gewonnen, wie es in der kurzen Zeit nur möglich gewesen war. „Habt tausend Dank. Unser Arzt konnte seine schwere Kopfverletzung heilen... Jedoch wird er sein Bein nie wieder benutzen können.“
Das Mädchen sah ihn entsetzt an. „Er kann nicht mehr laufen? Er hat doch noch seine ganze Jugend vor sich und da wird er nie wieder mit den anderen Kindern um die Wette rennen und toben?“
Baranda setzte sich neben Valora auf die Bettkante und hielt ihr einen Wasserkrug hin. „Ihr habt euer Bestes getan“, besänftigte sie die Vierzehnjährige. „Jetzt trinkt erst einmal etwas. Ihr beide seid noch sehr geschwächt. Es kann Tage und Wochen dauern, bis ihr wieder im Vollbesitz euer Kräfte sein werdet.“
Jetzt schreckte Anisto entsetzt auf und rief: „Das ist Zeit, die wir nicht haben! Wir müssen ...nach Ratock zu unserer Mutter. Sie hat vor kurzem ein Kind bekommen und schafft die Arbeit auf unserer Farm dort nicht allein. Vater ist an der Grenze zu Wobkada stationiert und kann ihr deswegen nicht helfen.“ Er hoffte inständig bei der Notlüge nicht rot geworden zu sein und warf Valora um Hilfe bittende Blicke zu.
„Wir haben schon den Weg von Valir hinter uns“, fuhr diese ziemlich glaubhaft fort. „Dort besuchen wir beide die Hofschule.“
Das schien Eindruck bei den beiden Erwachsenen zu hinterlassen. Sie sahen sich kurz an, dann meinte Baranda freundlich: „Da müsst ihr ja rechte Wunderkinder sein! Nun kommt erst einmal mit in die Küche und isst euch satt. Ich habe euch Kleidung auf den Stuhl da vorne gelegt. Eure eigene ist noch nicht ganz getrocknet. Wir werden nach dem Mittag weitersehen, wie wir euch helfen können.“
Die Kinder nickten dankbar und auch Anisto, und wenn er auch noch so schnell wieder aufbrechen wollte, musste zugeben, dass er vor Hunger sterben könnte. Also aßen sie zusammen mit ihren Gastgebern ausgiebig zum Mittag und genossen die vorzüglichen Kochkünste Barandas. Immer, wenn einer der Erwachsenen das Gespräch auf das Leben der Jugendlichen wendeten, wechselten diese rasch das Thema, sodass sie fast nur über Vosra und den Alltag der gutmütigen, kleinen Familie redeten. Baranda erzählte, dass Foldar ihr einziges Kind sei und dass sie es nicht hätten ertragen können, wenn ihm Ernsthafteres zugestoßen wäre. Der Junge war in der Tat vier Jahre alt und war der ganze Stolz des abgeschiedenen Dorfes.
„Wenn man so weit ab von den anderen Menschen lebt“, erläuterte Baranda liebevoll, „hat man seine eigenen Geschichten und Sagen. Foldar ist ganz vernarrt in sie. Er vergöttert ihre Helden und möchte genauso werden wie sie. Wenn er unseren Erzählern zuhört, ist er wie in einer anderen Welt.“
Anisto musste auf einmal an Lenio denken. Wie gut diese Beschreibung auf seinen Halbbruder passte! Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieses arme Kerlchen jetzt in der Gewalt des grausamen Königs von Roona war. So hatte er sich die Heldentaten in den alten Märchen bestimmt nicht vorgestellt!
Valora beteiligte sich im Gegensatz zu ihrem schweigsamen Gefährten lebhaft am Tischgespräch. „Erzählen Sie ihm denn auch von Roonas Helden?“, fragte die Jugendliche und dachte an ihre eigene Kinderzeit zurück. „Meine liebste Sage war immer die von Saduria, dem Kind der Weisheit. Kennen Sie die?“
Wieder leuchteten Valoras Augen, als sie davon sprach.
Doch Ferdor meinte nur trocken: „Natürlich, jeder kennt sie. Aber der Glaube ist hier weniger verbreitet als das Wissen. Seit dem Tod unserer Königin kommt mehr Gesindel durch diesen Wald als je zuvor. Betrüger, Diebe, Mörder, ...Wobkadaner. Das Vertrauen in unser Heimatland und alles was dazu gehört würde jedem Bürger schwinden, und sei er noch so artig, wenn er sähe, was sich in ihm herumtreibt. Wir können nur hoffen, dass der Krieg den alten Glanz des Königreiches zurückbringt und mit ihm wieder Vernunft und Gerechtigkeit einkehrt!“
Die beiden Kinder tauschten verstohlene Blicke als sie das Wort „Krieg“ heraushörten. Sie wussten jetzt, dass nach jenem alles nur noch schlimmer sein würde. Was Roona brauchte, war eine Königin - und die hatte es nun einmal nicht.
„Lass dies des Königs Sorge sein“, bat Baranda ihren Mann, von dem sie wusste, dass er noch Stunden so weiterreden konnte, leise, „und nicht Gesprächsthema an unserem Tisch. Die Kinder verstehen doch sowieso nichts von Krieg und Politik.“
Daraufhin wandten sie sich belangloseren Themen zu, wie zum Beispiel Ferdors Tätigkeit als Holzfäller. Anisto und Valora hatten es plötzlich eilig, aufzuessen.
Als sie schließlich Messer und Gabel beiseitelegten, schlug Baranda freundlich vor: „Wie wäre es, wenn ihr euch den Tag noch frei nehmt und das Dorf besichtigt. Wir freuen uns hier über jeden Gast, wenn er so höflich und nett ist wie ihr beide. In der Zeit bereiten wir alles für eure Abreise heute Abend vor.“
Valora nickte zustimmend. Sie fühlte sich wieder stark und kräftig genug für einen kleinen Erkundungsgang und hier hinter den Mauern Vosras kam sie sich so sicher und geborgen vor wie nirgendwo seit ihrem Aufbruch aus Quellingen.
Aber Anisto schien nicht zufrieden. „Wir würden es vorziehen, schon heute Abend weiter zu reisen... Ich hätte in jeder unnötig vergeudeten Nacht mehr und mehr schlechtes Gewissen, wenn ich wüsste, dass unsere arme Mutter allein auf unserer Farm sitzt und sich um uns sorgt.“ In Wirklichkeit bereitete ihm jedoch der Gedanke an seinen Bruder und an die Botschaft, die er zu überbringen hatte, eine schlaflose Nacht nach der anderen. Doch er traute diesen Menschen nicht genug, um ihnen die Wahrheit offen zu legen. Wahrscheinlich würde er nicht einmal seiner eigenen Mutter gegenüber genug Vertrauen aufbringen. Zu viel stand auf dem Spiel... Unwillkürlich tastete er nach dem Brief in seiner Tasche... und musste feststellen, dass er nicht mehr dort war.
Mit einem Schrei sprang er auf. „Meine Weste!“, rief er ganz außer sich. „Sie wurde gewaschen!“
Die drei Anderen starrten ihn an, als sei er verrückt geworden. Endlich verstand Valora, was er meinte, und rannte zurück in das Zimmer, in dem sie aufgewacht waren.
„O nein, o nein...“, murmelte Anisto wie von Sinnen vor sich her. „Jetzt ist alles vorbei... Meine Weste! Wasser!“
Vorsichtig versuchte Baranda ihn zu beruhigen: „Sie ist noch draußen auf der Leine. In einer Stunde kannst du sie wieder anziehen. Ich habe deine Weste schon nicht verlegt!“
Doch der Junge hörte ihr gar nicht zu, sondern stürmte nur immerzu durch die Küche, wobei er sich zornig die Haare raufte. Schließlich sah sein Kopf mit den roten Locken aus wie in Flammen gesteckt. In seine grünen Augen waren Tränen getreten. Alles war dahin! Seines Vaters Aufgabe verloren! Nun konnte er getrost nach Quellingen zurückkehren und in der Kneipe seines Stiefvaters arbeiten. Zu etwas besserem taugte er ja doch nicht!
Plötzlich stand Valora in der Tür und rief leise seinen Namen. In ihrer Hand hielt sie seinen Brief. Er hätte sie umarmen können! Und genau das tat er auch im nächsten Augenblick.
Sie lachte überrascht und rief, als er sie losließ, voller Erleichterung aus: „Alles ist gut! Alles in bester Ordnung!“
Neugierig verfolgten Baranda und Ferdor das seltsame Geschehen. „Um den Umschlag geht es euch“, erkannte die Frau endlich. „Na, das hättet ihr auch früher sagen können. Natürlich habe ich ihn aus der Tasche genommen, bevor ich die Weste in die Wäsche getan habe. Was wäre ich für eine Hausfrau, wenn ich das nicht täte?“
Auch wenn Anisto sich wieder beruhigt hatte, war das Essen nun beendet. Baranda räumte den Tisch ab, wobei sie Valoras höflich angebotene Hilfe ablehnte und die Kinder an die frische Luft schickte.
Die Sonne schien erstaunlich intensiv und tauchte alles in ein freundliches Licht. Von dem schlimmen Unwetter war jetzt nichts mehr zu sehen. Die beiden Jugendlichen durchkämmten voller Tatendrang das kleine Dorf, sprachen mit den Einwohnern, von denen sie als Helden gefeiert wurden, und ruhten sich schließlich auch einer sonnenbeschienenen Wiese aus.
„Was für ein herrliches Plätzchen!“, seufzte Valora erfüllt. „Schade, dass wir nicht länger bleiben können. Alle sind hier so gastfreundlich. Noch viel mehr, als es die Leute in Quellingen sind. Das hätte ich nie für möglich gehalten!“
Anisto nickte verständnisvoll und wusste auch eine treffende Antwort darauf. „Hier lässt man die Menschen sein wie sie sind und schreibt ihnen nichts vor. In Vosra hat mir noch niemand erzählt, dass ich zu abenteuerlustig bin oder du zu klug!“
Das Mädchen stimmte ihm leise zu. An diesem Ort ließe es sich wahrlich leben! Aber sie wusste natürlich auch, wie sehr es ihren Begleiter weiterzog. „Weißt du“, vertraute sie ihm an, während sie verträumt die vereinzelten Wölkchen am Himmel zählte, die dort wie Schäfchen vor sich hin hüpften. „So merkwürdig es mir auch erscheint, jetzt hat dieses unfassbare Abenteuer auch von mir ein wenig Besitz ergriffen. Ich wüsste einfach zu gern, wo es für mich enden wird!“
„Wohin auch immer uns der Wind tragen mag“, antwortete Anisto, der sich neben ihr in der warmen Sonne räkelte, „unser Schicksal soll dasselbe sein. Wir sind gemeinsam auf diese Fahrt gegangen, also wollen wir sie auch zusammen beenden, wenn es an der Zeit ist. Aber soweit sind wir jetzt noch längst nicht.“
Valora wandte ihm neugierig den Kopf zu und fragte erstaunt: „Woher willst du das schon wissen?“
Der Junge blinzelte, als er sich auf den Rücken drehte und seine Augen auf die hoch am Himmel stehende Sonne richtete. Auf wie viele Orte schien wohl ihr Licht in diesem Augenblick, fragte er sich träumend und ein sanfter Nordwind fuhr über sein Gesicht. Hatte er etwa das kalte Meer überquert, sowie die kargen Anhöhen des Wiesenlandes und war zu guter Letzt durch die grünen Gipfel der Bäume des Großen Waldes gefahren? „Ich habe da so ein Gefühl“, meinte er mit einem stillen Lächeln und sah seine beste Freundin an.
Da wusste sie irgendwie, dass er Recht hatte und ihre Reise noch lange nicht zu Ende war. Plötzlich kam ihr eine Idee: „Warum besuchen wir nicht Foldar in den Häusern der Heilung? Er dürfte schon wieder zu sich gekommen sein.“
Anisto nickte und stand auf. Seite an Seite liefen die Kinder zu dem ältesten Gebäude des Dorfes und hofften inständig, mit Foldar reden zu dürfen. Zu ihrer großen Erleichterung gab ihnen der Arzt ein paar Minuten. „Aber nicht zu lange und keine Aufregung!“, wies der alte Herr sie mit milder Strenge an und ließ sie in das kühle Krankenzimmer eintreten.
Sofort hörten sie Foldars Rufe, denn er hatte seine Retter gleich erkannt. Valora stürzte zu dem Kleinen und sah voller Freude, dass es ihm gut zu gehen schien.
Als auch Anisto zu dem Kranken treten wollte, hielt der Gelehrte ihn noch einmal zurück. „Er weiß noch nicht von seiner bleibenden Verletzung und es wäre wohl am besten, wenn er es von seinen Eltern beigebracht bekäme.“
Der Junge verstand, ging zu seiner Freundin und flüsterte ihr die Bitte leise ins Ohr. Valora nickte dem Arzt einsichtig zu und bemühte sich, sich dem kleinen Burschen gegenüber nichts anmerken zu lassen.
Überfreundlich begrüßte sie ihn: „Foldar, ich bin so glücklich, dass es dir gut geht! Du erinnerst dich noch an mich? Ich bin Valora und das hier ist mein Reisegefährte Anisto.“
Anisto lächelte dem Jungen kurz zu und überließ dem Mädchen das Reden, weil er sich in jedem Moment, in dem er dem armen Kleinen in die Augen sah, schmerzlichst gewahr wurde, dass dessen Jugend aufs Bitterste verspielt war.
Aber Valora ließ sich nichts anmerken und kümmerte sich voller Wärme und ihren Schützling. „Ich vergesse dein Gesicht nie“, sagte dieser leise, da er noch immer sehr geschwächt war, „denn der Himmel ist aufgegangen und ein Engel ist gekommen, um mich zu retten. Du hast mich gerettet.“
Sie lachte daraufhin berührt und bot an: „Ich erzähle dir eine Geschichte, wenn du willst!“
Anisto lächelte still in sich hinein, denn er wusste was nun kommen würde. Neben dem Krankenbett standen zwei Besucherstühle, auf denen sich die zwei Jugendlichen niederließen. „Ich kenne schon alle“, behauptete Foldar ernst. Aber trotzdem machte er es sich auf seinen Kissen bequem und wartete.
Valora lachte darüber nur und erwiderte: „Derjenige, dem keine Geschichte mehr neu ist, der tut mit ernsthaft leid. Aber die hast du ganz sicher noch nie gehört. Anisto übrigens auch nicht, selbst wenn er es gerade denkt.“
Der Ältere hob überrascht die Brauen und tatsächlich entschied sich das Mädchen nicht wie sonst für die Geschichte der Saduria. Stattdessen sang sie das Lied von Malanda und ihre Stimme erhob sich sanft und rein über Stille der heilenden Gemäuer.

Malanda, oh Malanda
Die Königin der Blumen war,
Schlichte, bunte, reichlich, rar
Das war das Werk der Malanda

Malanda, oh Malanda,
Die Lieblichste der Weisen,
Pflegt es um die Welt zu reisen.
Macht Blumensaat im Winde kreisen.

Malanda, oh Malanda
Du kleine süße Blütenfee,
Deinem Liebsten Forysee
Gibst du die Blume Orchidee.

So zog sich ihr Gesang noch über viele Verse hinweg und die Jungen lauschten ihr verzückt. Irgendwann, es ging schon auf den Abend zu, kam der Alte herein und bat die Gäste nun zu gehen. Foldar habe angeblich genug Aufregung für diesen Tag gehabt.
Die Kinder murrten, denn sie wussten nicht, dass der nette Herr schon mehrere Minuten vor der Tür auf das Ende des Liedes gewartet hatte, um sie nicht zu stören. Also verabschiedeten Valora und Anisto sich herzlich von dem kleinen Jungen.
Das Mädchen umarmte diesen besonders innig, da sie wusste, dass sie ihn wahrscheinlich niemals wiedersehen würde. „Irgendwann kommen wir dich wieder besuchen“, tröstete sie ihn und versuchte möglichst überzeugt zu klingen.
Foldar glaubte ihr, doch dennoch rollten viele kleine Tränchen über sein noch sehr blasses Gesicht.
Anisto und Valora gaben sich einen Ruck und ließen ihren kleinen Schützling hinter sich zurück. Er war jetzt in Sicherheit bei seiner Familie, was man von ihnen nicht sagen konnte. Ihre Reise musste jetzt weitergehen. Beunruhigt sah der Junge, dass die Abendsonne schon tief am Himmel stand. „Es wird Zeit“, drängte er und beschleunigte seine Schritte.
Als sie wieder am Hause Ferdors ankamen, wurden sie dort bereits erwartet. Foldars Vater stand vor der Haustür und hielt drei Pferde am Zügel. Es waren zwar keine besonders schönen Tiere, doch sie würden ihren Dienst schon tun.
„Diese hier möchten wir euch schenken, als Zeichen unseres Dankes“, eröffnete der Mann feierlich, wobei er auf die zwei Füchse zu seiner Linken deutete.
Die Kinder staunten. Anisto ging zu dem größeren Tier hinüber und betrachtete es fachmännisch. Schließlich befand er: „Das ist ein sehr großzügiges Geschenk von Ihnen. Die beiden scheinen bei kräftigster Gesundheit und im besten Alter zu sein und hinter dem Wald liegt eine große Ebene, die wir überqueren müssen. Haben Sie vielen Dank.“
Auch Valora übernahm die Zügel ihres Pferdes. Es war kleiner und stämmiger und das Mädchen, das ein wenig Ahnung von Pferden hatte, erkannte in seinen Augen eine große Gutmütigkeit. „Es werden gute Weggefährten sein“, meinte sie lächelnd. Ihre Reise schien plötzlich nicht mehr allzu aussichtslos. „Wie heißen sie denn?“
„Hallor und Margon.“ Ferdor deutete erst auf das Größere, dann auf das Kleinere von ihnen.
Nun trat Baranda vor und umarmte jedes der Kinder. „Ihr habt meinen einzigen Sohn gerettet“, sagte sie voller Dankbarkeit. „Dafür stehe ich immer in euer Schuld. Nehmt nun eure Taschen, die ich schon für euch gepackt habe, und habt eine gute und gesegnete Reise. Die Vorräte sind mit dem Besten und Nahrhaftesten aufgefüllt, das meine Küche zu bieten hat. Was die Kleider angeht, die wir euch zunächst geliehen hatten, so behaltet sie nun als kleine Gabe meinerseits.“ Der Abschied von der guten Frau viel beiden Kindern sehr schwer, aber am Ende brachen sie doch auf.
Ferdor wollte sie noch bis zum Waldrand begleiten und sie auf schnellstem Wege dort hinbringen, also konnten sie noch eine Weile beieinander bleiben. Valora ritt, so wie sie es gewohnt war, im Herrensitz und konnte mit ihren männlichen Begleitern gut mithalten. Sehr zu Anistos Zufriedenheit kamen sie rasch und sicher voran, da sie es nun wagen konnten, auf der Straße zu reiten. An dem Sattel Ferdors Pferdes war ein langes Schwert befestigt und in der Miene des kräftigen Mannes war zu erkennen, dass er es zu ihrer Verteidigung auch benutzen würde. „Unser Land ist nicht mehr das, was es einmal war“, hatte er zu Beginn ihres Rittes düster gesagt, als die Kinder die Waffe mit großen Augen angestarrt hatten. „Und Vorsicht ist bekanntlich besser als Nachsicht.“
Tatsächlich ereigneten sich jedoch keinerlei Zwischenfälle und die Anspannung wich bald einer ausgelassenen Fröhlichkeit, die sich die ganze Nacht über hielt. Mir gedämpften Stimmen wurden Lieder gesungen und Geschichten erzählt. Der gleichmäßige Schritt der Pferde machte die Kinder schließlich schläfrig und sie verließen sich bald völlig auf Ferdors Führung. Stundenlang ritten sie weiter die verlassene Straße entlang und der Mond beschien ihren Weg vom sternenklaren Himmel herab. Die Nacht erwies sich als kälter als sie es bei dem warmen Vortag erwartet hätten und Valora kuschelte sich wohlig in die schützende Wolljacke, die sie von Baranda bekommen hatte. Die Reise zu Pferd gefiel ihr deutlich besser als den beschwerlichen Fußweg, den sie zurückgelegt hatten, und Margon trug sie wie erwartet behutsam und zuverlässig voran.
Endlich konnte sie einen rosafarbenen Morgenschimmer über den Baumgipfeln ausmachen und lächelte müde. Ein schöner Sonnenaufgang kündigt einen schönen Tag an, dachte sie die alte Weisheit ihres Vaters zitierend.
Kurze Zeit später lichtete sich der Wald, bis sie schließlich an seinem Ende angekommen waren, und zu guter Letzt standen sie vor der Kleinen Roonatischen Ebene, die sich in sanftem Grün unter ihnen ausbreitete, ein Anblick, der ihnen den Atem raubte. Die Sonne erhob sich majestätisch am Horizont und ließ den Tau auf den hohen Gräsern aufblitzen. Wenige Meter vor ihnen lag die Grenzwasser. Friedlich floss sie dahin, denn der Wasserpegel war seit Abbruch des großen Regens wieder zurückgegangen. Eine solide Steinbrücke führte über den Fluss. Dahinter schlängelte sich die Straße weiter durch das Grasland, bis sie schließlich am Horizont verschwand.
„Jetzt ist es auch für uns Zeit, Lebewohl zu sagen“, meinte Ferdor und lächelte traurig. „Um nach Ratock zu kommen, braucht ihr nur der Straße zu folgen. Gute Reise und nochmals vielen Dank, denn ihr habt das gerettet, was mir am teuersten ist.“ Er hob die Hand zum Abschied und wendete sein Pferd.
„Wir haben zu danken“, rief Valora ihm noch nach, „für Ihre großzügige Hilfe. Wir werden das nie vergessen.“ Doch sie war nicht sicher, ob der Mann es noch gehört hatte, weil dieser schon zwischen den Bäumen verschwunden war.
Anisto seufzte schwer und verkündete bedauernd: „Jetzt sind wir auch nicht viel schlauer als am Anfang. Zwei Kinder, die allein mitten in einem endlosen Land stehen und eigentlich immer noch keine Ahnung haben, wohin sie gehen müssen. Botacs Spur haben wir wohl endgültig verloren...“
Valora sah ihn ungläubig an. „Sag bloß du gibst auf!“, rief sie erstaunt. „Das nehme ich dir nicht ab. Immerhin wissen wir jetzt, was es mit dem Brief auf sich hat, und können der Gefahr aus dem Weg gehen, anstatt ahnungslos in sie hinein zu laufen.“
Der Junge sah sich um und entdeckte eine große Eiche am Waldrand. Er sprang vom Pferd und kundschaftete die Stelle genauer aus. „Natürlich gebe ich nicht auf. Zumindest haben wir nun Pferde. Sieh mal, hier können wir den Tag über bleiben!“
Er führte Hallor ein paar Meter in den noch spärlichen Wald und band seine Zügel dort an einen niedrigen Ast. Ihr Rastplatz bot tatsächlich perfekten Schutz und dazu noch einen wunderschönen Ausblick über die Ebene.
Valora erlaubte Margon, sich zu seinem Freund zu gesellen, und machte sich auf, Wasser für die zwei Tiere aus dem nahen Fluss zu holen. „Was für ein schöner Tag!“, rief sie Anisto entgegen, als sie wiederkam. „Das Wasser ist so ruhig und klar, dass wir darin baden könnten und es steht kein Wölkchen am Himmel. Das ist der Frühling, so wie ich ihn bis jetzt vermisst habe!“ Strahlend hielt sie dem Jungen den mit Flusswasser gefüllten Kochtopf hin. Baranda hatte ihn ihrer Ausrüstung hinzugefügt und sein erster Nutzen bestand nun darin, die Pferde zu tränken. Wieder einmal schaffte das Mädchen es, Optimismus in ihr Abenteuer zu bringen und ihren Gefährten damit anzustecken. So verbrachten die beiden Jugendlichen einen fröhlichen Tag am Fluss, an dem sie badeten, schliefen und die friedliche Umgebung erkundeten. Nichts trübte ihre gute Laune und, als der Abend näher rückte, hatten beide die unheimlichen Verfolger der Vergangenheit zugeordnet.


Kapitel 11
Ein langer Ritt
Die letzten Stunden vor der Abenddämmerung hatten die Kinder im Schatten der Bäume geschlafen. Anisto wachte als erster auf. Die Sonne war bereits verschwunden. Einzig ein blasser Lichtschimmer über dem fernen Horizont war von ihr noch zu sehen. Bis auf das gelegentliche Schnauben der Pferde war alles still. Der Junge setzte sich auf und seufzte glücklich. So hatte er sich sein Abenteuer gewünscht: Gutes Wetter, eine friedliche Umgebung und neben der erschöpfenden Märsche auch noch ein wenig Erholung.
Valora lag zwei Meter von ihm entfernt direkt neben dem Stamm der alten Eiche. Ihr Atem ging ruhig und ebenmäßig, auf ihrem Gesicht lag ein entspannter Ausdruck.
Da der Junge sie noch ein paar Minuten schlafen lassen wollte, legte er den Pferden schon das Zaumzeug an und verstaute ihr Gepäck wieder in den Trage- und Satteltaschen. Abendbrot würden sie heute unterwegs zu sich nehmen. Danach ging er hinunter zum Fluss, um sich das Gesicht im kühlen Wasser zu waschen. Als er wiederkam, war auch das Mädchen wach.
„Guten Abend!“, sagte sie hervorragend gelaunt. „Wohin geht es heute?“
„Ratock“, war seine Antwort. „Es ist eine beachtliche Strecke, also lass uns sie so schnell wie möglich zurücklegen. Das Gelände wird flach und übersichtlich sein, ohne jede Möglichkeit sich zu verstecken. Für die Reitermeute, falls sie denn noch hinter uns her ist, werden wir praktisch wie auf dem Silbertablett liegen.“
Valora band die Pferde los und die Beiden saßen auf. „Ich glaube weniger, dass wir noch mehr Ärger mit denen haben werden“, entgegnete das Mädchen, während sie über die Brücke ritten. Der Hufschlag ihrer Pferde hallte in lauten, vollen Tönen auf den Steinen wieder, aus denen der etwa vier Meter lange Übergang gebaut war. „Wenn sie uns ein zweites Mal angreifen wollten, hätte es schon viele Gelegenheiten dafür gegeben. Vor Ferdor wären sie wohl kaum zurückgeschreckt.“
Anisto stimmte ihr im Stillen zu, denn auch er nahm an, dass ihre Feinde es bei der Gefangennahme Lenios belassen wollten. Aus einer der Taschen, die er am Sattel befestigt hatte, nahm er ein Stück Brot, brach es in zwei Teile und gab eines davon Valora.
Schweigend vor sich hin kauend ritten sie den leicht abfallenden Weg entlang. Zu beiden Seiten stand das Gras bis zu zwei Meter hoch, doch dank dem Gefälle hatten sie immer noch einen weiten Überblick über die Landschaft, die geheimnisvoll in Nebel getaucht vor ihnen lag. Der Mond schien in dieser Nacht hell genug, um sie rechtzeitig zu warnen, falls ihnen jemand entgegenkommen sollte. Dies war allerdings nicht der Fall. Es hatte ganz den Anschein, als lägen die anständigen Bürger wie zu dieser Zeit üblich in ihren Betten und die Räuber irgendwo anders auf Lauer.
Anisto schlug vor ein Stück zu traben und so flogen sie in großen Pferdeschritten über die Ebene. „So gefällt es mir, zu reisen!“, jubelte Valora übermütig. Margon hatte einen flachen Trab, der sich leicht sitzen ließ, und zeigte keine Anzeichen von Müdigkeit. „Was ein Glück, dass diese netten Menschen uns solche Pferde geschenkt haben!“
Da huschte ein Schatten über Anistos Gesicht. „Lenio hätte es geliebt“, bemerkte er bedauernd. „Schon in Valir hatte er sich auf das Reiten gefreut.“
Die Kinder verfielen in ein niedergeschlagenes Schweigen und ritten in flottem Tempo weiter. Zwischendurch wagten sie einen kleinen Galopp und ihre Geschwindigkeit war sehr zu Anistos Zufriedenheit. Lobend klopfte er Hallors langen Hals und merkte, dass er schon schweißüberströmt war. Darum gab der Junge das Zeichen zum Durchparieren.
Den Rest der Strecke legten sie im Schritt zurück. Alle paar Minuten drehte Anisto sich um und schaute mit Adleraugen zurück. Der Wald war nun nicht mehr zu sehen und auch von ihren Verfolgern gab es keine Spur. Also hatten sie Recht gehabt. Der König ließ sie in Frieden.
Wir sind uns anscheinend bedeutender vorgekommen, als wir es tatsächlich sind, dachte Anisto erleichtert, warum sollte ein so mächtiger Mann wie Elirius auch Interesse an uns kleinen Kindern haben?
Der Himmel wurde bereits heller, als endlich die Mauern von Ratock in Sicht kamen. Valora holte ihre Umhänge aus Gasthof hervor und sie zogen sich die Kapuzen weit ins Gesicht. Immerhin waren sie schon einmal erkannt worden. Die winzigen Türmchen rückten langsam näher und endlich ragte die dunkle Außenmauer von Ratock hoch vor ihnen auf. Wie in den meisten Städte wurde auch hier für das passieren des Tores Zoll eingenommen, aber es traf Anisto dieses Mal nicht so hart wie in Valir. Zumindest hatten sie genügend Vorräte für mehrere Tage.
Nachdem der Junge gezahlt und die Wache am Tor sie misstrauisch beäugt hatte, betraten sie Ratocks schmale Hauptstraße. Es war ein kleines, argwöhnisches Städtchen, dessen Bewohner sich zu dieser sehr frühen Stunde noch in ihren eng beieinander stehenden Häuslein verkrochen hatten. Die Fenster waren allesamt geschlossen, Stimmen und Gesang war nirgendwo zu hören. „Das ist wie Valir in klein“, beschrieb Valora treffend. „Wir sollten besser vorsichtig sein.“
Der Hufschlag ihrer Pferde hallte laut durch die Gassen und schien das einzige Geräusch weit und breit zu sein. Anisto ritt nun voran, weil die Straße zu eng für zwei Pferde nebeneinander war. Bald sah er ein größeres Gebäude vor ihnen, das ein Schild am Eingang trug, welches es als Gasthaus auszeichnete.
„Hier bleiben wir über Tag“, beschloss er, auch wenn das kalte Mauerwerk ihn abschreckte. „Hoffentlich können wir es wagen, ein paar Fragen über Botac zu stellen.“
Er sprang vom Pferd und gab Valora die Zügel. Sie wartete draußen, während Anisto ein Zimmer für sie reservierte.
Die Gaststube war so, wie er es erwartet hatte. Es saßen nur wenige Leute an den kleinen Tischen und die meisten von ihnen hatten den Mantelkragen bis an die Ohren hochgeklappt und die Hüte oder Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Sobald er eintrat, verstummten alle Gespräche auf einen Schlag und misstrauische Augen folgten ihm bis an die Theke. Der Wirt war ein großer, bärtiger Kerl, der Anisto aufmerksam beobachtete, als er näher kam. „Hugis Gasthaus, das einzige hier in Ratock, was kann ich für Sie tun?“, leierte er nebensächlich herunter und starrte den Jungen weiterhin finster an.
Dieser schluckte schwer und brachte schließlich mühsam hervor: „Ein Doppelzimmer, bitte, und Frühstück dorthin.“ Er kramte ein paar Münzen hervor und warf sie auf die Theke.
Der Mann raffte sie sofort zusammen und entgegnete: „Zimmer 13, Frühstück aufs Zimmer gibt’s nicht. Aber ich lass hier was aufdecken, wenn’s wollen.“ Er deutete mit einer seiner riesigen Pranken auf den Tisch, der direkt neben der Tür stand.
Anisto nickte stumm und fragte: „Haben Sie einen Stall für meine zwei Pferde?“
Der Wirt wartete und mit nur geringem Widerwillen schob der Junge noch eine Münze mehr über den Tresen. „Ich schick jemanden“, grunzte der Kerl und stopfte das Geld augenblicklich in seine Tasche.
Anisto machte, dass er wieder raus kam, und ein Stallbursche folgte ihm schweigend. Valora übergab ihm die Pferde und sah ihren Freund fragend an.
„Nicht gerade ein Paradies“, antwortete dieser schulterzuckend, „aber wenn wir die Augen offen halten, wird es wohl gehen. Frühstücken können wir nur unten.“
Valora schnitt eine Grimasse, denn sie hasste es, von fremden, unheimlichen Menschen umgeben in einer stickigen Kneipe zu sitzen. Anisto war auch nicht wohler. Doch er ließ sich nichts anmerken und führte das Mädchen zu dem Tisch, der ihnen zugewiesen worden war. Es dauerte eine Weile, bis ihnen das Essen gebracht wurde, und besonders gut schmeckte es auch nicht. Aber im Laufe ihrer Reise hatten sie gelernt weniger wählerisch zu sein. Dennoch aßen sie so schnell sie nur konnten, um keinen Moment länger als nötig hier zu verbringen. Immer wieder spürten sie bohrende Blicke und bei jedem Wort, das sie sagten, schien der ganze Saal zuzuhören. Als beide aufgegessen hatten, kam der Wirt zu ihrem Tisch und räumte das Geschirr weg. „Ihr seid die Kinder aus Quellingen“, raunte er plötzlich und die Jugendlichen zuckten erschrocken zusammen.
Rasch blickte Anisto sich um und stellte fest, dass es niemand gehört hatte, dann stritt er mit heftiger Stimme ab: „Wir sind aus Valir. Von Quellingen habe ich noch nie etwas gehört!“
Aber der Mann machte nur eine abwinkende Handbewegung. Er tat so, als wolle er den Tischabwischen und beugte sich dabei vor. „Lassen wir das! Ich hab’ ne Nachricht an euch.“ Aus einer seiner Taschen kramte er einen Umschlag hervor, pustete den Staub davon ab und übergab ihn Anisto. „Ist gestern angekommen“, erklärte er so leise wie möglich. „Wollten die Sache diskret behandeln. Haben aber auch was dafür rausspringen lassen. Müsst echt sehr einflussreiche Kerlchen sein.“
Hastig drehte Anisto den Umschlag um und erstarrte, als er das Siegel sah. Es war aus goldenem Wachs und zeigte ein steigendes Pferd mit wirbelndes Hufen! Schnell steckte er die Nachricht ein, nickte dem Wirt kurz zu und bedeutete Valora ihm zu folgen. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer sah er sich immer wieder hastig um und als sie endlich da waren, verriegelte er die Tür hinter ihnen und schob vorsichtshalber noch einen Stuhl unter die Klinke. Danach holte er den Brief wieder hervor und zeigte ihn dem Mädchen.
„Das Königssiegel!“, entfuhr es ihr mit zitternder Stimme. „Also sind sie uns die ganze Zeit gefolgt?“
Doch Anisto schüttelte nur ungeduldig den Kopf und entriss ihr den Umschlag wieder. „Nein, noch viel schlimmer: Sie waren uns immer einen Schritt voraus!“, verbesserte er scharf und begann im Zimmer auf und ab zu laufen, wie es so seine Art war.
Valora seufzte und drängte ihn, sich zu setzen. „Und erneut rate ich dir Ruhe zu bewahren“, sagte sie nicht zum ersten Mal. „Mach ihn auf. Irgendwann werden wir ohnehin erfahren, was darin steht!“
Der Junge atmete einmal tief durch und nickte widerwillig. Wieder einmal hatte er die Nerven verloren. Seine Finger waren nun ganz ruhig, als er das Siegel brach und den Umschlag öffnete. Es lag nur ein Briefbogen darin. Er gab ihn an Valora weiter und forderte sie auf, die Mitteilung vorzulesen.

„Anisto, Valora,
wir haben euren Gefährten Lenio in unserer Gewalt. Da er nicht bei sich trägt, was wir wollen, verlangen wir ein Treffen mit euch.
Kommt nach Seestadt und seid am dritten Tag der Königinnen dieses Monates in der siebzehnten Stunde auf dem Marktplatz der Stadt. Wenn ihr uns dort ohne Aufsehen den Brief übergebt, bekommt ihr Lenio bei bester Gesundheit zurück.
Wir bestehen auf Pünktlichkeit und können euch versichern, dass der Weg nach Seestadt selbst mit euren Mitteln in einer Woche leicht zu schaffen ist.
Bei Verspätung werden wir euren kleinen Freund töten. Ich kann euch nur raten, unsere Forderung ernst zu nehmen, da wir -wie ihr vielleicht schon wisst- im Auftrag Eurer Majestät des Königs von Roona selbst handeln.
Ich gebe euch mein Wort, dass wir uns an unseren Teil der Abmachung halten werden.
Rigon von Roonata, 1. Kommandant der königlichen Reitermeute.“

Nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hatte, rief sie aus vollster Seele: „Lenio lebt! Und wir können ihn wohlbehalten zurückbekommen! Ist das nicht herrlich?“
Aber Anisto war wortlos in sich zusammengesackt. Verwirrt bemerkte Valora, dass er weinte. „Ich hätte ihnen alles gegeben, sogar mein eigenes Leben“, schluchzte er leise. „Aber den Brief? Das kann ich nicht!“ Mit zitternden Händen kramte er die Botschaft der Königin heraus und hielt sie fest in beiden Händen, aus Furcht, jemand könnte sie ihm wegnehmen.
„Anisto, es geht hier um deinen eigenen Bruder!“, rief das Mädchen, entsetzt von dem, was sie hören musste. „Sie wollen uns nichts tun, wenn wir ihrer Aufforderung nachkommen, das haben sie geschworen. Geben wir ihnen den Brief jedoch nicht, werden sie uns mit Sicherheit umbringen. Und wir können ihnen nicht entkommen! Im Wald haben wir es versucht, doch nicht, dass sie uns bloß gefolgt wären. Nein, sie sind die ganze Zeit vor uns hermarschiert, weil sie immer wussten, was unser nächster Schritt sein würde. Du hast es doch selbst gesagt!“
Jetzt hob der Junge den Kopf und blickte sie verzweifelt an. Seine Augen waren geschwollen vom Heulen und seine feuerroten Haare klebten ihm tränendurchtränkt auf der Stirn. „Aber dieser Brief ist die einzige Möglichkeit, den Krieg zu verhindern“, begründete er sehr ernst. „Vor nicht allzu langer Zeit war ich beim Gedanke an ihn selber noch Feuer und Flamme, aber eine ungerechtfertigte Schlacht will ich nicht schlagen. Es steht das Leben vieler Unschuldiger auf dem Spiel. Roona ist unser Land! Möchtest du, dass es seinen Platz in der Geschichte als das Böse einnimmt?“
Das Mädchen schüttelte betroffen den Kopf und in ihre bernsteinfarbenen Augen traten Tränen. Jetzt begann sie zu verstehen, in welch schrecklichem Dilemma ihr Kamerad sich gerade befand. „Aber Lenio...“, wandte sie traurig ein. „Anisto, was sollen wir tun? Wir sind doch nur zwei hilflose Kinder aus einem winzigen Dorf, in dem man von wirklichen Helden keine Ahnung hat. Und du willst einen Krieg verhindern. Am Anfang war dies nur ein belangloses, kleines Abenteuer. Doch das hier... Da kommen wir nicht mehr lebend heraus!“
Der Junge stimmte ihr im Stillen zu. Was konnten sie schon ausrichten? Warum nicht einfach aufgeben und richtigen Kriegern das Feld überlassen? Aber das konnten sie nicht, wie sie beide tief in ihrem Herzen wussten. Denn nur sie kannten das fürchterliche Geheimnis um den Verrat an Roona und besaßen zudem noch den einzigen Beweis.
„Zunächst sollten wir sie glauben lassen, dass wir auf ihr Angebot eingehen“, schlug er deshalb halbherzig vor. „Wenn wir in Seestadt sind können wir uns ja immer noch etwas Besseres einfallen lassen.“ Er lachte humorlos. „Wir sind schon tolle Helden. Anstatt einen grandiosen Plan im Hinterkopf zu haben, sitzen wir in diesem trostlosen Zimmer herum und heulen uns die Augen aus! Falls später einmal irgendjemand von unserem glorreichen Abenteuer erzählen sollte, werde ich mir vorkommen wie eine Fälschung.“
Da sprang Valora plötzlich auf. „Fälschung?!“, schrie sie und schlug sich ungläubig mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Warum ist mir das nicht schon früher eingefallen. Habe tausend Dank, teuerster Anisto, denn dies ist des Rätsels Lösung: Wir fertigen eine Fälschung des Briefes an und übergeben diese, statt dem Original, der Reitermeute! Sie muss auch nicht perfekt sein, es reicht vollkommen, wenn sie das Auge im ersten Moment täuscht. Und wir schnappen uns Lenio und rennen so schnell wir nur können!“
Anisto dachte eine Weile nach und nickte schließlich. „Es ist riskant, aber vielleicht könnten wir es tatsächlich schaffen.“
Valora lächelte selbstzufrieden. Und wenn es auch nur ein kleinstes Fünkchen war, jetzt gab es wieder Hoffnung.
Die beiden Kinder entschlossen sich, sofort aufzubrechen, da sie für die Kopie in Seestadt soviel Zeit wie möglich brauchen würden. Ihre Müdigkeit vergaßen sie in all der Aufregung völlig. Trotz dem Tageslicht drängte Anisto zur Abreise. „Heute Nacht wird eh Vollmond sein“, überlegte er eilig, „also ist es fast egal, ob wir bei Tag oder Nacht weiterziehen. Außerdem verfolgt die Reitermeute selbst bei vollkommener Dunkelheit jeden unserer Schritte.“
Ihr Gepäck geschultert, hasteten sie die wackelige Holztreppe zur Gaststube hinunter. Im Laufen wies der Junge den Wirt an, ihnen ihre Pferde zu bringen. Für Höflichkeit hatten sie jetzt keine Zeit. Es musste schleunigst weitergehen. Hallor und Margon schnaubten temperamentvoll, als sie die Aufregung ihrer jungen Reiter spürten.
Die schwachen Strahlen der Morgensonne im Rücken galoppierten sie zum Westtor der kleinen Stadt hinaus. Vor ihnen lag, soweit das Auge reichte, nur leere Ebene. Dank der frühen Stunde war die Straße wie leergefegt und die flinken Pferdehufe flogen nur so über den festen Erdboden. Die Mittagszeit ging vorüber, doch sie gönnten sich keine Pause. Ab und zu fielen sie in einen leichten Trab. Ein langsameres Tempo erlaubte Anisto den armen Pferden nicht.
Nachmittags wurden sie jedoch zu Rücksicht gezwungen, da mehrere Handelskolonnen und Reiseverbände die schmale Straße verstopften. Valora brachte ihren verärgerten Gefährten zur Ruhe und so ritten sie gemächlich hinter der Planwagenschlange her, die sich bis zum Horizont hinzog. Ihre triefend nassen Pferde genossen den gemütlichen Schritt voller Dankbarkeit und gingen zufrieden schnaubend nebeneinander her.
Die Sonne hatte ihren höchsten Stand bereits wieder verlassen und neigte sich dem Horizont zu, als endlich einige der Reisenden eine links abzweigende Nebenstraße einschlugen und die vor den Kindern liegende Strecke nach und nach wieder leerte. Von dem stundenlangen Dahingezuckel ermüdet, rieb sich de Junge die Augen und spornte Hallor zu einem flotten Trab an. Als die Straße vollkommen frei wurde, galoppierten sie mit rascher Geschwindigkeit weiter. Ihre Pferde rasten erholt vorwärts und Anisto rief mit leuchtenden Augen: „Sieh nur, wir kommen voran!“
Tatsächlich erhoben sich am Horizont, von der Abendsonne rötlich gefärbt, schon die Anhöhen des Wiesenlandes dem Himmel entgegen. Valora staunte bei dem mächtigen Anblick. Das Gras, das den gewaltigen Hügel sanft überzog, loderte in den Strahlen der Sonne wie Feuer und ein schwacher Seewind ließ die Oberfläche des gigantischen Flammenmeeres Wellen schlagen. Anisto drängte sie eilig weiter und bald fanden sie sich selbst eingetaucht in das leuchtende Abendrot. Der salzige Nordwind ließ sie das nahe Meer schmecken, eine Legende, die keiner von ihnen je gesehen hatte.
Als sie den Fuße der Anhöhen erreicht hatten, verengte sich die Straße zu einem unwegsamen Pfad und ihre Pferde gerieten arg ins Stolpern.
„Anisto, wir müssen halten!“, brüllte Valora gegen den Wind ihrem Kameraden zu. „Die Pferde sind am Rande der Erschöpfung und ich bin es auch! Anisto, halte an!“
Missmutig parierte der Junge durch und blickte zu dem Mädchen zurück. Auch in seinen Augen sah sie schwere Müdigkeit, obwohl der entschlossene Ausdruck noch nicht aus ihnen gewichen war. „Nun gut, lass uns rasten“, gab er mürrisch nach. „Aber nicht länger als drei Stunden!“
Also saßen sie ab und führten ihre dampfenden Pferde ein Stück von der Straße weg. Ohne auf Deckung zu achten, schlugen sie ein behelfsmäßiges Lager auf. „Suche du Wasser für die Tiere!“, ordnete das Mädchen an. „Ich bereite uns etwas Essen zu.“
Während Anisto die Pferde zu einem nahegelegenem Wasserlauf führte, rührte Valora aus dem Mehl, das sie von Baranda erhalten hatten, und Wasser aus ihren Trinkflaschen einen klebrigen Brei an. Freudig überrascht entdeckte sie auch ein wenig Zucker in ihrer Vorratstasche.
Die gute Frau hat wirklich für alles gesorgt, dachte sie froh. Dazu öffnete sie noch ein Glas mit Früchten. Obgleich es nicht die beste Mahlzeit ihres Lebens war, sah Valora am Ende ziemlich zufrieden auf ihr Werk hinab. Wenn man seit dem Frühstück einen ganzen Tag nichts gegessen hatte, war man dankbar für alles, was man bekommen konnte.
„Ich wusste gar nicht, wie hungrig ich bin!“, rief Anisto aus, als er mit den Tieren wiederkam. Innerhalb weniger Minuten verschlangen sie das karge Mahl und füllten ihre Wasserflaschen an dem Flüsschen, das der Junge entdeckt hatte. Valora packte das Geschirr sorgfältig wieder zusammen und beschloss endlich: „Und jetzt gönnen wir uns ein paar Stunden Schlaf. Mir ist vor lauter Müdigkeit schon ganz schwindelig!“ Sie breitete ihren Mantel auf dem von der Sonne angewärmten Gras aus, das hier am Hang weniger hoch war und ab und zu kahle Stellen aufwies, und legte sich erleichtert nieder.
„Ruh dich nur aus!“, meinte der Junge tapfer. „Ich passe auf, dass dich niemand im Schlaf niedersticht, und vor allem, dass wir rechtzeitig wieder loskommen.“
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da hörte Valora schon nicht mehr zu. Eine Weile beobachtete der erschöpfte Junge, wie sie friedlich vor sich hin schlummerte. Aber irgendwann fielen auch ihm die vor Müdigkeit brennenden Augen zu.

Nur hundert Meter weiter oben, im dichten Gras verborgen, lachte Rigon leise. Er drehte sich zu seinen Männern um, die hinter ihm kauerten, und meinte kopfschüttelnd: „Diese dummen, kleinen Kinder! Jetzt liegen sie beide da und schlafen. Vollkommen schutzlos!“
Merkors schlitzförmige Augen weiteten sich gierig. „Warum schleichen wir nicht jetzt hin und holen uns diesen verdammten Brief“, schlug er hinterhältig vor. „Dann sagen wir Aron und seinen Jungs in Seestadt, dass sie den Kleinen abmurksen können, und fertig. Kinder weg, Problem aus der Welt, König zufrieden: Ganz einfach.“
Rigon lächelte ironisch. „Ja warum eigentlich nicht?“
Maritiim, der weiter hinten auf dem Bauch gelegen und das Gespräch stumm verfolgt hatte, kroch zu den zwei Gefährten und erinnerte leise an Merkor gewandt: „Weil Rigon sein Wort gegeben hat. Darum!“
Der Angesprochene machte eine abwertende Handbewegung. „Was ist das schon, ein Wort?“
Die anderen Männer, die bisher geschwiegen hatten, murmelten lachend ihre Beiträge dazu. Doch Maritiim zischte scharf und ließ sie verstummen. Darauf richtete er seine bohrenden Blicke auf Merkor. „Sind wir nicht alle Krieger, Diener des großen Königs?“, wies er den Abtrünnigen ohne Widerspruch zu dulden zurecht. „Und deshalb merke dir: Solange er kein Räuber, kein ehrenloser Bandit ist, ist das Wort eines Mannes sein Leben.“


Kapitel 12
Die Anhöhen
Mit der edlen Absicht das todmüde Mädchen vor jeglichen Feinden zu beschützen kam Anisto einige Stunden später wieder zu sich. Zu seinem großen Entsetzen war der Zeitpunkt, an dem sie eigentlich hatten aufbrechen wollen, schon lange verstrichen. Der Vollmond stand hell am Himmel über ihm und missmutig musste er erkennen, dass es wohl schon nach Mitternacht war. Rasch rieb er sich die Augen und kroch zu dem Platz hinüber, wo Valora sich schlafen gelegt hatte. Zumindest wollte er sich seinen kleinen Aussetzer nicht anmerken lassen.
„Es ist schon in Ordnung“, kicherte das Mädchen, dass hellwach und sichtlich amüsiert im weichen Gras hockte, leise. „Jeder Mensch braucht Schlaf und wir haben es anscheinend überlebt.“
Der Junge schrak entgeistert zurück und starrte sie an. Verärgert merkte er, wie sein Kopf vor Verlegenheit zu glühen begann, und war sich ganz sicher, dass auch sie es nicht übersah. Unverständlich murmelte er ein paar Worte, wie: „Hätte nicht passieren dürfen... Nur kurz eingenickt...“
Gnädig erlöste Valora ihn aus der unangenehmen Situation. Immerhin war sie selbst erst seit wenigen Minuten wach. „Hier, die habe ich uns gerade fertig gemacht“, berichtete sie schnell und reichte ihm zwei belegte Brote. „Allzu viel Zeit haben wir zum Glück nicht verloren, dennoch sollten wir jetzt gleich weiterziehen. Der Mond scheint hell heute Nacht und selbst, wenn unsere Feinde uns leichter beobachten können, weißt er uns sicher den Weg die steinigen Anhöhen hinauf.“
Nickend stimmte der Junge zu, da er sich noch nicht in der Lage fühlte, wieder großspurig das Wort zu übernehmen. Mit der Zeit kam er jedoch über die kleine Verlegenheit hinweg und sorgte fast mit dem üblichen Selbstbewusstsein dafür, dass die Pferde gesattelt und ihre Spuren so gut es ging verwüscht wurden.
Mühsam arbeiteten sie sich vorwärts. Das nun steil ansteigende Gelände machte ihren armen Pferden, die aus ihrem Wald andere Bedingungen gewohnt waren, stark zu schaffen und immer wieder knickte eines von ihnen um und fiel Meter hinter dem anderen zurück. Doch die tapferen Tiere gaben nicht auf, was die Kinder ihnen hoch anrechneten.
„Ferdor hat uns nicht nur ein schnelles Fortbewegungsmittel gegeben“, bemerkte Anisto und klopfte Hallor wohlwollend. „Das sind mutige Gefährten, wie man sie nicht leicht findet!“
Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf den Pfad vor ihm. Obwohl der Mond alles in ein klares Licht tauchte, fiel es ihm schwer, den Weg sicher zu erkennen. Oft ragten größere Steine aus dem grasüberwucherten Boden auf, die erst wenige Tritte vor den Pferdehufen ins Auge fielen. Dazu kam noch, dass der Pfad viele Male unerwartete Wendungen einschlug und man, passte man nicht sehr auf, leicht von ihm abkam.
Valora ritt wie üblich hinter ihrem Freund her und behielt die Ebene unter ihnen achtsam im Blick. Es war schon eine gespenstische Aussicht: Das Grasland lag vollkommen ruhig und verlassen in einem schwachen, leuchtenden Nebel. Ab und zu fuhr ein jäher Windstoß über ihre Köpfe hinweg und das Mädchen sah eine leichte Welle durch die Spitzen der hohen Gräser laufen. „Es sind jetzt noch sechs Tage, bis zum dritten Tag der Königinnen“, stellte sie zweifelnd fest, „und wir kommen nur langsam voran. Bist du dir sicher, dass wir es rechtzeitig schaffen werden? Bedenke, es wird möglicherweise eine Weile dauern, den Brief zu fälschen!“
Doch der Junge war von einer bitteren Zuversicht erfüllt und antwortete wahrheitsgemäß: „Dies ist die härteste Herausforderung, auf die wir im Laufe unserer Reise so weit gestoßen sind. Seestadt ist nicht mehr fern und ich bin überzeugt davon, dass wir noch heute dort ankommen könnten. Nichtsdestotrotz wird es ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen, ein zweites Exemplar der königlichen Schrift herzustellen. Unser Feind ist bis jetzt immer klüger gewesen als wir. Aber wir werden sehen...“
Das gab dem Mädchen kaum Hoffnung, jedoch ließ er ihr keine Zeit, darüber nachzudenken. Energisch trieb er Hallor voran und sie kämpften sich mit nun fast selbstmörderischem Eifer die Hänge hinauf. Die verunsicherten Pferde stolperten unter ängstlichem Schnauben hintereinander her. Der Boden wurde immer steiniger und von dem ursprünglichem Graspfad war irgendwann überhaupt nichts mehr zu sehen. Zu allem Übel nahm die Steigung plötzlich um ein Vielfaches zu, sodass es unmöglich war, dem Weg steil nach oben zu folgen. Mühsam kletterten die tapferen Pferde weiter.
Gerade, als Anisto zugeben wollte, dass sie unter diesen gefährlichen Bedingungen keine zwei Meter mehr zurücklegen konnten, kamen sie an eine Weggabelung. Der rechte Pfad war noch schmaler, als der Hauptweg, und sah aus als sei er seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Er führte schnurgerade die Anhöhen hinauf, dem vielen Geröll und der riskanten Steigung zum Trotz. Die Kinder verfolgten seinen Verlauf, bis er sich zwischen scharfen Felskanten in der Dunkelheit verlor. Ein Windstoß pfiff ihnen unheimlich entgegen und von fern hörten sie das leise Geräusch von hinabfallenden Steinen.
„Das ist aussichtslos, Anisto“, befand Valora und sah ihren Kameraden bittend an und dieser musste ihr, so sehr es ihn auch vorwärts drängte, schweren Herzens recht geben.
Nun richteten sich ihrer beider Blicke auf den zweiten Weg, der links von ihnen abbog. Er hatte etwa die selbe Breite, wie die Straße, der sie bisher gefolgt waren, und es hatte fast den Anschein, als wäre er einigermaßen anständig befestigt. In weit ausholenden Serpentinen wand er sich die Anhöhen hinauf. Auf den ersten Blick erkannten beide Kinder, dass er einen Umweg von mehreren Stunden für sie bedeuten würde. Aber hatten sie eine Wahl?
Anisto nickte dem Mädchen knapp zu und schlug missmutig den sicheren Pfad ein. Dabei kam er sich vor wie ein schrecklicher Feigling. Damals, zu Zeiten der großen Königin hatte es noch richtige Boten gegeben. Und jene hätten den anderen Pfad gewählt, da war er sich sicher. Zumindest die Pferde schienen sich über den neuen Boden zu freuen. Weil die Steigung nun fast nicht mehr bemerkbar war, schritten sie trittsicher aus und fassten wieder Mut. Anisto gab Hallor einen leichten Schenkeldruck und der zuverlässige Hengst trabte vorsichtig an. Margon folgte seinem Freund ohne Zögern, sodass Valora ihm vertrauensvoll mehr Zügel gab.
So trabten sie daher und allmählich kroch das erste Tageslicht seitlich über die Anhöhen. Der Weg vor ihnen wurde wieder klar sichtbar und war nun gefahrlos zu bereiten. Die zwei Kinder bewunderten mit offenem Mund die weite Landschaft, die unter ihnen lag. In sanften, grasbewachsenen Hügeln fiel das Gelände ab und ging Hunderte von Metern tiefer in die friedliche Kleine Ebene über. Diese erstreckte sich in süd- öst- und westlicher Richtung, soweit das Auge reichte. Nur im Norden lagen die Gipfel der Anhöhen.
„Es ist nicht mehr weit, bis wir oben angekommen sind“, meinte Anisto und betrachtete die Hügellandschaft vor ihnen. „Dahinter müsste es auf flacher Ebene weitergehen.“
Valora schenkte ihm dankbare Blicke, die er nur erwidern konnte. Keiner von ihnen würde eine weitere Nacht in diesem Gelände, und mochte es jetzt auch noch so friedlich aussehen, überstehen. Eine weitere Stunde folgten sie dem nun sicheren Weg, bis sie endlich oben angekommen waren. Die Sonne war nun ganz hinter dem Horizont aufgegangen und tauchte die Kleine Ebene in ein goldenes Licht.
Erleichtert sahen die Kinder die weiten Wiesen vor ihnen, durch deren kurzes Gras sich nun eine gut befestigte Straße schlängelte.
„Wir haben es geschafft!“, rief Valora glücklich. „Ich kann schon das Meer riechen. Ist das nicht wunderbar?“ Sie wendete ihr Pferd und blickte die steilen Anhöhen, die sie in der vergangenen Nacht bewältigt hatten, hinab.
Anisto folgte ihrem Beispiel und ihm stockte vor Ehrfurcht der Atem. „Sie nur!“, flüsterte er ergriffen. „Wildpferde!“
Tatsächlich bahnte sich eine Herde der schönsten Pferde, die die Kinder je gesehen hatten, einen Weg die Anhöhen hinab. Ihr Leithengst führte sie mutig und voller Geschick durch die tückische Felslandschaft, an der ihre Reittiere beinahe gescheitert wären. Doch seine trittsicheren Hufe fanden die ungefährlichen Stellen zwischen den losen Steinen mühelos.
Valora staunte mit offenem Munde. „Das ist nicht irgendeine Herde“, erklärte sie überwältigt von der Schönheit der Tiere. „Es sind die Königspferde!“
Als sie das fragende Gesicht ihres Gefährten sah, fügte sie hinzu: „Ich habe in dem Buch, das du mir geschenkt hast, von ihnen gelesen. Es sind die direkten Nachkommen der Amacadi Linie. Die Pferde jener Zucht waren seit jeher die Reittiere der Königinnen. Der Legende nach sollen sie sogar mit diesen sprechen können. Seitdem es keine Königin mehr in Roona gibt, leben die edelsten aller Rosse frei und ziehen im ganzen Land umher. Ihr Anführer ist der berühmte Boahr Amacadi, der seine Herde meist von den Menschen verborgen hält. Es ist ein Wunder, dass wir sie sehen dürfen!“
Anisto beobachtete den schönen Hengst staunend. Die Sonne ließ sein braunes Fell samtig schimmern und seine dichte schwarze Mähne flog im frischen Seewind, als er den edlen Kopf wandte und seine feurigen Blicke nun direkt auf die Kinder gerichtet hielt. Sein hübsches Gesicht hatte die feinen Züge der Wüstenpferde, zu denen tatsächlich eine Verwandtschaft bestand. In den wenigen Sekunden, als Anistos und Valoras Blicke auf die des Pferdefürsten trafen, waren beide wie verzaubert. Doch schließlich wandte sich der Hengst seiner Herde zu, die etwa fünfzig reinblütige und wunderschöne Tiere umfasste, und trieb diese energisch vorwärts. In anmutigen Bewegungen schritt er bis zum Fuße der Berge und wechselte dort in einen kraftvollen Galopp. Die Kinder sahen beeindruckt zu, wie die königliche Herde rasend schnell über die flache Ebene schoss. Ein paar Minuten lang hörten sie noch das mächtige Trommeln der dahinfliegenden Hufe, bis endlich alles still war. Nur noch ein winziger Punkt am Horizont und eine dichte Staubwolke darüber erinnerten an das, was sie soeben gesehen hatten.
„Für die Strecke haben wir Stunden gebraucht!“, rief Anisto aufgebracht. „Das ist doch unmöglich!“
Aber Valora schüttelte nur den Kopf, fasziniert von dem Anblick, der sich ihnen geboten hatte, und meinte leise: „Das ist das alte Roona mit seinen königlichen Zaubern, Anisto. Viel zu selten erlebt man es heutzutage noch. Und wenn nicht bald eine Königin die Traditionen unseres Volkes rettet, wird es schließlich ganz verschwinden.“
Der Junge betrachtete sie eingehend, wie sie immer noch auf die Ebene hinabstarrte, und bemerkte eine ungewohnte Ergriffenheit an ihr. Der Wind ließ ihre langen Haare das sonnengebräunte Gesicht umspielen und für einen Moment sah auch sie aus, wie ein Denkmal aus längst vergangener Zeit. Es war wohl das, wonach sich alle Frauen in Roona sehnten: Eine Königin aus mandaalaschem Hause, die sowohl stark als auch klug war und den Zauber des alten Roona zusammenhalten würde. Nur eine solche konnte das Reich von der Schreckensherrschaft Elirius’ befreien.
„Lass uns für eine Weile rasten“, schlug der Junge vorsichtig vor und bemerkte mit Erleichterung wie seine Freundin aus der unheimlichen Erstarrung fiel. Sie lächelte zustimmend.
Gemeinsam versorgten sie die Pferde und bereiteten ein bescheidenes Frühstück für sich selber zu. Entsetzt mussten sie dabei feststellen, wie sehr ihre Vorräte seit der Abreise aus Vosra zusammengeschrumpft waren. Es war ein weiterer Grund für sie, rasch nach Seestadt zu gelangen.
Also genossen sie nur kurz die schwache Frühlingssonne und aßen eine Kleinigkeit, bevor sie erneut aufbrachen.
„Wer weiß, vielleicht ist dies die letzte Etappe unserer Reise“, mutmaßte Anisto erwartungsvoll. „Ich habe jedenfalls so ein Gefühl, dass wir Botac trotz aller Ablenkungen dicht auf den Fersen sind.“
Valora seufzte darauf und gab ihm Hallors Zügel. Die Kinder saßen auf und ritten ihrem Ziel in gemächlichem Trabe entgegen.
„Vielleicht ist es auch unserer Fahrt Ende, weil diese Reitermeute uns zu guter Letzt doch überlistet“, sprach das Mädchen ihre beunruhigenden Gedanken aus und es gelang ihnen auch im Laufe des Tages nicht, diese zu vergessen.
Dazu kam, dass gegen Mittag vom Meer her dichte Wolken aufzogen, und mit ihnen ein eiskalter Wind über das Land brauste. Fröstelnd legten sich die Jugendlichen ihre Gasthofer Umhänge um und ritten mit vereisten Gesichtern weiter.
„Hier merkt man, dass der Sommer noch fern ist“, meinte Anisto missmutig, „Wir haben eben doch erst Mitte April.“
Beide erwarteten jeden Moment einen kräftigen Regenschauer, als sie zu den dunklen Wolken über ihnen aufblickten, doch zumindest das wurde ihnen erspart.
Es war schon später Nachmittag und die Kinder fühlten sich wie mit einer dünnen Eisschicht überzogen, da sahen sie endlich das Meer am Horizont. Kurz darauf tauchten auch schon die ersten Türme und Häuser von Seestadt vor ihnen auf. Die Stadt lag nahe an den gefährlichen Steilklippen und war von Westen sowie von Norden von ihnen umgeben. Zu den anderen Richtungen wurde sie von einer starken Mauer geschützt, an der man von weitem erkennen konnte, dass Seestadt zu den bedeutendsten Handelsstädten Roonas gehörte.
„Kannst du dir vorstellen, dass Lenio uns in diesem Moment so nahe ist?“, fragte Valora ungläubig. Anisto konnte es nicht. Jedes dieser Gebäude, die nun in seinem Blickfeld erschienen, konnte der Aufenthaltsort seines gefangenen Halbbruders sein.
Stattdessen antwortete er verbittert: „Aber ich kann mit vorstellen, dass wir hier jede Menge Zoll zahlen werden müssen. Hoffen wir, dass wir noch genügend Geld für den Urkundenfälscher übrig behalten!“
Tatsächlich hatte er recht. Widerstrebend musste er am großen Tor der Stadt fast alle ihre Münzen abgeben. Dafür durften sie die überfüllten Straßen Seestadts betreten.
„Hier sind wir also“, bemerkte er mit grimmiger Entschlossenheit und trieb sein Pferd an. „Dann auf in den Kampf!“


Kapitel 13
Seestadt
Zu ihrem großen Glück fanden die beiden Kinder schon bald eine günstige Herberge. Alles, was sie sich noch leisten konnten, war eine Übernachtung in einer alten Scheune am Stadtrand, doch diese erfüllte ihren Zweck voll und ganz. Valora machte ihnen Betten aus weichem Heu und Stroh zurecht, die etwas abseits von den Schlafplätzen anderer Gäste lagen, sodass sie sich noch unterhalten konnten, ohne Angst vor unerwünschten Mithörern haben zu müssen.
Währenddessen brachte Anisto die beiden Pferde in einem kleinen Nebenraum unter, wo sie zusammen ihren Artgenossen gefüttert und getränkt wurden. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass die treuen Tiere gut versorgt waren, kehrte er zu seiner Kameradin zurück. Diese hatte schon ein Abendessen aus Käsebrot und Quellwasser zusammengestellt, welches alles war, was sie noch an Vorräten hatten.
„Ich werde morgen ein paar Nahrungsmittel auf dem Markt kaufen müssen“, teilte sie dem Jungen behutsam mit, der daraufhin das Gesicht verzog. „Es bleibt uns kaum etwas anderes übrig, da der Ritt über die Ebene unseren Proviant fast ganz aufgezehrt hat. Wir müssen essen, das lässt sich nun einmal nicht ändern!“
Anisto musste dies wohl oder übel einsehen, auch wenn es ihm in der Seele weh tat, noch mehr von ihrem kostbaren Geld auszugeben. Mürrisch kaute er an dem trockenen Brot und erinnerte sich wehmütig an die gute Küche seiner Mutter. Ob er wohl je nach Hause zurückkehren konnte? Da nahm er den Brief heraus und betrachtete ihn nachdenklich. Gleich morgen früh würden sie ihm zum Urkundenfälscher bringen. Dieser hatte anschließend noch fünf Tage Zeit, um seine Aufgabe zu erfüllen. Wenn sie die Fälschung am dritten Tag der Königinnen noch nicht hatten, würde es eng werden für sie alle. Er mochte gar nicht daran denken, wie es seinem armen Halbbruder erst erginge...
Traurig legte er das Brot aus der Hand. Der Appetit war ihm nun gründlich vergangen. „Ich versuche ein wenig zu schlafen“, teilte er Valora leise mit. „Morgen ist ein langer Tag. Es wird mir immer deutlicher gewahr: Jetzt geht es um alles oder nichts.“ Er wickelte sich in eine ihrer grob gewebten Decken und drehte sich gähnend auf die Seite.
Das Mädchen räumte schweigend die Reste des Mahls beiseite und legte sich danach neben ihn. Das Stroh drang durch ihre leichte Kleidung und hielt sie hartnäckig wach, in welche Richtung sie sich auch drehen mochte. „Versprich mir, Anisto“, bat sie ihren Freund auf einmal in flehendem Ton, „dass du ihnen den Brief geben wirst, falls unser Leben gegen ihn stehen sollte. Ich will kein Feigling sein, doch eigentlich bin ich auch nur ein gewöhnliches, kleines Mädchen. Vieles auf der Welt ist so ungerecht. Unter anderem werde ich es hassen, Kinder großziehen und in der Küche stehen zu müssen, anstatt als Gelehrter große Dinge zu vollbringen. Glaub mir, manchmal erschien mir das Leben so sinnlos, dass ich es überhaupt nicht mehr wollte. Aber trotzdem habe ich Angst vor dem Tod. Meinst du, wir werden große Schmerzen zu ertragen haben, bevor es vorbei ist?“
Anisto drehte sich auf die ihr zugewandten Seite und schaute sie lange und ratlos an. In ihren gelbbraunen Augen leuchtete nackte Angst und ihre schmalen Lippen zitterten ein wenig. Endlich entgegnete er schwach: „So wird es nicht kommen.“
Bekümmert senkte sie den Kopf, da Anisto ihr kein Versprechen gegeben hatte. Jetzt wusste sie also, was ihm wichtig war.
Bald fielen die Kinder in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem Anisto als erster wieder erwachte. Rasch vergewisserte er sich davon, den geheimnisumwogenen Brief noch immer in der Tasche zu haben. Erleichtert ließ er sich in das staubige Stroh zurücksinken uns schloss die Augen. Es gab vieles, das sie heute zu erledigen hatten, doch nichtsdestotrotz gönnte er sich noch einen ruhigen Moment, in dem er angestrengt versuchte, die Ereignisse der letzten zwei Wochen aus seinem Kopf zu verbannen. Neben sich hörte er, wie Valora sich raschelnd erhob und unterdrückt gähnte. Als sie sich vorsichtig über ihn beugte und mit sanfter Stimme seinen Namen rief, schlug Anisto die hellwachen, grünen Augen auf und blickte damit in ihr verschlafenes Gesicht.
„Ich wollte dich nicht wecken“, meinte er leise.
Sie nickte dankbar und fuhr sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare. Die von Spinnenweben verhangenen Fenster ließen nur wenig Licht der warmen Morgensonne in die stille Scheune fallen. In der Luft hingen tanzende Staubpartikel und hin und wieder hallte ein Niesen durch den Raum. „Es ist Zeit“, verkündete das Mädchen seufzend, „und wir sollten nicht zu sorglos mit ihr umgehen.“ Fünf Tage noch, dachte sie bei sich und es fröstelte ihr. Stillschweigend klopften sie sich einzelne Strohhalme aus ihrer Kleidung und nahmen die wenigen Überbleibsel des Abendessens zu sich. Danach begannen die Kinder damit, ihr Lager abzubrechen. Zwar hatten sie geplant, auch die nächsten sechs Nächte hier zu verbringen, doch wollten sie ihr Gepäck nur ungern offen und für jedermann zugänglich liegen lassen.
Als die Beiden schließlich die Unterkunft verließen, war es bereits zehn Uhr. Die Sonne stand schon über den roten Dächern der Stadt und ließ sie erglimmen wie ein endloses Feuermeer. Gemeinsam machten sich Anisto und Valora auf in Richtung des Markplatzes. Die Straßen, auf denen sie gingen, waren breit und sorgfältig gepflastert, was von großem Reichtum zeugte, und die Gebäude an ihren Seiten waren allesamt aus strahlend weiß verputztem Stein. Schlanke, perfekt gebaute Mauern bildeten die sieben Verteidigungsringe, die die Stadt im Krieg uneinnehmbar machten, und elegante Torbögen überspannten die schmalen Durchgänge darin in federleichten Konstruktionen. Seestadt strahlte selbst in diesen bitteren Jahren in einer erhabenen Schönheit, die an glorreiche Zeiten erinnerte. Sie bildete die überwältigende Schwesterstadt zum königlichen Roonata. Eine enge Zusammenarbeit hatte einst die beiden Handelsmetropolen miteinander verbunden und nun war sie die einzige der Zwei, die das Ableben der letzten Königin überstanden hatte.
Es forderte einen Fußmarsch von etwa einer Stunde, um ins Herz der Stadt zu gelangen, welchen die Kinder dazu nutzen, deren Herrlichkeit zu bewundern.
„Jetzt weiß ich wahrhaftig, warum es die Erwachsenen so nach dem alten Roona verzehrt!“, staunte Valora mit offenem Munde, als sie auf den weiten Marktplatz traten.
Er füllte den gesamten inneren Ring aus mit einem lebendigem Treiben. Hunderte von Menschen umschwärmten die bunten Stände, an denen Waren aller Art feilgeboten wurden. Die starke Verteidigungsmauer, die den runden Platz sicher umschloss, war von innen mit allerlei Symbolen und Bordüren verziert, und über jedem der acht Eingangstore waren die ehrenvollen Gesichter der ersten Fürsten Namuras, der nördlichsten Provinz Roonas, welcher Seestadt angehörte, in den weißen Stein gehauen. Grüne Flaggen mit steigenden Pferden wehten über den zierlichen Türmchen und priesen Roonas unbesiegbare Macht. Das Wetter schien ihnen an ihrem ersten Tag in der Stadt wohlgesonnen, da der anhaltende Seewind die dichtesten Wolken vom Himmel gepustet hatte und ab und an ein goldenes Licht durch sie hindurchfiel, um die Menschen hier mit froher Lebhaftigkeit zu erfüllen.
„Lass uns heute gemeinsam durch die Straßen ziehen“, bat das Mädchen lächelnd. „Alles ist so wunderbar, dass ich es mit meinem engsten Freund zusammen genießen möchte.“
Anisto warf ihr überraschte Blicke zu und erkannte, dass der Zauber der alten Stadt wahre Wunder an ihr vollbracht hatte. Die Angst und Anspannung der vergangenen Tage war aus ihrem vor Übermut geröteten Gesicht gewichen, auf dem stattdessen ein Ausdruck begeisterter Freude stand.
Also vergaßen sie für einen winzigen, erholsamen Moment die entfliehende Zeit und schlenderten wie Geschwister Hand in Hand über den riesigen Marktplatz. Man hätte sie für einfache Besucher halten können, die es selbst in dieser Zeit noch zu genüge gab.
Die zwei Kinder füllten ihren Vorrat an Nahrungsmitteln wieder auf, wobei sie freudig überrascht feststellten, dass die Preise weit weniger stolz waren, als zuvor vermutet.
„Sieh hier, Anisto!“, rief Valora strahlend und rannte einige Meter voraus zu einem besonders prächtigen Stoffstand. Der Junge folgte ihr rasch und sie präsentierte ihm einen Ballen wunderschöner, geschmeidiger Seide. Sie war in einem dunklen Violett gefärbt, einem satten, ebenmäßigen Ton, wie ihn das Mädchen noch nie zuvor in ihrem bescheidenem Leben gesehen hatte, und mit einem feinem, altrosafarbenen Blumenmuster bestickt.
Der aufmerksame Verkäufer hinter dem Stand fragte eilig: „Wollen kaufen, die Dame? Steht Ihrem dunklem Haar sicher ausgezeichnet, mein Fräulein. Betont auf edle Weise die braune Haut und macht sie noch makelloser! Werden sich vorkommen, wie eine kleine Prinzessin!“
Verzückt berührte Valora den leichten Stoff und ihr Herz tat ein paar Sprünge vor Sehnsucht. „Können wir uns nicht zumindest genügend davon für einen Schal leisten?“, wollte sie von Anisto flehend wissen. „Für einen sehr kurzen, meine ich natürlich. Es wird schon nicht so teuer sein!“
„50 Goldstücke für einen Meter“, warf der Mann in Aussicht auf ein lohnendes Geschäft hoffnungsvoll ein. Das war in der Tat ein mächtiger Preis. Doch es war auch ein herrlicher Tag, der ihre Laune weit gehoben hatte, weswegen Anisto das plötzliche Verlangen spürte, dem lieben Mädchen ein Geschenk zu machen.
„So nehmen wir einen halben Meter“, beschloss er kühn und zählte 25 Münzen aus seinem Beutel ab. An Valora gewandt sprach er: „Der Ballen ist sehr breit, sodass du schon einen vernünftigen Schal daraus zurechtnähen kannst.“
Sie nickte, nahm die in einen schützenden Kartoffelsack gewickelte Seide strahlend in Empfang und umarmte ihren Gefährten glücklich.
So zogen sie weiter ziellos über den hübschen Platz, ohne sich so recht von dem munteren Geschehen losreißen zu können.
Als sie endlich das Haus des Urkundenfälschers aufsuchten, war es schon weit nach Mittag. Es war eine kleine, schiefe Bude in einer der heruntergekommensten Gegenden der Stadt und die Kinder waren heilfroh diese Straßen, die nichts mehr gemeinsam mit dem restlichen, wohlhabenden Seestadt hatten, zu verlassen.
Das Geschäft, das sie zögernd betraten, war ziemlich schäbig eingerichtet und die Holztheke, hinter der ein winziger, koboldartiger Mann kauerte, lag in einem düsteren Zwielicht. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, nahm Anisto allen seinen Mut zusammen und stellte sich dem Ladeninhaber gegenüber. Dieser musterte ihn eingehend und schweigend. Der Junge kramte den Brief der Königin heraus und schob ihn über die staubige Theke.
„Können Sie ein Duplikat von dem anfertigen?“, fragte er mit leicht zitternder Stimme.
Der Kobold hob den Umschlag auf, betrachtete ihn von allen Seiten, strich mit den Fingern über das komplizierte Siegel und zog schließlich den Briefbogen heraus. Den Kindern war, als hätte er einen winzigen Moment lang innegehalten, doch nachdem er zu Ende gelesen hatte, zuckte der Mann nur gleichgültig mit den Schultern und entgegnete flüsternd: „Das kommt darauf an.“ „Worauf?“, wollte Anisto misstrauisch wissen.
Auch Valora warf dem Kerl fragende Blicke zu, wessen ungerührte Antwort war: „Auf das Geld natürlich. Aber sein Sie gewiss, einen anderen werden sie in der ganzen Stadt nicht finden, der ihnen diese gefährliche Botschaft fälscht. Man will sich nicht mit dem König von Roona anlegen.“
Anisto schluckte, als er das hinterlistige Blitzen in den Augen seines Gegenübers sah, und holte seinen Geldbeutel hervor. Er kippte den Inhalt auf die Theke und schob ein paar Münzen auf die andere Seite hinüber.
„Machen wir es lieber so“, schlug der Mann trocken vor und raffte auch das übrig gebliebene Silber zusammen. „Das reicht denn für... Sagen wir mal den Umschlag?“
Die Kinder warfen sich verzweifelte Blicke zu. Aber was hatten sie schon für eine Wahl? Die Zeit lief ihnen davon und dieser zweifelhafte Herr war ihre einzige Hoffnung.
Also nickte Anisto ergeben und nahm den Briefbogen wieder an sich. „Aber wir verlangen, dass Sie am dritten Tag der Königinnen damit fertig sind. Am besten wäre es, wenn wir Fälschung und Original gegen Mittag abholen könnten. Und leisten Sie gute Arbeit!“
Daraufhin neigte der kleine Kobold zustimmend den Kopf und zischte kaum hörbar zwischen seinen gelben Zähnen hindurch: „Selbstverständlich. Immer zu Ihren Diensten.“
Erleichtert, den Laden wieder verlassen zu dürfen, machten sich die Kinder auf zu ihrer Unterkunft. Auf dem Weg dorthin fanden sie ein kleines Schreibwahrengeschäft und Anisto, der noch vier Münzen in seiner Tasche gefunden hatte, erstand eine billige Feder, schwarze Tinte und Pergament, welches dem Original zumindest annährend ähnlich sah.
„Jetzt liegt es bei dir“, stellte der Junge an Valora gewandt fest.
Das Mädchen lächelte schwach und hegte insgeheim starke Zweifel. Obwohl sie eine ordentliche Schrift hatte und gut mit Feder und Tinte umgehen konnte, schien es ihr unmöglich, die feinen Buchstaben der alten Königin nachzuahmen, welche doch vor Eleganz nur so sprühten. Dazu kam noch, dass sie nur noch fünf sehr knappe Tage Zeit hatte, um ihre Aufgabe zu erfüllen, wobei der heutige sich allmählich seinem Ende zuneigte.
In der Unterkunft, für die sie zum Glück im Voraus bezahlt hatten, machte Anisto eine wackelige Holzkiste ausfindig und stellte sie zu ihrem Schlafplatz.
Die nächsten Tage kauerte das Mädchen mit angestrengt gerunzelter Stirn davon und malte sorgfältig einen perfekten Buchstaben nach dem anderen auf das Pergament. Jedoch wollte ihr keiner gut genug sein und das Schriftbild im Ganzen war ihr viel zu unharmonisch. Oft saß der Junge neben ihr, um ihre Künste ehrfürchtig zu bewundern. Wieder merkte er, dass seine Freundin etwas ganz besonderes war.
„Du bist so begabt“, sagte er ihr wieder und wieder und jedes Mal tat sie es verlegen ab.
In jener Zeit waren die beiden Kinder selten draußen. Nur Anisto wagte ab und zu einige Tritte vor das Scheunentor. Nie war ihm die Zeit so ewig vorgekommen wie jetzt, da er untätig das Schicksal seines gefangenen Halbbruders in die Hände eines Mädchens legen musste.
An diesem jedoch raste die Zeit unaufhaltsam vorüber und manchmal hob es hilflos dem Kopf gen Himmel und schluchzte leise vor sich hin. Valora wusste, dass ihre Kopie niemanden täuschen würde. In diesen Momenten legte Anisto ihr tröstend einen Arm um die Schulter und entgegnete, sie müsse schließlich nur für den ersten Augenblick ausreichen. Im Stillen hofften allerdings beide, dass keiner der Meute es wagen würde, einen Blick in den Umschlag zu werfen. So vergingen die Stunden und auch die Tage, bis sie endlich eines Morgens wieder die Augen aufschlugen. Valoras waren rot und geschwollen, weil sie nur wenige Stunden erholsamen Schlaf hatte finden können, und Anisto brachte ebenfalls durch ein herzhaftes Gähnen seine Müdigkeit zum Ausdruck. Die Blicke der Jugendlichen begegneten sich und auf einen Schlag waren sie hellwach. Heute war der gefürchtete dritte Tag der Königinnen und in dessen siebzehnter Stunde würden sie den Soldaten gegenüberstehen.
Ohne auch nur an ein Frühstück zu denken hastete das Mädchen an ihren improvisorischen Schreibtisch und nahm die Feder in ihre bereits schmerzende Hand.
Anisto schmierte rasch ein Butterbrot und hielt es seiner Freundin fragend hin. „Iss etwas! Du hast alles getan, was du konntest. Was auch immer heute Nachmittag geschieht, du sollst wissen, dass ich dir sehr dankbar dafür bin.“
Seine Stimme hatte einen sicheren und beruhigenden Klang, jetzt da der große Moment, in dem sich ihr Schicksal entscheiden sollte, gekommen war. Bis gestern Abend war er noch ein ängstliches Kind gewesen. Zwar ein schon ein Junge mit einer ungefähren Vorstellung davon, was er war und was er werden wollte, doch immer noch nur ein Junge.
In der vergangenen Nacht jedoch schien etwas in seinem Kopf vorgegangen zu sein, das ihn veränderte. Bei manchen ist der Übergang zum Erwachsensein ein mühsamer und langwieriger Prozess, aber wiederum andere erfahren ihn in einer so plötzlichen Eingebung, dass sie von einem Tag auf den anderen ein neuer Mensch werden.
Für Anisto war wohl seine schwierige Situation ausschlaggebend, die kurz davor stand, ihn in die Knie zu zwingen.
Doch Valora sah nur seinen festen Blick, in dem sowohl Trauer und Schmerz, als auch eine verzweifelte Entschlossenheit lagen, und fühlte sich an seiner Seite geborgen. „Ich weiß es“, erwiderte sie leise. „Lass mich noch die Unterschrift zu Ende bringen, dann werde ich mich zu dir setzen. Du hast recht, mehr zu tun, liegt nicht in unserer Macht.“
Also konzentrierte sie sich ein letztes Mal auf ihre vor Erschöpfung und Angst zitternde Hand, die mit eisernem Griff die Feder über das vergilbte Pergament führte. Wie durch ein Wunder gelangen ihr die schwungvollen Bögen der königlichen Signatur, wo diese doch als unfälschbar galten. Tränen standen in ihren brennenden Augen, als sie ihre Arbeit beendete und sich neben Anisto auf einem Strohpacken niederließ. Ohne Hunger zu empfinden kauten die beiden ihre Brote und beobachteten dabei, wie Leben in die billige Unterkunft einkehrte. Vier kleine Kinder jagten sich gegenseitig durch einen Haufen loser Halme und versanken dabei beinahe darin. Die Eltern suchten nach ihren Schützlingen, entdeckten sie schließlich erleichtert und schalten sie, dies nie wieder zu tun. Einige Reisende hatten sich zu größeren Gruppen zusammengeschlossen und saßen in gemütlichen Runden zum Frühstück beisammen. Vereinzelte Nieser drangen durch die gedämpfte Geräuschkulisse, wenn Neuankömmlinge einen zu tiefen Atemzug in der staubigen Luft getan hatten, an die sich die Kinder aus Quellingen während ihres Aufenthaltes schon längst gewöhnt hatten.
Trotz ihrer großen Anspannung warteten diese noch den Mittag ab, bis sie die Scheune zum endgültigen Aufbruch verließen. Gierig sogen sie die frische Seelluft in ihre Lungen und hoben die Blicke zum Himmel empor. Jener war mit stahlblauen Gewitterwolken überzogen, die bedrohlich über den freundlichen Dächern der Stadt lauerten. Auch der Wind nahm an diesem unheilbringenden Tag zügellose Ausmaße an, wie er so rau durch die ordentlichen Straßen fegte, auf denen eine bedrückende Stille lastete. Die Menschen der Stadt blieben in ihren schützenden Häusern, wohlwissend, dass ein großes Unwetter nahte. Alle Fischerboote und Handelsschiffe, die sonst die Küste zierten, waren in ihre Häfen verschwunden, um den mächtigen Wellen zu entfliehen, wenn diese mit unaufhaltsamer Gewalt gegen die schwarzen Steilklippen schlugen. Nur die beiden Kinder wagten sich vor die Tür, weil sie keine andere Wahl hatten. Der gefälschte Umschlag sollte jetzt fertig sein und sie beteten inniglich, dass er es auch wirklich war.
Zum Glück war es nicht allzu weit bis zu dem kleinen Laden und sie fanden sich dieses Mal sogar froh, ihn endlich zu betreten. Ihre Gesichter waren von dem scharfen Wind gerötet und ihre Haare zerzaust. Vor Anspannung und Kälte zitternd traten sie an die Theke und warteten. Anscheinend hatte der winzige Mann das Knallen der Tür hinter ihnen gehört, denn er tauchte Sekunden später vor ihnen auf. Seine listigen Augen wandten sich nicht von ihnen ab, selbst als er den Umschlag und dessen Fälschung hervorkramte.
„Den Inhalt, bitte!“, forderte er von Anisto.
Dieser gab ihm den gefälschten Brief, welchen der Mann in den zweiten Umschlag steckte. Der Wachs für das Siegel stand schon in einer Schale fertig angemischt auf der Theke. Er nahm das Schälchen, hielt es über den Umschlag und ließ einen Tropfen der zähen Flüssigkeit darauf fallen. Sofort ergriff er einen sorgfältig geschnitzten Siegelring und presste ihn gegen den Umschlag. So hielt er alles für eine kurze Weile. Als er ihn danach wieder anhob, verschloss ein scheinbar königliches Siegel die Botschaft.
Der Junge betrachtete Original und Fälschung genau. Auf den ersten Blick schienen beide vollkommen identisch.
„Das ist ja perfekt!“, staunte Anisto erleichtert und ließ seine Finger vorsichtig über Pergament und Siegel gleiten. Wenn es Unterschiede gab, dann nur geringfügige.
Doch der kleine Kobold lachte auf seine Unkenntnis hin leise und flüsterte: „Für das ungeübte Auge, gewiss. Und trotzdem gibt es kaum merkliche Differenzen. Eine davon, und damit auch die auffälligste, ist die Oberflächenstruktur des Siegels. Hält man es ins Sonnenlicht sollte es glänzen und glimmen wie ein frischgefallener Blutstropfen. Aber dieses hier bringt nur ein milchig mattes Schimmern zustande. Nicht leicht zu fälschen, schwerer als alles, was ich je getan habe.“
Besorgt sahen sich die Jugendlichen an. Sie konnten Original und Fälschung nur bei sehr genauem Hinsehen auseinanderhalten, aber heute Nachmittag hatten sie es schließlich nicht mit Anfängern zu tun. Sie verabschiedeten sich leise und verließen das Geschäft. Wenn Anisto die Umschläge nicht eingesteckt hätte wären sie ihm wohl weggeweht, denn der Wind blies härter denn je.
Ihre Taschen auf dem Rücken machten die Kinder sich auf zum Marktplatz. Sie kamen nur beschwerlich voran und der Weg war weit. Außerdem drückte ein nagender Zweifel auf ihre Gemüter.
„Habe keine Furcht, Valora“, beruhigte Anisto das bibbernde Mädchen sanft. „Die Sonne scheint heute nicht.“
Doch sie fühlte sich kaum getröstet. Endlich platzte aus ihr heraus, was sie seit Tagen beschäftigte: „Es ist alles meine Schuld, wenn sie den Brief öffnen und die Fälschung an seinem Inhalt erkennen. Zwar gab ich mein Bestes, doch wären wir nicht in dieser Situation, wenn ich nicht den teuren Stoff von dir verlangt hätte!“
Valora ließ den Kopf sinken und schluchzte leise.
Der Junge nahm sie besänftigend in den Arm. „Der Urkundenfälscher hätte es nicht besser machen können“, wisperte er in ihr Ohr, woraufhin sie nur noch heftiger zu weinen anfing. Stunde um Stunde kämpften sie sich weiter durch die Straßen. Bei ihrem ersten Besuch auf dem Markt hatten sie diesen schnell erreicht, aber der starke Gegenwind machte den ihnen heute arg zu schaffen. Unaufhaltsam rückte die siebzehnte Stunde näher. Immer mehr Wolken ballten sich am Himmel und in der Ferne vernahmen sie ein schwaches Donnern.
Endlich durchschritten sie die innerste Verteidigungsmauer und traten auf den Markt, auf dem heute kein Mensch zu sehen war. Der hübsche Platz schien leblos und verlassen wie eine Geisterstadt. Ein Schaudern durchlief die Kinder, als sie der trostlose Anblick erreichte. Von irgendwo aus der Stadt schlug eine tiefe Glocke gespenstisch zur sechzehnten Stunde.
Also ließen die Beiden sich an die Mauer neben dem Tor gelehnt nieder und warteten wortlos. Nach ein paar Minuten humpelte ein einsamer alter Mann an ihnen vorüber. Für einen Moment hielt er inne und krächzte: „Es gibt ein Sturm, einen gewaltigen. Bringt euch in Sicherheit, Kinder! Bei Gott, das spüre ich in meinen Knochen!“ Daraufhin schleppte er sich durch unter dem Torbogen hindurch und verschwand.
Die Köpfe vor Erschöpfung gesenkt erwarteten die Kinder schweigend ihr Schicksal. Sie würden sich ihm beugen, wie auch immer es aussah, denn Kraft, sich zu widersetzten, hatten sie nicht mehr. Aneinandergelehnt wärmten sie sich gegenseitig, sodass nur ihre verschmutzten Gesichter vor Kälte erstarrten.
Irgendwann drang die Glocke mit ihren dumpfen Klängen erneut an Anistos Ohr und sie schlug siebzehn Mal. Der Junge hob schwach den Kopf und stupste Valora neben ihm an. Sie erwachte aus einem dösigen Halbschlaf und blickte hoffnungslos zu ihm empor. Er erhob sich langsam und reichte ihr seine Hand, an der sie sich kraftlos hochzog.
In dem Torbogen, der ihnen genau gegenüberlag, erschienen plötzlich drei Gestalten. Eine davon, die in der Mitte hinterhergeschleift wurde, war kleiner als die anderen Beiden und auch in ihrer zerlumpten Kleidung unterschied sie sich von ihnen. Nun trennte sich einer der Männer von der kleinen Gruppe und trat zur Mitte des Platzes.
Nachdem Valora ermutigend seine Hand gedrückt hatte, stolperte Anisto ebenfalls dorthin. Bald erkannte er den Mann. Er hatte braunrote Haare und trug unter seinem Umhang eine dunkelgrüne Kampfkleidung, die er nun kaum zu verstecken suchte. Es war zweifellos derjenige, den der Junge an der Walda gesehen hatte. Wie lange das her zu sein schien! Zögernd trat er dem großen Kerl bis auf wenige Meter gegenüber.
„Anisto, nehme ich an“, mutmaßte dieser, während er den Jungen abschätzte. „Ich bin Rigon von Roonata, erster Kommandant der königlichen Reitermeute.“
Unwillkürlich fragte sich Anisto, ob Rigon wohl von der grausamen Tat des Königs wusste, welche sein Zuhause vernichtete, doch dann nickte er kaum merklich. Da er keine Lust verspürte sich weiter mit diesem Mann zu unterhalten, griff er zögernd in seine Hemdtasche und holte die Fälschung des Briefes hervor. Das Original trug Valora sicher bei sich.
„Ist es das, was Ihr wollt?“, fragte er mit zitternder Stimme.
Ihrer beider Augenpaare richteten sich augenblicklich auf den Umschlag, den er in die Höhe hielt. Mit starken Armen reichte Rigon danach, aber Anisto presste ihn wieder an seine Brust. „Mein Bruder“, erinnerte er tapfer.
Der Mann ließ seine Hand sinken und flüsterte anerkennend: „Du bist ein mutiger Junge.“
Da wurde sich Anisto auf einmal des scharfen Schwertes gewahr, das Rigons Seite zierte, und er merkte, wie ihm kleine Schweißtröpfchen auf die Stirn traten. „Ihr gabt mir Euer Wort“, brachte er atemlos hervor.
„Und ich will es halten“, versprach Rigon ruhig. „Aber erst gib mir den Brief. Ich warne dich: Meine Männer umstellen den Platz, auch wenn du sie nicht siehst. Machst du keine Dummheiten, darfst du mitsamt Bruder und Gefährtin diese Stadt verlassen. Tust du es doch wirst du binnen einer Minute jeden Kampf verlieren.“
Der Junge schluckte und wusste, wie wahr diese Worte waren. Also streckte er langsam seine Hand aus, in der er den gewünschten Brief hielt. Abwartend sah er den Mann an.
Dieser ergriff den Umschlag, nahm ihn an sich und betrachtete ihn, wobei er ihn auf alle Seiten drehte und wendete. Seine Finger betasteten vorsichtig und zugleich ehrfürchtig das Siegel und für einen winzigen Moment befürchtete Anisto, er würde es brechen.
Doch Rigon tat es nicht, sondern steckte die falsche Botschaft unversehrt in seine Umhangstasche. Er nickte Anisto knapp zu, drehte sich um und schritt davon.
Im Vorübergehen sagte er mit leiser Stimme etwas zu dem zweiten Mann und dieser ließ den Jungen los, den er am Arm gepackt gehalten hatte, und schloss sich dem Anführer an.
Taumelnd stolperte der Kleine auf Anisto zu.
Als er näher kam, erkannte dieser das Häufchen Elend vor ihm.
„LENIO!“, schrie er und Tränen schossen ihm in die Augen. So schnell ihn seine Füße tragen konnten rannte er auf seinen Bruder zu. Endlich erreichte er diesen und schloss ihn überglücklich in seine Arme. Nachdem er ihn an sich gedrückt und mit Küssen überhäuft hatte, rief der Ältere besorgt: „Lenio, so sag doch etwas! Bist du gesund?“
Der kleine Junge schaute zu seinem Bruder auf und seine rissigen Lippen formten sich zu einem schwachen Lächeln. Sein Gesicht war schmutzverkrustet und mit kleinen Schrämmchen überzogen, von denen allerdings keines besonders tief aussah. Auch schien er während seiner Gefangenschaft gut ernährt worden zu sein, denn seine rundliche Form war ihm erhalten geblieben.
„Mir geht es gut“, berichtete er endlich. „Ich wusste, du würdest mich retten!“
Nun begann auch er zu weinen.
Valora rannte zu den auf dem Steinpflaster kauernden Brüdern hinüber, um alle beide zu umarmen, froh darüber, dass ihr riskanter Plan aufgegangen war.
Schließlich erinnerte sie Anisto jedoch: „Die Gefahr ist noch nicht vorüber. Sie werden den Brief prüfen und wenn das geschieht sollten wir von hier verschwunden sein. Wahrscheinlich werden wir in genau diesem Augenblick von ihnen beobachtet!“
Der ältere Junge löste sich von seinem Bruder. „Du hast recht“, flüsterte er leise zurück. „Wir sollten gehen.“
Sie erhoben sich und verließen Hand in Hand, Lenio in der Mitte, den Marktplatz. Zügigen Schrittes kehrten sie noch ein letztes Mal zur Unterkunft zurück, um ihre Pferde zu holen.
Lenio bestaunte die Tiere mit offenem Munde, bis Anisto ihn ergriff und vor sich auf Hallors Sattel setzte. Dafür nahm Valora einen Großteil des Gepäcks, sodass beide Pferde gleichviel zu tragen hatten.
Sie verließen die schöne Stadt nach Osten hin, so wie sie gekommen waren. Der Wind riss sie beinahe aus den Sätteln und dunkle Wolken wurden von ihm über den Himmel gejagt.
„Ich würde sagen, wir schlagen den Weg nach Jabota ein!“, schrie Anisto gegen das laute Tosen an, nachdem er sich mit einem raschen Blick über seine Schulter davon überzeugt hatte, dass sie nicht verfolgt wurden. „Es ist die nächste große Stadt, in der Botac sein könnte.“
Die beiden Anderen stimmten ihm zu. So ritten sie im gemächlichen Schritt weiter. Obwohl es erst früh am Abend war, umgab die Dunkelheit sie, als breitete bereits die Nacht ihre düstere Decke über sie.
Ausdauernd und erholt von ihrem Aufenthalt in Seestadt stemmten die Pferde ihre kräftigen Beine gegen den Sturm und schritten langsam aber stetig weiter voran. Der Weg, den Anisto ausgewählt hatte, war kaum mehr als ein Trampelpfad, parallel zu den gefährlichen Steilklippen liegend. Nicht weit entfernt hörten die Kinder das aufgebrachte Wasser rauschen. Alle drei hatten ihre Umhänge fest um sich gezogen und die schützenden Kapuzen hingen ihnen tief in die Gesichter. Dunkelheit nahm ihnen die Sicht und machte sie fast blind.
Plötzlich hörte Anisto ein Krachen und einen darauffolgenden Aufschrei hinter ihm. Er fuhr herum, doch alles war wieder still. Wo war Valora? Obwohl sie schon seit einiger Zeit in die nächtliche Schwärze hinter ihm eingetaucht war, war er sich auf einmal nicht mehr sicher, dass sie sich wirklich noch dort befand.
Lag es an dem tobenden Wind, dass Margons Hufschläge seine Ohren nicht mehr erreichten? Unschlüssig brachte er Hallor zum stehen.
„Was ist?“, fragte Lenio schläfrig, aber Anisto legte eine Hand über den Mund des Kindes und bedeutete ihm zu schweigen.
Als er sich herumdrehte, zog plötzlich jemand kräftig an seinem Bein und ehe er sich versah, fand er sich auf dem Boden wieder. Lenio landete entsetzt schreiend an seiner Seite.
Da spürte er, wie starke Arme seinen Körper umfassten und ihn vom Weg ab ins Gebüsch zerrten. Er wollte nach seinen Freunden rufen, aber schon wurde ihm ein zusammengeknülltes Stück Leinen in den Mund gestopft. Bald waren seine Arme und Beine gefesselt und er hörte ihrer Pferde Hufschläge in der Ferne verhallen. Angestrengt horchte er in die Dunkelheit und ließ seine Blicke ziellos umherwandern. Alles, was seine überforderten Augen erkannten, waren die ihn umgebenden Umrisse von Bäumen und Sträuchern und eine schemenhafte Gestalt, die sich, zwei Gefangene im Schlepptau, langsam auf ihn zu bewegte.
Ebenfalls gefesselt und geknebelt wurden Lenio und Valora neben ihm niedergeschmissen. Anistos Herz klopfte wild vor Panik und Hilflosigkeit, als ihm die ängstlichen Blicke des Mädchens begegneten. Schritte näherten sich, als der Mann, nachdem er sich vergewissert hatte, dass sie allein waren, auf die Kinder zutrat.
Allem, was Anisto sehen konnte, nach zu urteilen, war er groß und muskulös gebaut und mit robuster Kampfkleidung ausgestattet. An seiner Seite baumelte ein langes Schwert und ein im matten Licht glitzerndes Kettenhemd schütze seine Brust vor feindlichen Waffen.
In einer raschen Bewegung löste er den Knebel des älteren Jungen. Danach entzündete er eine winzige Öllampe, deren Licht alles im Umkreis von zwei Metern aufflammen ließ.
Die drei Kinder starrten in ein gut geschnittenes Gesicht von etwa fünfundzwanzig Jahren, aus dem sie ein Paar dunkelbraune Augen mit aufmerksamen Blick musterten. Die schwarzen Haare fielen ihm in wirren Strähnen auf die kräftigen Schultern. Der Mann zog fragend eine Augenbraue hoch. „Anisto?“
Der Angesprochene nickte sogleich. Bei diesem Erscheinungsbild bedurfte es keines Schwertes, um den Jungen in die Knie zu zwingen.
Valoras Augen weiteten sich, als sie die dunkelgrüne Kleidung des Mannes unter seinem schwarzen Umhang bemerkte.
„Ich denke, es gibt da etwas, das du mir geben willst“, stellte dieser an Anisto gewandt fest.
Der Junge schluckte. Ihr Plan hatte die Meute also nicht täuschen können. Verzweifelt suchte er nach einer schlagfertigen Erwiderung, fand jedoch keine. Am Ende blieb er einfach wie festgefroren an seinem Platz sitzen. Ausweichend senkte er seinem Blick.
Plötzlich packte der Mann Valora, riss sie an sich und ehe Anisto sich versah blitzte die Klinge eines scharfen Jagdmessers an ihrem Hals auf. Bis auf ihr leises Wimmern, war alles ganz still. Der undurchschaubare Ausdruck auf dem Gesicht des Fremden verriet nicht den geringsten Anflug von Unentschlossenheit.
Zögernd brachte Anisto den echten Brief zum Vorschein. Seine Hand zitterte, als er ihn dem Mann auslieferte. Endlich lockerte sich die tödliche Klinge am Hals des Mädchens und dieses fiel schluchzend vor Angst zu Boden. Der Erwachsene hielt den Umschlag, so nah an die Lampe, dass Anisto befürchtete, er könne Feuer fangen, und betrachtete in eingehend. Als er nach einer Weile den richtigen Winkel gefunden hatte, begann das edle Siegel in sattem Rot zu schimmern und er schien zufrieden. Ohne die gefesselten Kinder noch eines Blickes zu würdigen schlug er sich durch das Gebüsch zum Weg.
Lenio an sich gedrückt sah Valora den flackernden Lichtschein langsam in der Ferne verblassen, bis er schließlich noch einmal aufglomm und daraufhin gänzlich von Dunkelheit abgelöst wurde. Wahrscheinlich hatte der Mann die Lampe gelöscht, während er lautlos aus dem eingeengtem Blickfeld der Kinder verschwand.
„Moment mal!“, rief Anisto mutig. „Wartet doch! Ihr könnt uns doch nicht so hier liegen lassen!“ Es folgte keine Antwort. Hilflos rückten die Drei näher zusammen. Was sollten sie nur tun? Es würde bis zum Morgengrauen dauern, bis vielleicht ein Reisender, von einem glücklichen Zufall getrieben, die Schreie des ungeknebelten Jungen hörte und sie losband. Jedoch würde dem Himmel nach vorher ein gewaltiger Sturm aus Regen und Wind über ihre Köpfe hinwegbrausen. Was war, wenn es ein Gewitter geben sollte? Sie waren von Bäumen umgeben, in denen Blitze einschlagen konnten!
Aber da drangen unerwartete Schritte an ihr Ohr und der Fremde erschien wieder zwischen den Büschen. Selbst durch die Schwärze der Nacht meinte Anisto, Mitleid in seinen Augen zu entdecken. Er trat näher, lockerte ihre Fesseln ein wenig, befreite auch die anderen beiden Kinder von den dreckigen Lappen in ihren Mündern und sprach leise: „Ich verstoße schon gegen den Befehl euch zu töten, nur weil es meine Ehre nicht ertrüge ein Schwert gegen drei wehrlose Kinder zu erheben. Aber mehr als das kann ich nicht für euch tun. Also schreit aus Leibeskräften, auf das jemand eure Rufe erhöre!“
Anisto schüttelte verzweifelt den Kopf und forderte rasch: „Lest den Brief, den ich Euch gab. Danach werdet Ihr uns ohne Zögern helfen!“
Aber der Erwachsene tat dies mit einer Handbewegung ab, wenngleich eine Spur von Neugierde einen flüchtigen Moment lang in seinen dunklen Augen aufflammte. „Das kann ich nicht“, erklärte er monoton, „denn mein König verlangt danach.“ „
Ihr werdet Eure Meinung über Euren König ändern!“, versprach Valora bittend. „Nur lest doch endlich die Botschaft!“
Lenio weinte an ihrer Schulter. Er verstand kein Wort von der Wichtigkeit dieses Briefes, der in seinen kindlichen Augen nicht mehr als ein Fetzen Papier war. Das Mädchen fuhr ihm leicht mit ihren zusammengebundenen Händen über das blonde Haar, um ihm ein wenig Trost zu spenden. Mit traurigem Gesicht erblickte der Mann dieses Bild der Verzweiflung und die Kinder wussten, dass er im Grunde ein gutes Herz hatte. Doch trotz allem riss er sich von seinen Gedanken los und meinte mit tonloser Stimme: „Ich muss zu meinen Leuten, denn sie warten auf mich. Es tut mir leid.“
Er wandte sich zum Gehen, aber Anisto schrie in einem jähen Anflug von Wut: „Nein, das tut Ihr nicht! Seht doch, was wir durchleiden mussten. Eure Meute nahm unseren Jüngsten gefangen und brachte meine Gefährtin und mich vor Sorge um den Schlaf. Ohne zu rasten wanderten wir stundenlang unter unmenschlichen Bedingungen. Wir sind ausgehungert, haben keine einzige Silbermünze mehr, die Nahrung geht und wieder einmal zu neige und zu allem Überfluss habt Ihr soeben auch noch unsere Pferde verjagt. Jetzt sind wir Hunderte von Wegstunden von unserem Zuhause entfernt und haben keine Aussicht darauf, dieses jemals wiederzusehen! Oh nein, Ihr geht nicht, ohne zumindest versucht zu haben, den Grund für unser unverdientes Elend zu erfahren!“ Zornestränen traten in die funkelnden Augen des Jungendlichen und trotzig reckte er sein Kinn empor.
Regungslos hatte der Fremde seinen Ausbruch abgewartet. Mit anerkennendem Blick nahm er schließlich den Brief hervor und zog den feinen Pergamentbogen aus dem bereits geöffnetem Umschlag. Seine klugen Augen flogen über die säuberlichen Zeilen, erst zögerlich, dann immer schneller. Anscheinend war er des Lesens gut mächtig, da er nicht ein einziges Mal ins Stocken geriet. Erwartungsvoll sahen ihn die Kinder an, als er das Blatt sinken ließ. Den Blick weit in die Ferne gerichtet schwieg er eine lange Zeit. „Saliramoon Mandaala“, murmelte er leise vor sich hin und ließ sich auf einen Baumstumpf fallen. „Irgendwie habe ich die ganze Zeit damit gerechnet, aber immer die Augen vor dem Unvermeidlichen verschlossen.“
Nachdenklich fuhr er sich durch das schwarzbraune Haar und keiner der Kinder wagte es, etwas zu sagen. Der Sturm, von dessen Klagelied sie hier zwischen den Büschen weitgehend verschont worden waren, riss nun immer kräftiger an den Ästen der Bäume und entfaltete seine ganze Macht. Zitternd schmiegten sich die Kindern aneinander, um sich von der einbrechenden Kälte zu schützen. Da erhob sich der Mann, befreite sie von ihren Fesseln und half ihnen auf die Beine. „Ich bin Maritiim“, erklärte er, während er auch Valoras Hände losband.
Scheu standen ihm die Kinder gegenüber. Es erschien ihnen überflüssig, sich vorzustellen, da er ihre Namen ohnehin schon kannte.
Ein warmes Lächeln umspielte Maritiims Lippen, doch es erlosch jäh. Anisto wollte etwas fragen, aber der Mann gebot ihm zu schweigen und lauschte wie versteinert. Als er sich seiner vollkommen sicher war, drängte er die Kinder eilig weiter in die Büsche. Sein Gesicht trug einen alarmierten Ausdruck. „Die Meute naht!“, zischte er als knappe Erklärung. „Sie sind wohl misstrauisch geworden. Folgt mir! Wir müssen zur Küste und der Weg ist jetzt zu gefährlich.“ Wortlos hetzten die Quellinger hinter ihm her, während er ihnen schnell und sicher einen Weg durch das Dickicht schlug. Tatsächlich waren bald Stimmen zu hören, die angesichts der Tatsache, dass der Sturm schon einen Großteil aller Geräusche verschlang, schon sehr nah sein mussten.
Maritiim schien die Richtung sicher zu kennen, auch wenn Anisto bereits nach wenigen Minuten die Orientierung verloren hatte. In vollkommener Dunkelheit stolperten sie hinter ihrem Führer her, wobei die beiden Älteren immer wieder dem kleinen Lenio auf die Beine halfen.
Als sie endlich das Gebüsch verließen, fielen direkt vor ihnen die Steilklippen in mörderischer Tiefe hinab. Laut und dröhnend rauschte das Meer, jedoch schlug es nun nicht mehr gegen das schwarze Gestein, sondern rauschte in stürmischen Wellen auf einen schmalen Strand. Ohne zu zögern eilte der Mann weiter, bis er einen steinigen Pfand gefunden hatte, der in serpentinartigen Bögen hinab zu einer riesigen Hafenanlage führte.
Die Kinder hatten alle Mühe, nicht nach unten zu sehen, während sie ihm todesmutig an die steile Felswand gedrückt folgten.
Die Meute schien hinter ihnen zurückgefallen, da ihre Stimmen nun nicht mehr zu vernehmen waren. Doch es mochte auch an dem wilden Sturm liegen, der den Vieren jetzt mit brutaler Gewalt entgegenschlug.
Unterhalb der Steilklippen lag der mächtige Hafen von Seestadt schlafend in der Dunkelheit. Alle Arbeiter hatten die Anlage aus Furcht vor dem Sturm verlassen, aber die starken Kais hielten jeder noch so hohen Welle tapfer stand. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, steuerte Maritiim zielstrebig auf ein großes Handelsschiff zu, das schaukelnd im Wasser lag. Dicke Taue hielten den Koloss im Hafen, wobei sie klagend ächzten und stöhnten.
„Wir können jetzt nicht rausfahren!“, schrie Valora gegen den Wind. Anisto hielt sie besorgt am Arm, aus Angst eine besonders mächtige Böe könne sie von dem Kai, über den sie nun liefen, in das wütende Meer fegen.
Aber Maritiim hatte das Schiff schon erreicht und begann rasch damit, Seile loszuwickeln und Knoten zu lösen. „Wenn wir zwischen Rigons Meute und diesem Unwetter wählen können“, brüllte er zurück, wobei ihm erste Regentropfen ins Gesicht schlugen, „so wage ich es lieber, mich mit der Natur anzulegen. Aber fürchtet euch nicht, es gibt kaum eine Situation, mit der ich es noch nicht zu tun gehabt hätte. Also rauf aufs Schiff mit euch!“
Den Tränen nahe leistete das Mädchen seinem Befehl folge und zog den sich sträubenden Lenio hinter sich her. Anisto hielt inne, als er an dem Mann vorüberschritt, und wandte ein: „Unser eigentliches Ziel war es Botac, den Empfänger dieses Briefes, zu finden!“
Maritiim nickte zustimmend, drängte den Jungen an Bord und ging danach selber. „Ich werde euch bei eurem Vorhaben nicht aufhalten“, versprach er und schenkte seinem Gegenüber ein aufmunterndes Lächeln. „Aber ab diesem Moment seit ihr nicht mehr allein dabei.“

Mit finsterer Miene beobachtete Rigon, wie das Schiff ablegte und auf die aufgeworfene See hinausfuhr. Die Hände wütend in die Seiten gestemmt stand er nahe der steil abfallenden Klippen, einem regungslosen Denkmal gleich. Nur sein pechschwarzer Umhang umwehte ihm im tosendem Wind. Zornig ballte er seine Hände zu Fäusten, in denen er die durchtrennten Fesseln hielt. Sein engster Freund hatte ihn verraten.
Da drehte er sich zu seinen Männern um, die in einer Reihe hinter ihm standen, und rief mit stählerner Stimme: „Tod Maritiim!“
Die Meute brüllte zustimmend und zog ihre Schwerter. Nach und nach kristallisierte sich aus ihrem Johlen ein einstimmiges „Tod des Königs Feinden!“ heraus.
Rigons grüne Augen blitzten rachsüchtig. Und den meinen, dachte er bei sich, wobei ihn eine bittere Entschlossenheit durchströmte, und den meinen...


Kapitel 14
Raue See
Der sichere Hafen Seestadts war bald hinter dichten Regenschleiern verschwunden und alles, was die Flüchtenden noch sahen, war das wild tobende Meer, das sie fest in seiner Gewalt hatte. Zuerst bewunderten die Kinder ihren neuen Führer dafür, dass er es fertig brachte, dem Unwetter zu trotzen, und sie auf Kurs hielt. Nach wenigen Minuten wurden sie sich jedoch der angestrengten Miene auf dem Gesicht des Mannes gewahr und sie zweifelten zunehmend an seiner Kontrolle über die starken Winde.
Ihr Schiff verließ taumelnd die Bucht, worauf es sogleich von noch höheren Wellen ergriffen und von einer Seite auf die andere geschleudert wurde. Plötzlich schwappte eine mächtige Ladung kalten Meerwassers an Bord und riss Lenio beinahe von den Füßen. Ein Donnerschlag unterbrach krachend das Tosen des Sturmes und über dem verschwommenen Horizont flammte ein zackiger Blitz in grellem Lichte auf.
Maritiim, der das Steuerrad mit beiden Händen fest umklammert hielt, drehte sich zu den Kindern um und brüllte atemlos: „Geht unter Deck! Hier ist es zu gefährlich.“
Seine schulterlangen Haare klebten ihm im Gesicht und seine Kleidung triefte, von Gischt und Regen durchtränkt.
Obwohl sein Befehl keinen Widerspruch zuließ, wandte Anisto schüchtern ein: „Ich könnte helfen. Meiner Familie liegt die Seefahrt im Blut.“ Vorsichtig trat er näher, bis er das riesige Holzrad berührte. Ein merkwürdiges Schaudern durchlief ihn und er musste unwillkürlich an seinen Traum denken. Auch nun konnte er durch Niederschlag und Dunkelheit keine zehn Meter weit sehen.
Aber Maritiim schüttelte sanft den Kopf. Für einen winzigen Moment trennte er seine Hände vom Steuerrad, um sie dem Halbwüchsigen auf die Schultern zu legen. „Du bist ein mutiger Junge“, stellte er gütig fest und lächelte leicht. „Doch dies hier ist nichts, dem du gewachsen sein musst. Also begleite deine Gefährten unter Deck und achte darauf, dass keiner von ihnen wieder einen Schritt nach draußen wagt, bevor ich es euch ausdrücklich erlaubt habe.“
Enttäuscht senkte Anisto den Blick und kehrte zu seinem Halbbruder und Valora zurück, die nichts gegen die erteilte Anordnung einzuwenden hatten.
Maritiim vergewisserte sich, dass alle drei Kinder durch die Luke verschwunden waren und diese wieder sicher verschlossen war. Dann seufzte er bitter und wandte sich seiner gefährlichen Herausforderung an die Fluten des Meeres zu. Diese stürmische Nacht würde seine ungeteilte Aufmerksamkeit fordern, wenn er sie überleben wollte. Da war es beruhigend für ihn, seine jüngst gewonnenen Schützlinge in Sicherheit zu wissen.
Wie sehr sich der Wind gedreht hat, ging es dem Mann durch den Kopf und dabei bezog er sich nicht auf die ungünstige Wetterlage. Aber ich bin kein Verräter, beschoss er des Weiteren überzeugt. Ich diente mein Leben lang immer nur Roona, nicht seinem König, und das tue ich auch jetzt noch.
Eine erneute Woge eiskalten Regens peitschte ihm rau ins Gesicht. Der junge Mann konnte nur erahnen, was passieren würde, wenn es ihm nicht gelingen sollte, die Wahrheit über den Tod der geliebten Königin ans Licht zu bringen. Vor seinem inneren Auge, sah er eine grausame Völkerschlacht auferstehen. Roonatische Landsleute metzelten von blindem Hass getrieben ziellos jeden Wobkadaner nieder, der ihnen in die Quere kam. Die Hauptstadt des gegnerischen Reiches wurde von einem gigantischen Heer belagert, bis die starken Tore brachen und die Bevölkerung hinter den Mauern einem gnadenlosen Tod ins Auge blicken musste. Elirius schickte die dakarunschen Verbündeten in die ersten Reihen, denen beim Einzug in die sterbende Stadt Pech über die Köpfe gegossen und mit dem letzten Bogen die Brüste durchbohrt wurde. Tausende erlagen ihren grauenvollen Kriegsverletzungen in dem beruhigendem Gedanken, sie opferten sich für die große Saliramoon. Doch Elirius selbst ritt hoch zu Pferd hinter dem todesmutigem Heer und tat weiter nichts, als Befehle nach allen Seiten zu bellen. Dabei sah er voller Hinterlist zu, wie sein jahrelanger Plan aufging und ihm die Weltherrschaft in die gierigen Hände gespielt wurde.
Maritiim musste widerwillig zugeben, dass dieser Mann alles an Klugheit und Überzeugungskraft übertraf, was er jemals gesehen hatte. Aber in diesem Krieg würde es keine Gewinner geben. Alles, was am Ende noch die Leichenberge überragt, dachte Maritiim schaudernd, ist ein König der Toten mit der Macht über jene geschundene Lande, die er mit seinem unaufhaltsamen Heereszug dem Erdboden gleichgesetzt hatte, und zerrissenen, von Krankheit, Hunger und Trauer geplagten Familien als Untertanen. Keine Pflanze würde mehr die einst so fruchtbaren Felder zieren, kein frohes Kind mit seiner Stimme die klare Luft versüßen, kein gemästetes Vieh über saftige Weiden tollen.
Maritiim riss sich von der schrecklichen Vorstellung seiner lieblichen Heimat los, da eine gewaltige Welle ihren Weg über die Reling gefunden hatte. Er durfte nicht scheitern.

Im Inneren des Schiffbauches kauerten die drei Kinder vor Angst zitternd am Boden und klammerten sich bei jedem Schaukeln haltsuchend aneinander. Es war stockdunkel und die groben Holzplanken waren feucht von dem Wasser, das hinter ihnen durch die Luke geschwappt war. Schweigend lauschten sie dem näher kommenden Gewitter. Das Krachen des Donners durchdrang das monotone Heulen des Windes von Zeit zu Zeit und ließ besonders den Kleinsten unter ihnen erschaudern.
„Bei Maritiim musste ich nie Angst haben!“, beklagte sich Lenio weinend.
Valora drückte ihn beschützend an sich. „War er nett zu dir?“, wollte sie wissen.
Lenio nickte und ein schwaches Lächeln flammte in seinem Gesicht auf. Er sah die zweifelnde Miene des Mädchens und versicherte ihr: „Du kannst ihm vertrauen. Zwar hatte er meistens viel zu tun, doch wenn er da war, hat er mich immer vor den bösen Männern beschützt.“
„Er hat sich gegen seine eigenen Leute gestellt?“ Anisto sah ihn überrascht an.
Sein Halbbruder bestätigte dies. „Oft hat er sogar die direkten Befehle des Königs angefochten. Und manchmal hatte er auch an den Rigons etwas auszusetzen. Ich glaube, wenn er ihm gehorcht hat, dann nur, weil er sein Freund war.“
Die Kinder schwiegen und ihre Gedanken waren allesamt bei ihrem neuen Anführer.
Lenio schien sein Schicksal ohne weiteres in dessen Hände zu legen, doch Anisto verspürte einen leichten Stich dabei, das Kommando über ihre Mission an ihn zu verlieren.
Valora wusste überhaupt nicht, was sie von dem Krieger halten sollte. Ihr Gefühl hatte ihr von ersten Augenblick an gesagt, dass er ein guter Mann sei, jedoch hatte das Messer an ihrem Hals seine Zweifel mit sich gebracht. „Wie soll es jetzt weitergehen?“, fragte sie an den älteren Jungen gewandt. „Jetzt, wo wir wieder alle zusammen sind, wäre doch ein guter Zeitpunkt um... Was ich meine ist, dass wir nicht weitermachen müssen!“
Lenios Augen schimmerten in müder Hoffnung und seine Gedanken schweiften ab zu seinem gemütlichen Zimmer daheim in Quellingen. Er dachte an seine lieben Eltern, die zu Hause warteten, und erinnerte sich an die vielen Freunde und die lustigen Spiele und Feiern, mit denen man sich in dem friedlichen Örtchen die Zeit vertrieb.
Doch Anisto fuhr aufgebracht hoch. „Ihr müsst ja nicht mitkommen, es hat euch schließlich keiner gezwungen“, verkündete er entschlossen, „aber ich gehe mit diesem Maritiim nach Jabota und suche weiter nach Botac. Denn es ist, auch wenn dieser Kerl sie mir abnehmen möchte, immer noch meine Aufgabe! Verkriecht ihr euch nur daheim in Quellingen! Wenn wir scheitern, wird euch der Krieg dort ebenfalls einholen. Elirius wird die Kämpfe nicht von Roona fernhalten können!“
Besänftigend legte Valora dem Jungen eine Hand auf den Arm. „Nachdem wir so viel zusammen durchgemacht haben, werden wir uns jetzt nicht trennen. Entweder gehen alle oder gar keiner!“ Es war ihr anzusehen, dass sie sich nicht im geringsten nach weiteren Abenteuern sehnte, aber gleichzeitig lag dem sanftmütigen Mädchen auch viel daran, die Gruppe beisammen zu halten. Bedächtig fuhr sie fort: „Vielleicht soll es so sein, dass wir, so wie wir jetzt zusammen in einem Boot sitzen, diesen Botac finden, obwohl es noch so unmöglich erscheint.“
„Wir haben deine Klugheit, Valora, und Anistos Mut“, zählte der Kleinste auf, stolz, so wichtige Freunde zu haben, „und dazu kommt noch ein Krieger, wie Maritiim. Wenn wir den Mann nicht aufspüren können, wer ist dann dazu in der Lage?“
Während ihres Gespräches hatten die drei den Sturm schon fast vergessen, doch nun heulte er wieder laut in ihren Ohren und ließ erneut Furcht in ihnen aufsteigen. Wellen schlugen unbarmherzig gegen das mitgenommene Schiff und brachte es zu einem qualvollen Stöhnen. „Nun gut“, stellte Anisto zufrieden fest, „so ist es also beschlossen: Die Fahrt geht weiter!“ Aneinandergekauert hielten die Kinder auch die nächsten Stunden aus. Während das Schiff wie ein Spielzeug auf dem unendlich weiten Meer hin- und her geworfen wurde, fielen ihnen allmählich die Augen zu. Immer wieder wachte einer von ihnen auf, von einem plötzlichen Krachen im Gebälk aufgeschreckt, fand sich in den tröstenden Armen der Anderen wieder und fiel erneut in einen unruhigen Schlaf. So ging auch diese schreckliche Nacht zu Ende.
Als am Morgen Maritiim die Treppe herunterkam, sah er die Kleinen so auf dem Fußboden liegen und musste lächeln. Er fuhr sich über die müden Augen und rüttelte den Ältesten der Drei danach sanft an der Schulter.
Zuerst wusste Anisto nicht, wo er war, bis schließlich die Erinnerungen in unangenehmen Wellen zurückkamen. „Ist etwas passiert?“, fragte er angsterfüllt.
Der Mann schüttelte beruhigend den Kopf und flüsterte zurück: „Es ist Morgen. Wir haben das Unwetter vor einigen Stunden hinter uns gelassen.“
Erleichtert sank der Junge auf den Boden zurück. Maritiim stand auf und ging in Richtung der Stufen. Auf halbem Wege drehte er sich um und schaute zurück. „Magst du mitkommen und mir bei den Sturmschäden helfen? Dann können wir reden.“
Anisto nickte und folgte dem ihm leise an Deck, die anderen friedlich schlafend hinter sich zurücklassend. Obwohl der erfahrende Seemann das Schiff mit erstaunlicher Sicherheit über das unbezwingbare Meer gebracht hatte, waren die Ausmaße der Katastrophe überwältigend. Das Segel, das die Nacht über eingeholt gewesen war, trug einen zum Glück nur minimalen Schaden davon. Dafür erwies sich die Leiter zum Ausguckturm als unzugänglich und das Ruder als leicht blockiert.
„Das macht das Schiff weniger wendig und uns so gut wie blind, unerwarteten Gefahren gegenüber, ist aber weiter nicht schlimm“, bemerkte Maritiim erleichtert.
Der Junge konnte diese optimistische Einstellung nicht teilen, denn das Deck glich in seinen Augen einem verwüsteten Schlachtfeld. Noch immer stand das Wasser knöchelhoch und ein gleichmäßiges Knarren drang an seine Ohren. Ein kleiner Teil der Reling war herausgebrochen. Die vermissten Holzplanken trieben in einer Wasserlache vor dem Steuerrad gemächlich vor sich hin.
„Es war wahrhaftig eine schwere Nacht“, wandte Anisto zweifelnd ein. „Können wir wie geplant weiterfahren?“
Der Mann fuhr sich durch das nasse Haar und sah einen Moment lang sehr erschöpft aus. An seiner Stirn prangte eine blutige Schramme. Vorsichtig betastete er sie. „Eine schwere Nacht, wie? Ja, ich denke, so könnte man es in der Tat nennen!“ Er zuckte ein wenig zusammen, als er die unschöne Wunde berührte. Aber danach strich er sich eine verdeckende Haarsträhne vor die Stirn und sie verschwand aus Anistos Blickfeld.
Maritiim trat an die beschädigte Reling, musterte sie fachmännisch und ließ seinen Blick schließlich auf das nun ruhige Meer hinausschweifen. „Doch“, befand er zuversichtlich, „wir können die Reise ohne Schwierigkeiten fortsetzten. Der Rest sollte uns kaum Probleme bereiten.“
Anisto gesellte sich zu ihm und beobachtete ebenfalls die friedliche See, in deren gemäßigte Gestalt er jedoch vergangene Nacht jegliches Vertrauen verloren hatte.
Nun sah er Maritiim an und hegte keine Zweifel mehr daran, dass dieser Mann wusste, was er tat. Vielleicht war jenes Unwetter seine Bewährungsprobe dafür gewesen. Genauso leuchtete Anisto ein, dass der unerschütterliche Mann ab jetzt die Leitung der Mission übernommen hatte und dass er von diesem Moment an wieder der kleine Junge aus Quellingen sein würde.
Valora und besonders Lenio mochte es beruhigen, wenn ihnen jemand die Verantwortung von den geschwächten Schultern nahm, doch der ältere Junge wusste, jede Brücke zu seinem früheren Selbst war abgebrochen seit dem Tag, an dem es in Seestadt um ihr Leben ging. Sein Blick reichte ins Leere, während ihn diese merkwürdige Erkenntnis erreichte.
Maritiim betrachtete den Burschen aufmerksam und las schließlich dessen Gedanken. „Dir liegt viel an dieser Fahrt“, begriff er nachdenklich.
Anisto schreckte aus seinen Gedanken hoch und gab ohne Verlegenheit zu: „Ja, denn es war einst die Aufgabe meines Vaters. Nun ist es an mir, sie zu erfüllen!“
Fast ein wenig rebellisch sah er dem Mann fest in die Augen. Daraufhin musste dieser lachen. Als der Junge eine beleidigte Miene aufsetzte, wurde er wieder ernst. „Das ist ein edles Vorhaben“, lobte er den ihn aufrichtig, wobei er den jenen bedeutungsvollen Brief aus seiner Umhangstasche zog, den er seit Beginn ihrer gemeinsamen Flucht bei sich getragen hatte ohne viele Gedanken daran zu verschwenden, und händigte ihn an Anisto aus.
Darauf zog er sein mächtiges Schwert und hielt es diesem hin. Feierlich schwor er: „Und ich werde dich nicht daran hindern. Du sollst weiter über diese Reise bestimmen. Aber ich bitte dich, nimm meine Hilfe in Anspruch. An deiner Seite will ich dich und deine Begleiter gegen alle Gefahren und Widrigkeiten verteidigen, solange ich nur in der Lage bin, ein solches Schwert zu führen!“
Das Sonnenlicht, das jetzt wieder vom klaren Himmel schien, brach sich funkelnd an der scharfen Klinge. Staunend sah der Junge zu ihr auf.
Endlich legte er seine Hand auf den schweren Knauf über die des Mannes und besiegelte den Eid mit klarer Stimme: „So wollen wir Roona in seiner schwersten Stunde zur Hilfe eilen!“
Ruhig segelte das stolze Schiff über die glatte See und die starke Waffe schimmerte im gleißenden Licht der Sonne. Noch viele hundert Meter entfernt war sie zu sehen und man wusste, ein neuer, starker Bund war geschlossen.


Kapitel 15
Botac
Tatsächlich behielt Maritiim recht. Während der restlichen Seereise stießen sie auf keinerlei Turbolenzen. Zwei Tage lang schipperten sie über das spielerglatte Meer, lediglich ein mäßiger Ostwind blies in die großen Segel. Endlos zogen sich die Stunden dahin und besonders Anisto hatte Mühe seine Ungeduld im Zaum zu halten. Valora spielte mit seinem kleinen Bruder Fangen oder Verstecken, doch er selber verspürte nicht das geringste Verlangen danach. Stattdessen zog er es vor, sich bei Maritiim im Segeln unterweisen zu lassen und etwas über die Fahrt auf hoher See zu lernen.
Der darin geübte Mann stellte erstaunt die unerwartete Geschicklichkeit und Auffassungskraft des Jungen fest und ertappte sich bei einem anerkennenden Lächeln, als dieser mit ernster Miene das Steuerrad hielt. Die frische Seeluft trieb Anisto eine eifrige Röte in die Wangen und seine Augen leuchteten begeistert, als er mit stolzem Pflichtbewusstsein das kantig geschnittene Kinn emporhob. Die roten Locken umgaben sein Gesicht wirr, vom Wind zerzaust.
Maritiim musste zugeben, dass es ihm Freude bereitete, den Jungen zu unterrichten, so wie es einst Elirius bei ihm getan hatte. Das feste Band zwischen Lehrer und Schüler begann auch sie in ersten zarten Fäden zusammenzuschweißen. Zu seinem eigenen Meister hatte der Mann es nie so deutlich gefühlt. Immer hatte eine eisige Wand aus Maritiims Zweifeln und der Besorgnis des Königs für kalte Distanz zwischen ihnen gesorgt. Ob jener wohl schon damals geahnt hatte, dass sein talentierter, junger Schüler eine Bedrohung für ihn darstellen konnte?
Bei Rigon war es dagegen ganz anders gewesen. Vielleicht mangelte es dem ersten Kommandanten an Charakter, sodass es ihm leicht fiel, sich dem Herrscher unterzuordnen. Schon zu jener Zeit hatte er zu seinem Mentor aufgesehen und diesen verehrt.
Maritiim war sich noch unschlüssig, ob es klug sei, den abenteuerlustigen Buschen längerfristig auszubilden. Er wollte Anisto als Freund und Gefährten, so wie er es geschworen hatte, und nicht als Lehrling. Andererseits verspürte er einen Anflug stillen Stolzes, wenn er den Jungen mit so viel Hingabe und stets ein wenig Ungeduld lernen sah, erinnerte er ihn doch so sehr an seine eigene Jungend.
Zwei Tage nach dem fürchterlichen Unwetter kam der Hafen von Jabota in Sicht. Die Niederlassung war ein weiterer bedeutender Handelspunkt des Reiches, jedoch längst nicht so groß und schön wie Seestadt. Die Klippen hatten sich nach Osten hin verflüchtigt, sodass die Stadt direkt an das Wasser anschloss. Eine solide Mauer schützte sie, wobei mehr auf Effektivität als auf Schönheit gesetzt worden war. Auch die viereckigen Türme waren mit der Anmut der Schwesternstadt Roonatas nicht zu vergleichen.
Maritiim löste Anisto am Steuerrad ab, um das Schiff in den gut befahrenen Hafen zu lenken. Die Kinder lehnten sich über die Reling und betrachteten das näher rückende Ziel mit neuem Eifer. Ihre Angst war in diesem Augenblick geringer als ihre Abenteuerlust, wo sie doch den kräftigen Krieger an ihrer Seite wussten. Langsam liefen sie in das Becken ein und legten an.
„Seht euch nur all die Pferde an!“, rief Lenio entzückt und deutete auf eine Ansammlung von Kutschen, die in einer Reihe aufgestellt auf ihre Herrschaften warteten. Es waren allesamt edle Tiere mit Zaumzeug aus bestem Leder.
Das Mädchen aber berichtete daraufhin: „Du hast die Wildpferde von Roona nicht gesehen. Verglichen mit ihnen sind das hier nur Ackergäule!“
Doch Anisto unterbrach das Gespräch drängend. „Helft mir mit den Vorräten!“, wies er seine Freunde an. „Auch wenn wir Lenio zurückbekommen haben, sollten wir nicht trödeln. Ihr wisst, worum es geht!“ Die Vorräte, die er meinte, waren zu zwei kleinen Beuteln zusammengeschrumpft. Valora nahm einen davon auf den Rücken, der ältere Junge den anderen. Währenddessen vertaute Maritiim das Schiff und zahlte für den Anlegeplatz, auf dem sie eine Woche lang bleiben durften. Endlich waren sie bereit zum Aufbruch.
Sie schlugen den Weg zur nächsten Herberge ein und erfreuten sich dabei an Jabotas lustigen Holzbauten, die in den unterschiedlichsten Farben angestrichen waren.
Valora lief mit dem munter daher hüpfenden Lenio vorweg. Anisto und Maritiim bildeten das Schlusslicht. Beide betrachteten die Gegend aufmerksam.
„Es scheint alles in Ordnung zu sein“, befand der Junge zufrieden.
Der Ältere nickte zustimmend. „Wir haben wohl noch einmal Glück gehabt.“
Doch seine Augen blieben achtsam und konzentriert wie die eines Adlers. Die Gruppe kam unterwegs an einigen Lebensmittelständen vorbei, die mit bunten Tüchern überspannt die zierliche Straße säumten. Maritiim hatte genügend Geld, um ihre Proviantbeutel bis oben hin aufzufüllen. Außerdem spendierte er den Kindern jeweils ein Glas Fruchtsaft. Dankbar nahmen sie das äußerst seltene Getränk und machten sich wieder auf den Weg. Es war eine willkommene Abwechslung, nachdem sie wochenlang nur Quellwasser getrunken hatten.
Als sie fast zwei Stunden lang durch die fröhliche Stadt gewandert waren und es auf den Mittag zuging, machten sie endlich vor einem großen Holzhaus halt. Es war in dunkelroter Farbe gestrichen, die perfekt mit der der Dachpfannen übereinstimmte. Im Erdgeschoss befand sich eine kleine Kneipe und in der Etage darüber lagen einige Zimmer.
„Hier sieht es nett aus!“, verkündete das Mädchen strahlend. „Diese Häuser gefallen mir irgendwie.“
Von Anisto angeführt betraten die Reisenden die Kneipe. Zu ihrer Überraschung war sie weder düster noch verqualmt, sondern hell und einladend. Gemütliche runde Tischchen standen an den Wänden, doch nur drei von ihnen waren besetzt. In der Mitte des Raumes gab es eine enge Tanzfläche und gegenüber der Tür einen hohen Tresen.
Maritiim hielt darauf zu und die Kinder folgten ihm. Der Wirt war ein alter, untersetzter Mann mit einem grauen Schnurrbart, der seine knollige Nase berührte, als er lächelte, nachdem er die Gäste entdeckt hatte.
„Was darf’s sein?“, fragte er Maritiim freundlich.
Dieser antwortete in leisem Ton: „Ein Zimmer für mich und meine drei Begleiter, bitte, und bringt uns etwas Ordentliches zum Mittag nach oben.“
Der Wirt sah sich nach allen Seiten um, als versichere er sich dessen, nicht belauscht zu werden. „Ihr dämpft Eure Stimme, Herr“, bemerkte er flüsternd, „und ich sehe drei Kinder neben Euch. Davon zwei Jungen und ein Mädchen. Die beiden Älteren sind jugendlich, während der Kleinere gerade einmal an die sieben Jahre zu kommen scheint. Ihr selbst gleicht einem starken Kämpfer und tragt ein Schwert bei Euch. Sagt, seid Ihr der ehrwürdige Herr Maritiim von Roonata mit seinen Gefährten Anisto, Lenio und Valora von Quellingen?“
Sogleich trat ein alarmierter Ausdruck auf das Gesicht des Mannes und seine Hand wanderte blitzschnell an den Knauf des Schwertes.
Die Kinder hinter ihm zuckten erschreckt zusammen.
„Woher meint Ihr dies zu wissen?“, zischte Maritiim scharf und beugte sich dabei weit über die Theke, um ein Mithören zu verhindern.
Der Wirt ließ die Waffe nicht aus den Augen und gab verunsichert zurück: „Sagen wir mal so, man hat nach Euch gefragt, Herr.“
Der Jüngere knallte ein paar Silbermünzen auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. „Ihr habt uns nie gesehen!“, flüsterte er dem Anderen noch rasch zu. Mit einer herrischen Armbewegung wies er die Kinder an, ihm zu folgen.
Der verblüffte Wirt rief ihm noch hinterher: „Was ist nun mit dem Zimmer, Herr?“
Aber die Antwort blieb aus. Raschen Schrittes und doch gerade langsam genug, um nicht den Anschein einer Flucht zu erwecken, eilte Maritiim die Hauptstraße entlang. Sie führte auf kürzestem Wege zum Stadttor.
„Was hat das zu bedeuten?“, wollte Valora wissen, die vergebens versuchte neben dem Erwachsenen herzulaufen. Lenio hatte nach ihrer Hand gefasst und nun zog sie den Kleinsten drängend hinter ihr her.
Anisto ging an Maritiims Seite und antwortete für ihn: „Die Reitermeute ist uns gefolgt! Es scheint schier unmöglich, diese Teufel abzuhängen.“
Endlich verlangsamte der Mann sein Tempo und nahm dem Mädchen die schwere Vorratstasche ab. „Ich muss zugeben, erwartet hätte ich diese erstaunliche Leistung von Rigon nicht“, gab er besorgt zu. „Es ist mir unerklärlich, wie er es vor uns nach Jabota geschafft hat, wo doch der kürzeste Weg über das Meer führt und wir denselben eingeschlagen haben. Aber das hat uns nicht zu kümmern. Er ist nun einmal hier und das bedeutet, dass wir aufs neue fliehen müssen!“
Etwas ruhiger setzte sich die Gruppe wieder in Bewegung, wobei jeder von ihnen die Augen mit Argwohn offen hielt.
Jetzt, mitten am Tage, waren die Straßen Jabotas voller Leben, sodass die Fremdlinge nicht weiter auffielen. Nur Maritiim erntete besonders von den Älteren bei Zeiten misstrauische Blicke, denn sie hatten seit dem letzten Krieg genug von Soldaten in ihrer Stadt, die damals als Grenzposten stark gelitten hatte. Umsichtig zog der Mann seinen tarnenden Umhang noch enger um die Schultern, um seine Kleidung und Waffen zu verbergen.
Bald befanden sie sich in einem spärlich bebauten Vorort. Es wurde ruhiger um sie und zuletzt waren sie die Einzigen auf dem schlecht gepflasterten Weg. Die Stadtmauern kamen in Sicht und die Anspannung unter den Flüchtlingen wuchs zusehends. Es gab nur einen Ausgang aus Jabota, da die Stadt von Norden und Westen hin vom Meer begrenzt wurde. Das östliche Tor, die Grenze zum Nachbarstaat Wobkada, war aufgrund des nahenden Krieges nicht passierbar. So blieb der Truppe um Anisto keine andere Wahl, als die Straße ins Landesinnere. Sie hatten einstimmig befunden, dass es unklug wäre wieder den Seeweg einzuschlagen. Ihr Schiff sei zu leicht bewaffnet und dazu noch beschädigt, war Maritiims Argument gewesen. Seiner Meinung nach hätte die Reitermeute sowohl schnellere als auch stärkere Modelle. Anisto machte es schlichtweg unruhig, den ganzen lieben langen Tag auf See zu verbringen und selber nichts zur Erfüllung ihrer Aufgabe beitragen zu können, und Valora und Lenio weigerten sich gegen eine eventuelle zweite Unwetternacht. Also ließen sie das Schiff schweren Herzens zurück. Ein Verkauf hätte wohl einiges eingebracht, aber jegliche Verzögerung bedeutete ein zusätzliches Risiko, das sie nicht bereit waren einzugehen.
Der Weg beschrieb vor ihnen einen scharfen Bogen, wohinter sich das starke Tor befand. Maritiim gebot der Gruppe zu halten und sprach leise: „Wartet kurz, Freunde. Ich sehe rasch nach, ob wir gefahrlos passieren können!“
Während der Mann sich lautlos um die Kurve stahl, sammelte Anisto die anderen beiden am Rande der Straße, wo sie von dichten Büschen verborgen wurden. Lenio lag eng an den noch feuchten Boden gepresst und hielt immer noch Valoras Hand. Das Mädchen saß gekrümmt hinter Anisto, ihr braunes Kleid sowie das dunkle Haar verschmolz regungslos mit der Erde.
Sorgenvoll blickte sie den älteren Jungen an, welcher ihr tröstend zulächelte und seine Aufmerksamkeit darauf wieder der einsamen Straße zuwandte. Vorsichtig streckte er seinen roten Lockenkopf aus dem Buschwerk und beobachtete die Stelle, an der Maritiim aus dem Blickfeld der Kinder verschwunden war.
Endlich kam der Mann eiligen Schrittes zurück. Seine Hand lag unruhig auf dem Schwertknauf und sein Gesicht trug einen angespannten Ausdruck. „Kommt mit, schnell!“, wies er die Wartenden im Flüsterton an, als er wieder bei ihnen war. „Im Moment scheint die Luft rein zu sein, doch viele Nebenwege führen hinter dem Tore auf die Straße, sodass sich dieser Zustand innerhalb von Sekunden ändern könnte.“
Also schulterten sie ihr Gepäck und hasteten hinter dem Erwachsenen am Wegrand her. Er trieb sie noch schneller voran und bald rannten sie so flink sie nur konnten. Endlich erreichten sie die Kurve, immer mit einer plötzlichen Bedrohung rechnend, und stürmten dem nahen Tor entgegen. Doch hinter der Biegung tauchte unerwartet ein alter Mann mit einem wackeligen Handkarren auf der engen Straße vor der vorwärts stürmenden Gruppe auf.
Sie erschraken, aber ein Zusammenstoß war nicht mehr zu verhindern. Der Alte stolperte, verlor seinen Krückstock und fiel zu Boden. Sein Karren, gegen den Anisto und Maritiim, die Führer der kleinen Gruppe, geprallt waren, kam rutschend vom Wege ab und zerbarst krachend an einem großen Stein, nachdem er die steile Böschung hinabgerollt war.
Lenio schlug sich beim Hinfallen schmerzhaft die zarten Knie auf der harten Straße auf, genauso wie auch Valora, dessen Kleid einen unschönen Riss davontrug. Anisto und Maritiim waren die einzigen, die am Ende noch auf den Beinen waren.
Der Mann fluchte aus ganzem Herzen, denn ihr versehentlicher Unfall hatte einen Lärm verursacht, den ihre Verfolger zweihundert Meter weiter noch zu Ohren bekommen haben mussten. Rasch half er Lenio auf, Anisto kümmerte sich um Valora. Glücklicherweise war keiner der beiden ernsthaft verletzt.
Nun näherten sich die vier Gefährten dem anderen Mann. Dieser hatte sich mit Mühe und Not schon von selbst aufgerichtet und schaute nun, einen traurigen Ausdruck in den müden Augen, seinem auseinandergefallenen Wägelchen hinterher.
Mitleidig betrachtete Valora ihn und konnte das wortlose Entsetzen des Alten nicht länger ertragen. Sie stürzte zu ihm, half ihm dabei, wieder gänzlich auf die wackligen Beine zu kommen, und hob den einfach geschnitzten Stock auf, auf den er sich sogleich stützte.
„Es tut mir so schrecklich leid!“, brachte das Mädchen mit Tränen des schlechten Gewissens in den Augen hervor. „Wir haben Euch nicht gesehen. Entschuldigt bitte!“
Doch der Mann würdigte sie keines Blickes. So wie er dort stand, zitternd in sich zusammengefallen und den Kopf gesenkt, sodass sein grauweißer, langer Bart, welcher der Farbe seines dünnen Haares entsprach, beinahe den Boden zu berühren schien, machte er einen gar zu elenden Eindruck. Er war von kleinwüchsiger Gestallt und hatte ein faltiges, aber dennoch fein und aristokratisch geschnittenes Gesicht, das jetzt in einer verzweifelten und zugleich ungläubigen Gebärde verzogen war.
Kommt, wir dürfen uns nicht aufhalten!“, drängte Maritiim die Kinder bittend. Es war nicht so, als plage das schlechte Gewissen nicht auch ihn, doch er kannte die Gefahr, die sich ihnen näherte nur zu gut.
Der Mann fing jetzt ganz mitleidserregend an zu jammern und murmelte immer wieder irr zu sich selbst: „Unser Wagen, der schöne Wagen, alles weg, unser Wagen...“ Seine Stimme war zittrig und glich annähernd dem klagenden Krächzen einer Krähe.
Da brach es Valora das gute Herz und das artige Mädchen stieg voller Vorsicht die Böschung hinunter. Diese war von starken Dornengewächsen überwuchert, sodass ihre zarten Beinchen arge Schrammen bekamen. Am Fuße des Hanges angekommen bückte sie sich nach dem kleinen Gefährt und musste zugeben, dass es zu nichts mehr zu gebrauchen war. Doch sie sammelte tapfer all die Lumpen, die der Herr mit sich geschleppt hatte, zwischen dem Gestrüpp auf und kletterte behände mit ihnen zu den Freunden empor.
Dort gab sie dem kummervoll gebeugtem Manne seine Besitztümer zurück und sprach warmherzig: „Ihr wollt nach Jabota? Wir helfen Euch, Eure Sachen bis dort hin zu tragen!“
Er nickte und sah sie mit einem Hauch von Dankbarkeit an. Daraufhin schulterte das Mädchen einige der schweren Lumpen und brachte den Rest zu Anisto und Maritiim. Letzterer nahm sie mit Ungläubigkeit in Empfang.
„Aber Valora“, rief er bestimmt. „Das ist ein unverantwortliches Risiko, das wir nicht eingehen dürfen. Glaub mir, keiner weiß besser als ich, was die mit uns anfangen werden, wenn sie uns finden. Der König ist ein ungnädiger Mensch, der sich darauf versteht, seinen Gefangenen Schmerzen zuzufügen!“
„Wir haben es selbst verschuldet!“, entgegnete sie felsenfest und baute sich, getrieben von ihrer guten Seele, vor dem mächtigen Krieger auf. Anisto und Lenio konnten nicht umhin mit offenem Munde zu staunen.
Jetzt musterte das alte Männlein die Gruppe ungeduldig und warf ein: „Was für eine Gefahr ist das, die Euch hindert einem Greis wie mir den Schaden zu beheben, den ihr verursacht habt, wo er es doch selber nicht mehr kann?“
Sein Blick ruhte auf Valora und aus ihnen sprach stumme Erwartung. „Ein braves Mädchen, sehr brav! Aber was sagen ihre Begleiter? Sind auch sie der Sprache mächtig?“
Also holte Maritiim tief Luft und erklärte rasch: „Wir werden von sehr einflussreichen Männern verfolgt und nun fragte man nach uns in unserer Herberge. Uns bleibt kein anderer Weg als eine schnelle Flucht, so leid es uns tut.“
Nun erwachte auch Anisto aus seiner Erstarrung. „Außerdem müssen wir Botac finden. Das ist eine sehr wichtige Mission“, fügte er entschuldigend hinzu.
Aber davon wollte der Alte nichts wissen. Er griff nach seinem Gehstock und tat ein paar Schritte in Richtung der Stadt. Dabei kam er nur sehr schleppend voran. Um so wahnwitziger erschien es, als er behauptete: „Vor dieser Gefahr seid ihr in meinem Hause sicher. Nun kommt und helft! Euren Botac, den kenne ich auch!“
Die Reaktion auf seine Worte fiel grundverschieden aus.
Lenio verstand im vornherein nicht, was es mit dem geheimnisvollen Botac auf sich hatte.
Anisto fiel vor Verblüffung der Unterkiefer herunter und seine grünen Augen blinzelten ein paar Male verwirrt. Mit ihnen sah er ein altes Großväterchen vor sich, das vom Leben nicht mehr allzu viel vor sich zu haben schien. Stumm fragte er sich, was jener mit dem mächtigen Botac zu schaffen haben konnte.
Valoras Gesicht nahm einen Ausdruck freudiger Überraschung an und sie schloss sogleich die wenigen Meter zu dem Fremden auf. „Seht“, verkündete sie ihren Freunden strahlend, „der ehrwürdige Herr ist bereit uns zu helfen! Und das nach allem, was wir getan haben. Wie großzügig!“
Aber Maritiim sah den Alten voll Misstrauen an. Er machte keinen Hehl daraus, dass er ihm nicht im Geringsten die Bekanntschaft mit Botac abnahm. Genau so wenig erachtete er sich und seine Gefährten unter dessen Schutze in Sicherheit. Deshalb forderte er die Seinigen wiederum auf, sogleich weiter ihres Weges zu gehen.
Aber der Mann bedachte den jungen Erwachsenen nur mit einem empörten und zugleich verächtlichen Blick. Danach wandte er sich wieder an Anisto, bei dem er sich mehr Erfolg versprach: „Folgt weiter dieser Straße und Ihr werdet Euch nur von Eurem Ziel entfernen. Mir soll es gleich sein!“
Er betrachtete die Unterhaltung augenscheinlich als beendet und hinkte weiter auf die Stadt zu, seine Güter hinter sich zurücklassend.
Anisto beobachtete die gekrümmte Gestalt nachdenklich dabei, wie sie sich ungelenk von ihnen entfernte. Die Mittagssonne erfasste das graue Haar des Greises und ließ es silbern erstrahlen. Sein zerlumpter, gräulicher Umhang jedoch blieb von ihrem sanften Licht unberührt.
„Wartet, Herr!“, rief der Junge plötzlich und überraschte sich mit seinen Worten genauso wie die anderen. „Wir werden Euch begleiten!“
Maritiim stöhnte fassungslos, als sich Mädchen und Junge lächelnd zunickten und nebeneinander hinter dem Alten hereilten. Lenio folgte so schnell ihn seine kurzen Beine trugen.
„Das ist unklug, Anisto!“, rief der Krieger ihm nach.
Aber dieser gab über die Schulter entschlossen zurück: „Das sagt auch mein Verstand, aber mein Herz will ihm dennoch trauen. Außerdem ist es meine Mission. Komme mit uns, Maritiim, oder verlasse uns an dieser Stelle wieder!“
Die Kinder erreichten den Alten und schritten langsam neben ihm her.
Maritiim konnte nur mit dem Kopf schütteln und lächeln. Diese Kinder werden die Welt verändern, dachte er amüsiert und machte sich daran, die Entfernung, die zwischen ihnen wuchs, aufzuholen.
So gingen die Gefährten wieder der Stadt entgegen, aus der sie eben noch geflohen waren. Maritiim, Valora und Anisto trugen dem Fremden seine Lumpen und dessen Gesicht wurde von einem leisen, wissenden Lächeln gezeichnet.
Der Alte führte sie zu einem kleinen, unauffällig zwischen zwei überragende Backsteinbauten gequetschten Häuschen. Es erweckte den Anschein eines langen Leerstehens, da die winzigen Fenster eingestaubt und die Blumenkästen vor dem Eingang unbepflanzt waren.
Er vollführte eine umständliche Handbewegung, mit der er seinen Gästen bedeutete, ihm zu folgen, und kramte einen langen und kompliziert gefertigten Schlüssel hervor. Diesen stieß er in das von Spinnenweben verhangene Schlüsselloch und nach einigem Ruckeln und Zerren ließ sich die alte Tür schließlich öffnen.
Die Kinder überließen Maritiim bereitwillig den Vortritt und gingen zögernd hintendrein.
Von innen machte die Wohnung wider Erwarten einen behaglichen Eindruck. Der Flur, den sie betraten, war sehr kurz und wie auch das restliche Gebäude eng und niedrig. Maritiim musste den Kopf einziehen, um ihn sich bei seiner stattlichen Größe nicht zu stoßen.
Der fremde Mann führte sie zielstrebig in eine bescheidene Wohnstube. Es standen nur wenige Möbel darin, unter anderem ein altmodisches, reichlich verziertes Sofa, auf dem er seinen Besuch Platz zu nehmen bat. Neugierig blickten sich die Kinder um. Der Raum war recht dunkel, jedoch war sogleich zu erkennen, dass er keineswegs verstaubt und heruntergekommen war, wie man es von draußen vermutet hätte. In der Tat hatten die weichen, großen Kissen aus blassgrünem Samtstoff, der schwer gewebte Knüpfteppich unter dem runden Tischlein und die grünen Tapeten mit silbernem Muster etwas durchaus heimeliges an sich.
Der Mann entzündetet gekonnt ein knisterndes Feuer im Kamin, dessen warmer Schein ein wenig mehr Licht ins Dunkel brachte.
Valora versank wohlig in den bequemen Polstern und atmete tief den leichten Lavendelduft ein, von dem das Zimmer durchströmt wurde. Es machte sie angenehm schläfrig und löste ein Gefühl herrlichster Geborgenheit aus, wie sie seit langem nicht gespürt hatte.
Lenio, der neben ihr saß, legte seinen kindlichen Kopf an ihre Schulter und seufzte zufrieden.
Ja, selbst Anisto vergaß sein naturgegebenes Misstrauen und erlaubte sich für einen winzigen Moment die Augen zu schließen. Er vertraute dem alten Mann ohne den Grund dafür zu kennen. Sein Herz allein wusste ihn.
Nur Maritiim saß hoch aufgerichtet auf dem Sofa und ließ ihren Gastgeber nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Mantel und Waffe hatte er nicht abgelegt. Endlich setzte sich auch der Alte. Er nahm mit dem zum Sofa passendem Ohrensessel vorlieb.
„Nun, wo können wir Botac, Euren Bekannten, finden?“, begehrte Maritiim mit hoch gezogenen Brauen zu wissen.
Als der Greis scheinbar ermüdet zurücksank, musterte der Jüngere ihn umso schärfer. „Verschnaufen, eine Weile“, drang es aus dem dichten Barte hervor.
Aber der Kämpfer gönnte es ihm nicht und warf gereizt ein: „Ihr habt noch nie von ihm gehört, nicht wahr? Welch Torheit, zu glauben, dass jemand wie Ihr in Gesellschaft eines so großen Mannes zu sein pflegt!“
Der Andere gab keine Antwort. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken und allein sein pfeifendes Atemgeräusch zeugte davon, dass er noch lebte.
Maritiim bedachte den scheinbar Schlafenden mit einem ratlosen Kopfschütteln und beschloss, einen Anflug von Verärgerung in seiner Stimme: „Kommt, hier hält uns nichts mehr! Als hätten wir nicht wichtigeres im Kopf als den Schabernack eines alten Narren!“
Die Kinder, die es sich sofort gemütlich gemacht hatten, sahen den Erwachsenen enttäuscht an. Sie hatten vergebens darauf gehofft, in diesem Hause ein wenig Erholung zu finden.
„Ja, Maritiim von Valir, so kennt man dich“, plauderte der Alte auf einmal und ein amüsiertes Lächeln umspielte seine blassen Lippen. Die Augen behielt er geschlossen. „Brillant, daran ist nicht zu zweifeln, aber dennoch immer eine Spur zu ungeduldig und von einem waghalsigen Leichtsinn geprägt. Beinahe hatte ich damals geglaubt, Elirius habe es dir ausgetrieben und stattdessen Bedachtheit und Vernunft in deinen Schädel gepflanzt. Ich muss gestehen, ich habe mich geirrt. Alter Narr, sagen deine allzu leichtfertigen Lippen? Nun gut, behalte lieber deine höchst eigenen Charakterzüge, als dass dich der König in einen seiner willenlosen Zinnsoldaten verwandelt. Und doch kann ich dir nur raten: Bilde dir dein Urteil nicht zu rasch, denn am Ende täuschst du dich und bist selbst der Narr!“
Anisto öffnete seine Augen wieder und blinzelte den Sprechenden schläfrig an.
Valoras weiche Gesichtszüge verhärteten sich in einem jähen Ausdruck von Verwunderung und Lenio sah ebenfalls zu dem Greise auf.
Der gescholtene Maritiim wollte es kaum wahrhaben. „Botac?“, flüsterte er fassungslos und legte den Kopf leicht schief, eine fragende Geste, die er sich in frühsten Kindertagen angeeignet hatte und in besonders ungewöhnlichen Situationen noch immer zum Vorschein trat.
Nachdem der Angesprochene die Augen aufschlug, wusste er sofort, dass es der Wahrheit entsprach, und jene schien nun gar nicht mehr so absurd.
Jede Müdigkeit war aus den Blicken des Mannes verschwunden und das hohe Alter fiel von ihm ab, wie eine Maske. Er mochte in Wirklichkeit höchstens an die siebzig Jahre messen. Keinen Moment länger kauerte er gebeugt im Sessel, sondern saß stattdessen aufrecht und nach bester Hofmanier, ohne auch nur annähernd die Rückenlehne zu berühren. Dieses machte ihn gleich um einiges größer und kräftiger. Sein Gesicht war weder von Trauer noch von Hoffnungslosigkeit gezeichnet. Es trug vielmehr einen stolzen und erhabenen Ausdruck, wenngleich seine aristokratisch geprägten Züge nun durch ein leicht spöttisches Lächeln gemildert wurden, womit er Maritiim strafend bedachte. Die hohe, von Falten gezierte Stirn sowie die lange, krumme Nase verliehen ihm einen gewissen Anschein von Weisheit, der von dem hellen Bart noch zusätzlich unterstützt wurde.
Die Kinder starrten ihn verblüfft und ehrfürchtig zugleich an und Anistos Herz mochte zerbersten vor Freude. Nur wage erkannte er, dass er kurz vor Beendigung seiner Aufgabe stand, gerade jetzt, wo er es am wenigsten erwartet hatte. Doch nach einer Weile sah er es ein und Tränen des Glückes schossen in seine Augen.
Valora betrachtete ihren Gefährten stumm und empfand einen glühenden Stolz auf alles, was sie geleistet hatten.
Maritiim jedoch saß eine lange Zeit bewegungslos da, einen demütigen Ausdruck auf dem starken Gesicht. Aber dann hob er den Kopf und zeigte ein unterwürfiges sowie anerkennendes Lächeln. „Entschuldigt, mein Herr“, bat er Botac und das Lächeln verwandelte sich in ein knabenhaftes Grinsen, „aber ich konnte es einfach nicht lassen, Euch einen Narren zu schimpfen!“
Botac nickte und es war unschwer zu erkennen, dass er die Sache nicht sehr tragisch sah. „Nun, das konntest du noch nie“, fügte er mit gespielt streng hochgezogenen Brauen hinzu. „Auch als kleiner Bub hattest du wenig Respekt. Ein Jammer, dass du zwecks deiner Ausbildung in den letzten Jahren so selten bei Hofe warst, wobei ich zugeben muss, selber oft verhindert gewesen zu sein, sonst hättest du mich vielleicht schon früher erkannt und mir jene Beleidigung erspart.“
Der ehemalige Diplomat betrachtete den jungen Mann eingehend. „Zu einem ordentlichen Krieger hat der König dich gemacht, sehe ich. Wobei ich anmerken muss, dass mir seit langem, wenn nicht gar von Anfang an, die Trennung von seiner Herrschaft unabänderlich erschien.“ Maritiim wich seinen Blicken aus, was recht ungewöhnlich für ihn war, denn dieses Ereignis war ihm noch zu jung, um schon darüber zu sprechen. Vielleicht musste er sich zuerst selbst damit auseinandergesetzt haben.
Darum war er umso mehr erleichtert, als Anisto plötzlich auffuhr, wie vom Blitz getroffen. Sein Jungengesicht färbte sich tief rot und er stammelte verlegen: „Das hätte ich nun beinahe vergessen.“
Alle Augen waren auf ihn gerichtet, während er die königliche Botschaft umständlich hervorkramte. Ein letztes Mal strich er fast zärtlich über das kostbare Schriftstück und betrachtete es ihm flackernden Schein des Feuers, bevor er sich stolz aufrichtete, angemessenen Schrittes den kleinen Tisch umrundete und vor Botac innehielt. Jener erhob sich aus dem Sessel, ehrfurchtgebietend und ohne jede Spur von Schwäche, und sah auf den Jungen herab.
Anisto kniete nieder und bot den Brief dem Empfänger auf seinen geschickten, schlanken Händen dar, wobei er ein Zittern derselben nicht vermeiden konnte. „Für Euch, Herr“, sagte er leise und mit zum Boden gesenktem Kopfe.
Botac nahm den Brief wortlos mit der linken Hand entgegen, die Rechte legte er auf das lockige Haar des Knienden, in dem wild der rote Widerschein des Kaminfeuers spielte. Mit fester, starker Stimme sprach er: „Gesegnet seiest du, Anisto von Quellingen, dessen waghalsiger Weg dich zu mir führte. Von Seestadt an habe ich den Fortgang deiner Reise mitverfolgt, jedoch bin ich mir gewiss, dass sie auch in den davor verstrichenen Tagen voller Gefahren und Widrigkeiten gewesen sein muss. Mein unendlicher Dank gilt auch euch, Valora und Lenio, die ihr neben eurem Gefährten treu durch Furcht, Hunger und Leid geradewegs zu meiner Haustür gekommen seid. Doch meine Weisheit reicht nur soweit, zu erkennen, dass ich mich ersuchtet. Immer noch ist mir der Grund dafür verborgen. Also entschuldigt mich, bitte, ich werde mich zum Lesen in mein Zimmer zurückziehen. Bedient euch währenddessen meiner Vorräte und erholt euch erst einmal ausgiebigst!“
Nachdem er dies gesagt hatte, verließ er den Raum, den Brief noch keines Blickes gewürdigt in seiner Hand, und Anisto erhob sich wieder. Ohne, dass es zwei Meinungen gab, kamen die Kameraden darin überein, sich den Gang zur Speisekammer ihrer knurrenden Mägen zum Trotz vorerst zu sparen und stattdessen ein kleines Schläfchen zu halten.
Valora und Anisto lagen zusammengerollt auf dem gemütlichen Sofa, Lenio in ihrer Mitte, und Maritiim machte es sich im Sessel bequem, wobei er es vorzog nur leicht zu dösen und ein Auge der Reitermeute wegen offen zu halten.
„Also hat Botac die ganze Zeit gewusst, wer wir waren, und uns nur etwas vorgespielt?“, fragte Lenio müde. „Da würde es mich mal interessieren, mit wem wir es hier zu tun haben. Maritiim, du scheinst ihn zu kennen, sag, was ist das für ein Mensch?“
Der Mann überlegte gründlich, bevor er antwortete: „Es ist schwer ihn mit Herkunft, Elternhause und Lebenslauf zu beschreiben. Seine Vergangenheit ist mir nur soweit bekannt, dass er schon Königin Saliramoon mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Mit Gewissheit aber kann man von einem weisen und sehr gütigem Mann sprechen, der sich niemals einem Geringeren unterordnen würde. Deshalb stieß er auch immer wieder mit Elirius aneinander und floh vor einigen Wochen vom Hofe. Man ließ selbstverständlich nach ihm suchen, aber kein Mensch ist in der Lage ihn aufzuspüren.“
„Außer uns“, stellte Anisto stolz fest und hob verschlafen den Kopf, um Maritiim anzusehen. Dieser entgegnete, er solle sich nicht allzu viel darauf einbilden. „Ich denke eher, dass er uns hier erwartet hat. Der Mann hat zahlreiche Kontakte, durch die er von allen wissenswerten Ereignissen im Lande und auch außerhalb der Grenzen erfährt, selbst wenn er auf der Flucht ist“, waren seine Worte. „Mache nie den Fehler, ihn zu unterschätzen!“
Anisto lachte leise. „Es soll ja Narren geben, die eben dies tun“, murmelte er nicht ohne Ironie, bevor er einschlief.
Er konnte später beim besten Willen nicht sagen, ob es nun an dem betörenden Lavendelduft, der himmlischen Weichheit des Sessels oder dem beruhigenden Knistern des Feuers und seinen gleichmäßig tänzelnden Flammen gelegen hatte, dass er sich plötzlich der Erschöpfung und der Müdigkeit gewahr wurde, die sich unbemerkt seiner bemannt hatten und ihn in das Land der Träume trugen, doch am Ende war auch Maritiim in einen tiefen und erholsamen Schlaf gefallen. Als er wieder erwachte, fand er die Kinder noch immer mit geschlossenen Augen vor. Sogleich blickte er sich nach dem Geräusch um, das ihn hatte hochschrecken lassen.
Es war das Zufallen der Türe gewesen, nachdem Botac - mit einem Tablett in den Händen - den Raum betreten hatte. Der alte Mann nickte Maritiim stumm zu, ließ seine wachen Blicke durch den halbdunklen Raum schweifen, wobei ein Lächeln sein weises Gesicht streifte, als er die Jungen und das Mädchen friedlichst schlafen sah, und ließ sich schließlich auf einen Holzschemel neben dem Krieger nieder. Das Tablett, gefüllt mit einem herrlich duftenden Brotleib, allerlei Leckereien zum Daraufstreichen in kleinen Porzellanschüsselchen, und einer riesigen Glaskanne mit frischer Milch, stellte er vor sich auf den Tisch.
„Ist es so ernst, wie wir dachten?“, fragte Maritiim, hoffend, dass er den Inhalt des Briefes nur falsch verstanden hatte.
Wie erwartet nickte der Andere jedoch mit sehr besorgter Miene. „Du weißt selbst am Besten, welches Unheil der Krieg über die Welt bringen wird“, entgegnete er leise und versicherte sich, dass die Kinder noch immer schliefen, „denn du hast die Vorbereitungen mit eigenen Augen gesehen. Die Tat, die sich vor siebzehn Jahren eignete, war gewiss ein Verbrechen, wie es grausamer nicht hätte begangen werden können, aber ich muss dich dennoch bitten, die Vergangenheit vorerst beiseite zu schieben und deine Gedanken voll und ganz der Zukunft zu widmen. Dieser Krieg darf niemals beginnen.“
Dabei sah er Maritiim so eindringlich und bestimmt in die Augen, dass diesem keinen Zweifel mehr an ihrer Lage blieb. Der Jüngere erhob sich und fing an nachdenklich durch das Zimmer zu schreiten. Der weiche Teppich dämpfte seine energischen Schritte, sodass keines der Kinder davon aufwachte.
„Doch was sollen wir tun?“, entgegnete Maritiim mit mühsam unterdrückter Stimme. „Wenn wir das Volk über Elirius’ wahres Gesicht aufklären und es sich gegen ihn wendet, wird es in Roona keinen Herrscher geben. Der König hat keine Kinder, die ihm auf den Thron folgen könnten. Soweit ich weiß hat die Mandaala Dynastie überhaupt keine lebenden Angehörigen mehr! Es wäre dann das erste Mal in unserer Geschichte, dass die Linie der Königinnen uns verlassen hat, und die Menschen sind nicht im geringsten auf eine solche Situation vorbereitet. Roona wird Uneinigkeiten und Streitereien unterliegen, während Wobkada diese Schwäche ausnutzt und einen schweren Schlag gegen unsere schutzlose Heimat tut. Das Reich darf niemals führerlos sein, erst recht nicht in einer schwierigen Zeit wie dieser, das ist eine Weisheit des Königs selbst, der ich sehr viel Wahrheit beimesse.“
Gemessenen Schrittes fuhr der Mann fort den Raum zu durchqueren, wobei er sich immer wieder nachdenklich das Kinn rieb und leise zu sich selbst sprach.
Botac jedoch saß ruhig, wie zu Stein erstarrt, auf dem Hocker. In Gedanken schien er ganz weit weg zu sein, da seine beinahe farblosen Augen bewegungslos ins Leere blickten, bis er endlich wieder zu sich zurückfand und sie traurig schloss.
„Nichts ist schlimmer, als ungerechtfertigte Schlachten zu schlagen und am Ende als dunkle Macht die Welt zu unterjochen“, beschloss er müde, wobei er kurz mit den Händen das Gesicht verbarg, um für einen winzigen Augenblick wieder zu jenem Greise zu werden, für den die Kameraden ihn zuerst gehalten hatten. „Von Roona so wie wir es kennen wird nichts mehr übrig bleiben, selbst wenn es als Sieger den Krieg beendet. Es verdorrte stattdessen in der eigenen Schuld und Tränenbäche würden jene Unschuld und Friedfertigkeit von unserem Land abwaschen, die es im Frühjahr, dem sanften Erwachen, aufblühen, im Sommer voller Glanz und Lebenskraft erstrahlen, im Herbst stolz und schön unter der Sonne leuchten und im Winter einen würdevollen Abschied in seinem weißgrauen Kleide nehmen lässt, nur um im nächsten Jahr wieder ebenso herrlich die Gemüter der Menschen zu erfreuen. Äußerlich bleibt vielleicht alles dasselbe, doch wer kann sich schon das liebliche Roona als Bollwerk des Bösen vorstellen? Wie sehr es die Seele des Landes und seiner Einwohner verletzen würde...“
Während der Weise sprach, war Maritiim stehen geblieben und ein wehmütiger Ausdruck hatte den hilflosen Zorn in seinem Gesicht abgelöst. Jeglicher Hass, den er Elirius und auch Rigon entgegenbrachte, erschien plötzlich bedeutungslos und der Gedanke an die Heimat erwärmte sein junges Herz wie nie zuvor. Er senkte den Kopf und schloss die Augen, sah klare, wild springende Bäche durch tiefgrüne Wiesen fließen, wobei der strahlend blaue Himmel sich in dem reinen Wasser spiegelte. An seine Ohren drang das zufriedene Säuseln des Windes durch die hohen Bäume, die stark und unermüdlich alle Zeiten überstanden, und auf seinem Gesicht spürte er die angenehme Wärme der Sonne. Er roch salzige Seeluft, den starken Duft des Heus, nachdem es gemäht wurde und jenes wohlbekannte Aroma eines dichtbewachsenen Nadelwaldes und auf einmal wusste er, dass er dieses Land aus ganzem Herzen liebte.
„Wir werden es versuchen!“, entfuhr es ihm wild entschlossen. „Und wenn wir das eine Übel nur durch ein anderes ersetzen, Roona wird eher in guter Erinnerung dahinschwinden, als dem Bösen für immer zu erliegen!“
Botac erhob sich daraufhin und alle Stärke und Erhabenheit war in seine Glieder zurückgekehrt. Er schritt zur Tür, neben der sein Gehstock an der Wand lehnte, und verkündete bestimmt: „Was ich dir sagen wollte, Maritiim: Ich werde für eine Weile fortgehen, um Erkundigungen anzustellen. Wie lange das dauern wird, weiß ich noch nicht. Einige Tage, oder doch Wochen? Auf jeden Fall möchte ich dich bitten, hier meine Rückkehr abzuwarten und dabei nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Du und deine Begleiter seid so lange Gäste in meinem Hause. Also rate ich euch, die Zeit zur Erholung zu nutzen und euch ohne Zurückhaltung meiner Küche zu bedienen! Die Vorratsschränke werdet ihr frisch aufgefüllt vorfinden.“
Kurz bedachte er die Kinder mit einem warmherzigen Blick, wonach er den Raum verließ. Im Flur hatte er sein Gepäck gestapelt, welches er nun aufhob und vor die Haustür schleppte. Maritiim folgte ihm eilig und fragte: „Müsst Ihr denn schon sofort aufbrechen?“
Der alte Mann deutete auf den Sternenhimmel über ihnen. Ein frischer Wind wehte und Stille hatte sich über die Stadt gelegt. „Während ihr geschlafen habt, ist die Zeit nicht stehen geblieben“, stellte er wahrheitsgemäß mit einem flüchtigen Lächeln fest, „und die Nacht eignet sich hervorragend zum Reisen, wenn man es vorzieht unerkannt zu bleiben.“
Da erinnerte sich Maritiim auf einmal an ihren überstürzten Aufbruch und entgegnete: „Was ist mit der Reitermeute? Sie ist uns bis in die Stadt gefolgt!“
Zu seinem maßlosen Erstaunen gab sein Gegenüber ein vergnügtes Glucksen von sich. Er schulterte seine Taschen und entfernte sich ein paar Schritte von der Tür. „Mach dir keine Sorgen darüber. Die Reitermeute ist weit entfernt von hier“, meinte er geheimnisvoll, bevor er sich zum Gehen wandte. „Nicht sie hat in der Herberge nach euch gefragt. Und nun leb wohl, Maritiim von Valir. Wir sehen uns bald wieder und bis es so weit ist, übe dich in Geduld und Vernunft, so schwer es dir auch fallen mag!“
„Habt eine gute Reise, Herr!“, rief Maritiim, auf der Schwelle der Haustür stehend, dem Anderen noch nach.
Dort wartete er noch, bis Botac vollkommen mit der Dunkelheit verschmolzen war, bevor er in das Wohnzimmer zurückkehrte, wo Anisto, Valora und Lenio ungestört schliefen, nichts ahnend von dem, was noch auf sie zukommen sollte...


Kapitel 16
Ein Diener des Königs
Es waren drei Tage und Nächte vergangen, die sie mit härtester Wanderung verbracht hatten, als die Reitermeute endlich die Türme von Valir am Horizont erkannte. Die Männer seufzten vor Erleichterung und legten noch ein letztes Mal an Tempo zu, weil sie sich auf einmal mehr denn je nach ihren Häusern und Familien sehnten.
Auch Rigon hatte es eilig, sein Grund war jedoch ein völlig anderer. Er hatte die ungnädige Pflicht dem König über die wenig vorteilhaften Entwicklungen Bericht zu erstatten. Ein merkliches Schaudern lief ihm über den Rücken, wenn er daran dachte, wie sehr jener wüten würde, erführe er erst einmal von Maritiims Verrat und der Fälschung des Briefes, die sie gleich am nächsten Tag bemerkt hatten. Doch es half nichts, er musste es seinem Herren dennoch sagen und zwar so schnell wie möglich. Ein anderer wäre vielleicht bemüht gewesen das Unvermeidliche noch für ein paar Tage hinauszuzögern, Rigon aber wusste, dass der Schaden dadurch nur wachsen würde.
Er fuhr sich rasch über die vor Müdigkeit tränenden Augen und blickte nach vorn. Die Flaggen Roonas wehten stolz über des Königs schwarzer Festung. Rigon trieb sein Pferd erbarmungslos vorwärts. Ihnen blieb nicht viel Zeit, um Maritiim und diesen Kindern Einhalt zu gebieten. Da sie Umwege hatten vermeiden wollen, waren sie in den letzten Tagen meistens querfeldein geritten und von Roonas wilder, dicht bewachsener Natur zu gemäßigter Geschwindigkeit gezwungen worden. Nun jedoch donnerten sie, zwei Dutzend Mann auf schnellen, kräftig gebauten Hengsten, im gestreckten Galopp über die ebene Landstraße geradewegs auf die Hauptstadt des Reiches zu. Reisende konnten sich nur durch einen schnellen Sprung die Böschung hinab vor ihnen retten. Alles was sie sahen, wenn sie sie wieder hinaufkrochen, war eine riesige Staubwolke, die sich einem Wirbelsturm gleich auf Valir zu bewegte.
Es dauerte also nicht mehr lange, bis die Meute das Tor erreicht hatte. Die Wachmänner erkannten Rigons stämmige Gestalt schon von weitem und ließen den Weg räumen. Die Männer nahmen ihre Pferde kaum zurück, als sie durch die zur Mittagszeit gut bevölkerten Straßen der Stadt preschten. Sie machten erst vor dem Schloss in deren zu einem Hügel aufgewölbter Mitte Halt. Sofort waren mehrere Stallburschen zur Stelle, die ihnen die dampfenden Rösser abnahmen. „Gut geritten, Männer!“, lobte Rigon seine Krieger. Sie hatten ihn noch bis in den Burghof begleitet. „Ihr seid nun vorerst vom Dienst entlassen und es steht euch frei, eure Familien zu besuchen.“
Daraufhin verabschiedete man sich und der erste und momentan einzige Kommandant betrat durch die großen Flügeltüren das Schloss. Keiner der Bediensteten hinderte ihn daran seinen Weg zum Thronsaale zu gehen, da er am Hofe allgemein bekannt war. Zügig durchschritt er die weitläufigen Gänge, die schnurgerade und jegliche Verzierung die vielen Flügel der mächtigen Anlage miteinander verbanden. Das Gebäude war noch recht jung und - ganz so wie der König es liebte - ausschließlich auf Effektivität gebaut. Man erkannte mühelos, dass keine Hausherrin Einfluss auf den Schmuck der hohen Räume und die Gestaltung der eher bescheidenen Parkanlage nahm, denn die grauen Wände waren zwar solide und sorgfältig errichtet, doch dennoch schrecklich kahl und abweisend. Nur gelegentlich verpasste man es nicht, durch goldene Wappen und Silbergeflechten, die die Torbögen umgaben, den Reichtum und die Erhabenheit des Hauses zu demonstrieren.
Nun endlich erreichte Rigon den großen Speisesaal, in dem auch er zu essen pflegte, wenn ihn seine Geschäfte von Zeit zu Zeit an den Hof von Valir brachten. Im Moment war der Raum vollkommen leer. Lediglich ein schwacher Duft erinnerte noch an den Rinderbraten, der hier soeben verspeist worden war, die Stühle jedoch waren ordentlich an die bereits angedeckten Tische herangeschoben. Es gab vier lange Tafeln und Rigon wählte den Weg zwischen den beiden Mittleren hindurch, die mächtige Türe am Ende des weiten Saales erstrebend. Diese hatte zwei nach oben oval zulaufende Flügel und war mit einem aufwendigen Muster aus Bronze und Gold geschmückt. Von Weitem mochte das kostbar und durchaus hübsch erscheinen, doch als Rigon näher trat, fiel ihm wieder einmal die Disharmonie der Kreise und Linien auf, zu denen die Edelmetalle gegossen worden waren. Es mangelte dem Ganzen an Eleganz und Weichheit und wirkte beim genauen Betrachten nur sehr teuer und einschüchternd, was zweifellos der Effekt war, den der Monarch damit bezwecken wollte.
Zwei Pagen standen, in gelbgrüner Uniform vor der Türe, und öffneten sie vor dem Neuankömmling mit einer höflichen Andeutung eines Verbeugens. Nun gelangte man in einen schmalen Vorraum, an dessen Seitenwände schlichte Stühle zum Warten platziert waren.
Rigon würdigte sie nicht eines Blickes, sondern ging gemessenen Schrittes weiter zu einer wesentlich kleineren Tür, die ebenfalls geschlossen und mit einem Wachposten versehen war. „Der König erwartet Euch“, teilte jener Rigon in zwar höflichem, doch ebenso gleichgültigem Tonfalle mit.
So betrat der Soldat leise das Zimmer hinter der Tür, die sogleich wieder geschlossen wurde. Unwillkürlich musste der Mann blinzeln, da eine ungewohnte Helligkeit den im Vergleich zum Speisesaale engen Raum flutete. Nach dem Eintreten sah man als erstes einer hohen Fensterfront entgegen, welche die dem Süden zugekehrte Außenwand bildete. Auch dies diente keineswegs der Eleganz, sondern erfüllte den einfachen Zweck, dass Besucher für einen Moment erblindeten, während der König sich schon ein Bild von ihnen machen konnte.
Jetzt stand der Herrscher jedoch - wie Rigon erkannte, als seine Augen ihren Dienst wieder aufnahmen -, vor eben diesen Fenstern und schaute gedankenverloren auf seine Stadt hinunter, anstatt auf dem edlen Thron zu sitzen, auf den man ihn sonst gewöhnlich zu dieser Stunde vorfand. Er wusste dennoch, wer hinter ihm in den Raum geschritten war und nun unterwürfig niederkniete, und erachtete es deshalb kaum als notwendig sich umzudrehen. Rigon verharrte bewegungslos in jener Position und starrte geduldig auf den spiegelblanken Marmorboden unter sich.
„Erhebe dich, mein Freund“, gestattete ihm Elirius endlich und sein Diener stand langsam auf, um die verbliebene Distanz zwischen ihm und seinem Herren zu überwinden.
Gemächlich wandte sich dieser um, wobei sein schwerer Umhang mit einem leisen Knistern wehte. Rigon kannte dieses Geräusch sehr gut, denn er war damit aufgewachsen.
Ein Schatten lag auf dem von schwachen Linien des Alters gezeichneten Gesicht des Herrschers, aber seine kalten Augen blieben klar und ließen nicht einen winzigen Moment lang von dem Jüngeren ab. „Du bringst mir schlechte Nachricht“, äußerte er sich würdevoll. „Ich sehe dies in deinem Blick. Er ist unruhig, zweifelnd und es mangelt ihm an Sicherheit. Du bist zu lesen wie ein offenes Buch, Rigon. Vermeide dies in Zukunft!“
Demütig senkte der Achtundzwanzigjährige den Kopf. Der König seufzte leise, da er sich ein wenig mehr Kampfgeist für seinen Schützling wünschte. Es fehlte diesem genau an dem, was Maritiim zuviel hatte. Jener hätte seinen Blick starrköpfig erwidert und den Tadel mit einer spitzfindigen Bemerkung zu entkräften gewusst.
Elirius besah den jungen Mann mit einem kritischen Ausdruck auf dem starken Gesicht und befahl: „Nun, sprich! Lass mich hören, was du nicht zu sagen wagst!“
Während Rigon noch zögerte, schritt der Ältere zu seinem Throne hinüber, neben dem auf der mit rotem Tuch versehenen Erhebung eine etwa knie hohe Figur aus sehr zartem Porzellan stand. Er griff nach ihr und drehte sie in seinen großen Händen mit den langen, schmalen Fingern behutsam hin und her. Sie zeigte einen Elefanten mit edlem Kopfschmuck. Das Tier hielt seinen Rüssel empor und vermittelte dem Betrachter einen Ausdruck von entschlossener Loyalität und ernsthafter Treue. Die Statue war fein gefertigt von jemandem, der sein Handwerk wohl verstand, und hatte zweifellos ihren Wert. Der Herrscher hatte die Gabe erst an eben diesem Nachmittag von einem Gesandten Dakaruns bekommen, als Zeichen ihres Verbundes, doch er sah in ihr nichts als Schwäche und Ergebenheit, ein Schachzug, den er wohl kaum getan hätte. Der Elefant war seit jeher das Symbol des Wüstenstaates, das auch seine Flagge zierte, wenngleich diese Tiere dort nur noch in sehr geringer Zahl vorkamen. Doch Elirius vermochte kaum zu leugnen, dass es eine recht hübsche Skulptur war.
„Wir haben den Brief nicht“, eröffnete Rigon endlich. Er stand immer noch vor der Fensterfront und hob nun in einem Anflug des Mutes den Blick zu seinem Herren empor. „Auch die Kinder sind uns entwischt.“
Der Krieger erwartete einen Wutausbruch, aber dieser blieb vorerst aus. Stattdessen stand der König, eine eindrucksvolle Gestalt in seiner weiten Robe, seelenruhig auf der Erhebung und betrachtete seinen Schüler ausdruckslos. Er war sehr gut in der Lage, seine Gedanken und Empfindungen in sich zu verschließen, oder sie fälschlicher Weise hervorzukehren, eine Fähigkeit, die er über alles schätzte. Täte er dies nicht, wäre er dennoch nicht in Zorn verfallen. Nein, dass die Mission seiner besten Leute gescheitert war, hatte er schon an den zaghaften Schritten Rigons gespürt, noch ehe dieser die Türe zum Thronsaal geöffnet und sich niedergekniet hatte.
Wider aller Erwartungen hätte gar ein Lächeln seine sonst sehr geraden und ernstes Lippen umspielt, eines das Belustigung und auch ein wenig Stolz zeigte. Endlich war da etwas wie Herausforderung, wie Sicherheit in der Haltung des Anderen. Das, dachte der König, ist durchaus lobenswert.
„Es war eine Falle“, setzte Rigon hinzu, wobei er fast trotzig das mit kurzen Bartstoppeln versehene Kinn hervorschob. „Die Kinder haben uns betrogen. Wir konnten dies nicht wissen!“ Das amüsierte den Herrscher umso mehr, denn dass die Meute um Rigon, die fähigsten Kämpfer des ganzen Landes, sich von einer kleinen Gruppe Kinder hatte an der Nase herumführen lassen, war schlicht und einfach eine zu komische Vorstellung.
Mit spöttischer Anerkennung äußerte Elirius: „Dieser Anisto, ihr Anführer, scheint ein kühner und gerissener Kopf zu sein. Das schätze ich an einem Knaben. Ich möchte nicht darauf verzichten, ihn einmal kennen zu lernen. Das dürfte amüsant werden, nicht wahr?“
Der Andere antwortete nicht, da er dem Ton des Königs entnahm, dass eine Erwiderung nicht vorgesehen war. Misstrauisch sah er weiter nach oben, eine Gefühlsäußerung der Hoheit erwartend, die bei solchen Gesprächen selten glimpflich ausfiel und so gut wie nie ausblieb. „Und Maritiim?“, fragte König Elirius aufrichtig interessiert. „Was hält er von dem Jungen? Er gleicht ihm gar zu sehr. Ich würde zu gerne wissen, ob diese Ähnlichkeit in Rebellion und waghalsigem Abenteuerdrang bei ihm Verärgerung oder Verständnis hervorruft. Es wäre doch vorstellbar, dass er Enttäuschung und Widerwillen auf die Erkenntnis empfindet, nicht der Einzige mit einem solch unbezähmbaren Herzen zu sein?“
An dieser Stelle konnte er sich ein kaltes Lächeln nicht mehr verkneifen und Rigon unterbrach den Blickkontakt hastig. Nun schien er sich deutlich unwohl zu fühlen.
„Maritiim, er... hat uns verlassen“, murmelte er, die Augen starr auf den Boden gerichtet.
Einen Moment blieb alles still, doch die Reaktion des Königs ließ nicht lange auf sich warten. Ein schepperndes Geräusch eilte durch den Raum und gleich darauf fand Rigon den Kopf des Porzellanelefanten vor seinen Füßen wieder. Der Rest der kostbaren Figur hatte sich in weiten Kreisen über die Marmorplatten verstreut.
Mit rasenden Schritten stürzte der Herrscher die Stufen herunter, auf den eingeschüchterten Kämpfer zu. Er packte diesen am Kragen und stieß ihn rücksichtslos gegen die Fensterfront, dessen Glas - Gott sei Dank - dick genug war, um das plötzlich auf ihr lastende Gewicht zu halten. Mit der rechten Hand zog Elirius sein reichlich von Edelsteinen besetztes Schwert und hielt es dem anderen Manne dicht an die Kehle. „Er hat WAS getan, dieser verdammte, elende Verräter?!“, brüllte er schwer atmend.
Rigon schloss kurz die Augen, um sich von dem Adrenalinstoß zu erholen, der auf einmal durch seinen Körper gejagt war und diesen zum Erzittern brachte. Sein Hinterkopf schmerzte von dem harten Aufprall auf das Glass und kleine Sternchen tanzten vor seinen Augen.
Der starke Griff des Königs nahm ihm die Luft zum Atmen und nur mühsam röchelte er: „Er hat sich den Kindern angeschlossen und ist mit ihnen trotz des Unwetters übers Wasser geflohen. Gott allein weiß, was in ihn gefahren ist!“
Elirius gab sich noch einen Augenblick lang seinem Zorn hin, spürte wie er heiß in seinen Adern brannte und ihn schwindeln ließ vor blinder, zügelloser Wut. Dann jedoch besann er sich, stieß zischend die Luft aus seinen Lungen und löste seinen tödlichen Griff um den Hals des zuverlässigsten Mannes an seiner Seite. Er musste sich beherrschen, dass wusste er nur zu gut. Also wandte er sich von seinem Diener ab und durchmaß in ruhigen, wenn auch kräftigen Schritten das Zimmer.
„Nun gut“, ließ er schließlich vernehmen und seine Stimme klang erstaunlich nüchtern dabei, „wir müssen Maritiim wohl oder übel aufgeben. Das es mit seiner Loyalität nicht weit her war, ist uns ohnehin seit langem bewusst gewesen.“
Rigon, der sich arg zusammenreißen musste, um nicht auf die zitternden Knie zu fallen, beobachtete seinen Herren ergeben dabei, wie er an einen kunstvollen Schreibtisch aus dunklem Holz trat und Pergament und Tinte zur Hand nahm. In allzu hastigen, schräge dahineilenden Buchstaben setzte der König einen kurzen Text auf, rollte ihn zusammen und versah ihn mit einem roten Band, auf das er sein königliches Siegel presste. Unter den fast neugierigen Blicken Rigons, verließ er den Raum und gab die Nachricht an eine der Wachen vor der Tür weiter. „Wählt meinen schnellsten Boten aus!“, befahl er herrisch. „Das Schreiben soll umgehend die Fürsten aller Provinzen erreichen und der Inhalt von ihnen ans Volk gebracht werden.“
Der Diener verschwand im Laufschritt und der König kehrte zurück. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen und gleich darauf antwortete er auf Rigons stumme Frage: „Anisto, Valora und Lenio von Quellingen sowie Maritiim von Valir wurden soeben ins Exil verstoßen. Jeder, der sie dennoch in meinem Reich auffindet, unterliegt dem unanfechtbaren Befehl sie zu töten.“
Er betonte das Wort „jeder“ dabei besonders und bedachte den ersten Kommandanten der Meute und den ehemals engsten Freund des Verstoßenen mit einem durchdringenden Blick.
Dieser nickte demütig und hoffte bei sich, nie zwischen Maritiim und seinen Herren zu gelangen, denn würde es geschehen, fiele seine Entscheidung dem Letzteren zu Gute.
Elirius ließ sich zufrieden auf seinem Thron nieder, wobei er nach höfischer Manier die bequeme Rückenlehne nicht berührte, sondern aufrecht und gerade saß, die Hände auf die goldenen Armlehnen gelegt.
„So lass uns nun diese Rebellen vergessen, da sie eh nichts ausrichten können“, verkündete er mit eiskalter sowie kontrollierter Stimme, auch wenn eine erneute Hitzewelle durch seinen Körper schoss und seinen Kopf mit übermütigem Tatendrang zu fluten drohte. „Der Krieg ist in diesem Moment wichtiger. Deine neue Aufgabe ist es, unsere Truppen am Alkaran zusammenzuziehen. Ich sprach heute schon mit einem Boten Dakaruns und auch das Heer des Sultan Ovientos wird schnellstmöglichst dort eintreffen. Laut Plan marschieren wir in Wobkada ein, sobald meine Armee ihre volle Größe erreicht hat. Es soll ein Schlag werden, wie es ihn gewaltiger noch nie zuvor gegeben hat!“
Ein Schaudern erfüllte Rigon, der am Ende der flachen Stufen in gebeugter Haltung vor seinem König stand. „Wie Ihr befiehlt, Herr. Was wird unser erster Schritt im Feindesland sein? Es wäre klug, zunächst die Mienen des Ythanes und die Waffenschmieden dort in Besitz zu nehmen. Ist uns dies gelungen, haben wir den Erfolg auf unserer Seite.“
Aber der mächtige König lachte nur. Es war ein humorloses, skrupelloses Geräusch, das kalte Vorfreude ausdrückte.
„Nein“, eröffnete er siegessicher. „Es wird nur eine Schlacht geben, nach der König Carasca tot und sein Volk so eingeschüchtert und verängstigt ist, dass es mir die Krone freiwillig übergibt. Wir reiten gegen Nordkap!“
Der Jüngere hatte die Wobkadasche Hauptstadt erst einmal in seinem Leben gesehen und sie war ihm mit ihren schmiedeeisernen Toren und den dicken, glatten Mauern wie eine uneinnehmbare Festung erschienen. Zu allem Überfluss war sie nahe des Meers errichtet. Nur ein hohes Gebirge trennte die hohen Gebäude von den Klippen. Daran schmiegte sich der letzte Verteidigungsring, der den Sitz der Regierung beherbergte, und keiner wusste genau wie viele Fluchtmöglichkeiten es durch die kalten Stollen noch gab, sollten Feinde die starke Abwehr wider aller Erwartungen brechen.
„Nordkap?“, hauchte er fassungslos und seine Augen weiteten sich. „Ist das nicht unmöglich, so ganz ohne Vorarbeit?“
König Elirius machte eine abwertende Handbewegung. Das Licht, das durch die Fenster einfiel brach sich auf den Edelsteinen seiner Krone und verlieh ihm etwas ähnliches wie einen Heiligenschein. „Für Roona ist keine Hürde zu groß und keine Waffe zu stark, wenn es betrogen wurde“, rief er unter gespieltem Patriotismus aus. „Wir nehmen den Wobkadanern, was sie uns vor siebzehn Jahren nahmen!“
Dabei wusste er seinem Gesicht einen Ausdruck von Rachsucht und Entschlossenheit zu verleihen und zwang ein fälschliches Glitzern der Hingabe in seine eisblauen Augen. Der König liebte es, die Menge zu begeistern und mitzureißen, so wie er es jetzt mit Rigon tat. Und dieser glaubte seinem Herren aufs Wort, so wie es alle seine Untertanen tun würden.
Eine Gabe, die ich an mir schätze, dachte Elirius im Stillen, wobei er seiner Hinterlist nicht einen Sekundenbruchteil an die Oberfläche zu kommen gestattete. Jene sollte ungetrübt bleiben und wenn der Sturm doch aufkam und sein perfektes Bild Wellen schlagen ließ, so würde es schon zu spät sein.


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Tag der Veröffentlichung: 25.12.2008

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