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2033
Es war ein grauer Novembertag im Jahre 2033. Sich hoch auftürmende Schneewolken flogen über den Himmel, von einem gewaltigem Sturm, der einem hungrigen Raubtier glich, getrieben. Nicht ein einziger heller Sonnenstrahl schien den langen Weg durch sie hindurch auf die in dunkelsten Schatten liegende Erde zu bewältigen. Am schwersten aber lastete diese niederdrückende Trübheit auf einem kleinen Dorf irgendwo im Osten Deutschlands. Fenster und Türen sämtlicher Häuser waren durchgehend geschlossen, denn keiner der Bewohner verspürte das geringste Verlangen, seinen Kopf hinaus in die klirrend kalte Luft zu strecken. Die einzigste Schule in diesem unscheinbaren Ort lag ruhig schlafend da, den ruhigen Sonntagnachmittag genießend, und die tiefen Glocken des alten Kirchenbaus schlugen, in der beklemmenden Stille dröhnend, das Aus des Gottesdienstes, an dem ohnehin nur wenige Menschen teilgenommen hatten. Um die starken Mauern des Gebäudes, das den heftigen Böen trotzig entgegenstand, gab es einen nahezu winzigen Friedhof, der von mächtigen Eichen, deren blätterlose Kronen sich ächzend zur Seite neigten, umrahmt wurde. Ein grauer, eckiger, schlichter Grabstein reihte sich auf seiner quadratischen Fläche aneinander und einer ähnelte dem anderen sehr, dass es schwierig war, die Grabstätten auseinander zu halten, von denen jede einem Ort der totalen Verwüstung glich. Der Sturm hatte nämlich schon in den ersten Tagen jegliche Art von Blumen, Gestecken oder Kränzen mühelos hinfort gepustet und kahle Erde zurückgelassen.
Plötzlich schallte unterdrücktes Kichern durch die Reihen und eine Gruppe von vier kleinen Kindern, allesamt Jungen etwa im Alter von neun Jahren, rannte an den tristen Gräbern vorbei, ihre Haare im Wind, gegen den sie arg zu kämpfen hatten, wehend. An einer Ecke stoppten sie auf einmal und schauten mit zusammengekniffenen Augen alle in eine Richtung.
„Was seht ihr denn da?“, fragte einer, der als Letzter hintendran gelaufen war, neugierig.
„Der alte Mann da“, wusste der Jüngste unter ihnen unheimlich zu berichten, „das ist der komische Kauz, von dem meine Oma mir erzählt hat!“ Die anderen Jungen scharrte sich wissbegierig um ihn und gaben ihrem Kleinsten für einen Moment Windschatten, den dieser nutzte, um fortzufahren: „Meine Oma meint, der sitze hier immer, wenn sie nach Opi schauen gehe. Er rühre sich dabei nicht, sodass sie fast den Eindruck bekomme, er sei in der unbarmherzigen Kälte erfroren und befinde sich als Untoter in seiner unzerbrechlichen Hülle aus Eis gefangen, nicht fähig, in das Totenreich hinabzusteigen, wie es sich so gehöre.“ Ein gruseliges Schauern lief durch die Runde und der Sturm pfiff in grausigen, verzogenen Tönen, während die Kinder zitternd schwiegen. Einige mochten gedacht haben, sie seien zu alt für Geistergeschichten, doch die zusammengefallen da kauernde Gestallt, die ihren toten Blick starr auf die Innschrift des vor ihr aus dem Boden ragenden Grabsteines gerichtet hielt, ließ sie rasch noch enger an ihre Freunde heranrücken.
„Ich wüsste zu gerne, was da draufsteht!“, entfuhr es einem der Jungen, der interessiert zu dem Mann hinübersah. Ein anderer forderte ihn leise auf, nachzusehen, vorausgesetzt, er traue sich. Von deren neugierigen Blicken verfolgt, löste sich der Angesprochene sich aus der Gruppe und trat mit zittrigen Knien auf den schmalen Grabstein zu, von dem diese Erscheinung in ihren pechschwarzen Mantel gehüllt hockte. Der Junge kam ihm gerade so nah, dass er mit Anstrengung die in verschnörkelten Buchstaben in den Stein gepresste Schrift entziffern konnte.
Richard Capola
geboren 1966
gestorben 2002
Es lief ihm eiskalt den Rücken runter, als er nachrechnete, das der Tote nur ein Alter von 36 Jahren erreicht hatte und schon über drei Jahrzehnte lang verstorben war. Und immer noch saß dieser alte Mann voller Trauer an der Grabstädte und tat stundenlang nichts anderes, als auf den Stein zu starrten und keine einzige Bewegung zu tun! Bei dem sonderbaren Gedanken ließ der Junge seine Blicke flüchtig das Gesicht von diesem streifen. Es war tief von Falten eingegraben, zwischen denen zwei wässrig blaue Augen bewegungslos hervorblickten. Die wenigen Haare, die unter dem schwarzen Hut fast gänzlich verborgen waren, waren schneeweiß. Nun war der neugierige Junge so nah an ihn herangetreten, dass er ihn einfach bemerken musste, aber trotz allem zeigte er keine Reaktion. Es war, als wäre das Leben in ihm schon vor langer Zeit verlöscht, einer Kerze gleich, dessen flackerndes Licht irgendwann endgültig vom Wind des Schicksals ausgepustet worden war.
„Hey“, rief einer der anderen Jungen plötzlich zu seinem Kameraden. „Das sieht echt unheimlich aus, wie er so daherstarrt. Komm lieber wieder zurück, bevor er auf einmal nach dir greift!“ Da wurde der zuvor so mutige Junge auf einmal von einer Angst ergriffen, die ihn schnell umkehren und zu der Sicherheit im Kreise seiner Freunde zurücklaufen ließ, denn er hatte schon oft von Fällen gehört, in denen sich die gefährlichsten Verbrecher anfangs hilflos und verletzt stellten, um ihre Beute anzulocken. Dazu kam, dass dieser höchst merkwürdige Kerl ihm unlösbare Rätsel aufgab, die sich gegen seinen Willen immer wieder in seinem Kopf stellten. Er fragte sich, wie sich der Tote und der Alte gekannt hatten und was geschehen war, um diesen auf diese grausame Weise zu verwunden. Die Antwort darauf kannte wohl nur er selbst, doch fest stand, dass es etwas schreckliches gewesen sein musste. Die anderen Kinder, umringten ihren Freund sofort und wollten wissbegierig wissen, was dieser dort beobachtet hatte.
„Gar nichts“, erläuterte er wahrheitsgemäß. „Der Alte hat doch die totale Meise: Der sitzt da draußen in der Kälte auf dem harten Erdboden und tut nichts!“ Seine Spielkameraden lachten spöttisch darüber und er fiel in das Gelächter ein. Nun, wo er wieder gute hundert Meer Entfernung zwischen ihm und dem gruseligen Mann wusste, war seine Angst fast schon wieder ganz gewichen.
Als die herumalbernden Kinder schließlich nach Hause in die schützenden Wohnstuben, in denen ihre Eltern auf sie warteten, zurückkehrte, hatte er die verrückte Begegnung, die nur eine der vielen Ereignisse seines jungen Lebens darstellte, bereits gänzlich vergessen.
Aber der Mann saß immer noch auf dem Friedhof, über den jetzt ein scharfer Nachmittagswind wehte, und hielt seine müden Augen fest auf das trostlose Grab vor ihm gerichtet. Sein Körper rührte sich nicht, doch in seinen Gedanken raste es zornig und voller Schmerz. Die Vergangenheit mit ihren dunklen Strudeln hatte ihn fest im Griff und erschütterte seinen halb zu Tode gequälten Geist aufs Schwerste. Bilder seines Lebens brannten sich in seinem Kopf ein, immer, wenn sie an seinem inneren Auge vorbeizogen.
Ein Grollen donnerte unheilverkündend am Horizont und kündete eine neue Woge Schnee an. Irgendetwas in ihm regte den Verdacht, dass dieser dieses Mal nicht wegschmelze, sondern die düstere Landschaft mit zartem Weiß überziehen werde. War es erst einmal so weit, fiele erdrückende Schlaflosigkeit von dem winzigen Dorf ab und in die, vom Schneetreiben erfüllte, Luft würden sich entzückte Kinderstimmen mischen. Die sanften Hügel, die das Dorf von allen Seiten eingrenzten, wären nachmittags wieder mit schlittenfahrenden Schülern übersäht und alle würden von einem Tag auf den anderen wissen, dass der Winter wieder einmal begonnen hatte. Aber der altersschwache Herr, spürte tief in seinen steifen Knochen, dass er diesen nicht überstehen würde. Es war Zeit, endlich Abschied zu nehmen, von den Schatten seines Lebens, so wie er es die ganzen letzten Jahre schon versucht hatte, oder die ungeheure Last auf seinen schwachen Schultern für die Ewigkeit mit ins Grab zu nehmen.
Da schweiften seine Gedanken ab und reisten den steinigen Weg neunundzwanzig Jahre zurück in die Vergangenheit


2004
Mit gerunzelter Stirn saß Bill Capola an seinem Schreibtisch in dem edel eingerichteten Arbeitszimmer seines teuren Apartments in der Londoner Innenstadt. Abwesend rückte er die Lesebrille, die ihn noch gebildeter erscheinen ließ, als er sowieso schon war, zurück in ihre ursprüngliche Lage, woraufhin diese aber sofort wieder seine lange, gerade Nase herunterrutschte.
Das laute Klackern zu hoher Stöckelschuhe hallte in der luxuriösen Eingangshalle wider und er hörte das höfliche Angebot des Hausmädchens, dem Neuankömmling die Einkaufstaschen abzunehmen. Hinter ihm öffnete sich plötzlich die angelehnte Tür ganz und Claudia Camarerro, eine kleine, schlanke Frau Mitte dreißig in Designerklamotten und mit einem großen, auffälligen Hut auf dem Kopf, kam ins Zimmer getrippelt.
„Wie ich sehe, hast du bereits deine Sachen zusammenpacken lassen?“, wollte sie erfreut wissen. Bill kniff ärgerlich die Augen zusammen, weil ihm die komplizierte Formel, die für den weiteren Plan seines neusten Bauwerkes von bedeutender Wichtigkeit war und die er soeben mühevoll errechnet hatte, bei dem Klang ihrer schrillen, lauten Stimme wieder entfallen war.
„Alles, bis meine Unterlagen hier im Arbeitszimmer“, gab er ruhig an, ohne sich auf nur die Mühe zu machen, sich zu ihr umzudrehen. Er ignorierte ihre störende Anwesenheit und richtete seine Gedanken wieder auf die Arbeit vor ihm.
„Meine Güte, Bill, jetzt lass diesen dummen Papierkram doch endlich mal zwei Sekunden liegen und schau mich an, wenn ich mit dir rede!“, fuhr sie ihn wütend über die fehlende Aufmerksamkeit an. Der Mann seufzte innerlich. Kaum vorstellbar, das er mit dieser unmöglichen Frau elf Jahre lang ein, wenn auch interesseloses und gefühlskaltes, Eheleben geführt hatte. Widerwillig drehte er sich in dem komfortablen Drehstuhl herum, um seinen Blick als erstes auf ihren neuen Hut fallen zu lassen.
Mit einem leichten Nicken in Richtung dieses merkwürdigen Federbausches, fand er trocken: „Du bist mal wieder über die Grenzen deines überaus schlechten Geschmacks herausgewachsen.“ Darauf wandte er sich erneut seinem Schreibtisch zu und hoffte inständig, sie möge ihn jetzt endlich in Ruhe arbeiten lassen, bevor er sie hinausjagen müsse.
„Vielleicht ist vielmehr dein Geschmack derjenige, der zu wünschen übrig lässt“, erwiderte Claudia zickig und drehte sich selbstgefällig vor dem im Flur hängenden Ganzkörperspiegels. Das gesamte Apartment war mit Spiegeln behängt, sodass sie überall und jederzeit ihrer gut ausgeprägten Arroganz die Genugtuung des eigenen Anblickes verschaffen konnte. Wenn Bill es sich recht überlegte, musste er zugeben, dass dies wahrscheinlich sein hauptsächliche Grund war, sie geheiratet zu haben, neben der Tatsache, dass sein gesellschaftliches Ansehen in höheren Kreisen einfach nach einer Begleiterin verlangt hatte. Für sie war es zweifellos sein Geld gewesen. Sie hatten sich im Verlauf ihrer unerfüllten Ehe nie der Illusion hingegeben, es sei jemals so etwas wie Liebe im Spiel gewesen. Wie auch immer, ihm war es gleich.
Und ihr auch, denn mit trotziger Stimme fügte sie hinzu: „Da du jetzt genau seit drei Tagen nicht mehr mit mir verheiratet bist, steht es dir nicht mehr im Geringsten zu, meine sorgfältig ausgewählte Kleidung zu kritisieren.“ Genervt legte Bill seinen Kugelschreiber beiseite und begann, sich die schmerzenden Schläfen zu massieren. Was brachte ihm diese Aufeinandersetzung jetzt? Ohne wirklich ein Problem damit zu haben, wies er seine Ex-Frau wahrheitsgemäß darauf hin, dass es ihr sein Geld trotz ihrer kürzlichen Scheidung zum Ausgeben noch nicht zu schade sei. Ganz außer Acht ließ er die Gegebenheit, dass er ihr, um an einem aufsehenerregenden Streit vor Gericht vorbei zu kommen, sein kostbares Apartment, in dem sie zur Zeit lebten, überlassen musste, nicht zu vergessen die beträchtliche Entschädigung, die heute früh von seinem auf ihr Konto übergegangen war. Aber was kümmerte ihn das schon? Geld spielte schon seit seinem ersten großen Auftrag keine Rolle mehr.
Nüchtern wies er seine Ex an, sein Arbeitszimmer zu verlassen, solange es denn noch seines war.
„Du hast auf dem Dachboden noch eine Kiste vor die Tür zu stellen vergessen“, erinnerte Claudia ihn beleidigt, bevor sie aus dem Raum stolzierte. „Ich hätte das Personal ja damit beauftragt, aber es steht drauf, dass sie keiner anrühren darf, mit Ausmahne von dir natürlich. Und heute Abend kommt der Möbelwagen, um die Sachen alle schon mit abzuholen!“
Der Zweiundvierzigjährige war fast ein wenig amüsiert darüber, mit welchem Elan sie daran arbeitete, ich möglichst schnell aus der Wohnung zu vertreiben. Leise lachend stand er auf und trat vor das hochgebaute Fenster, von dem aus er einen grandiosen Blick auf die Themse hatte, und bewunderte das geschäftige Treiben an diesem späten Dezembernachmittag. London im Vorweihnachtsstress, stellte er erfreut fest, alle Jahre wieder. Er war damals hergezogen, kurz bevor er Claudia geheiratet hatte, und hatte diese lebendige wie traditionelle Stadt im Laufe der Zeit sehr zu schätzen gelernt. Grübelnd überlegte Bill, von was für einer Kiste die Frau gerade gesprochen hatte und es dauerte eine ganze Weile, bis ihn eine dunkle Ahnung beschlich.
Besorgt fuhr er mit dem Lift eine Etage höher ins Dachgeschoss und schloss den Raum seines Apartments mit schneller klopfendem Herzen auf. Viel von dem alten Gerümpel war tatsächlich nicht mehr da, also vermutete er, dass seine Angestellten das meiste schon heruntergetragen hatten. Zuerst hätte er den kleinen Karton, eigentlich war es eher ein großes Paket, fast nicht bemerkt, doch schließlich fiel sein Blick doch darauf und er ging langsam darauf zu. Eine seltsam starke Kraft versuchte ihn davon abzuhalten und er wusste, es war seine Bequemlichkeit und seine Feigheit, mit der er kämpfte. Als er das verstaubte Paket vom Boden aufnahm und das morsche Band, von dem es zusammengehalten wurde, löste, durchlief ihn ein unangenehmes Schaudern. Jetzt glaubte er sich ganz deutlich zu erinnern, wie er vor zwei Jahrzehnten die Schleife über dem braunen Paketpapier gebunden und es für eine lange Zeit in seinem ganzen Gerümpel und aus seinen wieder neu geordneten Gedanken verschlossen hatte. Als er die Verpackung zu Boden fallen ließ, hielt er ein dickes, altes Buch in seinen leicht zitternden Händen. Nachdenklich fragte Bill sich, ob jetzt, nach all diesen Jahren, doch noch die Zeit gekommen war, es erneut hervorzuholen. Die Antwort darauf vermochte er beim besten Willen nichts zu finden, aber ihm war klar, das er es nun, wo er es einmal wieder vor sein Augen hatte, noch mit ruhigem Gewissen beiseite legen konnte. Wahrscheinlich nicht, denn in Gedanken hatte er bereits die erste Seite aufgeschlagen. Also setzte er sich auf einen der mit einer Plane überdeckten Gartenstühle und klappte den ledernen Einband auf. Maschinell getipptes Papier kam zum Vorschein, aber vergeblich suchte er nach einer Überschrift oder dem Namen des Autors. Stattdessen begann die Geschichte ohne jegliche Einleitung im längst vergangenen Jahre 1975.
Nicht mehr in der Lage, seine Augen von den säuberlichen Buchstaben, die so aussahen, als seien sie erst gestern gedruckt worden, abzuwenden, begann Bill Capola zulesen.


1975
Auf der Polizeiwache war es stickig und unerträglich heiß. Der Raum war klein und bot kaum Platz für den überfüllten Schreibtisch, den Aktenschrank und die beiden Stühle, von denen einer für Besucher gedacht war. Auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch saß ein dicker, ziemlich unfreundlich dreinblickender Polizist. Der andere wurde von einem etwa neun-jährigen Jungen besetzt. Die Kollegin des Mannes musste stehen. Sie verlagerte ihr Gewicht regelmäßig vom einen auf das andere Bein. Inzwischen dauerte das Verhör über eine Stunde. Der Junge jedoch schwieg beharrlich. Kein Wort sollten sie von ihm erfahren.
Der Mann blickte wieder auf seine Notizen und fragte vorsichtig: „Was üben deine Eltern für einen“, er räusperte sich , „...Beruf aus?“
Die beiden Polizisten hielten den Atem an. Es war eine sehr heikle Frage und sie beteten, dass der kleine Junge sie beantworten möge. Dieser spürte selbstverständlich die Spannung, die in der Luft lag und wusste, dass all die Fragen über seine Hobbys und Freunde nur dafür gedacht waren, ihm Vertrauen einzuflößen. Er betrachtete den grimmigen Polizisten vor ihm. Mit einem Blick über seine Schulter bedachte er die junge Frau, die nervös an ihren Fingernägeln knabberte. Nein, er hatte kein Vertrauen. Im Gegenteil: Die Polizeiwache schüchterte ihn ein. Er würde nichts sagen.
Das könnte er auch gar nicht, denn die Geschäfte seiner Eltern gingen ihn nicht im Geringsten etwas an. Sie waren schon seit jeher darauf bedacht gewesen, ihre Kinder nichts wissen zu lassen. Es wurde immer nur wage von Geschäften gesprochen und sie achteten darauf, zu verhindern, dass die beiden Geschwister über Dinge stolperten, die sie nichts angingen oder gar mit Absicht etwas finden könnten. Nicht, dass sie es nicht versucht hätten. Doch egal, in welcher Schublade sie nachsahen, er und sein Bruder fanden nichts, was ihnen helfen könnte, etwas herauszufinden. Ganz gleich, an welchem Schlüsselloch sie lauschten, die Eltern sprachen über nichts wichtigeres als das Wetter. Er hielt gewohnheitsmäßig immer noch die Ohren offen, hatte sich aber längst damit abgefunden, dass die geheimnisumsponnenen Tätigkeiten seiner Eltern für ihn in tiefer Dunkelheit lagen. Sein älterer Bruder Bill, der wusste etwas. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie Bill an diese Informationen gekommen war, war er sich da sicher. Denn immer war es Bill, der ihn in ein anderes Zimmer zog, wenn ihre Mutter auf dem Sofa lag, die Augen mit unnatürlich kleinen Pupillen starr auf die Decke gerichtet und mit einem gleichgültigen Lächeln auf den Lippen. Doch der ältere Bruder erzählte ihm nichts. Immer hieß es: Das willst du gar nicht wissen, glaub es mir. Und das Geheimnis blieb weiterhin bestehen.
Also schwieg der kleine Junge, weil ihm nichts anderes übrig blieb. Wieder sah der Mann auf seinen Block. „Kanntest du den Mann, der gerade in eurer Wohnung war?“, fragte er. Wieder nur ein Schulterzucken von Seiten des Jungen. Natürlich kannte er ihn. Es war der schräge Typ, der eine Straße weiter lebte. Bill sagte, er sei ein Kunde und sie täten besser daran, draußen spielen zu gehen, wenn er kam. Doch kein Wort darüber würde er den Polizisten erzählen. Bill hatte ihm vor dem Verhör eingeschärft, nichts zu sagen. Sie können dich nicht zwingen, hatte er gesagt. Also würde er schweigen wie ein Grab.
„Lassen wir das. So kommen wir doch nicht weiter“, meinte die junge Polizistin. Sie trat zu ihrem Kollegen und flüsterte im gerade laut genug zu: „Er weiß nichts. Zu jung.“
Der Mann nickte. „Glaub ich auch“, flüsterte er zurück. „Machen wir mit dem Älteren weiter.“
„Kommen Mama und Papa ins Gefängnis?“, fragte der Junge plötzlich und es klang sehr besorgt.
„Sollten sie das denn?“, wollte die Frau wissen. Er biss sich auf die Zunge. Hätte er doch bloß nichts gesagt! Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Das Schweigen, das im Raum stand hatte etwas Beklemmendes an sich.
„Du kannst gehen und sag deinem Bruder bescheid, dass er dran ist“, sagte der Polizist schließlich. Ohne sich zu verabschieden sprang der kleine Junge auf und lief hinaus. Die Polizeibeamten sahen ihm lange nach.

Er hatte keine Ahnung, was Bill ihnen erzählt hatte, doch als der Zwölfjährige das Büro verließ, sahen die Gesichter der Polizisten noch genauso ratlos aus, wie vor einer Stunde. Der kleine Junge stand von der Wartebank auf und ging zu seinem Bruder. Bill fuhr ihm durchs Haar.
„Nichts wissen die“, murmelte er. „Komm, lass uns nach Hause gehen.“
„Was arbeiten Mama und Papa?“, fragte der Kleine zum tausendsten Mal, als sie auf die Straße hinausgingen, die von der Hitze flimmerte. Bill überlegte lange.
Als sie in das schattige Treppenhaus eines Wohnblockes traten, antwortete er schließlich wie immer: „Es ist besser, du erfährst das nicht. Dann kannst du auch nichts erzählen.“ Das stimmte, musste der Junge zugeben, aber es machte ihn schon ein wenig traurig, dass Bill ihm nicht vertraute.
„Ich habe aber nichts gesagt. Wie du es wolltest!“, beharrte er.
„Das weiß ich Popel“, seufzte der Ältere. Er nannte seinen kleinen Bruder immer Popel, sodass der Jüngere es schon fast für seinen Namen hielt. Aber Bill meinte es zärtlich. Er war der ältere Bruder. Nicht auszudenken, dass seinem Popel etwas passierte.
Der Altersunterschied zwischen den Jungen betrug drei Jahre. Popel war jetzt neun. In ein paar Wochen würden die Ferien zu Ende sein und die Schule wieder beginnen. Dort müsste sein kleiner Bruder wieder mit den gewalttätigen und zum Teil drogenabhängigen der Unterschicht in einer Klasse sitzen. Es lag außerhalb Bills Macht, Popel davor zu schützen und der Gedanke an die überfüllten Klassenzimmer, sowie das Wissen über die zahllosen Prügelein machte ihn jeden Vormittag in der Schulzeit fast krank. Doch bis es wieder losging würde er noch gut auf Popel acht geben und ihm einiges beibringen.
Sie betraten die schäbige Wohnung. Die Eltern warteten schon auf sie. Popel war erleichtert, dass die Polizei sie noch nicht verhaftet hatte und stürzte in die Arme seiner Mutter.
„Und, was ist?“, fragte der Vater Bill. Er war ein großer, untersetzter Kerl. Bill ähnelte da eher seiner Mutter, die ziemlich schlank war. Bill war stolz darauf. Er konnte den Vater nicht ausstehen und wäre wohl sehr unglücklich gewesen, sein Spiegelbild zu sein. Popel war noch zu jung, um ihn eindeutig zuordnen zu können. Sein Aussehen änderte sich ständig. Insbesondere seine Haarfarbe. Im Moment wechselte sie von Karottenrot zu einem hellen Braunton. Den Eltern gefiel das. Besser kannst du es nicht haben, meinten sie immer, das ist gut fürs Geschäft. Die Leute erkennen dich auf der Straße nicht so einfach wieder, weil dein Gesicht sehr wechselbar ist. Bill ärgerte sich ständig über diese Sprüche. Popel sei ein anständiger Junge und er werde es auch bleiben, entgegnete er so oft seine Eltern das Gegenteil behaupteten. Wenn Popel dann fragte, ob die Eltern nicht anständig wären, schwiegen alle und Bill bekam später, wenn Popel im Bett war, ein paar kräftige Ohrfeigen. Doch Popel war sein ein und alles. Er würde schon dafür sorgen, dass sein kleiner Bruder die beste Zukunft bekam, die sich ein Kind in dieser schäbigen Gegend nur wünschen konnte. Bill war schon immer seinem Alter voraus gewesen. Er wusste sich gegen die anderen Jugendlichen zu wehren und mit den Erwachsenen umzugehen. Dazu wachte er noch über seinen kleinen Bruder und schmiedete Pläne, um diesen Tag für Tag aufs Neue von der Straße fernzuhalten. Doch Popel war so gutgläubig, dass Bill nur den Kopf schütteln konnte. Es war ihm unbegreiflich, wie der Kleine seinen Vater bewundern und die Probleme der Familie ignorieren konnte. Ein weiterer Unterschied zwischen den Brüdern war, dass Popel jeden mit Offenheit begegnete und Bill dagegen mit einem gesunden Misstrauen auf die Welt gekommen war.
Auch nun wieder schob Bill trotzig das Kinn vor. „Wir haben die Klappe gehalten, falls es das ist, was du meinst“, antwortete er seinem Vater. Eine Weile sahen sich die beiden an und die Luft knisterte förmlich. Endlich senkte Bill denn Blick.
„Zu Bett, Jungs!“, sagte die Mutter mit zittriger Stimme. Die Spannung entwich langsam. Popel rannte in das Zimmer, das er sich mit seinem Bruder teilte und Bill folgte widerwillig. Sie zogen sich schweigend um und Popel verschwand schnell unter dem dünnen Bettlaken.
Bill öffnete das Fenster und setzte sich in Boxershorts auf sein Bett. Die schwüle Abendluft durchflutete das Zimmer. Er lehnte den Kopf gegen die Wand, schloss die Augen und strich sich das dunkelbraune Haar aus der Stirn. Eine Strähne fiel sofort wieder zurück und er wiederholte die Bewegung automatisch.
„Ist etwas?“, fragte Popel schläfrig.
„Nein, alles in Ordnung“, antwortete Bill leise. „Mach dir keine Sorgen. Es ist bloß so warm.“
Popel nickte. „Gute Nacht, Bill.“
„Gute Nacht, kleiner Bruder.“
Bill wusste nicht, wie lange er noch so dagesessen hatte. Irgendwann musste er wohl in einen unruhigen Schaf gefallen sein. Als er plötzlich senkrecht im Bett saß, war jedenfalls seine erste Feststellung, dass es zum Aufwachen zu früh war. Auf der anderen Seite des Zimmers schlief Popel noch fest. Sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, so, als sei nichts geschehen. Doch Bills Körper war schweißüberströmt und er fühlte seinen Puls schnell und hektisch schlagen. Verwirrt sah er sich um. Alles war, wie es sein sollte. Das Licht war ausgeschaltet und es war kein Laut zu hören. Hatte er bloß einen schlechten Traum gehabt? Er konnte sich nicht erinnern. Leise stand er auf und ging zum geöffneten Fenster. Ein warmer Wind fuhr ihm sanft durchs Haar und ließ ihn blinzeln. Es war eine schwüle Nacht. Gewitterwolken bedeckten den Himmel, sodass es vollkommen dunkel war. Unheil lag in der Luft. Bill war jetzt bei klarem Verstand und sicher, dass irgendetwas nicht stimmte. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit.
Plötzlich klappte eine Autotür. Schritte nährten sich dem Haus über den kiesbestreuten Weg. Dann verstummten sie. Bill wagte eine Weile nicht, sich zu bewegen. Schließlich, als alles ruhig blieb, stieß er die Luft aus seinen Lungen und schritt zu Popels Bett hinüber.
„Hey, kleiner Bruder!“, flüsterte er und schüttelte ihn. „Popel, wach auf, wir sind in Schwierigkeiten.“ Popel blinzelte schläfrig. Langsam richtete er sich auf.
„Was für Schwierigkeiten?“, fragte er. Sein Gesicht verriet Besorgnis.
Bill zuckte mit den Schultern und sah sich nervös um. „Ich weiß es nicht. Zieh dich schnell an und sein leise!“ Bill selbst zog sich bloß rasch ein T-Shirt über und wartete ungeduldig auf seinen Bruder. Jedes Geräusch erschien ihm jetzt unnatürlich laut und immer wieder zuckte er erschrocken zusammen, wenn draußen auch nur ein Ast knackte.
Popel öffnete den Mund, doch Bill bedeutete ihm, ruhig zu sein. Eine Zeit lang geschah nichts. Beide standen sie da im dunklen Zimmer und lauschten. Der Jüngere zitterte. Bill biss die Zähne zusammen und zwang sich, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
Plötzlich hallten Schritte im Treppenhaus. Die Jungen erstarrten. Sie hörten jetzt auch Geräusche aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern. Schließlich kam die Mutter ins Zimmer. Ihr Gesicht war aschfahl, die Augen weit aufgerissen.
Popel rannte zu ihr und schmiss sich in ihre Arme.
„Mum, was...“, setzte Bill an. Doch sie winkte ihn zu sich. Über ihre Schulter hinweg sah Bill den Vater durch den Flur ins Bad hasten. Die Tür schloss sich und die Klospülung rauschte gleich mehrmals hintereinander.
„Es ist die Polizei, Bill“, flüsterte die Mutter angsterfüllt. „Du musst mit Popel von hier verschwinden. Hier, nimm diese Mitteilung und liefere sie an der Adresse auf dem Umschlag ab.“
Popel begann zu schluchzen und klammerte sich an ihr fest. Es rüttelte an der Tür. Der Vater fluchte und betätigte noch hektischer die Spülung. Wasser trat aus dem Spalt unter der Tür hervor. Bill nahm mit zitternden Fingern den Briefumschlag entgegen.
„Los, Bill, es muss jetzt alles ganz schnell gehen!“, drängte seine Mutter ihn. Mit einem Krachen barst die Tür. Die Mutter löste den wimmernden Popel von sich, drückte ihm schnell einen Kuss auf die Stirn und strich Bill durchs Haar, dann kehrte sie ihnen mit Tränen in den Augen den Rücken und lief aus dem Zimmer. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Gedämpft nahmen die Jungen die Stimmen der Polizisten wahr, das Schreien und Fluchen ihres Vaters, das Jammern und Flehen ihrer Mutter.
Bill erholte sich als erster wieder von dem Schrecken. Sein Blick huschte von seinem kleinen Bruder zum Fenster und wieder zurück.
„Komm, Popel“, meinte er.
Doch dieser erwachte aus seiner Erstarrung und rannte zur Tür. Bill stürmte hinter ihm her und hielt ihn am Arm.
„Bist du verrückt?“, keuchte er. „Wir müssen hier weg!“
Popel stammelte, schlug um sich und landete dabei einen Volltreffer auf die Nase des Älteren. Aber er schaffte es nicht, sich aus dessen Griff zu befreien. Schließlich erschlafften seine Muskeln und er brach erschöpft zusammen. Bill starrte auf das zuckende Bündel vor ihm hinab. Er betastete vorsichtig seine schmerzende Nase und betrachtete das Blut an seiner Hand. Nachdem er wieder zu Atem gekommen war, hob er seinen Bruder vom Fußboden auf und trug ihn zum Fenster. Popel schlang die Arme um seinen Hals und Bill kletterte mit ihm auf dem Rücken behutsam über den Sims. Eine Weile noch lauschten die Brüder dem Spektakel in der Wohnung, dann sprang der Ältere auf den Müllcontainer unter ihnen und von dort aus auf den Boden. Er blickte hinauf zu dem dunklen Umriss des Fensters, das sich nur ganz schwach von der Nacht abhob. In dem Zimmer, das sich dahinter befand, hatte er sein Leben lang gewohnt. Und jetzt hatte er plötzlich das Gefühl, dass er es nie wieder sehen würde.
Bis auf das leise Rattern des Zuges störten nur wenige Geräusche die Stille. Bills Lider waren bleischwer, doch er versuchte entschlossen, wach zu bleiben. Auf dem Sitz neben ihm schlief Popel fest. Sein Gesicht trug einen erschöpften Ausdruck und das hellbraune Haar lag zottelig auf seinem zur Seite gesackten Kopf. Bill sah auf die Uhr am Ende des Abteils. Es war halb drei, also mitten in der Nacht. Der Zug war fast leer. Bis auf einem ordentlich gekleideten Herren, der nur gelegentlich von seiner Zeitung aufsah, und einem Penner mit seiner Flasche Whisky war außer ihnen niemand im Abteil. Bill vertrieb sich die Zeit damit, aus dem Fenster zu sehen und nicht daran zu denken, was geschehen war. Das gelang ihm allerdings nur zum Teil. Es war ihm eben angeboren, sich Sorgen zu machen. Popel begann zu zucken. Sein Atem ging schneller. Bill streichelte zärtlich den Kopf seines Bruders.
„Es ist nur ein böser Traum, glaub mir“, flüsterte er und wünschte sich sehnlichst, dem wäre so. Schließlich beruhigte sich der kleine Junge wieder und verfiel zurück in tiefen Schlaf.
Irgendwann musste auch Bill kurz eingenickt sein, denn er erwachte erst, als der Zug an der Endstation zum Halten kam. Er rüttelte Popel zum zweiten Mal in dieser Nacht wach und sie verließen zusammen das Abteil. Sie schlenderten den Bahnsteig entlang, bis sie eine Bank fanden, die nicht dreckig war.
Popel beobachtete, wie allmählich immer mehr Menschen zu den Zügen eilten, während Bill eine Straßenkarte studierte. Langsam erhob sich die Sonne über den Wolkenkratzern und mit ihr kehrte das Hitzeflimmern über den Straßen zurück. Ein besonders heißer Sommertag in Düsseldorf.
Schließlich faltete Bill den Stadtplan zusammen, stand auf und sagte: „Komm, Popel!“ Als er das erschöpfte Gesicht seines jüngeren Bruders sah, fügte er hinzu: „Es ist nicht mehr weit.“

Das Haus, das sie suchten war klein und ziemlich verfallen. Als die Jungen seine unsympathische Ausstrahlung spürten, machten sie vor dem Gartentor Halt. Bill sah die Straße auf und ab. Auf beiden Seiten standen ähnliche Gebäude, die ganze Umgebung wirkte trostlos, ärmlich, kalt. Selbst die Sonne fand kaum einen Weg zwischen den engstehenden Bauten hindurch. Nur vereinzelte Strahlen beleuchteten die Szene. Die Hausnummer stand in verblassten Lettern neben der Eingangstür, deren graue Farbe fast ganz abgeblättert war. Die Zahl stimmte mit der auf dem Umschlag überein.
„Wir sind richtig hier“, bemerkte Bill überflüssigerweise.
„Lass uns einfach schnell diesen Brief abliefern und dann von hier verschwinden, okay?“, fragte Popel unbehaglich. „Okay?“, wiederholte er, als Bill die Pforte öffnete und sich der Tür nährte.
Er bekam keine Antwort. Bill hatte schon auf den Klingelknopf gedrückt und Popel beeilte sich, hinter seinem Bruder herzulaufen. Nun warteten sie beide gespannt. Mit jeder Minute, die verstrich, wuchs in ihnen die Hoffnung, dass niemand öffnen möge und sie wollten diesem Ort gerade den Rücken kehren, als plötzlich gedämpfte, schlurfende Schritte zu hören waren und sich die Türklinke niederdrückte.
Ein verschlafen aussehender Mann erschien im Türrahmen. Bill hielt ihn für etwa Mitte zwanzig, doch er hatte die faltige Haut eines sechzigjährigen. Sein T-Shirt gab einen Blick auf die blau angelaufenen Arme frei. In den Ellenbeugen sammelten sich rote Einstichlöcher.
„Ich hoffe, ihr habt einen triftigen Grund, mich aus dem Schlaf zu reißen, Jungs!“, knurrte er und fixierte Bill scharf, der für ihn die Schuld für die Störung zu tragen schien. Dieser überreichte ihm schnell den Brief. Im Gegensatz zu Popel, der den Mann neugierig anstarrte, versuchte Bill das offensichtliche Drogenproblem des Mannes zu ignorieren. Sein kleiner Bruder wusste ja gar nicht, was er da sah.
„Nun...“, sagte der Mann langsam, als er vergeblich nach einem Absender auf dem Umschlag suchte. Er riss ihn zögernd auf. Die Jungen schauten ihm dabei zu und beobachteten, wie seine Augen von Zeile zu Zeile huschten. „Verdammte Gangster...“, murmelte er. „Die Brüder Capola, richtig?“ Bill und Popel nickten.
„Nun gut, kommt rein.“ Er wies ihnen den Weg in einen staubigen Flur.
„Ich bin nicht sicher, ob...“, fing Bill zögernd an. Sein kleiner Bruder hielt den Saum seines T-Shirts fest umklammert und wich nun langsam zurück.
„Was, nicht sicher?!“, blaffte der Mann und sie zuckten zusammen. „Dann ließ das hier!“ Er warf Bill den Brief zu. Dieser entzifferte nur mühsam die unsäuberliche Schrift, setze Buchstaben, die aus den Linien tanzten zu Worten zusammen, bildete daraus folgende Sätze:
Ray,
Haben Probleme hier.
Nimm die Jungen und pass auf sie auf.
Vergiss nicht, du bist mir noch was schuldig.
Stan
Als er fertig war, las er die Mitteilung noch zweimal.
„Wir müssen da nicht reingehen, oder?“, fragte Popel ängstlich und deutete auf das Haus.
„Ich verstehe“, meinte Bill zu Ray. „Wir werden Ihnen nicht zur Last fallen, versprochen.“
„Es reicht schon, dass ihr hier seid“, entgegnete dieser. „Nun macht schon! Die Tür steht offen und ich möchte nicht die ganze Hitze im Haus haben. Ihr könnt das Zimmer hinten links haben.“
Popel starrte Bill entsetzt an. „Er meint das nicht ernst, oder?“
„Doch, das tut er.“ Bill schob seinen Bruder durch die Tür in einen staubigen Flur. Das Zimmer hinten links war wohl mit Abstand das kleinste im Haus. Ray schleppte zwei mottenzerfressene Matratzen hinein, blieb dann am Türrahmen stehen und betrachtete die notdürftige Unterkunft.
Er zuckte mit den Schultern. „Ist nicht grade die beste Hütte, geb’ ich zu, aber ich bin froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.“
Er wartete auf eine Reaktion der Jungen, vielleicht ein Dank, doch nichts passierte. Die beiden saßen nur erschöpft auf den Matratzen und starrten den verblichenen Teppichboden an. Popel standen Tränen in den Augen.
„Na ja, ich hau mich noch ein paar Stunden aufs Ohr“, gähnte Ray und schlug die Tür hinter sich zu.
Bill stand auf, um das Fenster zu öffnen und schloss es gleich wieder, als ihm ein Schwall schwüler Luft entgegenschlug.
„Ray ist irgendwie komisch“, sagte Popel. „Ich mag ihn nicht.“
Bill überlegte und meinte vorsichtig: „Er ist halt der, der er ist.“
„Nimmt er Drogen?“, fragte der Kleinere interessiert.
„Das geht uns nichts an“, erklärte Bill seinem Bruder. „Also frage ihn nicht danach!“
„Es ist also genauso wie bei Mama“, flüsterte Popel. Bill sah ihn überrascht an.
„Ich bin doch nicht blöd, Bill“, meinte dieser, „dafür habe ich schon zuviel gesehen.“

Ein paar Wochen später: Schulbeginn
„Es ist okay, Kleiner, das verspreche ich dir.“ Bill kramte hektisch ein paar halbvollgeschriebene Schulhefte aus dem Regal, das schief an der Wand hing. Er selbst hatte es befestigt und war ziemlich stolz, dass es ihm überhaupt gelungen war, die Schrauben irgendwie durch das morsche Holz zu bekommen. Das es fast so schräg war, dass die wenigen Hefte und Bücher, die sein Bruder und er besaßen, herunterfielen, störte ihn nicht besonders. Popel saß auf seiner Matratze und beobachtete den älteren unsicher.
„Aber jetzt in der dritten Klasse sind die Jungen alle viel größer und kräftiger!“, wandte er unglücklich ein.
Bill, der nun endlich alle Schulsachen zusammengesucht und in die Taschen gestopft hatte, sah auf und grinste. „Ja, das stimmt. Du bist aber auch gewachsen, vergiss das nicht.“ Mahnend fügte er hinzu: „Lass dich aber trotzdem nicht auf irgendwelche Schlägereien ein, okay?“
Popel nickte. „Mach ich nicht“, versprach er. Bill war schon weiter in die Küche gehetzt und schmierte rasch ein paar Brote.
„Weißt du“, meinte er, „die neue Schule ist echt in Ordnung. Als ich mir gestern schon einmal alles angesehen habe, fand ich sogar, dass sie besser ist als die alte.“ Er drückte seinem Bruder, der im Türrahmen stand, einen Stapel Butterbrote in die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. „Aber immer vorsichtig sein!“
„Klar“, stimmte Popel wie gewöhnlich zu. „Wann hast du heute Schluss?“
Bill überlegte. „Ich weiß nicht genau“, sagte er langsam. „ Wir bekommen erst heute unsere Stundenpläne. Entweder... nach der fünften oder sechsten Stunde. Auf jeden Fall aber nach dir, also gehst du allein nach Hause. Aber auf dem kürzesten Weg, ohne zu trödeln!“
Sein kleiner Bruder erinnerte ihn wahrheitsgemäß: „Ich bin jetzt schon in der dritten Klasse, Bill. Langsam solltest du mir zutrauen den Weg nach Hause zu finden.“ Bill zögerte und betrachtete seinen kleinen Popel gründlich, bis er zu dem Schluss kam, dass dieser wirklich kein Baby mehr war.
„Natürlich, du hast Recht, ich vergesse das bloß immer“, gab er widerwillig zu, warf einen Blick auf die Uhr an der Wand und meinte: „Los, jetzt, sonst kommen wir zu spät!“ Er scheuchte seinen Bruder energisch zur Tür hinaus und eilte selber in das größte Zimmer des Hauses, in dem Ray sich für gewöhnlich aufhielt, um seine Drogen zu konsumieren.
Bill seufzte verständnislos, als er Ray unter dem Tisch liegen sah und zog den ausgewachsenen Mann mit großer Anstrengung hoch.
„Komm, Kumpel!“, befahl der Junge, der es allmählich Leid war, nicht nur für einen kleineren Bruder, sondern zusätzlich noch für einen erwachsenen Menschen zu sorgen. „Du setzt dich jetzt hin und ruhst dich aus, bist ich wiederkomme, okay?“ Er erwartete keine Reaktion, sondern zerrte Ray einfach in den sperrmüllreifen Sessel und verfrachtete dessen ungewaschene Füße auf einen Holzhocker.
So, dachte er zufrieden, das wäre geschafft. Er nahm seine Schultasche und verließ das Haus.
Popel wartete vor der Tür auf ihn. Gemeinsam gingen sie bis der überholungsbedürftigen Grundschule ein paar Straßen weiter.
Auf dem gepflasterten Schulhof prügelten sich eine Horde Jungs. Die Mädchen saßen auf der Mauer zur Straße und beobachteten sie. Dieses traurige Bild passte gut in diese Gegend und war nichts neues mehr für die Brüder. „Du packst das schon“, versprach Bill zuversichtlich.
„Aber ich kenne dort doch niemanden“, wandte Popel zweifelnd ein. Er sah zu den anderen Jungen, die ihn jetzt auch entdeckt hatten. Sie unterbrachen ihren Machtkampf und starrten mit zusammengekniffenen Augen zu ihm hinüber.
Bill gab seinem Bruder einen leichten Klaps auf die Schulter und schob ihn zur Eingangspforte des Hofes.
„Du musst hier niemanden kennen“, erklärte er. „Es reicht schon aus, wenn du deine eigenen Schwächen kennst und sie den anderen niemals zeigst. Sei vorsichtig, dann passiert dir schon nichts.“
Popel nickte und stolperte auf das Schulgebäude zu. Die Mädchen sprangen leichtfüßig von der Mauer herunter und verdrückten sich in eine abgelegene Ecke. Der kräftigste Junge unter der Bande trat auf Popel zu. Er überragte ihn um gut zwei Köpfe. Alle Muskeln in Bills Körper waren angespannt. Er wusste zwar, dass es dem Ansehen seines Bruders schaden würde, wenn er ihm zu Hilfe eilen sollte, aber trotz allem war er bereit eben genau dies zu tun.
Auch Popel zitterte, als der Junge ihn nach seinem Namen fragte.
„P... Popel Capola“, brachte er schwach heraus und wünschte nichts mehr, als so selbstsicher und stark zu sein wie sein Bruder. Doch dazu fehlte ihm der Mut. Die Jungenmeute lachte schallend. Popel lief knallrot an und sah ihren Blicken ausweichend auf den Boden.
„Hey, Popel, was ist denn das für ein Name?“, fragte der Größte spöttisch. „Du willst doch wohl nicht im Ernst sagen, dass du so heißt!“
„Mein Bruder nennt mich so“, murmelte dieser verlegen. „Und wie heißt du?“
Darauf kam die Antwort: „Ich bin ganz einfach der Boss. Mehr brauchst du nicht zu wissen.“ Popel trennte seinen Blick vom Boden und sah den „Boss“ an.
„Ist das dein Name, Boss?“, gab er mit zittriger aber klarer Stimme zurück. „Du willst doch wohl nicht im Ernst sagen, dass du so heißt.“ Er hatte kaum den Satz zuende gesprochen, da wusste er auch schon, dass er einen schrecklich dummen Fehler gemacht hatte. Das Grinsen auf dem Gesicht des Bosses erstarb und er runzelte die Stirn. Popel fiel auf, dass sie von Narben überseht war und wich einen Schritt zurück.
„Hör mal, Freundchen“, sagte der Boss drohend. „Das du ein Weichei bist, haben wir sofort gemerkt. Also halt dich zurück, wenn du in einem Stück zu diesem Bruder, der dich Popel nennt, zurück willst.“ Die restlichen Jungen standen allesamt hinter ihm wie eine unnachgiebige Mauer. Sie ließen die Knochen knacken und grinsten bedrohlich. „Wenn du hier mit uns auskommen möchtest“, fuhr Boss fort, „dann beachte folgende Regeln: 1. Du bist hier bloß ein weiterer kleiner Schwächling, von denen wir hier schon viele gesehen haben, und außerdem nicht in der Lage, ob nun körperlich oder geistlich, dich gegen mich zu behaupten. 2. Falls du das vergessen und dich zu irgendwelchen blöden Aktionen ermutigt fühlen solltest, werde ich augenblicklich dafür sorgen, dass Regel 1wieder in Kraft tritt. Hast du das kapiert?“ Er fixierte Popel aus gefährlich funkelnden Augen. Genau dasselbe taten auch seine Freunde.
Die Gruppe der Mädchen konzentrierte sich sorgfältig darauf, in eine andere Richtung zu sehen. Nur eines, das kleinste von ihnen drehte sich kurz um und sah Popel an. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, wobei ihre vielen, langen, dunkelroten Locken leicht wippten, als wollte sie ihm sagen, er sollte es nicht darauf ankommen lassen. Verblüfft sah er zurück, doch da hatte sie sich auch schon wieder ihren Freundinnen zugewandt.
„Nun, was sagst du?“, fragte einer aus der Jungenmeute breit grinsend. „Boss’ Rede hat dir wohl die Sprache verschlagen, was?“
„Wohl eher seine Muskeln, Fibo“, verbesserte der Boss selbstgefällig. Er wandte sich wieder an Popel. „Also, verstanden?“
„Verstanden“, murmelte dieser, noch immer verwirrt. Der Boss schien zufrieden damit und erteilte ihm die Genehmigung zum Gehen. Popel konnte es kaum glauben, so heil aus dieser Geschichte herausgekommen zu sein. Erleichtert schlenderte er zum anderen Ende des kleinen Hofes. Er wollte nichts mehr, als möglichst viel Platz zwischen ihm und diesem bedrohlich wirkenden, selbsternannten Boss zu bringen.
Bill stand noch immer an der Straße und beobachtete alles besorgt. Popel nickte seinem Bruder zu. Dieser schien erleichtert und nickte aufmunternd zurück. Anschließend ging er mit zügigen Schritten die Straße weiter und verschwand somit aus Popels Blickfeld.
Die vier Schulstunden und ihre Pausen zogen sich schier endlos hin, und schon ab der zweiten drehte sich alles in Popels Kopf. Er hatte einen Einzeltisch in dem stickigen Klassenzimmer, weil niemand neben ihm sitzen wollte. Das konnte ihm nur recht sein, denn so hatte er viel mehr Platz, um seine Hefte und die Bücher, die der Lehrer ausgeteilt hatte, vor sich auszubreiten. Seine Konzentration ließ bald deutlich nach und er wandte seine ganze Aufmerksamkeit darauf an, eine blickdichte Barrikade aus Büchern zwischen ihm und seiner Mathelehrerin zu errichten. Dies bot ihm die Möglichkeit, ungestört seine Hefte voll zu kritzeln. Er malte erst Bill und ihn selbst, zum Schluss fügte er noch ihre Eltern hinzu. Darunter zeichnete er eine Comicszene, in der er dem Boss eins auf die Nase gab. Auf seinem Gesicht erschien ein zufriedenes Lächeln. Nach einem vorsichtigen Blick in Richtung der Jungenbande, entschied er sich allerdings doch dafür, sein Kunstwerk zu zerreißen. Die obere Zeichnung trennte er sorgfältig ab und steckte sie in seine Federtasche. Vielleicht würde er sie später Bill zeigen. Aber er war sich da noch nicht so sicher. Er schlug sein Heft um und erntete einen mahnenden Blick der Lehrerin. Vorsichtshalber ließ er das Malen erst einmal sein.
Die Minuten zogen im Zeitlupentempo an ihm vorüber. Seine Gedanken wanderten von einem zum jenen, kreisten aber hauptsächlich darum, dass sich sein ganzes Leben verändert hatte. Er fragte sich, wo wohl seine Eltern waren und wann er sie wiedersehen durfte. Weiter überlegte er, was er von Ray halten sollte. Er kam zu dem Schluss, dass er ihn nicht mochte. Bill tat es auch nicht. Und Bill hatte, was Menschen anbelangte, bisher immer ein gutes Gefühl gehabt. Allerdings gewährte er ihnen ein Dach über dem Kopf. So schlecht konnte er wohl doch nicht sein. Nachdem er auch diesen Punkt abgehakt hatte, schwebte seine Aufmerksamkeit beinahe schwerelos davon. Eingehüllt von der schwülen Hitze döste Popel vor sich hin. Die Worte der Lehrerin klangen dumpf in seinem Kopf, ergaben aber keinen Sinn. Überhaupt nichts ergab einen Sinn. Seine ganze Welt war verdreht und wurde bloß immer verdrehter...
So ziemlich am Ende der letzten Stunde schaffte es ihr Klassenlehrer, der inzwischen den Unterricht übernommen hatte, Popel aus seinem Halbschlaf zu holen, indem er den monotonen Tonfall aufgab und munterer das baldige Ende des Schultages voraussagte. Popel rieb sich die müden Augen und begann wie alle anderen auch, seine Sachen zu packen.
„Ein letztes noch“, fing der Lehrer, Herr Zink, an. „Es wird ab diesem Schuljahr eine neue AG geben, die ich leiten werde.“
„Eine Karate-AG?“, rief ein Junge voller Vorfreude rein. Das weckte nun auch das Interesse des Bosses. Er malt sich wahrscheinlich gerade aus, wie er Jüngere noch besser vermöbeln kann, dachte Popel und betete, dass es keine Kampfsport-AG geben würde.
„Nein“, meinte Herr Zink strahlend. „Es ist etwas ganz anderes. Ein Projekt, auf das ich mich schon sehr lange gefreut habe.“ Die Mehrzahl der Klasse, also Boss und seine Anhänger, fuhren fort, ihre Sachen zu packen. Popel, der den jungen Lehrer sympathisch fand, fühlte fast einen Anflug von Wut. Er bemühte sich, besonders interessiert zu wirken und war somit der einzigste. Ein paar Mädchen hörten noch mit halbem Ohr zu. Das war’s aber auch schon.
Herr Zink fuhr zögernd und leicht verunsichert fort: „Es ist Theater. Die Bühne, die die Welt regiert. Ich habe schon in den anderen Klassen angefragt und auch bereits einige gefunden, die interessiert sind, aber es wäre natürlich schön, noch mehr Leute für die Sache zu begeistern...“ Es war deutlich zu merken, dass dies keiner war. Auch Popel hatte seine Mühe, die interessierte, optimistische Fassade aufrecht zu erhalten. Er war noch nie in einem Theater gewesen und hatte auch nicht vor, das so bald zu ändern. Die starken Jungs in der hintersten Ecke prusteten.
„Ist nicht wirklich ihr Ernst, Zink?“, fragte der Boss respektlos. Der Lehrer entschied sich, lieber den kürzeren zu ziehen.
„Wenn ihr die Idee nicht gut findet... Dann na ja, ist es ja egal“, murmelte er enttäuscht. „Der Schultag ist beendet.“
Die Schüler stürmten aus dem engen Raum ins Freie und der Boss konnte es nicht lassen, mit dem Arm über Popels Tisch zu fegen. Alle Sachen lagen nun unter seinem Tisch verstreut. Popel seufzte und kniete nieder, um sie wieder aufzusammeln.
„Tja, Popel, so ist das nun einmal“, meinte Herr Zink plötzlich. „Keiner schätzt mehr das Theater.“
Popel stopfte die Sachen zurück in seine Tasche und tröstete den Lehrer mit einem halbherzigen „Das meinen die doch nicht so...“. Er tat ihm ehrlich leid, doch trotz allem war er sich ziemlich sicher, dass die anderen vollkommen recht hatten. Theater war nicht das, was sich in diesen rauen Straßen später einmal als nützlich erweisen könnte. Er beeilte sich mit seiner Schultasche auf dem Rücken das nun von Schülern leere Klassenzimmer zu verlassen.
„Popel, warte noch mal kurz“, hielt ihn Herr Zink zögernd auf. „Du wirktest gerade eben recht interessiert. Also wenn du Lust hast... Die Schauspiel Gruppe trifft sich jeden Mittwoch um vierzehn Uhr hier in der Schule...“ Popel biss sich auf die Zunge. Andererseits sah er nun so etwas wie Hoffnung in den Augen seines Lehrers schimmern, sodass er es einfach nicht übers Herz brachte abzusagen.
„Mal sehen, ob ich kommen kann“, murmelte er ausweichend.
Herr Zink schien erleichtert. „Das ist wirklich prima. Um ehrlich zu sein habe ich nämlich nicht annährend so viele Leute, wie ich bräuchte. Es wird bestimmt toll. Ich bin schon auf der Suche nach einem geeigneten Stück für den Anfang. Es wird auch eine Aufführung geben.“ Popel erzwang sich ein Lächeln. Er hatte noch nie etwas davon gehalten, sich vor den Leuten lächerlich zu machen. Und er war sich ganz sicher, das würde er. Vorausgesetz natürlich, er würde überhaupt zur ersten Probe erscheinen. Es fände sich bestimmt schnell einen Grund, die ganze Sache abzuwimmeln, da war er sich ganz sicher. Vielleicht sollte er Bill zurate ziehen...
Er verabschiedete sich schnell von Herr Zink und eilte zügig aus dem Schulgebäude, weiter über eine Lösung seines neuen Problems grübelnd.

„Weißt du Popel, ich denke ehrlich, du solltest zu diesem Treffen gehen“, verkündete Bill, nachdem Popel ihm von seinem Dilemma erzählt hatte. Der Kleinere war entsetzt. Das konnte doch wohl unmöglich Bills Ernst sein?
Dieser begründete: „Der Lehrer erscheint mir anständig zu sein. Er ist sehr darum bemüht, euch etwas einzigartiges zu bieten, was ihr nirgendwo anders bekommen könnt. Es ist eine gute Sache.“
Zum zweiten Mal an diesem Tag verspürte Popel das beunruhigende Gefühl, sich rausreden zu müssen. „Weißt du, ich habe eigentlich gar keine Lust dazu...“
Das war die schlichte Wahrheit, wie er sie besser nicht hätte ausdrücken können, doch sein Bruder konterte: „Warum hast du das ihm denn nicht gleich gesagt? Jetzt bezieht er dich in seine Planungen mit ein.“
„Das stimmt schon“, gab Popel widerwillig zu. „Aber er hätte mich eben nicht so bedrängen sollen. Was habe ich den jetzt noch für eine Wahl?“ Bill lächelte. Er fuhr seinem jüngeren Bruder durchs Haar.
„Gar keine, würde ich sagen“, meinte er wahrheitsgemäß. „Nun komm schon, es tut dir nur gut, ein Hobby zu haben!“
Da er nicht die geringste Lust verspürte, mit ihm zu streiten -da zöge er so oder so den kürzeren-, stimmte er Bill schließlich zu. Dieser zog sich nach seinem Triumph auf die Terrasse zurück, um Hausaufgaben zu machen, wie er meinte. Popel fühlte, dass seinen Bruder irgendetwas bedrückte. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick, ihn danach zu fragen. Bill war mit seinen Sorgen im Allgemeinen lieber allein. Also setzte sich Popel ohne rechten Eifer vor seine eigenen Schulsachen.
Was er nicht wusste war, dass heute der Schauspieler in ihm geboren worden war.

Mittwoch, erstes Treffen der Theater Leute
Bill begleitete ihn noch bis zum Schulgebäude. Popel suchte vergeblich nach einem Grund, sich in letzter Minute zu retten. Doch es viel ihm beim besten Willen nichts Brauchbares ein.
„Los, kleiner Bruder“, ermunterte ihn der Ältere schließlich. „Ein Mann steht zu seinem Wort!“ Popel versuchte ein schiefes Lächeln, das ihm allerdings nicht ganz gelingen wollte. In diesem Moment war er ganz und gar nicht daran interessiert, ein Mann zu sein.
„Ich bin aber bloß ein kleiner Junge“, widersprach er, obwohl er wusste, dass dieses Argument bei Bill nicht ziehen würde. „Hast du das etwa vergessen? Das sähe dir aber nicht ähnlich!“
Bill, der schon fast damit gerechnet hatte, erwiderte sanft: „Das werde ich nie vergessen. Aber auch kleine Jungen müssen halten, was sie versprechen.“
Also machte Popel sich auf den Weg in die Schule, die er vor wenigen Stunden erst verlassen hatte. Von dem kleinen Innenhof umgeben, gab es eine nahezu winzige Aula mit einer provisorischen Bühne aus alten Holzplanken. Das sollte der Ort für die Proben sein. Schon auf den ersten Blick durch die staubigen Glastüren erkannte Popel, dass bereits andere da waren. Sie hatten vor der Bühne einen Stuhlkreis gebildet, in dessen Mitte Herr Zink saß. Popel traute sich zuerst nicht, einzutreten, weil das Treffen schon im vollen Gange zu sein schien. Er war kurz davor, dies als Grund zu nehmen, wieder zu verschwinden, als Herr Zink ihn bemerkte. Er öffnete ihm die Tür uns begrüßte ihn herzlich. Zaghaft trat Popel ein. Zu seiner Überraschung herrschte hier eine angenehm vertrauliche Atmosphäre. Die sehr kleine Schauspiel Gruppe saß beieinander wie eine große Familie, obwohl jeder noch ein weinig schüchtern war.
„Wir haben uns nur schon mal eingerichtet“, erklärte Herr Zink. „Aber verpasst hast du nichts, keine Angst.“ „Tut mir leid, das ich zu spät bin“, entschuldigte Popel nervös.
„Aber das bist du nicht“, beruhigte der Lehrer ihn. „Setzt dich doch.“ Die anderen verfolgten alles neugierig. Popel zählte insgesamt neun Kinder. Mit ihm selbst bildeten sie also eine zehnmannstarke Gruppe.
„Mal sehen, ob ich eure Namen schon alle behalten habe“, meinte Herr Zink. Er überlegte kurz und ging dann jeden einzelnen durch. „Du bist Hannah, Mark, Lennart, Matt, Marie, Sophie, Johnny, Kelly...“
Popels Herz tat einen kleinen Hüpfer. Es war das Mädchen, vom Pausenhof. Er erkannte sie sofort an ihren langen kirschroten Engelslocken. Kelly war also ihr Name. Sie musste wohl eine Klasse unter ihm sein. Vielleicht auch zwei.
„... Andrea und Popel.“ Sie blickte nun zu ihm, als ob sie ihn zu erkennen schien. Aber wieder tat sie es nur für einen Bruchteil der Sekunde, sodass Popel sich fragte, ob er sich es nicht doch nur eingebildet hatte. Aber das auf dem Hof an seinem ersten Schultag, das war nicht bloß eine Sinnestäuschung gewesen. Er war sich ganz sicher. Herr Zink kramte kurz in seiner verschlissenen, alten Ledertasche, bis er einen Stapel kleiner Hefte zum Vorschein brachte.
„Das hier ist ein kleiner Vorschlag von mir“, berichtete er stolz und voller Eifer. Er ließ die Heftchen herumreichen, sodass sich jeder eines nehmen konnte. Als Herr Zink ihnen das Wesentliche über das Stück berichtete, hörten alle gespannt zu. Popel begann unwillkürlich, sich auszumalen, wie sie es auf der Bühne gestallten könnten. Es gab so viele Möglichkeiten und er stolperte immer wieder über andere, noch vollkommenere Ideen. Ein Feuer in ihm entfachte, wie er es nie vermutet hatte. Er konnte es jetzt kaum abwarten auf der Bühne zu stehen und es allen zu zeigen, denn plötzlich war er sich ganz sicher, er konnte spielen. Es war, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan. Und als es dann endlich so weit war und sie mit den ersten Proben begannen, entdeckte er das Leben in ihm, von dem er nicht gewusst hatte, dass es überhaupt existierte. Kurz darauf wurde ihm eine der Hauptrollen zugeteilt.
Und ich wäre fast wieder nach Hause gegangen, dachte Popel ungläubig.

Ende des Schuljahres 1975/1976, Aufführung des Theaterstückes
Ruhelos drehte sich Popel in seinem Bett hin und her. Obwohl er seit einigen Wochen nicht mehr auf der alten Matratze schlafen musste, da Ray Bill und ihm richtige Betten spendiert hatte, war es ihm unmöglich auch nur einzudösen. Von tiefem erholsamem Schlaf war gar nicht zu sprechen. Wieder und wieder übte Popel in Gedanken seinen Text und war sich ganz sicher, ihn morgen zu vergessen, wenn es darauf ankam. Wenn es so weit war. Ein Schaudern der Aufregung, von dem er nicht sagen konnte, ob er es nun für angenehm oder furchtbar halten sollte, durchfuhr seinen Körper. Ein Jahr lang hatten sie nun dafür geprobt, wie verrückt, manchmal stundenlang. Morgen würde sich zeigen, ob sich die Mühe gelohnt hatte.
Nein, korrigierte Popel sich, gelohnt hat es sich auf jeden Fall. Aus der anfänglichen Zwangsveranstaltung war Vergnügen geworden und er hatte im Laufe des Jahres ganz wundervolle Freunde in der Gruppe gefunden. Zum einen war da Lennart, ein Junge aus seiner Parallelklasse, mit dem er sich öfters zum Texte üben getroffen hatte. Auch mit Mark und Matt, den Zwillingsbrüdern, die die beiden lustigsten Rollen ergattert hatten, kam er mehr als gut aus. Es hatte ihn schon bald nicht mehr gestört, dass der Boss ihn weiterhin ärgerte. Im Gegenteil. Er sah diesen widerlichen Typen nicht mehr als Anführer und Bedrohung. Dessen Meute, das war ihm jetzt klar, war bloß eine Clique. Aber es gab auch noch andere, die, wie Bill es bezeichnen würde, durchaus anständig waren. Aber das alles verschwand hinter einer Person. Nämlich dem wunderbarsten Mädchen, das er je kennen gelernt hatte.
Kelly war schon sehr bald nicht mehr die vom Pausenhof gewesen. Sie hatte sich als einen ganz besonderen Menschen herausgestellt. Sie war seine beste Freundin geworden und bedeutete ihm weitaus mehr, als alle seine anderen Freunde zusammen. Mit ihr konnte er lachen, selbst, wenn ihm zum Weinen zumute war. Es war, als leuchtete sie mit ihrer Wärme über seiner ganzen Welt, sodass alles trostlose, schäbige und arme aus ihr verschwand. Diese Menschen und ihre gemeinsame Sache, das Theater, war sein Leben geworden. Sie vertrieben seine Gedanken an frühere Zeiten, an seine Eltern, an sein erstes Zuhause. Auch wenn er das Gefühl hatte, dass Bill ihn in dieser Hinsicht nicht verstand, er wusste, dass ihn dies alles glücklich machte. Zu diesem Wissen brauchte er keinen älteren Bruder. Und selbst, wenn alle Menschen morgen buhend das Theater verlassen würden und die Schauspieler alleine auf der Bühne zurückblieben, würde er nicht bereuen, an diesem einen Mittwoch zu dem ersten Treffen erschienen zu sein. Das gab ihm jetzt eine gewisse Ruhe und schluckte einen kleinen Teil der Aufregung. Aber wirklich nur einen kleinen. Wieder drehte er sich auf die andere Seite. Nachdem er so ein paar Minuten verharrt hatte, legte er sich auf den Bauch, wieder in seine Ausgangsposition auf dem Rücken. Es half nichts. Alles kribbelte in ihm. Er fühlte sich eben einfach nicht müde. Wenn er seine Augen schloss, zogen wieder Szenen des Stückes, Bilder aus bunter Schaumstoffkulisse an seinem inneren Auge vorbei. In den Bett auf der anderen Seite des Zimmers hörte er Bills leises regelmäßiges Atmen. In diesem Moment beneidete er seinen großen Bruder grenzenlos. Er konnte schlafen! Allerdings würde er morgen ja auch nur in einer der Zuschauerreihen sitzen.
Und da war sie wieder, diese unbeschreibliche Aufregung...
Irgendwann musste er wohl doch in einen unruhigen Halbschlaf gefallen sein, denn das nächste, an was er sich erinnerte, war, abgesehen von zahllosen Traumbildern, die aber keinen rechten Sinn ergaben, das Gesicht seines Bruders über ihm.
„Aufwachen, Popel“, sagte Bill sanft und rüttelte ihn an den Schultern. „Der große Tag! Den willst du doch nicht etwa verschlafen.“ Popel fuhr hoch und rieb sich die Augen. Er fühlte sich wie gerädert. Das war ja auch kein Wunder, so wenig Schlaf, wie er letzte Nacht gehabt hatte. Bill hatte ihn rechtzeitig aus dem Bett gescheucht, sodass die Brüder noch genug Zeit hatten, gemeinsam zu frühstücken.
„Du siehst doch zu Bill, oder? Bei der Aufführung meine ich“, mampfte der Kleinere eifrig und schob sich noch ein Stück Brot in den Mund.
„Klar doch“, versprach Bill. „Dafür, dass du gestern noch so schrecklich aufgeregt warst, hast du jetzt aber erstaunlichen Appetit!“
Popel lachte nervös. „Heute ist es bestimmt doppelt so schlimm wie gestern!“, gab er zu. „Aber wenn ich esse, denke ich nicht soviel daran.“
„Na dann, mal zu!“, ermutigte ihn Bill und schob den Brotkorb zu ihm hinüber.
Doch zwischen ihm und der langerwarteten Aufführung standen noch fünf lange, zähe Schulstunden. Popel konnte später unmöglich sagen, was an diesem Tag Unterrichtsstoff gewesen war, denn alles zog an ihm vorüber wie in undurchdringbaren Nebelschleiern. Das war natürlich nichts neues. Für ihn war die Schule immer weiter in den Hintergrund gerückt. Seine bedauernswert schlechten Leistungen erschienen ihm nebensächlich, wenn er ans Theaterspielen dachte. Ihm war ohnehin klar, dass er Schauspieler werden würde. In ferner Zukunft sah er sich auf den größten, glanzvollsten Bühnen stehen, tausende Menschen um ihm herum, ergriffen von dem Spiel der Charaktere, in die er schlüpfte, jubelnd und um Autogramme bittend. Das war das vorherrschende Bild in seinem Kopf, in dem es keinen Platz mehr für Zahlen und Buchstaben gab.
Seine Mathelehrerin sah ihn abwartend an. Verwirrt hob Popel den Kopf von den Armen. Die restliche Klasse hatte ihre Blicke ebenfalls auf ihn gerichtet. Es ist wegen der Aufführung, schoss es ihm als erstes durch den Kopf, sie wissen, dass dies mein Tag ist. Der Gedanke, ihm gehöre ein ganzer Tag, hatte etwas seltsam bedeutendes an sich.
Doch die Lehrerin seufzte nur: „Popel, so kann das doch nicht weitergehen. Ich habe dich drangenommen und du warst mal wieder Welten entfernt.“ Er fühlte, wie sein Gesicht rot anlief. Natürlich war es nicht wegen dem Theater! Seine Gedanken drehten sich zwar um nichts anderes, aber das hieß nicht, dass es allen so ergehen musste. „Also, Popel“, fragte sie. „Was ist? Hast du nun die Lösung, oder nicht?“ Verzweifelt versuchte er sich daran zu erinnern, um was es in den letzten Minuten gegangen war. Es half alles nichts, er hatte nicht die geringste Ahnung.
„Ich weiß nicht“, stammelte er verlegen. Einige lachten leise. Die Lehrerin verdrehte die Augen.
„Was war meine Frage?“, wollte sie ungeduldig wissen. Popel senkte den Kopf.
„Ich weiß nicht“, flüsterte er.
„Was hast du gesagt?“, hakte sie nach. „Ich habe dich nicht verstanden.“ Er wusste ganz genau, dass sie das getan hatte. Sie wollte ihn nur vor der ganzen Klasse bloßstellen, wie immer, und das machte ihn plötzlich wütend. Warum standen die anderen Schüler nicht hinter ihm? Er hatte ihnen nie etwas getan! Das Kichern um ihm wurde lauter. Alle machten sich über ihn lustig. Der Boss tat es. Das war es! Er hetzte die anderen gegen ihn auf. Es war ganz allein seine Schuld! Seine Lehrerin blickte ihn immer noch fragend an. Nicht ernsthaft fragend oder zumindest besorgt. Nein, aus ihren Augen war er ein hoffnungsloser Fall, seine Akte war bereits geschlossen worden. Schon vor langer, langer Zeit.
„Ich habe gesagt, ich weiß es nicht!“, brüllte er und irgendeine überlastete Sicherung in seinem Kopf klickte auf einmal aus. „Ich habe nicht ein Wort von dem Zeug verstanden, was sie vorhin sagten, nicht ein verdammtes Wort! Und ganz ehrlich ist mir das auch ziemlich egal. Ihre heiligen Zahlen haben doch nichts mit dem wirklichen Leben zu tun! Ich verstehe nicht, weshalb ich das alles lernen soll, weil es keinen Sinn ergibt!“
Alles war totenstill, nachdem er seinen Kopf wieder auf die Handflächen gestützt hatte und beharrlich die abgenutzte Holzplatte seines Tisches anstarrte. Er zitterte vor langsam verblassender Wut und konnte die Tränen nur mühsam zurückhalten. Leise und mehr zu sich selbst wiederholte er: „Alles ergibt keinen Sinn...“
Später war ihm klar, dass er einfach ausgerastet war, genauso wie er wusste, dass es nicht wieder passieren durfte, wenn er nicht als totaler Verlierer die Schule verlassen wollte. Ihm war das zwar wirklich egal, genau wie er es gesagt hatte, aber er war es Bill schuldig. Bill, seinem perfektem Bruder, seinem heimlichen Vorbild.
Der Lehrerin war nach seinem Wutausbruch nicht besseres eingefallen, als ein gepresstes „Das wirst du in deinem nächsten Zeugnis sehen“ und auch die anderen Schüler waren schier sprachlos gewesen. Aber nun, als sich der Sturm gelegt hatte, erkannte Popel, dass er ihnen keinen größeren Gefallen hätte tun können. Seine Vermutung bestätigte sich dadurch, dass der Boss in der Zehnminutenpause vor seinem Tisch auftauchte.
„Aus der Rolle gefallen, Heulsuse?“, säuselte er genüsslich und beugte sich vorüber, sodass er nur Millimeter von Popels Gesicht entfernt war. Dieser versuchte seinen Gegenüber einfach zu ignorieren. Das war bisher immer die beste Verteidigung gewesen.
„Du denkst wohl, jetzt halten dich alle für ganz toll, was?“, zischte der Boss leise in sein Ohr, sodass nur sie beide es hörten. „Aber du irrst dich gewaltig. Ich werde dir sagen, was alle denken: Du lebst in einer anderen Welt, Popel, und zwar in einer Welt für Verrückte. Da ist alles so bekloppt und unnormal, dass sie richtig zu dir passt. Wir alle wollen hier raus, aus diesem Loch, aus dieser unbeschreiblichen Hölle, aber du wirst es nicht schaffen. Niemals. Nicht so. Selbst dein Bruder wird dich hier nicht heraushauen können. Es wird dir genauso ergehen, wie all diesen anderen erbärmlichen Verlierertypen. Lennart, Matt, Mark und wie sie alle heißen. Ihr werdet verrotten. Ganz langsam und qualvoll. Und Kelly auch. Ihr alle habt keine Chance!“
Wieder spürte Popel einen Anflug von Zorn in seinem Bauch. „Lass Kelly in Ruhe. Sie hat damit nichts zu tun. Das ist eine Sache zwischen dir und mir.“
Der Boss wirkte seltsamerweise zufrieden mit dieser Reaktion. „Ich verstehe“, wisperte er fast zu sich selbst. „Daher weht der Wind. Schon lange nicht mehr das kleine Weichei, was?“
Popel biss sich auf die Zunge. Das ist genau das, was er will, erinnerte er sich streng, das du deine Beherrschung verlierst und ihm Dinge verrätst, die ihn nichts angehen. Er zwang sich wieder unter seine eigene Kontrolle und entgegnete nichts.
Doch der Boss ließ nicht locker und stachelte beharrlich weiter: „Du bist nicht mehr du selbst. Es ist das Mädchen, ich weiß es. Du vielleicht nicht, aber ich bin nicht blöd!“
Dieses Mal blieb Popel vollkommen ruhig. Was der Boss gesagt hatte, gab ihm zu denken. Das merkte dieser auch, was wohl der Grund für das selbstzufriedene Grinsen auf seinem Gesicht war. Er gesellte sich wieder zu seinen Freunden und ließ Popel alleine mit seinen verwirrten Gedanken. Das ist nicht wahr, dachte er immer wieder, wir sind Freunde. Freunde.
Als Popel nach der Schule nach Hause kam, war Bill nicht da. Es war das erste, was ihm auffiel, denn normalerweise nahm ihn sein Bruder jeden Mittag an der Tür in Empfang, um sicherzugehen, dass er den Weg von der Schule sicher zurückgelegt hatte. Aber heute gab es keine Spur von Bill. Noch nicht einmal ein Zettel lag auf dem Küchentisch. Popel bekam plötzlich Angst. Was, wenn seinem Bruder etwas geschehen war? Doch er beruhigte sich rasch wieder, weil er wusste, dass dieser besser auf sich Acht geben konnte, als jeder andere.

Bill hetzte panisch durch die Straßen. Es sah ihm nicht ähnlich, aber er hatte unvorstellbare Angst. Schreckliche Angst. Schon allein dies beunruhigte ihn. Der Weg zog sich endlos in die Länge. Obwohl er so schnell lief, wie er konnte und sein Herz schwer in seiner Brust spürte, kam es ihm vor, als bewegte er sich immerfort auf der Stelle.
Es hatte alles damit mit diesem Anruf heute Vormittag begonnen. Er hatte in der Küche gesessen und mit seinen Hausaufgaben angefangen. Es hatte einen Stundenausfall gegeben, sodass er vor Popel nach Hause gekommen war. Plötzlich hatte das schrille Klingeln des alten Telefons die Stille, die sonst nur von Rays leisem Schnarchen gestört wurde, zerrissen. Er hatte ein paar Sekunden gewartet und als der schlafende Mann keine Anstallten machte aufzustehen und den Anruf entgegenzunehmen, war er selber zu dem Apparat gegangen. Mit einer düsteren Vorahnung hatte er den Hörer von der Gabel genommen.
„Bill? Bist du es?“, wurde in sein Ohr geflüstert „Bill, Bill, hilf mir!“
Sein ganzer Körper war auf einmal zu Eis erstarrt gewesen. „Ich bin unterwegs, halte durch“, hatte er mühsam hervorbringen können.
„Bill?“, war es noch leise aus dem Hörer, den er schon fast wieder auf die Gabel geknallt hatte, erklungen. „Lass mich nicht allein.“
Etwas in seinem Herzen hatte sich schrecklich zusammengekrampft. Er hatte den Hörer wieder zu seinem Mund gehoben und geflüstert: „Ich bin bei dir. Ich bin immer da, wenn du mich brauchst.“
Doch die Leitung war schon tot gewesen.
Endlich sah er das Haus sich vor ihm hoch dem Himmel entgegenstrecken. Keuchend klingelte er und wartete auf den Einlasston. Nichts geschah. Er war kurz davor, den Kopf zu verlieren, als er erleichtert feststellte, das die Eingangstür nur angelehnt war. Seine Füße drohten unter ihm nachzugeben, doch er stürmte immer weiter das Treppenhaus empor. Schließlich hatte er die kleine Wohnung im obersten Stockwerk erreicht und seine Beine zitterten vor Erschöpfung. Auch dieses mal antwortete niemand auf sein Klingeln. Diese Tür war fest verschlossen. Hastig kramte er in seinen Taschen, bis er den Notfallschlüssel in seiner Hand spürte. Er brauchte eine Weile, viel zu lange, wie es ihn vorkam, denn er hatte seine schweißnassen, zitternden Finger nicht so richtig unter Kontrolle. Endlich klickte es im Schloss und die Tür ließ sich ohne Probleme aufstoßen.
Ein kurzer, weißgetünchter Flur mit einem verschlissenen braunen Teppich, erstreckte sich vor ihm. Auf jeder Seite wichen zwei Türen von ihm ab, von denen er sofort die wählte, die hinten rechts lag. Auf den ersten Blick erschien ihm das kleine, unaufgeräumte Zimmer verlassen, doch schließlich sah er eine leichenblasse Hand hinter dem Sofa, das mitten im Raum stand, herausragen.
Sofort ließ er sich neben dem bewusstlosen Mädchen, dem diese Hand gehörte, auf die Knie fallen. Ihr abgestumpftes schwarzes Haar hüllte ihr weißes Gesicht kontrastreich ein. Er strich ihr sanft mit der Hand über die Wange. Sie rührte sich nicht. Vorsichtig zog er sie hoch, um sie auf das Sofa zu legen, von dem sie gefallen war. Nach einigem Suchen fand Bill im Badezimmer einen sauberen Lappen, den er mit kaltem Wasser aus der Leitung anfeuchtete. Als er wieder im Flur war, blieb sein Blick kurz am Telefon hängen, und er überlegte besorgt, ob er nicht lieber einen Krankenwagen rufen sollte. So schlimm war es vorher noch nie gewesen und er befürchtete, dass sie dieses Mal vielleicht nicht mehr aufwachen könnte. Doch als er ihre schweißbedeckte Stirn mit dem kalten Tusch abwusch, schlug sie langsam die haselnussbraunen Augen auf. Sie war noch sehr schwach, aber er wusste, dass sie bald wieder zu Kräften kommen würde. Erleichterung durchströmte seinen erschöpften Körper und er musste unwillkürlich lächeln.
Ihre Mundwinkel hoben sich ebenfalls ein wenig und Dankbarkeit und Liebe spiegelten sich in ihren Augen wider. Langsam versuchte sie ihre rissigen Lippen zu öffnen.
Bill schüttelte beruhigend den Kopf. „Sage nichts!“, flüsterte er leise. „Du musst dich ausruhen.“ Er streichelte sanft ihr Gesicht, dass langsam wieder etwas mehr Farbe bekam. „Es wird alles gut“, versprach er. „Ich passe auf dich auf, Vanessa. Wir schaffen das schon irgendwie.“
Minutenlang saß er einfach nur so bei ihr und keiner der beiden regte sich. Schließlich wisperte sie: „Es geht schon wieder, Bill. Danke, dass du so bald hier warst.“
„Ich hatte schon gedacht, ich wäre zu spät“, gab er traurig zu. Er schob ihr eines der Kissen in den Nacken, sodass sie ihn besser ansehen konnte, wenn sie mit ihm sprach.
„Du hast nicht den Notdienst gerufen“, stellte sie beruhigt fest. „Es wäre schrecklich gewesen, wenn alles herausgekommen wäre. Mama und Papa wären an die Decke gegangen.“
Bill stimmte ihr zu, denn er wusste, dass sie aus einem sehr strengen Elternhaus stammte. „Aber es darf so nicht weitergehen, Kleines“, wandte er dennoch ein. „Sie werden es merken, selbst wenn sie den ganzen Tag lang arbeiten. Irgendwann... vielleicht erst in einem Jahr, möglicherweise auch schon morgen oder übermorgen...“ Vanessa wich seinem Blick aus. „Ich weiß“, meinte sie in einem um Verständnis bittenden Tonfall. „Und ich hatte mich ja auch schon so gut im Griff, bis ich heute noch ein paar alte Tabletten in meinem Nachtschrank gefunden habe. Es ist einfach so über mich gekommen. Ich konnte nichts tun. Das musst du mir glauben.“
Bill wusste, was sie meinte. Er hatte solche Ausreden schon oft gehört. Nicht nur von ihr. „Sind jetzt noch welche da?“, wollte er wissen.
„Nein“, sagte sie ehrlich und bekräftigte alles mit einem Kopfschütteln, das sie aufstöhnen ließ. „Verdammt, mein Kopf!“
Vorsichtshalber öffnete Bill die Nachttischschublade und durchsuchte auch noch das halbe duzend bunter Papierschachteln, die in dem Holzregal über ihrem Bett standen. Sie lügt nicht, stellte er erleichtert fest, jedenfalls dieses eine Mal nicht.
„Du brauchst nicht weitersuchen“, meinte sie mit einer Hand auf ihrer schmerzenden Stirn. „Ich habe sie alle genommen... Hast du noch mal dieses Tuch?“
Er sah sie unglücklich an und gab ihr den Lappen. „Wir waren schon so kurz davor“, behauptete er enttäuscht. „Fast wärst du damit durch gewesen.“
Auch sie war sichtlich unglücklich. „Das ist nicht so einfach“, versuchte sie sich herauszureden. Für einen kurze Moment lächelte sie ihn an. „Aber wir versuchen es weiter, versprochen!“
Bill nickte, war sich aber nicht sicher, ob sie wirklich an einen Erfolg glaubte. Oder zumindest an die winzigkleinste Chance. „Mein Bruder hat heute Nachmittag eine Theateraufführung“, erzählte er, ohne so recht zu wissen warum.
„Er ist bestimmt sehr aufgeregt“, meinte Vanessa darauf.
Bill, der mit den Gedanken bei Popel war, schüttelte den Kopf und lächelte liebevoll. „Nein“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu Vanessa. „Er ist so stolz auf sich. Und so glücklich.“
„Ich wünschte, das wäre ich auch“, flüsterte sie verbittert.
Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Stirn, so behutsam und zärtlich er konnte. „Ich bin es. In jeder Minute, die ich mit dir verbringe.“

Popel öffnete den braunen Vorhang einen Spaltbreit und spähte vorsichtig hindurch.
„Pass auf, dass man dich nicht sieht, Popel“, ermahnte ihn Herr Zink, der wie schon den ganzen Nachmittag, wie ein aufgescheuchtes Huhn vom Raum hinter der Bühne, der auch als Maske diente, zum Requisitenlager und zurück eilte. Popel hörte ihn aufgeregt fragen: „Hat jemand den blauen Wandteppich gesehen? Er ist nicht im Lager!“
Andrea antwortete geduldig: „ Marie, Sophie und ich haben ihn schon geholt.“
Nebenbei verfolgte Popel, wie der Lehrer nach bestimmt einem weiteren halben Duzend Dinge fragte, die er nicht finden konnte, bis Andrea schließlich genug von seiner Unruhe hatte und in die Maske verschwand.
Er ließ seinen Blick durch die Sitzreihen schwenken. Etwa fünfzig Menschen hatten sich in der kleinen Aula versammelt, die nun zum Bersten voll war. Der größte Teil der Zuschauer bestand aus Erwachsenen, vermutlich stolze Eltern, die ihre Kinder auf der Bühne sehen wollten. Ein paar Jugendliche saßen in der ersten und zweiten Reihe. Er konnte Bill unter ihnen nicht ausmachen. Beunruhigt ging er noch einmal alle Reihen durch.
Kelly kam aus der Maske. Sie spielte in dem Stück eine gefangene Prinzessin. In dem langen tiefblauen Kleid, das sie trug, und mit ihren hochgesteckten Locken sah sie einfach umwerfend aus, wie er fand. Sie ging zu ihm und sah ebenfalls durch den Spalt in den Saal. „Er ist nicht gekommen?“, fragte sie, nachdem sie beide ein paar Minuten lang das Publikum abgesucht hatten.
„Es ist noch eine Viertelstunde bis zum Vorstellungsbeginn“, warf Popel lahm ein. „Wahrscheinlich verspätet er sich bloß.“
Kelly sah ihn mitleidig an und widersprach sanft: „Du glaubst das doch selber nicht, oder?“
Popel schüttelte ein wenig den Kopf, gerade so, dass nur er es merkte. „Ich gehe mich auch umziehen“, murmelte er undeutlich. „Es wird Zeit.“
Sie blieb allein vor dem Vorhang stehen. Ihr Blick ging ins Leere. Auch wenn sie ihre Enttäuschung nicht so deutlich zeigte, sie verstand ihn nur zu gut, denn ihre Familie war ebenfalls nicht unter den Zuschauern. „Popel, warte!“, rief sie ihm nach und erntete eine mahnende Geste von Herr Zink, leise zu sein. Popel blieb vor der Umkleide stehen. Sie rannte zu ihm, wobei sich einige der roten Löckchen aus der ordentlichen Frisur befreiten und ihr Gesicht sanft umspielten.
„Was ist?“, fragte er, als sie bei ihm war.
Verlegen nahm sie seine Hand in die ihre. „Wir schaffen das trotzdem, oder?“, flüsterte sie unsicher.
Überrascht von der Wärme ihrer weichen Finger, zuckte er unwillkürlich zurück. Rasch sah er sich um und versicherte sich, dass niemand in der Nähe war. Er spürte, wie er puderrot wurde. „Natürlich“, murmelte er und entzog sich ihrem Griff schnell.
Kellys Augen glänzten, als sie zu ihm aufsah und ihn verständnisvoll anlächelte. „Du hast dich so verändert, Popel“, meinte sie ehrlich. „Du bist so erwachsen geworden.“
Popel fiel auf, dass es das zweite mal an diesem Tag war, das er dies zu hören bekam. Nur das es sich aus Kellys Mund mehr wie ein Kompliment anhörte, wie es aus dem des Boss’ geklungen hatte. Er wunderte sich, wie man so plötzlich erwachsen werden konnte, ohne es selber zu merken. „Ich bin erst neun“, erinnerte er sie. „Na gut, ich werde in den Sommerferien zehn, aber erwachsen ist das trotzdem nicht!“
„In manchen Situationen muss man älter sein, als man ist“, erwiderte sie darauf leise. „Und das bist du. Du scheinst mir allem gewachsen.“ Wieder spürte er die Röte in seinem Gesicht „Ich glaube, es ist das Theater“, erklärte sie und deutete auf die aufgebaute Kulisse. „Mir hilft es. Dir auch?“
Popel entspannte sich wieder. Sie bewegten sich nun wieder auf sicherem Boden. „Es ist, als würde man in einer anderen Welt leben“, stimmte er ihr zu.
„Vielleicht in einer besseren Welt“, ergänzte Kelly merkwürdig traurig und eine klitzekleine, glänzende Träne löste sich aus dem dichten, schwarzen Wimpernkranz ihres rechten Auges, lief ihr sanft über die leicht blasse Wange und tropfte, einem hochkarätigen Diamanten nicht unähnlich, vom ihrem weich geschwungenen Kinn hinab.
Immer wieder überprüfte Popel, ob Bill sich doch noch irgendwo in die Zuschauerreihen gesetzt hatte. Doch, sosehr er auch versuchte, zuversichtlich zu bleiben, sein geliebter, großer Bruder war nirgends zu entdecken und dabei blieb es auch. Schließlich begann die Aufführung und Bill war immer noch nicht aufzufinden.
Das Stück lief genau nach Plan. Der Ablauf auf der Bühne klappte tadellos und das Publikum war gefesselt von dem Geschehen auf der Bühne, wozu Popel einen großen Teil beitrug. Tatsächlich schafften sie es, ohne jegliche Pannen durch die Premiere zu kommen, was wirklich eine sagenhafte Leistung war. Doch Popel konnte trotz allem dem nicht anders, als pausenlos an Bill zu denken. Sein Kopf war voll mit Fragen, die sich allein um ihn drehten.
Warum er sein Versprechen, bei der Aufführung zuzusehen, nicht gehalten hatte, warum er in letzter Zeit so oft abwesend gewesen war, nicht nur körperlich, warum er seinen kleinen Bruder einfach allein gelassen hatte, so plötzlich, so endgültig und ohne Entschuldigung...

Als Bill später an diesem Abend endlich nach Hause kam, saß Popel noch am Küchentisch.
„Hey, Kleiner“, begann er entschuldigend und hielt erschrocken inne, als er das tränenüberströmte Gesicht seines kleinen Bruders im Lichtkreis der schwachen Stehlampe, die auf dem Tisch stand, sah.
„Ist schon gut“, brachte Popel undeutlich hervor.
Bill ging zu ihm, um ihm sanft die Hand auf die Schulter zu legen, aber der Kleinere schüttelte sie rasch wieder ab. „Es tut mit so leid“, versuchte Bill zu erklären. „Es ist nur...“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, unterbrach ihn Popel schwach. Er wischte sich die Tränen ab, doch es flossen sofort wieder neue nach. „Ich hatte bloß solche Angst, als du nicht nach Hause gekommen bist.“
Bill sah auf die große Uhr über der Tür. Es war bereits nach elf. Er gab zu: „Ich weiß, ich bin viel zu spät. Aber ich wollte mich wegen deiner Aufführung entschuldigen, nicht wegen der Uhrzeit. Ich konnte nicht kommen, obwohl ich es hätte tun sollen. Es tut mir so leid, Popel...“ Seine Stimme verlor sich. Er fühlte sich so schuldig und wünschte sich nichts mehr, als das sein Bruder ihn verstehen könnte.
Doch dieser hörte ihm gar nicht richtig zu. „Es ist in Ordnung“, meinte er bloß leise.
Bill wusste natürlich, dass es das nicht war. Er wartete noch ein paar Sekunden und als sein Bruder es dabei beließ und seine Anwesenheit im Weiteren ignorierte, kehrte er ihm den Rücken und entschloss sich, diesen schrecklichen Tag einfach aus seinem Gedächtnis zu streichen.

Letzter Schultag im Jahre 1976
Natürlich ließ sich dieses Ereignis nicht so leicht vergessen, wie Bill es gerne gewollt hatte, aber beide Brüder taten ihr Bestes zumindest so zu tun. Doch die aufgesetzte Herzlichkeit vermochte die eisige Distanz zwischen ihnen nicht zu überbrücken. Popel hatte seit dem Abend nach der Theateraufführung tapfer versucht, seinem Bruder das Gefühl zu geben, er nähme ihm das Geschehene nicht allzu krumm und irgendwann war es Bill gelungen, sich selber einzureden, dass dies die Wahrheit war. Lange Zeit war Popel aufs Tiefste gekränkt und sie wussten das beide. Und das lag nicht allein an der verpassten Aufführung und der danach folgenden Enttäuschung. Nein, die Vernachlässigung ihres gemeinsamen Familienlebens, an der beide Brüder gleichermaßen Schuld gewesen waren, hatte schon viel früher begonnen. Bills ständige Abwesenheit, die auch nach dem Vorfall anfielt, hatte genauso dazu beigetragen, wie die vielen Theaterproben des Jüngeren. Dieser hatte schon bald erkannt, dass er auch ohne die ewige Vormundschaft des Älteren gut klarkommen konnte.
So überdauerte dieser Zustand die letzen Wochen des Schuljahres, bis zum Tag der Zeugnisausgabe. Die Stimmung der beiden war sehr gespannt, als sie zusammen am eilig gedeckten Frühstückstisch saßen und ohne großen Appetit an ihren Broten kauten. Popel zitterte innerlich, als er an das Zeugnis dachte, das er heute bekommen würde. Bill würde enttäuscht sein, dass wusste er. Sein Bruder wünschte sich schließlich die beste Zukunft für ihn, auch wenn sie nicht unbedingt dieselbe Vorstellung von dieser hatten. Er warf einen neidischen Blick auf seinen Gegenüber. Bill kannte diese Anspannung, diese Angst, vor den Schulnoten nicht, denn diese waren bei ihm bisher immer überdurchschnittlich gut gewesen.
Tatsächlich aber erwiesen sich Popels Vermutungen als falsch, denn auch Bills Finger zitterten als er sein Zeugnis in der letzten Stunde nervös entgegennahm.
Sein Klassenlehrer schenkte ihm ein anerkennendes Lächeln. „Kein Grund zur Besorgnis, Bill“, ermutigte er ihn. „Du kannst wirklich stolz auf dich sein.“
Bill richtete seine Blicke zögernd auf das Zeugnis. Merkwürdig, dachte er unwillkürlich, es ist nichts weiter als ein Blatt Papier und bereitet all diesen Schülern schlaflose Nächte. Nach und nach floss das Leben wieder zurück in seinen Körper und er fühlte, wie Erleichterung ihn in hellen Wogen durchströmte.

Deutsch 1 Musik 1
Mathematik 1 Kunst 1
Englisch 1 Philosophie 1
Spanisch 1 Sport 1
Geschichte 1 Erdkunde 1

Bill runzelte kritisch die Stirn. Schrift 2. Ach, nicht so wichtig, beschloss er, Hauptsache man kann es lesen.
Als er nach Ende der Stunde aus dem dunklen, von dicken Mauern umgebenen, Schulgebäude in das gleißend weiße Sonnenlicht trat, spürte er förmlich, wie es ihn durchdrang und eine gewisse Sorglosigkeit, die er schon lange nicht mehr gefühlt hatte, in ihm hervorrief. Er blinzelte in die Helligkeit und genoss dieses Gefühl, bis seine Augen schmerzten. Auf dem Weg nach Hause kam er sich stark und Ausgeruht vor und sah, als er beim Gehen über die Schulter zurückblickte, wie die Anspannung des letzten Jahres mit der Schule zusammen immer kleiner wurde und schließlich hinter Häuserblöcken aus zerfallenem Backstein gänzlich verschwand. Mit der Gewissheit, die kommenden Jahre ebenso überstehen zu können, nahm Bill sich fest vor, in seinem Leben aufzuräumen und alle unerwünschten Schatten der Vergangenheit zuzuordnen. Doch das hatte Zeit bis morgen, denn das Heute war viel zu wunderbar, um auch nur im entferntesten an anderes zu denken. Bill sog kräftig Luft in seine Lungen und es spielte nicht die geringste Rolle, dass sie nach Abgasen und Armut schmeckte, denn alles was zählte war, dass er atmete. Seine Schritte waren weitausgreifend und kraftvoll und es war ihm gleich, dass der Boden, über den er ging, mit Müll und Zigarettenstummeln übersät war. Wichtig war, dass er ging. Genauso wenig störte er sich in diesem Augenblick daran, dass sein Leben ein einziger Hürdenlauf war, mit einem Vater und einer Mutter, die sich nicht mehr um ihn kümmerten und schlimmstenfalls im Gefängnis saßen, einem kleinen Bruder, für den er sorgen musste, und einer Unterkunft bei einem Drogenabhängigen. Was zählte, was wirklich zählte, war, dass er lebte. Und er genoss es, er genoss es so sehr.
Popel sah von seinem Zeugnis auf, als Bill munter pfeifend in die Küche kam und beim Anblick des verheulten Gesichtes seines Bruders innehielt
Er ging langsam zum Tisch, an dem der Kleinere saß, zog einen der einfachen Holzstühle heran und setzte sich ebenfalls. „Popel?“, fragte er vorsichtig.
Die einzige Antwort, die er bekam, war ein hilfloses, schwaches Schluchzen.
Bill beugte sich vor, um einen Blick auf die Ursache der vielen Tränen, die über das rundliche Kindergesicht seines Bruders flossen, zu werfen.
Doch dieser nahm sein Zeugnis schnell vom Tisch und presste es an sich.
„Wollen wir darüber reden?“, schlug Bill sanft vor.
Popel schüttelte entschlossen den Kopf.
„Nun gut. Dann werde ich uns erst einmal etwas Anständiges zum Essen machen.“ Bill stand auf und ging zum Kühlschrank. Er öffnete die Tür uns verzog das Gesicht, als er hinein sah, denn der Inhalt bestand aus einer angebrochenen Packung Käse, der mit weißgrünlichem Schimmel über zogen war, einer halben Gurke und einer, mit abgelaufener Milch gefüllten, Glasflasche. „Wer sollte heute einkaufen?“, fragte Bill und antworte gleich darauf: „Ray natürlich, dieser Blödmann. Will der, dass wir alle verhungern?“
„Will er nicht“, brummte Ray, der unbemerkt aus dem Wohnzimmer in die Küche geschlurft war. Er stand im Türrahmen, fuhr sich mit der linken Hand durch das ungekämmte, fettglänzende schwarze Haar und stützte sich mit der rechten an der untapezierten Wand ab.
„Fein,“ entgegnete Bill ungerührt. „Das freut mich. Und warum haben wir dann nichts zu Essen?“
Der Mann seufze leise und zuckte mit den Schultern. „Kein Geld?“ Es klang mehr wie eine Frage und schien ihn auch nicht wirklich zu interessieren.
„Das wundert mich nicht“, verkündete Bill mit ärgerlich gerunzelter Stirn. „Du gibst immer alles für dein Zeugs aus!“
„Ach ja?“, entgegnete Ray scharf. „Seh’ ich so aus, als ob ich das täte?“
Nein, gab Bill zu, das tat er nicht. Stattdessen war er schwach, noch kränker als sonst, wenn das überhaupt möglich war, und ständig schlecht gelaunt. Es gab also wirklich kein Geld.
Ray sackte ein Stück in sich zusammen, als fehle ihm die Kraft zum Stehen und sagte tonlos und bemerkenswert ruhig: „Eine Woche krieg ich uns noch durch. Länger nicht.“
Popel hob seinen Kopf uns starrte Ray entsetzt an.
Bill versuchte sich seine Besorgtheit nicht ansehen zu lassen, um den Kleinen nicht noch mehr zu beunruhigen, aber seine Gedanken rasten. Wie sollten sie in bloß einer Woche wieder zu Geld kommen?
„Schaut nicht so!“, grunzte der Erwachsene. „Es ist nicht leicht so viele Mäuler zu stopfen. Seit ihr da seit, ist es knapp.“
„Kannst du nicht einfach einen Kredit bekommen?“, fragte Bill und hoffte, das seine Stimme nicht allzu sehr zitterte. Wenn kein Geld da war, gab es nichts zu essen. Aber er wusste, bevor es so sein würde, setzte Ray ihn und seinen Bruder lieber vor die Tür.
„Soll das ein Witz sein?“, prustete Ray bitter. „Ich besitze nichts, außer ein schlecht eingerichtetes Haus, das kurz vorm Zusammenbrechen ist, und ein bisschen von meinem Stoff. Sozialhilfe reicht nicht mehr. Glaubst du wirklich irgendjemand leiht mir was?“
Bill zuckte mit den Schultern. Es war immerhin einen Versuch wert gewesen.
Ray ließ den Türrahmen los und schlurfte unsicher zu einem der Stühle. Nachdem er sich hinaufplumpsen lassen hatte, fuhr er schwerfällig fort: „Sie mal, Bill, das ist so: Für die bist du Ware. Und für beschädigte Ware kriegen die eben nicht viel. Ich werde immer weiter in den Drogenstrudel hinunter gezogen werden und irgendwo ganz tief dort unten ist kein Leben mehr. Für jeden, dem ich etwas schulde, bin ich ein Risiko. Er weiß doch nicht, ob er sein Geld je wieder bekommt. Nein, das kannst du echt vergessen. Wir müssen das allein schaffen.“
„Und wie?“, wollte Bill misstrauisch wissen. Das alles gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Du klingst so, als hättest du schon eine genaue Vorstellung von dem, was getan werden muss.“ Rays Mund kräuselte sich zu einem geheimnisvollen Lächeln. „Ich dachte da an deinen Vater.“
Bill schluckte. Er hätte es sich denken können. „Popel, geh bitte“, verlangte er und wartete bis sein Bruder den Raum verlassen hatte, bevor er fortfuhr: „Mein Vater kann uns nicht mehr helfen, Ray.“
Das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes verschwand. „Du weißt genau, was ich meine. Es gibt viele Leute, die deinem lieben Daddy etwas schulden. Ich bin doch nicht der einzige.“
Bill schüttelte den Kopf. „Sie werden es mir nicht geben“, entgegnete er. „Ich bin zu jung. Die können mit mir machen, was sie wollen und das wissen sie auch.“ Doch je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass es klappen würde. Ray hatte es auch getan, denn ihr Vater hatte gute Kontakte in der Rauschgiftszene gehabt. Deswegen würde es auch keiner von dessen anderen ehemaligen Kunden riskieren, seinen Zorn auf sich zu ziehen.
Ray studierte aufmerksam das Gesicht des Jungen. Dessen blaue Augen waren nachdenklich auf den Boden gerichtet. Seine Stirn war kraus gezogen und die länger geschnittenen, dunkelbraunen Haare verdeckten einen Teil des nach unten geneigten Kopfes. In diesem Moment ähnelte er unglaublich seinem jüngeren Bruder. Als unauffälliger aber ständiger Beobachter hatte Ray das starke Band des Vertrauens, der Liebe und Fürsorglichkeit zwischen den Beiden schnell bemerkt. Auch wenn dieses in letzter Zeit leicht angeknackst war, war er sich sicher, Bill würde es tun. „Wenn du sagst, wer du bist, werden sie dir alles geben, was wir brauchen“, meinte er hartnäckig.
„Ich kann diese Leute nicht anhand ihrer Sucht erpressen“, wiedersprach Bill schwach. „Was soll ich denen denn sagen? Wenn ihr mir nicht euer Geld gibt, wird mein Vater dafür sorgen, dass ihr von keinem Drogendealer in der ganzen Stadt mehr was bekommt?“
Ray stand auf und schleppte sich mühsam zur Tür. „Hört sich doch nicht schlecht an.“
„Das werde ich nicht tun“, rief Bill ihm nach. „Ich bin kein Verbrecher!“
„Junge“, spottete Ray über seine Schulter hinweg, „du bist als ein solcher geboren. Das seid ihr beide. Du und dein Bruder. Ihr habt keine Chance dem zu entkommen, also verliere keine Zeit. Denke daran: Jeder Tag ohne Geld ist ein Tag mit leerem Kühlschrank.“

Nach einem langen Spaziergang durch die Nachbarschaft, die ihm mit der Zeit doch sehr ans Herz gewachsen war, machte sich Popel langsam wieder auf den Rückweg. Als er an den teils baufälligen Häusern vorüberging, bemerkte er erstaunt, dass sie ihm so vertraut erschienen, als hätte er sein ganzes Leben lang hier gelebt. Er wunderte sich darüber, denn sein erster Eindruck von der Gegend vor einem Jahr war ein düsterer gewesen. Aber jetzt spendeten die leeren Straßen und die hochgewachsenen, immergrünen Tannen, die sie säumten, auf eine unerklärliche Art und Weise Trost. Manchmal kam es ihn so vor, als verkörperten die rätselhaften Bäume ihn selbst, denn genauso fühlte er sich oft: unverstanden mit traurig nach unten geneigten Ästen. Als Popel sich sich selbst als Nadelbaum vorstellte, musste er leise lachen. Er würde zweifellos der kleinste unter den anmutigen Gewächsen sein. Immer noch mit der Vorstellung spielend, kam er an die Ecke der Fichtenstraße. Von hier aus konnte er bereits Rays Haus sehen. Es wirkte genauso trostlos wie immer, doch besonders heute hatte es Popel nicht sehr eilig, dort hinzugelangen. Das lag daran, dass Bill dort sicher schon auf ihn warten würde. Schließlich brauchte sein er gewohnheitsgemäß nie lange um seine Fassung zurückzugewinnen. Nach seiner Unterhaltung mir Ray, die Popel höchst merkwürdig erschienen war, war sein großer Bruder ohne ein Wort zu sagen an ihm vorbeigestürmt und hatte sich seitdem in ihrem Zimmer verkrochen. Doch dieser Zustand würde nicht mehr lange anhalten, wie Popel gut wusste, und dann würde er sein Zeugnis sehen wollen. Das würde wieder eine große Enttäuschung geben und davor fürchtete sich der Kleinere. Wenn er es Bill nur erklären könnte! Aber dieser wollte einfach nichts von dem wissen, was er sagte. Nämlich das sein lieber kleiner Bruder nicht so begabt in der Schule war, wie er selber. Es ist ja nicht so, als ob ich es nicht versuchte, dachte Popel wütend und wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen. Im Gegenteil: Er machte dreimal soviel Hausaufgaben wie sein großer Bruder, um das wieder aufzuholen, was ihm in der Schule entgangen war. Auch seine Lehrer sagten immer wieder, das er nicht dumm war. Einmal meinte einer von ihnen sogar, dass er ihn für ein sehr kreativen Jungen hielte, erinnerte sich Popel mit Stolz. Doch das angenehm warme Gefühl verschwand sofort, als er an seine Zeugnisnoten dachte. Eine fünf in Mathe und eine vier in HSU und Musik! Und das in der dritten Klasse! Er wusste, das sei das Einzige, was Bill sehe und es würde ihn traurig stimmen. Was half ihm da noch Kreativität? Popel seufzte schwer, als er die Eingangstür seines Zuhauses erreichte. Er würde sich dem wohl stellen müssen. Alles war so, wie er es erwartet hatte: Die Türen zu ihrem Zimmer waren weit geöffnet. Eine Einladung oder vielmehr eine Aufforderung, hereinzukommen.
Bill saß an dem wackeligen Schreibtisch von dem einzigen Fenster in ihrem Zimmer und las. Seine Stirn war gerunzelt, wie so oft in letzter Zeit.
Er sollte mal lustigere Bücher lesen, dachte Popel, der unsicher in der Tür stehen geblieben war, noch, als ihm plötzlich klar wurde, was auf dem Schreibtisch unter der Nase seines Bruders lag. Mutlos ließ er sich auf sein Bett sinken. Er fühlte sich wie Daniel in der Löwengrube, aber hinauslaufen half jetzt auch nichts mehr.
Als Bill zuende gelesen hatte, setzte er sich schweigend neben seinen kleinen Bruder, der mit schuldbewussten Augen auf den Boden starrte. Das Zeugnis hielt er immer noch in den Händen. Nach einer Weile meinte er kopfschüttelnd: „Das war wohl nichts, Kleiner, was? Da müssen wir noch dran arbeiten.“
Popel sagte nichts, weil ihm keine passende Erwiderung einfiel.
Also fuhr Bill mit seiner Ermahnung fort: „In einem halben Jahr, das heißt mit dem nächsten Zeugnis, wird entschieden, auf welche Schule du kommen wirst, Popel. Ich hoffe, du weißt, wie wichtig das ist. Es könnte über dein ganzes Leben entscheiden. Verstehst du mich?“
Popel nickte kaum merklich. Er hatte das schon tausend Mal zu hören bekommen und doch noch nicht richtig kapiert: Geh aufs Gymnasium, habe einen Haufen Einsen, sein fleißig und ehrgeizig, mach es so wie ich, das war das Motto seines Bruders. War das denn wirklich alles, was ihn in seinem Leben erwartete? Immer alles so perfekt meistern wie Bill? Der Kleinere wusste ganz genau, dass er seinem Bruder nicht annährend das Wasser reichen konnte und diese Erkenntnis machte ihn traurig.
Bill sah die Tränen in Popels Augen. Er hat in letzter Zeit fiel zu oft geweint, bedauerte er. „Da musst du jetzt gar nicht heulen“, behauptete der Ältere energisch. „Noch ist nicht verloren. Gebe nicht auf, okay? Denn das sind die wirklichen Verlierer, die nicht mehr an sich glauben.“
„Ich gebe nicht auf“, versprach Popel weinerlich. Trotzdem glaubte er aber kein bisschen daran, die Erwartungen seines Bruders erfüllen zu können.
„Ich kann dir helfen“, bot Bill zuversichtlich an. „Zusammen können wir alles schaffen, was wir wollen, das weißt du doch! Aber du musst mitarbeiten. Ich kann schließlich nicht für dich in der Schule sitzen. Von jetzt an werden wir jeden Tag üben. Du wirst aufs Gymnasium kommen, das verspreche ich dir!“
Doch das tröstete Popel nicht im Geringsten. Er wusste zwar das Bill recht hatte, aber das was er wollte war es trotzdem nicht. Für ihn war Schule eben nicht das wie für seinen großen Bruder, der in Zeugnissen, guten Noten und Wissen die Leiter nach oben sah. Der Kleinere konnte nicht sagen, dass er da genauso dachte. Er hoffte, dass es für ihn noch einen anderen Weg zum Glück gab, den er jetzt nur noch nicht sehen konnte.
„Du bist nicht mit Herz und Seele dabei“, erkannte Bill verärgert. „Und das ist dein Problem! Du willst es nicht und ich frage mich, was willst du dann? Es ist doch die einzige Chance hier wegzukommen!“ Bill warf einen prüfenden Blick auf seine billige Armbanduhr. „Wir haben noch ein wenig Zeit bis zum Abendbrot“, stellte er zufrieden fest. „Komm, wir machen einen Ausflug!“
Bill schleppte seinen kleinen Bruder in eine Gegend, die für ihn gänzlich neu war. Es gab bis in die Wolken aufragende Häuser, breite Straßen, auf denen glänzende, teure Wagen im Stau standen, und bunt bepackte Schaufenster.
Von dem Moment an, als sie aus der Straßenbahn traten, konnte Popel seine Augen nicht mehr von dem Glanz und der Pracht ihrer Umgebung abwenden. Ja, dies war zweifellos Gegend der Reichen. Aber ihn beschlich gleichzeitig das unangenehme Gefühl, fehl am Platz zu sein.
Bill erstrebte eine riesige, überdachte Einkaufsstraße, wie Popel sie noch nie gesehen hatte. Menschen, von denen die meisten gut gekleidet und schmuckbehangen waren, strömten hier ein und aus.
Es waren so viele, dass Popel die Hand seines großen Bruders ergriff, aus Angst, in den gewaltigen Massen unterzugehen. Sie kamen an einem Juweliergeschäft vorbei und der kleine Junge bestaunte überwältigt die leuchtende und blinkende Vielfalt der Edelsteine, die glänzenden Silberketten und das kostbare Gold.
„Es wird noch besser“, meinte Bill lächelnd, obwohl er eigentlich vorgehabt hatte, ernst zu bleiben. Doch als er das kindliche Staunen des Jüngeren beobachtete, konnte er einfach nicht anders, als sich über seinen Bruder zu wundern. Was ist er doch für ein unglaublicher Junge, dachte Bill zärtlich.
Als sie ihr Ziel erreichten, war Popel sprachlos. Sie standen vor einer Wand. Der sonderbarsten Wand, die er je gesehen hatte, denn sie bestand gänzlich aus Spielsachen. Fein säuberlich aufgetürmte Kartons reichten bis zur Zimmerdecke. Es gab wirklich alles: Autos in allen möglichen Farben und Formen, Stofftiere, die bis zu zwei Meter groß waren, Computer- und Gameboyspiele und einen Berg von Puzzles und Büchern.
„Schau dich nur um!“, ermutigte Bill ihn.
Das tat Popel auch. Mit offenem Munde rannte er von einem Ende der Spielzeugwand bis zum anderen. Er wusste gar nicht, wo er zuerst hinsehen sollte, da entdeckte er auch schon das nächste Regal.
Bill beobachtete ihn liebevoll und stellte lächelnd fest, das dies der Himmel für einen zehnjährigen Jungen sein musste. Gerade für jemanden der, wie Popel, noch nie in einem Spielzeugladen gewesen war.
Allmählich wurde es leerer im Geschäft. Auch Bill beschloss, dass es Zeit war zu gehen, denn der Weg in ihr Stadtviertel war weit. Ja, es schienen Welten zwischen den Jungen und ihrem Zuhause zu liegen. Der Ältere konnte sich kaum vorstellen vor knapp zwei Stunden nicht in einer so armen und verlassenen Gegend gewesen zu sein. Alles war hier so anders. So, als hätte jemand Farbe in eine trostlose Welt in schwarzweiß gebracht und dabei ein paar Flecken auf der Landkarte vergessen. Und gerade dort wohnten sie!
Bill unterbrach seine Gedanken und rief: „So Popel, wir müssen!“
Die Enttäuschung im Gesicht seines Bruders war deutlich zu erkennen. „Schade“, seufzte Popel traurig. „Es war gerade so lustig! Da drüben steht ein Auto in das man sich hineinsetzen kann!“ Aufgeregt zeigte er mit seinem Arm in die Richtung.
Bill folgte seinem Blick.
„Ist das nicht toll , Bill? Es ist so, als würde man wirklich fahren. Echt cool!“ Die beiden gingen zum Ende der Einkaufsstraße, während Popel immer noch von den Spielwaren schwärmte.
Bill wunderte sich darüber, dass er aber trotz all dem nicht verlangte, etwas zu bekommen. Jeder reicherer Junge hätte sofort gefragt, dachte Bill, aber Popel nicht. Habgier war seinem Bruder völlig fremd. Er kannte nur die Freude an kleinen Sachen, die anderen gar nicht mehr auffielen. „Das könntest du dir alles kaufen, Kleiner“, meinte Bill, als sie in die Straßenbahn, die zurück in ihre Gegend fuhr, stiegen.
„Wirklich?“, fragte Popel begeistert. Dann verdunkelte sich sein Gesichtsausdruck. „Aber ist das denn nicht teuer?“
Der Ältere wurde ernst und sein Bruder wusste sofort, was kommen würde. Und tatsächlich: „Geld spielt keine Rolle, wenn du genügend davon besitzt. Nu brauchst nur einen guten Beruf, damit du dir kaufen kannst, was auch immer du willst.“
Popels zuvor noch strahlendes Gesicht wurde betrübt. Jetzt fing Bill schon wieder damit an! Also hatte er ihm all diese wunderschönen Dinge nur gezeigt, um ihn dazu zu bringen, besser in der Schule zu sein. Wie hatte er auch je etwas anderes denken können! „Ich versuche es, Bill“, versprach der Jüngere halbherzig. Das gleichmäßige Rattern der Straßenbahn machte ihn plötzlich schläfrig und er beobachtete schweigend wie in der heranbrechenden Dunkelheit eine Straßenlaterne nach der anderen entflammte. Dazu kamen noch die hell erleuchteten Fenster in den Hochhäusern, die bis zum, von der niedrigstehenden Abendsonne rot verschmierten, Horizont reichten. Es ist ein hübsches Bild, fand Popel nachdenklich, ein Gemälde gemalt von dem, was normal ist. Von einer Sonne, die auf- und untergeht, einer in ihre hellen Strahlen hineinragende Stadt und natürlich den vielen verschiedenen Menschen, die dort leben. „Aber es gibt Dinge, die kann man nicht kaufen“, stellte Popel laut fest.
„Und für alles andere gibt es Master Card“, imitierte Bill den Werbespruch. Er lachte vergnügt.
Popel aber nicht. „Ich meine es ernst!“, wiedersprach er verletzt.
Sein älterer Bruder entschuldigte sich rasch. „Du hast recht, Kleiner“, gab er schulterzuckend zu. „Aber was nützt dir diese Erkenntnis, wenn so ein Typ wie Ray mit einem leeren Kühlschrank ankommt?“
Darauf fiel Popel keine rechte Antwort ein. „Was war das heute Mittag eigentlich?“, fragte er stattdessen. „Wir müssen doch nicht wirklich alle verhungern, oder?“
Bill zuckte kaum merklich zusammen, weil ihm dieses Thema deutlich zu unangenehm war. „Nein“, beruhigte er den Kleinen schnell. „Darüber brauchst du dir ganz sicher keine Sorgen zu machen. Ich habe schon eine Lösung gefunden.“
Popel zog verärgert die Stirn kraus und warf ein: „Du brauchst mich nicht für dumm zu verkaufen, Bill! Ich weiß doch, dass du dir auch Sorgen machst. Ich weiß sowieso alles: Du sollst etwas tun, was du nicht willst, richtig?“ Bill sah seinen Bruder überrascht an.
„Ich habe an der Tür gelauscht“, gab dieser, plötzlich verlegen, zu.
Der Ausdruck auf dem Gesicht des Älteren wechselte von Erschrockenheit zu Ärger. „So etwas darfst du nicht tun“, stellte er streng klar.
„Ich hätte es auch nicht tun müssen, wenn du mich von Anfang an nicht ausgeschlossen hättest!“, konterte Popel gekränkt. „Ich interessiere mich nun mal für das, was mit uns passiert. Und es geht mich doch auch etwas an, oder?“
Bill antwortete nicht und wich den anklagenden Blicken seines Bruders sorgfältig aus.
Dessen Augen funkelten immer noch vor Empörung und Verärgerung. Es passte ihm gar nicht, dass sein großer Bruder ihn einfach ignorierte, genauso wenig wie es diesem gefiel, sich geschlagen zu geben.
Also saßen sie eine ganze Weile nur da und schauten stur zu Boden. Schließlich siegte Popels Neugier über sein verletztes Ehrgefühl und er fragte ungeduldig: „Also, was war nun los? Wie können wir das Geld bekommen?“ „Ray möchte, dass ich Leute erpresse“, berichtete Bill missmutig.
Mit großen Augen fragte Popel: „Aber das darf man doch nicht, richtig?“
Bill neigte bestätigend den Kopf. „Deswegen werde ich es ja auch nicht tun“
Die Straßenbahn wurde langsamer und stoppte schließlich mit einem lauten Quietschen an der Haltestelle. Die beiden drängten sich durch den schmalen Gang zwischen den Plastiksitzen. Draußen war es jetzt fast ganz dunkel und die Temperatur war stark gefallen, sodass Bill kurz fröstelte. Rasch schlug er den Heimweg ein, denn er hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen, um zu tun, was getan werden musste.
„Und was machst du denn?“, keuchte Popel, mühsam mit seinem Bruder schritthaltend.
„Ich erpresse stattdessen Ray“, verkündete Bill selbstzufrieden.
Der Kleinere öffnete den Mund.
„Das darf man auch nicht“, schnitt ihm Bill das Wort ab. „Aber in diesem Fall nenne ich es mit den eigenen Waffen schlagen. Außerdem bleibt uns kaum etwas anderes übrig.“
Popel gab es auf, neben seinem Bruder herzuhechten und ließ sich nun hinter diesem zurückfallen, um grübelnd vor sich hinzutrotten. Es würde also alles in Ordnung kommen. Bill hatte einen Plan. Das veranlasste den kleinen Jungen, sich wieder sicher zu fühlen, denn er vertraute seinem älteren Bruder. Zumindest diese Sorge war aus der Welt geschafft.
In etwa dasselbe dachte Bill, als er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel für die Haustür kramte und sie schließlich aufschloss. Die Sommersonne schien ihm dabei warm und angenehm auf den Rücken. Er war froh, dass es in diesem Jahr nicht so heiß war wie im vorigen, denn die Hitze hinderte ihn daran, ruhig und logisch zu denken. Und das war jetzt besonders wichtig. Schließlich gab es noch einen ganzen Haufen anderer Probleme zu lösen.
Nachdem er Popel Abendbrot gemacht und ihm anschließend ins Bett gesteckt hatte, stattete er Ray einen Besuch im Wohnzimmer ab.
„Was gibt’s Junge?“, fragte dieser mürrisch ohne dabei auch nur den Blick von dem alten schwarzweiß Fernseher vor ihm abzuwenden.
Diese Gleichgültigkeit wird ihm bald vergehen, dachte Bill und verkündete: „Dein Plan ist kläglich gescheitert, Ray.“
Der Erwachsene schnaubte verächtlich. „Meine Pläne haben es nicht an sich zu scheitern“, entgegnete er ungerührt. „Und erst recht nicht wegen kleinen, nervenden Jungen.“
„Ich werde jemanden erpressen, so wie du es sagtest“, erklärte der Junge, der sich weder für klein, noch für nervend hielt. „Und mein Opfer bist kein anderer als du.“
Ray lachte bloß spöttisch. „Ich?“
Bill nickte. „Ganz genau“, bestätigte er. „Du hattest Recht. Mein Vater hat die Macht über euch Drogis, die mir erlaubt, alles zu verlangen, was ich möchte. Aber auch du willst sicher in Zukunft noch mit deinem Zeug beliefert werden.“
Der Mann hörte auf zu lachen und strich sich nachdenklich eine Strähne seines fettigen Haares aus dem Gesicht. Nach einer langen Pause murmelte er leise: „Weißt du, Junge, du bist klug. Und verdammt frech noch dazu. Das wird dich irgendwann das Leben kosten, soviel verspreche ich dir.“
Doch Bill blieb eiskalt. „Morddrohungen helfen dir jetzt auch nicht weiter“, stellte er ruhig klar. „Also bleiben wir beim Thema. Zufällig weiß ich, wie schlampig du mit Geld umgehst. Es liegt nicht an Popel und mir. Du steigerst die Ausgaben ins Bodenlose, nicht wir. Aber das wird sich jetzt ändern. Keine Mädchen mehr, keine teuren Drinks und Drogen nicht in diesen ungeheuren Mengen!“
Ray setzte an zu widersprechen. Bill sah, wie sich sein Gesicht vor Wut verzerrte, als er einsah, dass er verloren hatte. „Du verdammter Mistkerl!“, brüllte er zornig. „Sieh bloß zu, dass du mir nicht mehr unter die Augen kommst. Für heute hatte ich entschieden zu viel Bill Capola!“

Weihnachten 1976
Bills Problemlöseaktion hatte sich trotz der vielen aussichtslosen Tage im Leben der jungen Brüder gelohnt, denn sie bescherte ihnen eine glückliche und sorgenfreie Vorweihnachtszeit. Ray ließ sie in Ruhe, auch wenn er im Haus umherschlich wie ein wütendes aber im Käfig gefangenes Raubtier, und auch zu Essen war fortan immer genug da. Bill ging mit der Zeit nicht mehr davon aus, dass sein Bruder Chancen auf das Gymnasium hatte, doch durch ihre gemeinsame Arbeit reichten Popels Leistungen für die Realschule allemal aus. Die wöchentlichen Proben der Theatergruppe hatten wieder angefangen und der Ältere nutze jede Gelegenheit, um dabei zuzuschauen. Er bestaunte die ungeheure Wandlungsfähigkeit seines Bruders und das mühelose Zusammenspiel zwischen den jungen Schauspielern, lernte einige von Popels Freunden kennen und sah, wie viel Freude dieser bei seinem Hobby hatte. Ja, wenn er darüber nachdachte, erkannte er, dass es diese Zeit gewesen war, die ihm seinen kleinen Bruder wieder nahegebracht hatte.
Am Vormittag an Heilig Abend standen die beiden Jungen nebeneinander am Küchentisch und backten Plätzchen. Bill summte ein Weihnachtslied, denn der Kassettenrekorder hatte Tage zuvor endgültig den Geist aufgegeben.
In der zweiten Strophe fiel Popel in das Summen ein und begann gleichzeitig einen neuen Teigkloß auszurollen. Währenddessen schob Bill ein bereits fertiges Blech in den Ofen.
„Machen wir auf noch eine Glasur darüber?“, fragte Popel und stopfte sich ein wenig übriggebliebenen Teig in den Mund.
„Wie wäre es mit Zuckerguss?“, schlug Bill gut gelaunt vor und der Kleinere nickte.
Bill holte ein Päckchen aus dem Schrank und gab es seinem Bruder zum anrühren.
„Bill?“, fragte dieser plötzlich zögerlich. „Hast du eigentlich eine Freundin?“
Bill lachte, überrascht von dieser Frage. „Ja, habe ich“, antwortete er. „Weshalb fragst du?“
Popel wurde rot und rührte weiter fleißig im Zuckerguss. „Ach, nur so“, murmelte er verlegen. „Wie heißt sie denn? Du hast sie mir noch nie gezeigt!“
Bill überlegte. Popel hatte Recht. Er hatte Vanny wirklich noch nie gesehen. „Ihr Name ist Vanessa“, erklärte er und wurde sich plötzlich bewusst, dass er dieses Problem als einziges noch nicht gelöst hatte. „Ich kann sie ja heute Nachmittag zum Kaffee einladen“, schlug er seinem Bruder vor. „Dann lernst du sie kennen.“
Popel nickte. „Das wäre gut“, stimmte er zu und lächelte. „Dann kann sie auch von unseren Kekse probieren. Davon haben wir eh schon viel zu viele gemacht!“
Bill nahm das erste fertig gebackene Blech aus dem Ofen und ein wunderbar weihnachtlicher Duft durchströmte den Raum. „Da hast du Recht“, gab er zu. „Aber sie schmecken ganz bestimmt gut.“
Popel begann die kleinen Weihnachtsmann-, Stern-, Tannen- und Geschenkplätzchen mit der Glasur zu bepinseln und Bill streute noch ein paar bunte Streusel darauf.
„Und du?“, fragte er schmunzelnd. „Möchtest du Kelly auch noch einladen?“
Popel wurde rot vor Verlegenheit. „Ich lade kein Mädchen ein!“, entgegnete er mit Nachdruck.
Der Ältere lachte laut, als er das hörte und dachte daran, wie nervös sein Bruder immer in der Gegenwart des kleinen Mädchens aus der Theatergruppe wurde. „Aber sie ist doch deine beste Freundin!“, meinte er vergnügt. „Und in eurem neuen Theaterstück musst du sie sogar auf die Wange küssen!“
„Wir tun aber nur so!“, berichtigte Popel ausweichend.
Bill beendete die Diskussion indem er seinem Bruder einen Keks hinhielt. „Beiß mal ab!“, befahl er grinsend. Das tat Popel auch. Er kaute prüfend und verkündete mit vollem Mund: „Ist echt lecker.“
Bill steckte sich den Rest in den Mund und stimmte dem mampfend zu. Danach holte er auch die restlichen Bleche aus dem Ofen und meinte: „Na dann mal zu, Kleiner Bruder. Die brauchen alle noch eine Glasur!“
„Du kannst mir gerne helfen“, bot Popel ihm an.
Aber Bill schüttelte den Kopf und ging in den Flur. „Ich rufe jetzt Vanny an“, rief er über die Schulter. Na hoffentlich kann sie kommen, dachte er zweifelnd.
Doch Vanessa schien in bester Verfassung zu sein, als sie seine Stimme am Telefon erkannte. „Bill!“, sagte sie erstaunt und erfreut zugleich. „Wie schön, dass du anrufst!“
Sie klang zart und verletzlich wie immer, stellte Bill fest, aber machte trotzdem einen fröhlichen Eindruck. „Hi, Vanny, wie geht’s?“, begrüßte er sie mit einem Kloß im Hals und dachte mit Schmerz daran, dass er sie immer noch nicht von ihrem Problem befreien hatte können.
„Ich komme klar“, berichtete sie ehrlich. „Aber hast du mich angerufen um mit mir darüber zu reden?“
Sie ist so tapfer, fand Bill und meinte: „Nein. Heute nicht.“
Vanessa klang erleichtert, als sie sagte: „Gut. Also gibt’s dann?“
Bill beobachtete Popel durch die offene Tür. Sein Bruder war darin vertieft, Plätzchen auf Weihnachtspappteller zu verteilen und diese anschließend auf den Tisch zu stellen. „Ich möchte dich einladen heute zu mir zu kommen und mit meinem Bruder und mir eine Riesenmenge Weihnachtskekse zu verspeisen“, eröffnete er ihr feierlich.
Nach einem kurzen Schweigen antwortete sie etwas überrascht: „Gerne doch. Um wie viel Uhr?“
Bill überlegte. „So etwa um vier?“, schlug er vor. Er stellte glücklich fest, dass sie sich freute, als sie dem zustimmte und sich mit einem leisen „Bis nachher!“ verabschiedete.
Es wurde ein schöner Nachmittag für alle. Popel freute sich, Besuch zu haben, auch wenn dieser ein Mädchen war. Er hatte zwar nichts dagegen, allein mit seinem Bruder zu sein, aber Vanessas Gesellschaft lockerte die Stimmung noch deutlich auf und der Kleine musste zugeben, dass er sich fast wie in einer richtigen Familie mit einem Vater und einer Mutter fühlte. Es war ein Gefühl der tiefsten Geborgenheit und erst jetzt wurde ihm klar, wie sehr ihm das oft fehlte.
Auch Bill, der dem Nachmittag zuerst mit Beunruhigung entgegengesehen hatte, entspannte sich mit der Zeit, denn er merkte, dass es seiner Freundin wirklich gut ging. Als er ihr Punkt vier die Tür geöffnet hatte, hatte er nicht damit gerechnet sie in bester Gesundheit und in einer natürlichen Schönheit leuchtend vorzufinden. Ihre langen schwarzen Haare fielen glänzend und weich über ihre Schultern und ihre braunen Augen hatten ein freudiges Strahlen in sich. Auch wenn ihre Haut wie immer weiß wie der dicke Schnee draußen vor der Tür war, lag auf ihren Wangen ein zarter Rotton, der von der eisigen Kälte, die schon vor einigen Wochen eingesetzt hatte, stammte. Bill konnte den ganzen Nachmittag nicht anders, als sie anzustarren und vor sich hin zu grinsen. Sie aßen alle Kekse auf und schließlich hatte jeder von ihnen leichte Bauchschmerzen.
„Diese Plätzchen waren die besten, die ich je gegessen habe“, schwärmte Vanessa, als sie sich auch den letzten Krümeln auf ihrem Teller gewidmet hatte. Sie wandte sie an Bill, der ihr gegenüber saß: „Wirklich eine gute Idee, Zimt in den Teich zu tun. Das hat meine Großmutter früher auch immer gemacht.“
Bills Blicke verfingen sich in den ihren und er spürte plötzlich die angenehme Wärme der vier großen Kerzen, die in dem selbstgebastelten Adventskranz bannten und den Raum in ein gemütliches Licht tauchten. Aus den Augenwinkeln nahm er ganz schwach wahr, wie dicke Schneeflocken vorm Fenster dichtgedrängt zu Boden fielen und den Altschnee mit einer frischen, noch weißeren Decke überzogen. „Zimt macht glücklich“, meinte er leise und Vanessa nickte.
„Das bin ich“, flüsterte sie ebenfalls kaum hörbar.
Selbst die Luft zwischen ihnen schien sich zu erwärmen und Bill wünschte sich gerade, dieser Moment solle ewig andauern, als sein Bruder auf einmal mit der Faust auf den Tisch schlug und empört verkündete: „Aber ich habe doch das meiste gemacht! Er hat wirklich nur de blöden Zimt da reingestreut! Und was ist mit dem Zuckerguss? Der ist nämlich von mir!“
Vanessa lachte, während Bill es, nachdem er seinem Bruder ärgerlich zugefunkelt hatte, nur zu einem schief sitzendem Grinsen brachte. „Du hast echt spitze gebacken!“, versicherte Vanessa Popel immer noch kichernd. „Dafür verleihe ich dir den goldenen Kochlöffel!“
Das schien den kleinen Jungen über seinen verletzten Stolz hinwegzuhelfen, denn er schenkte ihr ein dankbares Lächeln uns ließ sein Schmollgesicht für den Rest des Tages hinter einem glücklichen Strahlen verschwinden. Gegen halb sieben begleitete Bill Vanessa noch bis vor die Tür. „Willst du ganz sicher nicht noch ein wenig bleiben?“, fragte er hoffnungsvoll. „Nicht, dass du dich im Schneesturm verirrst.“
Ihre Miene wurde düster. „Mama und Papa erwarten mich zum Abendessen pünktlich zu Hause“, sagte sie bedauernd. „Dann gibt es die Geschenke, für die sie so hart gearbeitet haben das ganze Jahr über und dieses ganze Weihnachtsfest wird Kulisse für das harmonische Familienleben sein, das bei uns, wie jeder weiß, nicht existiert.“
Einen kurzen Moment lang schwiegen beide. Schließlich holte Bill ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche und meinte geheimnisvoll: „Wo wir schon mal von Geschenken sprechen...“
Sie nahm es überrascht entgegen und zog an dem blauen Geschenkband, das das mit silbernen Sternen bedruckte Papier zusammenhielt.
Doch Bill unterbrach sie schnell: „Erst heute Abend. Es soll sich später aufmuntern, wenn das Fest, von dem du gerade gesprochen hast, allzu deprimierend wird.“
Vanessa lächelte dankbar und küsste ihn zärtlich. „Ich wüsste nicht, was ich ohne dich wäre, Bill“, flüsterte sie sanft.
Er umschloss sie mit seinen Armen und antwortete daraufhin leise: „Wahrscheinlich genau dasselbe wunderschöne, liebenswerte Wesen, das du jetzt bist.“
Eine kleine Schneeflocke verfing sich in ihren Wimpern und sie blinzelte. Dabei löste sich eine winzige, glitzernde Träne aus ihrem rechten Augenwinkel und rollte langsam über ihre Wange. Es war ein Zeichen des Glückes, das diesen Augenblick festhielt und ihn für beide unvergesslich machte. Vanessa lächelte ihm schwach zu und hauchte: „Schöne Weihnachten, Bill Capola.“ Danach drehte sie sich um und ging in schnellen Schritten bis zur Gartenpforte, bog auf dem Bürgersteig links ab und verschwand im Schneetreiben aus Bills Blickfeld.

Wenn auch der Vorrat an Geschenken weniger reichlich war, so konnten sich die Jungen doch nicht über ihr diesjähriges Weihnachtsfest beschweren. Schließlich hatten sie sich selbst und die entspannte Atmosphäre des Nachmittags, die weiterhin anhielt. Sie spielten einige Gesellschaftsspiele, die Bill zur Feier des Tages aus einem Billigladen nicht weit von ihrem Zuhause entfernt gekauft hatte, und unterhielten sich über dieses und jenes.
Ray ließ sich den ganzen Abend lang nicht blicken und die Brüder waren dankbar dafür. Geschenke und Weihnachtsgrüße waren eben nicht Rays Ding.
Von Zeit zu Zeit dachte Bill an Vanessa und stellte sich vor, wie sie in schwarzem Faltenrock und festlicher weißer Bluse zusammen mit ihren Eltern am Wohnzimmertisch saß und einen Weihnachtsbraten verspeiste. Traditionell, das waren Herr und Frau Valentine, Vanessas Eltern, doch der Bezug zum wirklichen Stand der Dinge und die Beziehung zu ihrem einzigen Kind fehlte ihnen gänzlich. Oft hatte Bill von dem Wunsch seiner Freundin, ein kleines Geschwisterchen zu haben, gehört. Schließlich wäre sie in dessen Gesellschaft weniger alleine. Aber da ihre völlig überarbeiteten Eltern weder Zeit noch Nerv für ein weiteres Kind hatten, sollte dieser sehnsüchtige Wunsch unerhört bleiben. Bill konnte nicht mehr für Vanessa tun, als für sie da zu sein und auf ihre innere Stärke und ihr Durchhaltevermögen zu hoffen. Auch jetzt verdrängte er sie aus seinen Gedanken und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Bruder, der strahlend von der noch weit entfernten Theateraufführung schwärmte. Bill hörte dem geduldig zu und wies Popel vorsichtig darauf hin, dass der Auftritt erst in einem knappen halben Jahr bevorstand.
„Aber das weiß ich doch“, machte der Kleinere die Einwände seines Bruders zunichte. „Planen muss man aber trotzdem schon alles. Bringst du Vanny zur Aufführung mit?“
Bill grinste und meinte zufrieden: „Du scheinst sie ja richtig zu mögen. Das freut mich.“
„Sie ist sehr nett“, gab Popel zu. „Meinetwegen könntet ihr beiden gerne heiraten!“
Der Ältere wurde rot. „Na davon wollen wir mal heute noch nicht reden“, beschwichtigte er verlegen und beeilte sich das Thema zu wechseln.
Als später beide Jungen todmüde in ihre Betten fielen waren sie rundum glücklich. Eine Weile beobachteten sie noch die friedlich tanzenden Schneeflocken durch die offenen Vorhänge ihres Fensters, doch dieses idyllische Bild hatte eine so einschläfernde Wirkung auf sie, dass sie schon bald beide ihre Augen schlossen und kurz darauf in einen tiefen und erholsamen Schlaf versanken.

Den ersten und zweiten Weihnachtstag verbrachten die Brüder alleine Zuhause. Sie hatten auch keine andere Wahl, denn riesige Schneemassen versperrten ihnen den Weg auf die Straße. Selbst die städtischen Streu- und Räumfahrzeuge blieben nach den ersten Metern stecken. Das wiederum hatte zur Folge, dass sich keiner im näheren Umfeld weiter als in den Vorgarten wagte und so die märchenhafte Kulisse aus weißen, glitzernden Hügeln bestehen blieb. Nachdem es zunächst keinen weiteren Schnee gab, entleerten sich die schweren, dunklen Wolken gegen Abend des zweiten Weihnachtstages schließlich doch, sodass Bill und Popel auch die ganze nächste Woche im Haus eingesperrt blieben und nur zwischen den einzelnen Schneeschauern vor die Tür gingen, um weiße Eskimohöhlen zu bauen, dessen Eingänge jedoch schon Stunden später vom Neuschnee verschlossen wurden, riesige Schneemänner mit Karottennasen zu erschaffen und sich Schneeballschlachten zu liefern, bis sie klitschnass waren. Als Bill sich Tage später wegen der kleiner werdenden Essensvorräte Sorgen zu machen begann, schaffte es ein Räumfahrzeug schließlich doch, einen schmalen Pfad zwischen den Schneebergen hindurch zu graben. Endlich befreit stürmten die Jungen zum Schlittenfahren los, doch erst nach langem Suchen fanden sie im Park einen bereits ausreichend plattgefahrenen Berg. Popel traf noch die Zwillinge Matt und Mark aus seiner Theatergruppe und die vier Jungen veranstalteten ein Brüder gegen Brüder Rodelturnier. Ihre restlichen Ferien verbrachten sie abwechselnd mit anderen Freunden Popels oder in Vanessas lustiger Gesellschaft bei sich Zuhause, am Rodelberg oder beim Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Parkteich. Abschließend feierten sie in ein, wie sie sehr hofften, glückliches Jahr 1977 hinein.

Herbst, 1977
Die große Zeit des Glückes im Leben der Jungen hielt lange an.
Popel kam, wie schon erwartet auf die Realschule. Es gefiel ihm dort von Anfang an sehr gut, obwohl der Wechsel in die fünfte Klasse nicht ohne Verluste für ihn verlaufen war. Viele seiner besten Freunde gingen nun auf die Hauptschule oder das Gymnasium und Herr Zink hatte die Schule wegen einem vielversprechenden Angebot aus Düsseldorf verlassen. Das hieß, dass es Popels geliebte Theater-AG nicht länger geben würde. Sein Entsetzen darüber war groß gewesen, aber mit der Zeit überwand er den Schmerz und nahm sich vor, sich an der Realschule für eine neue Gruppe einzusetzen. Es war nicht das Ende, nur ein Neuanfang, das tröstete ihn sehr. So war er am ersten Tag mit einer optimistischen Einstellung seinen neuen und leider erheblich längeren Schulweg angetreten. In der 5. Klasse hatte er sich bald mit einem Jungen Namens Albert angefreundet, der in seine Klasse ging. Von dem Zeitpunkt an hatten die beiden in jeder Pause die neue Schule erkundet, herausgefunden, vor wem man sich lieber in Acht nehmen sollte und wer einem die Hausaufgaben zum abschreiben lieh. Dabei hatte Alberts ungeheuerliche Unternehmungslust und sein beträchtlicher Leichtsinn sie schon die eine oder andere Stunde Nachsitzen gekostet. Bills Befürchtungen, sein Bruder könne als Kleinster auf der neuen Schule schon bald Probleme bekommen, bestätigten sich allerdings nicht. Nein, Popel fühlte sich dort sogar fiel sicherer als auf der Grundschule, weil er den Boss uns einen Großteil dessen Clique hier nicht mehr ertragen musste. Seine Erleichterung über die Gymnasiumsempfehlung seines größten Feindes war fast ebenso groß wie über seine eigene für die Realschule. So trennten sich also die Wege der beiden Widersacher, wenn auch nicht ganz ohne Abschiedsgrüße.
Am letzten Schultag auf der Grundschule hatte sich der Boss, flankiert von seinen übelsten Freunden, vor Popels Platz aufgebaut.
Popel, der das herandrohende Unheil schon gerochen hatte, stand schnell auf. So überragte ihn der Boss nur noch um etwa sieben Zentimeter. Mit Stolz bemerkte Popel, dass er, wenn die Gegenüberstallung auch noch immer nicht ganz fair war, doch schon ein ganzes Stück gewachsen war, seit er seinem Feind das erste Mal begegnet war.
„So, nun geht unser lieber Popel also auf die Realschule“, spottete der Boss genüsslich.
Der kleinere Junge blieb cool. Damit konnte ihn keiner ärgern. Schließlich hatte er für dieses Zeugnis hart gearbeitet. „Und du bist nun endlich in den heiligen Kreis der Streber aufgenommen worden“, konterte er und war froh, dass Bill ihn nicht hören konnte.
Die anderen Schüler waren auf sie aufmerksam geworden und beobachteten alles genau. Nach einem kurzen Zögern trat einer nach dem anderen hinter Popel.
Der Boss, der vor Wut schäumte, sah mit seinen zwei Kameraden nahezu lächerlich aus und Popel, wie auch jeder andere aus der Klasse, wusste, dass er sich auch ganz tief in seinem Inneren so fühlte.
Losgegangen war der Spuk bei einem früheren Streit zwischen Popel, der sich schon vorher in der Klasse beliebt gemacht hatte, und dem Boss. Da hatte sich plötzlich jemand verpflichtet gefühlt, Popel als Ausgleich für einen kleinen Gefallen beiseite zu stehen. Seitdem schwand die Autorität des Bosses von Tag zu Tag und Popel stand da als eine Art Rebellenführer, eben der Freund von jedem aus der Klasse, der nicht zur Clique des früher meistgefürchteten Jungen des Jahrganges gehörte. Natürlich hatte Popel sich diese Rolle nicht ausgesucht. Im Gegenteil: Er hielt sie für äußerst gefährlich. Doch auf einmal war eben alles so gekommen.
Auch in diesem Fall entschloss sich der Boss zähneknirschend für eine mit Würde getragene Niederlage, soweit sich dies überhaupt sagen ließ, und zischte nur leise zu Popel: „Es heißt, Ratten würden das sinkende Schiff verlassen, sie wären Überlebenskünstler. Doch auch dich wird eines Tages mal dein verdammtes Glück verlassen und ich schwöre dir, dann wirst du dich nicht halb so toll fühlen wie in diesem Moment.“ Der Boss und seine Gang verließen schnellen Schrittes das Klassenzimmer.
Popel schluckte. Als klar wurde, dass es nichts mehr zu sehen gab, nahmen nach und nach alle Klassenkameraden Popels ihre Sachen und verabschiedeten sich mit einem wortlosen Winken. Nur Popels beide Theaterfreunde Matt und Mark blieben unbehaglich schweigend um ihren Kumpel versammelt. „Das ist also das Ende“, bemerkte Matt, als die Stille unerträglich wurde. Er rang sich sein übliches Grinsen ab und klopfte Popel, der noch immer wie betäubt war, abschiednehmend auf die Schulter. „Der Boss hat ausnahmsweise mal Recht. Es ist Zeit. Gut gekämpft, Bruder!“
Popel sah das Bedauern in den Augen aller seiner Freunde. Es schmerzte sie genauso wie ihn, auf die drei Schulen verteilt zu werden. Vorerst war ihre große Hoffnung die Theater-AG gewesen, wo sie sich alle im neuen Schuljahr wiedersehen würden, doch auch dieser klitzekleine Lichtblick war verschwunden, als Herr Zink ihnen von seinem Umzug erzählt hatte. So hatten die Jungen mit Bill und Vanessa im Publikum im Juni schweren Herzens ihre letzte Vorstellung gegeben. Eigentlich hatte Popel gedacht über die schlimmste Traurigkeit hinwegzusein, aber in diesem verrückten Moment, in dem er davor stand sich von dem zu verabschieden, was er am meisten liebte, die vielen wunderbaren Leute und ihre gemeinsame Sache, bekam er plötzlich doch einen Kloß im Hals, der sich nicht einfach herunterschlucken ließ.
Matt ging bereits aus der Tür und auch sein Bruder Mark verabschiedete sich. Doch in seinem Fall war es nicht für immer. Sie würden sich nach den Sommerferien auf der Realschule wiedersehen.
Popel blickte sich noch einmal in seinem alten Klassenraum um und viele Erinnerungen an die letzten beiden Jahre überfielen ihn. Seine Klassenkameraden, die ihn bewundernd angesehen hatten, wenn er dem Boss die Stirn geboten hatte und seine eigene Angst dabei. Die schlechten Zensuren und die Demütigung, wenn die Lehrer ihn Dinge fragten, die er einfach nicht verstehen konnte, allerdings auch seine eigenen kleinen Erfolge, wenn er für die Leistungen gekämpft hatte, die ihn nun für die Realschule qualifizierten. Und er sah sich vor seinem inneren Auge mit der Zeit mitwachsen. Jede gute oder schlechte Erfahrung machte ihn mehr zu dem was er jetzt war. Der kleine ängstliche Junge verschwand mehr und mehr und wurde durch jemanden ersetzt, der viel nachdenklicher, verständnisvoller und selbstsicherer war.
Schluss, dachte er energisch, das reicht jetzt! Er packte seine Schultasche und stürmte aus dem Klassenzimmer. Die Tür schlug er entschlossen hinter sich zu, sodass der Knall durch das Treppenhaus hallte.
Die anderen Mitglieder der Theatergruppe, die nicht in seiner Klasse gewesen waren, warteten auf dem Schulhof auf ihn, doch dieses Mal trug er den Abschied mit Fassung. Sie versprachen sich gegenseitig, sich so oft wie möglich zu verabreden und einander niemals zu vergessen, obwohl jeder nur zu genau wusste, das es schon bald so kommen würde. Bill hatte ihm aus eigener Erfahrung gesagt, dass es auf der neuen Schule auch neue Freunde geben würde und Popel akzeptierte dies.
Nur als Kelly vor ihm stand, wurden ihm die Knie schwach. Ja, vieles war vergänglich, selbst Freundschaften waren es, aber wieder anderes war einfach unersetzbar. Eine zweite Kelly auf dieser Welt erschien ihm etwa ebenso unmöglich, wie das haargenaue Duplikat einer Schneeflocke, die bereits zu Boden gerieselt war und deren hundertfach verzweigten Eiskristalle jeder Fälschung erhaben waren. Er durfte sie nicht verlieren, wurde ihm klar. Aber sie war erst in die Dritte Klasse gekommen, war noch so jung.
„Es ist nicht für immer“, tröstete Kelly, die seine Gedanken erraten hatte, schlicht. Ihre großen blauen Augen drückten eine selbstverständliche Zuversicht aus, die Popel die Kraft gab, an ihre Worte zu glauben. „In zwei Jahren bin ich wieder bei dir“, fuhr sie fort, wobei ihre Stimme ein wenig an Halt verlor. Zwei Jahre waren so schrecklich lange im Leben eines achtjährigen Mädchens.
Aber auch nicht die Ewigkeit, setzte Popel in Gedanken dazu. „Ich warte auf dich“, versprach er und rang sich mühsam ein Lächeln ab. „Und dann spielen wir wieder zusammen Theater!“
Kelly nickte, wobei ihre wirren Löckchen leicht wippten.
„Tschüss dann“, verabschiedete sich Popel an alle gewandt, drehte sich um und ging über den Schulhof in Richtung Straße. Beim Gehen er gespürt, wie sich die Blicke der anderen in seinen Rücken gebohrt hatten.
Nur Kelly hatte sich abgewandt und war mit langsamen Schritten in eine andere Richtung davongegangen.
Sie war für zwei schier unendliche Jahre geradewegs aus Popels Leben hinausspaziert.

Noch oft dachte Popel an diese vielen Verabschiedungen, so unterschiedlich sie auch waren und so gegensätzliche Gefühle sie auch mit sich gebracht hatten. Stellte Albert mal wieder die Klasse auf den Kopf, sah er Matts grinsendes Gesicht vor sich, den bedeutungsvollen Ausdruck in seinen Augen, mit dem er Popel auf die Palme bringen wollte, als dieser mit Kelly die Heiratszene durchspielte, die in ihrem ersten Stück vorkam. Wie er doch die unschlagbare Frechheit seines Freundes vermisste! Und Lenny erst! Popel stellte fest, dass ihm dieser damals wohl das Näheste zu einem besten Freund gewesen war. Mit ihm hatte er des öfteren nachmittags zum Lernen für die Schule getroffen und Lenny hatte ihm alles erklärt, was er nicht verstand. Nun war er auf dem Gymnasium, wo er längst nicht mehr so gut klarkam wie auf der Grundschule. Auch in Popels jetziger Klasse gab es einen solchen Streber, doch während man bei Lenny diesen Ausdruck nur scherzhaft benutzte, war Felix die reinste Nervensäge. Sein besserwisserisches Getue trieb alle in der Klasse in den Wahnsinn und wenn er in meterlangen, unverständlichen Sätzen ihnen Dinge zu erklären versuchte, die seiner Meinung nach das aller logischste auf der Welt waren und die unbedingt wissen müssten, unterschied er sich so grundlegend von seinem alten Freund, das Popel den geringsten Gedanken an Ähnlichkeiten zwischen den Jungen sofort wieder verwarf. Nur an Kelly konnte ihn nichts und niemanden erinnern. Nicht die anderen Schüler, nicht das Grundschulgebäude, an dem er jeden Morgen und Mittag vorbeiging, nicht die Fotos von ihren Theateraufführungen. Das war auch gar nicht nötig, denn er dachte ja eh pausenlos an sie. Er vermisste sie so sehr, dass er manchmal am liebsten sofort zu ihr stürmen würde.
Als sie im Kunstunterricht Gesichter mit Bleistift zeichnen sollten, bekam er für sein Bild eine Eins und seine Lehrerin fragte ihn, ob sie es in der Schulgalerie ausstellen dürfe. Nun konnte jeder, der den mit Zeichnungen behangenen Schulflur entlangging, an der zweiten Stelle auf der rechten Seite ein Portrait begutachten, das den Namen „Das Mädchen vom Schulhof“ trug. Zu sehen war ein Gesicht von erstaunlicher Lebendigkeit, das von vielen ungebändigten Korkerzieherlocken eingerahmt wurde. Die kleine Stupsnase war mit kaum sichtbaren Sommersprossen betupft und der Mund darunter weder zu einem Lächeln noch zu einem Schmollen, sondern zu irgendetwas unbestimmbaren dazwischen, verzogen. Doch die unfehlbare Aussagekraft des Bildes lag in den großen, warnenden Augen, die direkt auf den Betrachter gerichtet schienen. Umrahmt von einem dichten Wimpernkranz nagelten sie einen sofort fest und das Gefühl in ihnen war unverkennbar. Es war die tiefe Sorge um jemanden, den man zwar gar nicht kennt, der einem aber trotzdem auf eine eigenartige Weise vertraut vorkommt, die man nie für möglich gehalten hatte.
Popels Lehrerin erkannte gefesselt, mit diesen Augen sei ihm ein Meisterwerk gelungen, doch seiner Meinung nach hatte er nichts anderes gezeichnet, als Kelly, als er sie zum ersten Mal sah.
An einem anderen Tag wurde er fast von Bill dabei überrascht, wie er am Schreibtisch saß und Briefe schrieb wie Tagebucheinträge. Briefe an Kelly, von denen er wusste, dass sie sie niemals bekommen würde. Es tat nur so gut, all das loszuwerden, was er ihr so gerne erzählt hätte.
Liebe Kelly,
mir geht es gut hier auf der anderen Schule und auch meine Noten sind viel besser als vorher.
Nur das Theater fehlt mir und unsere ganzen Freunde. Am allermeisten aber natürlich du!
Im Moment versuche ich, eine neue Theatergruppe aufzustellen, doch keiner der Lehrer hat Lust, sie zu leiten. Herr Kirsch meint, das sei nichts für unsere Schule, aber mach dir keine Sorgen, das kriege ich schon noch hin! Der spinnt sowieso. Ich mag seine Augen nicht, weil sie so kalt sind wie zugefrorene Seen.
Der hat zwei zugefrorene Seen im Gesicht, ist das nicht merkwürdig?
Das bei dir ganz anders. Jedes mal, wenn ich zur Klasse gehe, komme ich an deinem Portrait vorbei und du siehst mich an. In meinen Gedanken spreche ich dann mit dir, mit deinen Augen.
Ich sage dir, dass du dir keine Sorgen um mich zu machen brauchst. Aber natürlich ist es albern, ein Bild aufheitern zu wollen. Nur finden ich es so traurig, deine Augen bis in alle Ewigkeit besorgt zu sehen.
Aber dir bleibt ja nichts anderes übrig, du kannst es dir ja nicht aussuchen.
Ich habe eine Idee: Wenn du in zwei Jahren auch auf die Realschule kommst, schleichen wir uns heimlich zu dem Bild und machen deine Augen wieder fröhlich.
Alle Besorgtheit werden wir wegradieren und du darfst wieder lachen!
Bis dann,
dein Popel
Doch soviel er auch schrieb, er bekam nie eine Antwort. Stattdessen klemmte er die Briefe, die mit der Zeit mehr und mehr wurden in sein Tagebuch, in das er schon reinschrieb, seit er das Alphabet gelernt hatte. Dieses versteckte er jeden Abend nachdem er hereingeschrieben hatte sorgfältig unter seiner Matratze. Und so zogen die Tage an ihm vorbei, die Wochen, die Monate. Eine Zeit ohne Bedeutung, eine Zeit ohne Kelly.

November 1977
Bill saß am Küchentisch und erledigte seine Hausaufgaben. Sein Kopf schmerzte vom ganzen Lernen und langsam fing er an zu bereuen, die 9. Klasse übersprungen zu haben. Es war dumm von ihm gewesen, gestand er widerwillig ein, und so verdammt leichtsinnig! Und jetzt brach der Stoff der 10. Klasse wie eine riesige Flutwelle über ihm zusammen. Verzweifelt versuchte er, das ausgelassene Schuljahr aufzuarbeiten und das laufende mitzuverfolgen. In der ersten Mathearbeit dieses Jahres hatte er eine zwei geschrieben. Panik ergriff ihn, wenn er nur daran dachte. Das durfte ihm nicht noch einmal passieren! Eine Zwei pro Fach war ja okay, wenn er sonst nur Einsen schrieb, aber er hatte Angst, dass es nicht dabei bleiben würde. Mit gerunzelter Stirn starrte er auf sein Lateinordner nieder und las die Erweiterung einer Verbform, die er selbst in einfacher Variante noch die gesehen hatte. Konzentriert ging er den Abschnitt noch einmal durch, wobei er mit der rechten Hand in seiner Schultasche wühlte, bis er das Grammatikbuch der 9. Klasse fand. Er schlug es neben sich auf und blätterte wahllos darin herum, stieß jedoch auf nichts, das ihm helfen könnte. Formeln und Endungen umschwirrten ihn, aber er konnte sie nicht zuordnen. Ihm war zum Heulen zumute, als er nach dem Telefonhörer griff und Vanessas Nummer wählte. Seine Freundin ging nun in die Neunte und würde ihm vielleicht aus diesem fürchterlichen Schlamassel hinaushelfen können. Von einem Berg von Heften und Büchern umgeben, wartete er unglücklich darauf, dass endlich jemand den Hörer abnahm. Zum ersten Mal in seinem Leben war Bill Capola hoffnungslos überfordert und bat, wenn auch ungern, um Hilfe.
Schließlich , als er schon fast auflegen wollte, hörte er ein leises Knacken in der Leitung und danach Vanessas Stimme.
„Hi, Vanny“, grüßte er tonlos.
„Bill, was ist los?“, verlangte sie sofort zu wissen, als sie ihn so sprechen hörte. „Ist etwas passiert? Dir geht es doch gut, oder?“
Er lächelte ein wenig darüber, wie gut sie ihn doch schon kannte und beruhigte sie, ihm gehe es gut.
Vanessa fragte, was er dann habe und er zögerte, nach Worten suchend.
„Ich brauche deine Hilfe“, gab er schließlich widerwillig zu.
„Immer doch“, antwortete sie und in ihrer Stimme klang Überraschung mit. „Um was geht es?“
Nachdem er ihr stockend und verlegen von seinem kleinen Problem mit den Lateinhausaufgaben erzählt hatte, bot sie vorsichtig an: „Ich könnte heute noch vorbeikommen. In etwa einer Stunde, wenn du willst?“
Es klang mehr wie eine Frage und Bill wusste, dass sie ihn nicht zu verletzen versuchte. Das sie erkannt hatte, wie schwer es ihm fiel um etwas zu bitten, war ihm peinlich. „Du musst dir nicht die Mühe machen, extra herzukommen“, wich er unbehaglich aus. „Das lässt sich doch vielleicht auch am Telefon schnell erklären.“ Doch sie bestand weiterhin fest darauf. „Ich wollte dich sowieso mal wieder besuchen Bill“, begründete sie geduldig. „Wir sehen uns nur noch so selten seit wir nicht mehr in einer Klassenstufe sind.“
Bill wusste, dass sie recht hatte und gab sich so am Ende doch geschlagen. Er setzte sich wieder vor seine Schulsachen und machte mit einem anderen Fach weiter.
Um vier kam Popel von Albert wieder, mit dem er sich jetzt öfters mal nach der Schule verabredete, und sie unterhielten noch über ein wenig über den Schultag des Jüngeren. Herr Kirsch hatte mal wieder Stress wegen der nächsten Arbeit gemacht und Albert mal wieder Mist gebaut, womit er, wie Popel immer wieder beteuerte, nichts zutun gehabt hatte. Es war das Übliche, über das sie jeden Tag sprachen, nachdem Bills kleiner Bruder nach Hause kam.
Gegen halb fünf stand Vanny vor der Tür, einen Packen Schulsachen unter dem Arm.
Sofort band Popel sie mit in sein Gespräch ein und war schrecklich enttäuscht, als Bill ihn aus der Küche schickte, damit sie endlich in Ruhe lernen konnten.
Zu seinem Glück hatte seine Freundin das Thema erst gehabt, sodass sie ihm alles mühelos beibringen konnte. Nachdem sie Latein hinter sich gelassen hatten, gingen sie zu Mathe und danach zu Deutsch über.
„Du siehst ja immer noch so unglücklich aus!“, beschwerte sich Vanessa, als sie fertig waren, scherzhaft.
Bill zuckte ausweichend mit den Achseln. „Ich weiß, ich mit ein undankbarer Schüler“, räumte er mit einem leichten Grinsen ein. Er wurde ernst: „Der Punkt ist, ich dachte eigentlich daran, dieses Jahr selber Nachhilfe zu geben, um ein bisschen mehr Geld in die Kasse zu bringen. Aber so wie es jetzt aussieht..“
Tröstend legte sie ihm einen Arm um die Schulter. Nachdem sie sich gut überlegt hatte, was sie am besten sagen sollte, meinte sie vorsichtig: „Mach dir doch keinen Stress, Bill. Du hast gerade ein ganzes Jahr übersprungen, weil die Lehrer es dir zutrauen, also vertraue ihrem Urteil! Das wird schon wieder! Was sage ich hier überhaupt, es ist doch was geworden! Du bist doch besser als jeder andere in deiner Klasse. Oder hat das etwa nichts zu bedeuten?“
Bill schüttelte sanft den Kopf. „Du verstehst das nicht“, widersprach er. „Wenn du so gut bist, dass du nur noch Einsen schreibst ist eine Zwei schlecht und eine Drei die totale Katastrophe. Du vergleichst dich nicht mehr mit anderen, sondern nur noch mit dir selbst. Wie war ich letztes Jahr? Vorletztes? Und es wird immer schwerer und schwerer...“ Der leichte Druck ihrer Hand auf seiner Schulter verstärkte sich und er spürte, wie sie sich gegen ihn lehnte. Er nahm sie zärtlich in seine Arme.
„Ich weiß, ich kann dir da nicht helfen. Das ist eine Sache, die du mit dir ausmachen musst. Aber meiner Meinung nach solltest du dir eine ganze Wagenladung Nachhilfeschüler holen“, beschloss sie überzeugt. „Es wird dein Selbstbewusstsein wieder stärken, wenn du ihnen hilfst und sie werden von deinem Wissen profitieren.“
Bill war sich nicht sicher, aber in ihrem Ton lag fast eine Art Befehl und er entschloss sich, sich nach einem Schüler umzusehen. Wenn es sie glücklich machte...
Vanessa merkte, dass sie gewonnen hatte und löste sich aus seinen Armen, um aufzustehen.
„Musst du schon los?“, fragte er bedauernd und begleitete sie zur Tür.
„Leider“, entschuldigte sie sich. „Aber du weißt ja, rechtzeitig zuhause sein ist alles.“
Also verabschiedeten sie sich voneinander und Bill bedankte sich herzlich für ihre Hilfe.
Vielleicht hat sie ja recht, dachte Bill, als er begann, Abendbrot für Popel und ihn zuzubereiten, und ich mache wirklich aus einer Mücke einen Elefanten. Aber was war schon so falsch daran, ehrgeizig zu sein?

Bill nahm sich Vanessas Rat zu Herzen und heftete gleich am nächsten Tag eine Anzeige, in der er nach einem Nachhilfeschüler suchte, an die Pinnwand der Schule.
Tatsächlich meldete sich auch schon bald jemand. Es war ein Junge aus der 6. Klasse namens Toni Wilker, der sehr große Schwierigkeiten in Mathe hatte.
Als sie sich das erste Mal trafen, erkannte Bill sofort das Problem: Es lag nicht daran, dass Toni nicht lernen wollte, er konnte es einfach nicht. Das wiederum machte ihn so nervös, dass er völlig verzweifelt zusammenbrach, wenn er über einer Arbeit brütete. Bislang waren ihm seine Fünfen in Mathe aber nie gefährlich geworden, weil er sie im Zeugnis mit seiner zwei in Deutsch hatte ausgleichen können. Doch auch in diesen Fach ließen seine Künste jetzt nach und jeder konnte sich ausrechnen: bekam er in Mathe wieder eine Fünf, blieb er sitzen. „Meine Eltern schicken mich dann auf Real“, heulte Toni Bill unglücklich vor. „Sie hatten eh immer was dagegen, dass ich auf das Gymnasium gehe, weil ich ihnen so nur noch länger auf der Tasche liege!“
Somit hatte Bill noch ein Problem mehr zu lösen. Zwar hatte ihn niemand darum gebeten, sich mit Leib und Seele Tonis Versetzung zuzuschreiben, doch seinem Wesen entsprechend hatte er sich eben dies zur Aufgabe gemacht.
Ganz nebenbei spielte es vielleicht auch eine Rolle, dass ihm jede Stunde mit seinem Schüler zehn Euro brachte und er das Geld als seine einzige Einnahmequelle auf einem neu eingerichteten Konto eifrig sparte. Die vielen Montagnachmittage, an denen Toni mit seinem Nachhilfelehrer zusammensaß und angestrengt lernt, zahlten sich schon bad aus, denn mit Stolz konnte der 6. Klässler in der nächsten Mathearbeit eine vier minus vorweisen. Popel, der Bills Bemühungen mit Neugier, sowie einer Spur von Eifersucht beobachtete, wusste aus eigener Erfahrung, dass dies für seinen größenwahnsinnigen Bruder keinesfalls genug war. Aber Tonis Leistungen verbesserten sich immer mehr, von der vier auf eine drei, und von der drei auf eine zwei, die niemand, weder Toni noch Popel, erwartet hatte.
Nur Bill lächelte stumm vor sich hin, so als hätte er alles von Anfang an so geplant. Er hatte dem Jungen das nötige Selbstbewusstsein dazu gegeben, die Arbeiten mit Ruhe durchzugehen, und ihm außerdem das Wissen eingeprägt, das in den Aufgaben gefordert wurde.
Es ist genau, wie es bei mir war, dachte Popel immer wieder mit Verwunderung, Bill schafft es einfach jedes Mal!
Zum Halbjahr hin hatte Toni eine gute Vier im Zeugnis stehen, mit einer fünf, einer vier minus, einer drei und sogar einer zwei in den Arbeiten. Sein Lehrer war verblüfft, die Eltern verwirrt und alle anderen in seiner Klasse vollkommen durcheinander. Sie alle konnten es nicht fassen.
Nur Bill war wieder einmal am Rechnen. Warum die vier, fragte er sich ungnädig, hat Toni denn keine drei verdient?
So startete er in das nächste Halbjahr, in dem es ums Ganze ging. Rutschte Toni jetzt wieder auf Fünf ab, würde er wiederholen müssen. Es war eine Herausforderung für Bill, auf die er sich sofort stürzte.
Popel war weiterhin der stille Zuschauer im Spiel Bill gegen alle Wahrscheinlichkeiten. Er konnte nur verächtlich grinsen, wenn Toni um seine Vier bangte und sein großer Bruder währenddessen an einer Drei arbeitete.
„Deine mündliche Beteiligung muss besser werden“, ermahnte Bill seinen Schüler immer wieder streng.
Dieser konnte nur mit hilflosen Blicken antworten, weil er einfach zu schüchtern war um die Anordnung in die Tat umzusetzen. Also übten sie. Bill fragte und Toni antwortete - mit der Zeit immer schneller.
Doch in der Schule verbesserte er sich leider nur schleichend und es gab nichts was Bill noch tun konnte, um die Sache zu beschleunigen. Dafür lernten sie umso mehr für die Arbeiten.
In der ersten schrieb Toni eine drei und erntete dafür von Bill einen einigermaßen lobenden Blick, der zu einem regelrechten Strahlen wechselte, als Toni ihm danach eine zwei vorlegte. Auch er entdeckte eine Art Ehrgeiz, wie Bill zufrieden feststellte.
Doch in der dritten Arbeit verfiel der Schüler wieder in seine Alte Nervosität um schrieb eine Vier und das auch nur dank eines halben Punktes.
Popel bedauerte es sehr, den beiden jetzt nicht mehr jeden Montag zusehen zu können, aber er ging zu dieser Zeit seit Neustem immer zum Theatertreffen, das er mit viel Mühe auf die Beine gestellt hatte. Dafür konnte er wieder auf der Bühne stehen und das tun, was er so sehr vermisst hatte: In eine Rolle zu schlüpfen und alles andere zu vergessen.
Frau Sommer, die Lehrerin, die die AG leitete, wollte früher einmal selber Schauspielerin werden und hatte deshalb Popels Vorschlag, diese Gruppe zu eröffnen, sofort zugestimmt.
Auch Albert ließ sich zum Mitmachen überreden, sodass Popel und er am Montag nach dem Unterricht in der Schule blieben und bis zum Beginn des Treffens um halb drei Hausaufgaben machten.
Während die neue Gruppe fleißig für ihre Aufführung von „Die Schöne und das Biest“ probten , wobei Popel das Biest spielen durfte, schaffte es Toni noch zu einer weiteren Drei und Bill ging daraufhin fest von einem erfreulichem Zeugnis aus. Als er Vanessa von seinen hochgesteckten Plänen erzählte, konnte sie sich ein Lächeln kaum verkneifen, denn mit Erleichterung sah sie ihren Freund wieder genau in seinem Element. Sich um Toni zu kümmern bekam ihm, wie sie sich schon gedacht hatte, eindeutig besser, als wegen seiner eigenen eingebildeten Schulprobleme besorgt zu sein.
Und tatsächlich kam Bill am Ende des Schuljahres mit der großen Neuigkeit von Tonis Drei in Mathe zu ihr gestürmt.
„Das ist der Wahnsinn, Bill!“, rief sie begeistert. „Seit er bei dir Unterricht hat, ist er um ganze zwei Zensuren besser geworden!“
Er strahlte sie glücklich an und umarmte sie fest. „Wie gut, dass ich auf deinen weisen Rat gehört habe“, stimmte er ihr zu.
Vanessa trat zurück und strich sich nachdenklich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bill sah ihr fasziniert zu und entdeckte wieder einmal, wie schön seine Freundin doch sein konnte, auch wenn das vielleicht nicht jeder sah. Schließlich warf sie vorsichtig ein: „Hoffentlich wollen Tonis Eltern ihn überhaupt noch bei dir zur Nachhilfe schicken, jetzt wo er gar nicht mehr so schlecht ist...“
Bill nickte bestätigend. Toni hatte schon so etwas zu ihm gesagt. „Ich denke, so wird es kommen“, fand er, jedoch ohne Spur von Trauer. „Es ist aber nicht besonders dramatisch, weil ich mich vor Angeboten kaum noch retten kann. Das mit Toni hat sich halt rumgesprochen.“ Er lachte bitter. „Bill Capola, die Wunderpille! Bevor die mal denken, dass es vielleicht an der Einstellung ihrer Kinder liegt, wenn sie schlechte Zensuren nach Hause bringen, und sich das auch nicht so schnell ändern wird, wenn diese nicht einsehen, dass sie etwas tun müssen! Es ist eben alles eine Frage des Willens.“
Das Mädchen stimmte ihm zu und wies ihn besorgt darauf hin: „Du solltest besser nicht damit rechnen, dass du bei jedem ein solches Wunder vollbringen kannst. Mit dieser Einstellung machst du dich nur unglücklich!“
Bill behielt ihre Warnung immer in seinem Gedächtnis, als er weitere Nachhilfeschüler annahm und diese schließlich fast seine gesamte Zeit beanspruchten. Zum ersten Mal kam es ihm jetzt auch auf das Geld an, das sich auf seinem Konto häufte. Er mochte es sehr, sich jede Woche Auszüge zu holen und darauf zu sehen, wie sich sein bescheidenes Vermögen mehrte. Geld hatte eben schon immer eine besondere Rolle in seinem Leben gespielt, obwohl er nie viel davon besessen hatte. Oder vielleicht gerade deswegen?
Die Zeit verging wie im Fluge, ohne das es Ereignisse gab, von denen man groß hätte berichten müssen.
Die beiden Brüder lebten nebeneinander her, Popel mit seiner Bühne unter den Füßen und Kelly in seinen Gedanken, Bill ständig auf der Jagd nach neuen Superlativen, geradewegs in Richtung der Sterne.
Als Popel ein Jahr später in die siebte Klasse kam, trafen seine Wege wieder zusammen mit den Kellys; eine von ihm so lang herbeigesehnte Begebenheit. Es wurde ein großartiges Wiedersehen. Zuerst hatte Popel sie allerdings fast nicht erkannt, sosehr hatte sie sich verändert. Teilweise wusste er nicht, ob er es nun gut oder schlecht finden sollte. Dazu gehörte zum Beispiel die Tatsache, dass das kleine Mädchen von damals ihn jetzt um etwa einem halben Kopf überragte. Nicht, dass er etwas dagegen hatte, aber es war ihm einfach ungewohnt, beim Sprechen zu ihr aufzusehen. Auch konnte Popel sich daran erinnern, wie sich ihr Pullover frührer immer über ihren kleinen Bauch gewölbt hatte. Nun aber war sie keineswegs mehr mollig, sondern, ganz im Gegenteil, gertenschlank. Mal abgesehen aber von diesen körperlichen Veränderungen, war sie einfach älter und erwachsener geworden. Es war genau das, was sie vor Jahren einmal zu ihm gesagt hatte, erinnerte er sich schmunzelnd. Wie peinlich es ihm damals gewesen war! Heute würde er sich über eine solche Bemerkung freuen! Ansonsten war aber alles zwischen ihnen beim Alten geblieben. Sofort war die feinfühlige Verbindung wieder da, die sie, seitdem sie sich kannten, zusammengehalten hatte.
Gleich am ersten Tag zeigte er ihr das Bild, das er kurz nach ihrer vorübergehenden Trennung gezeichnet hatte. Gefesselt beobachtete Popel, wie sie vor diesem stand und ihrem fünf Jahre jüngeren Abbild mit emporgerecktem Kopf fasziniert entgegensah. Nun war ihr Gesicht zwar um einiges schmaler und ihre Haare ordentlich gekämmt und in einem Pferdeschwanz gebändigt, doch die Ähnlichkeit war unverkennbar.
„Das Mädchen vom Schulhof“, las sie nach einer Weile laut vor. „Bin ich das.“ Es klang nicht wie eine Frage, sondern eher wie eine Feststellung.
„Das bist du“, bestätigte Popel sanft.
Und da lachte Kelly plötzlich laut los.
Er kannte den Grund dafür zwar nicht, konnte aber vermuten, das es ihre Art war, dem ernsten Portrait zu trotzen.
Kichernd versicherte sie ihm: „Die Zeit der sorgenschweren Gesichter und tränenglitzernden Augen ist erst einmal vorbei.“ Daraufhin hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn mit sich in Richtung Kiosk. „Jetzt habe ich Hunger!“
Überrascht ließ der Junge sie gewähren. Was hatte Kelly ihm damit sagen wollen?
Vielleicht, dass auch sie froh war, wieder bei ihm zu sein? Im Stillen hoffte er, dass es so war.

Mai 1980
Unruhig trat Bill von einem Bein auf das andere. Dazwischen sah er immer wieder prüfend auf die große Uhr über dem Eingang zum Kino. Es war jetzt bereits viertel nach acht. Um halb acht war er hier mit Vanessa verabredet gewesen und noch immer hatte sie nicht von sich hören lassen. Wenn ihr etwas dazwischen gekommen wäre, hätte sie ihn angerufen, da war sich Bill ganz sicher. Gereizt bemerkte er, dass der Werbeabschnitt nun zu Ende sein und der Film beginnen musste. In seiner rechten Hand hielt er die Karten fest umklammert. Warum musste sie nur ausgerechnet heute unpünktlich sein, wo sie sich doch beide schon so auf diesen Abend an ihrem Geburtstag gefreut hatten? Er hatte doch alles so genau geplant. Am Wochenende zuvor hatte er sich nach einer gemütlichen Pizzeria umgesehen, in der sie vor dem Film noch ein leckeres Nudelgericht, wie sie es so liebte, essen konnten. Zumindest das war jetzt bereits ins Wasser gefallen und auch der Kinobesuch stand stark auf der Kippe. Bill hasste es einfach, wenn seine wunderbaren, gutdurchdachten Pläne durchkreuzt wurden. Ein paar Minuten später beobachtete er zähneknirschend wie die Kinokassen – und Eingänge geschlossen wurden. Der Vollständigkeit halber wartete er noch bis halb neun und machte sich dann auf den Weg zu ihr. Eine Stunde hatte sie ihn warten lassen! Nun verlangte es in ihm nah einer Erklärung, die schon überraschend gut sein musste, um ihn noch zu beruhigen. Doch als er vor ihrer Wohnung stand, öffnete ihm auch nach dreimaligem Klingeln niemand. Mit seinem Wohnungsschlüssel verschaffte er sich nach kurzem Zögern Zugang. Schon nach wenigen Schritten sah er, dass alle Räume leer waren. Um sicherzugehen überprüfte er alles noch einmal, kam jedoch zu dem gleichen Ergebnis wie zuvor. Sie musste ihn vollständig vergessen haben! Wütend verließ Bill die kleine Wohnung wieder und ging, darüber nachdenkend, wie er sie am besten zur Rede stellen sollte, das dunkle Treppenhaus hinunter.
Plötzlich, als er schon auf dem Weg nach draußen war, stockte ihm das Herz.
Halb auf den Treppen zum Kellergeschoss, halb auf dem kalten Steinboden unten, lag etwas, dass wie eine menschliche Gestallt aussah. Eine Schultasche befand sich daneben, der Inhalt quer über den Boden verstreut. Fluchend sprang er die Stufen hinunter und fiel neben dem unerkennbaren Häfchen Mensch auf die Knie. Seine schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich, als er den vollkommen von schwarzen Haaren bedeckten Kopf herumdrehte und auf Vanessas Gesicht blickte. Es war leichenblass und mit blutigen Schrammen, die seiner Vermutung nach von dem Sturz kommen mussten, der sie, nachdem sie von der Schule nach Hause zurückgekehrt war, in diese unglückliche Lage gebracht hatte.
Unaufhörlich murmelte er ihren Namen vor sich hin, während er verzweifelt nach ihrem Puls fühlte und versuchte auch nur das geringste Heben und Senken ihres Brustkorbes auszumachen. Es musste doch ein Lebenszeichen geben! „Komm schon Vanny!“, flüsterte er und seine Kehle begann sich zuzuschnüren. „Wach auf, wach endlich auf, bitte...“
Als sie sich daraufhin immer noch nicht regte, erhob er sich von ihrer Seite, mühsam versuchend, seine wie wild zitternden Muskeln unter Kontrolle zu bringen, und stürmte die Treppe hinauf nach oben in die Wohnung zurück. Von dort rief er hastig einen Krankenwagen, wobei er sich stark konzentrieren musste, alle Informationen zugeben.
Die Meisten musste der Mann in der Notrufzentrale ihm geduldig aus der Nase ziehen, denn alles, was Bill von alleine hervorbringen konnte, war, er brauche Hilfe, denn seine Freundin sei verletzt.
Danach jedoch ging alles ganz schnell. Nur Minuten später fuhr der Krankenwagen vor und Sanitäter sprangen heraus, hoben Vanessa auf eine Bahre und trugen sie in den Wagen hinein. Bill wurde dabei voll kommen zur Seite gedrängt und das letzte, was er sah, war wie sich die roten Flügeltüren hinter dem leblosen Körper seiner Freundin schlossen. Der Wagen fuhr mit Blaulicht und Sirenengeheul, das die frühe Nacht wie das Leidenslied eines einsamen Wolfes durchdrang, davon.
Einer der Notärzte war im Begriff, in den PKW zu steigen, der den Krankenwagen begleitet hatte und Bill trat unsicher auf ihn zu. „Bitte“, begann er stockend. „Sie ist meine Freundin, dürfte ich vielleicht...“
Der Arzt, der ihn als erster überhaupt wahrzunehmen schien, sah ihn mitleidig an. „Natürlich“, gestattete er und wies auf den Beifahrersitz. „Du musst im Hospital ohnehin noch einige Fragen beantworten.“
Bill setzte sich dankbar und konnte nicht anders, als die ganze Fahrt über vor sich hinzustarren und sich zu fragen, wie es nur alles so kommen konnte, denn zwar waren Unfälle oft nur unglückliche Zufälle, doch gab es manchmal auch Erklärungen dafür, die eine Tatsache enthüllten, die über kurz oder lang unausweichlich zu dieser Situation führen musste.
Und davor fürchtete sich Bill am meisten: Vor einem Problem, das am entscheidenden Zeitpunkt schlichtweg umgangen worden war.

Vanessa verbrachte ganze zwei Wochen auf der Intensivstation, litt an mehreren Knochenbrüchen, inneren Blutungen und einer nicht zu unterschätzenden Gehirnerschütterung und wollte beim besten Willen nicht aus ihrer tiefen Bewusstlosigkeit erwachen. Aber sie lebte. Und nur das war für den schaflosen, ständig an ihrer Seite wachenden Bill von Bedeutung. Zuerst hatten die Ärzte ihm verboten, zu ihr zu gehen, sodass er unruhig und gespannt wie eine Sprungfeder auf einem unbequemen Klappstuhl direkt vor ihrem Krankenzimmer gehockt hatte und sich von nichts und niemanden zum Aufstehen hatte bewegen lassen. In einem kurzen Telefongespräch hatte er seinem Bruder die Situation erläutert und diesem einige Anordnungen für die nächste Zeit ohne ihm gegeben.
Nach vier endlos langen und ergebnislosen Tagen, konnten die Krankenschwestern ihn dazu überreden, in das benachbarte Zimmer einzuziehen und sich dort ein paar Stunden erholsamen Schlaf zu gönnen. Unter der Bedingung, sofort benachrichtigt zu werden, sollte auch nur die klitzekleinste Veränderung eintreten, taumelte Bill mit blutunterlaufenen Augen und vor Müdigkeit brummendem Kopfe auf das schmale, in grünen Laken gedeckte Krankenbett zu und fiel sofort als sein erschöpfter Körper die Matratze berührte in einen tiefen und vollkommen traumlosen Schlaf.
Der arme Junge sei in der Tat reif für die Intensivstation, sagten die Schwestern unter sich in bedauerndem Ton. Fürsorglich überwachten sie seinen Zustand immer, wenn sie an seinem Zimmer vorbei kamen, denn diese unglaubliche Sorge um seine kranke Freundin rührte sie zutiefst.
Popel brachte dem Älteren gleich am nächsten Mittag einige Kleidungssachen zum Wechseln und sprach kurz mit ihm über dieses und jenes. Den Unfall wagte er jedoch nicht zu erwähnen, weil er befürchtete, es täte seinem großen Bruder nicht gut, schon jetzt darüber zu reden. Tatsächlich war der Jüngere bestürzt, als er Bill so regungslos wie eine Wachsfigur auf dem Stuhl vor der mattierten Glastür wachen sah. Nur schemenhaft war ein Bett hinter der Tür zu erkennen und einige Ärzte, die sich bei gedämpften Murmeln über dieses beugten. Popel saß noch eine Weile bei seinem Bruder, eine Hand mitfühlend auf dessen Arm gelegt, und starrte schweigend auf das undefinierbare Geschehen hinter der Tür.
Nach einer Woche wurde Bill endlich gestattet, zu seiner Freundin zu treten.
„Sie ist jetzt außer Lebensgefahr“, berichtete ihm einer der Ärzte beruhigend und Bill atmete erleichtert auf. Aber er fuhr fort: „Mach dir lieber keine Hoffnungen, dass sie dich schon wieder wahrnehmen kann. Gelegentlich hört man zwar im Fernsehen von Bewusstlosen, die die Anwesenheit von geliebten Personen spüren, doch im Moment muss ich leider sagen, dass du genauso gut zu einer Wand sprechen könntest.“
Nickend nahm der Junge das zur Kenntnis und trat endlich durch diese Tür, von der er tagelang kein Auge gelassen hatte, und ging zögernd auf das einzige Bett in dem kahlen, trostlosen Raum zu.
Die darrinliegende Gestallt wirkte dünn und zerbrechlich, das ausdruckslose Gesicht, das unter der krankenhaus-grünen Decke hervorlugte, war von allem Blut und Schmutz gereinigt, was es nur um so blasser erscheinen ließ. Zwei Kränze schwarzer Wimpern ruhten auf der perlweißen Haut, die Flügel der langen, geraden Nase zitterten gleichmäßig beim Luftholen und der schmale Mund, aus dessen Lippen jeglicher Rotton gewichen war, lag entspannt in einem kaum zu merkenden, friedlichen Lächeln da. Ihr schwarzes Haar, am Unfallabend zerzaust und mit Blut und Staub beschmutzt, war jetzt unter einer weißen Krankenhaube verborgen.
Bill fand, es sähe aus, als ob sie träume. Sachte berührte er ihre kleine Hand, die ruhig neben ihrem Körper lag. Wider seiner Erwartungen, war sie ganz warm und weich. Lange stand er da und starrte auf Vanessa hinab. Er sagte kein Wort, wollte sie nicht aus ihrem friedlichen Schlaf wecken; sah es doch so aus, als hänge sie den besseren Erinnerungen ihres enttäuschenden, jungen Lebens nach.

Als Vanessa Tage später endlich erwachte war die Freude groß. Zwar war Bill der erste am Bett der Kranken, doch auch ihre Eltern hatten sich den ganzen Nachmittag für ihr einzigstes Kind freigenommen.
Bill sah der Mutter seiner Freundin pure Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als diese ihre Tochter mit offenen und klaren Augen durch ein Kissen aufgerichtet sitzend erblickte. Beide, der Junge und das Mädchen schafften es nicht, ihre Überraschung über den unerwarteten Besuch zu verbergen.
„Du arbeitest heute gar nicht?“, fragte Vanessa mit noch schwacher Stimme.
„Heute nicht. Und die ganze nächste Woche bleibe ich auch zu Hause“, antwortete ihre Mutter daraufhin verletzt und stolz zugleich. Stolz, weil sie es hatte hinbiegen können, eine so lange Zeit für ihr Kind freizubekommen und verletzt, da eben dieses so erstaunt darüber war, von seiner eigenen Mutter eine solche Aufmerksamkeit und Anteilnahme entgegenzunehmen.
Bill musterte die etwa Vierzigjährige eingehend und stellte verblüfft die deutliche Ähnlichkeit zu Vanessa fest. Schwarze lange Haare rahmten das blasse Gesicht ein, dessen Farbe durch eine gründliche Schicht Make-up aufzufrischen versucht worden war. Einige Sorgefalten erschienen auf ihrem Gesicht, als sie ihre Tochter betrachtete.
„Geht es dir auf wirklich wieder besser, du siehst so schrecklich blass aus!“, wollte die Frau im betont fürsorglichen Ton wissen.
Vanessas Gesicht verdunkelte sich, als sie entgegnete: „Ich bin von Natur aus blass, Mama, das war ich schon immer.“ Weißt du das nicht mehr? Die unausgesprochene Frage lag drückend und schwer im Raum.
Schließlich würgte ihre Mutter ein gekünsteltes Lachen hervor, das eher nach einem unwohlen Räuspern klang. „Frau Valentine“, unterbrach Bill die darauffolgende Stille unbehaglich.
Vanessa schreckte beim Klang ihres Nachnamens, den sie auf den Tod nicht ausstehen konnte, leicht auf.
Mit ihr zuckte ihre Mutter, die die verkrampfte Stimmung ganz nervös gemacht hatte. Erst jetzt schien sie Bill, der sich im Laufe der steifen Begrüßung im Hintergrund gehalten hatte, überhaupt zu bemerken.
„Ich glaube, wir hatten noch nie das Vergnügen“, fuhr der Junge unruhig fort und ihm wurde gleichzeitig bewusst, wie unpassend diese Formulierung sein musste. „Ich bin Bill Capola.“
Sie ergriff seine dargebotene Hand zögernd. Scheinbar überlegte sie, ob und woher ihr sein Name etwas sagte. „Bill ist mein Freund“, half Vanessa rasch aus. „Schon seit etwa vier Jahren.“
„Ach, natürlich, mein Namensgedächtnis schon wieder“, entschuldigte sich Frau Valentine, doch sah es nicht so aus, als hätte es bei ihr geklickt. Sie warf einen ausweichenden Blick auf ihre Armbanduhr. „Vanessa, Schatz, ich muss leider los, aber Papi kommt nachher noch mal vorbei“, redete sie sich raus, küsste ihre Tochter auf die Wange, ohne sie überhaupt richtig zu berühren, nickte Bill flüchtig zu und verließ eilig das Zimmer.
Bill seufzte: „Termine, Termine.“
Seine Freundin schüttelte den Kopf, so weit es ihr möglich war. „Sie ist manchmal nur so verdammt feige“, begründete sie schonungslos. „Ihr wurde der Boden halt ein wenig zu heiß unter den Füßen!“
Der Junge zuckte daraufhin nur mit den Schultern, denn er teilte ihre Meinung zwar, wollte sie aber nicht verletzen. „War trotzdem mal interessant, von wem du abstammst“, wich er scherzhaft aus, worauf sie mit einem lauten Schnauben reagierte.
„Dann warte erst mal Papi ab“, setzte sie hinzu. „Wenn du den kennen lernst, willst du nichts mehr mit mir zu tun haben, aus Angst, ich könnte genauso werden!“
Bill bemerkte wohl, wie heikel dieses Thema war und meinte diplomatisch: „Dann werde ich denken, ein Engel hätte dich direkt vom Himmel geschickt.“
Beide lachten und die Stimmung wurde wieder lockerer.
„Ach Bill, du alter Schmeichler!“, beschwerte sie sich spielerisch.
Zärtlich sah er sie an.
Sie fing seinen Blick und hielt ihn für Sekunden fest. Ihre braunen Augen wurden warm und blickten in die seine, die in einem voller Liebe geladenen Tiefblau glänzten.
„Wird schnell wieder gesund“, bat er sie schlicht.
Vanessa nickte automatisch, doch dann stockte sie.
Der Junge runzelte besorgt die Stirn. „Was ist?“, fragte er fürsorglich. „Fehlt dir etwas?“
Sie zögerte unbehaglich. Es entstand eine kurze Pause, in der unheilvolle Stille lastete. Schließlich platzte alles aus ihr heraus: „Bill, es stimmt, es war ein Unfall, aber ihr wisst längst nicht alles!“
Bill ahnte schon, was folgen würde, und sein erster Reflex, den er gerade noch unterdrücken konnte, war es, sich die Ohren zuzuhalten.
Vanessa fuhr fort und die Worte sprudelten aus ihr heraus, wie ein Wasserfall:
„Ich bin wie immer von der Schule gekommen und alles war wie immer. Vielleicht war ich ein wenig aufgeregt, weil ich ständig an unseren gemeinsamen Abend denken musste, aber das tut jetzt nicht zur Sache. Auf jeden Fall habe ich ihn wiedergetroffen, als ich schon beinahe zuhause war. Du weißt schon, von wem ich spreche. Es war so, als hätte er auf mich gewartet, denn plötzlich ist er um eine Ecke gekommen und direkt auf mich zugesteuert. Glaub mir, Bill, ich wollte es nicht, aber er meinte, er wolle nur mit mir sprechen, also sah ich keinen Grund, wegzulaufen. Wir, oder bessergesagt er, redeten die erste Zeit wirklich nur über belanglose Dinge, aber nach einer Weile fragte er mich, wann ich seine letzte Lieferung erhalten hätte. Ich meinte, ich wüsste es nicht mehr genau, weil es schon in so weiter Vergangenheit liege, worauf er entgegnete, er wolle mich nicht als einer seiner Stammkunden verlieren, deshalb könne er mir einen besonderen Preis anbieten. Und es war wirklich besonders. Doch ich lehnte alles ab und hatte es nur noch eilig, wegzukommen. Da fing er an, mich zu verfolgen, selbst als ich immer schneller lief, ließ er es nicht bleiben. Schließlich hat er mich an meiner Jacke gepackt und mir eine Tüte mit Pillen in die Tasche gesteckt. Bevor er mich gehen ließ meinte er noch, es sei umsonst, ein kleines Geschenk von ihm und danach sähen wir weiter. Und dann stand ich da ganz allein und fühlte den Inhalt in meiner Tasche. Ich musste pausenlos daran denken, als ich mich wieder auf nach Hause gemacht hatte. Es war so unerträglich, Bill, so unmöglich. In meinem Kopf waren so viele Erinnerungen, die mich dazu verführen wollten, wieder anzufangen. Das war eine Last, die ich einfach nicht tragen konnte und auf der anderen Seite der Wage standest nur du und mein Gewissen, mit dem zu diesem Zeitpunkt leider nicht viel anzufangen war. Ich dachte, eine kleine Ausnahme sei nicht schlimm, jetzt wäre ich ja schließlich nicht mehr abhängig. Also habe ich es getan. Alles auf einmal, so als ginge es um mein Leben. Eben genauso, wie es früher auch war. Aber Bill, du hast doch einmal gesagt, es sei alles nur eine Frage des Willens, und ich verspreche dir, ich wollte das nicht und ich habe mich dafür gehasst schon als ich die Tüte aus meiner Tasche nahm. Ich hasse mich auch jetzt noch. Doch das ganze hilft einem in diesem Moment nicht viel. Verstand, Gewissen und Vernunft werden schwach und unwichtig und man kommt darüber schnell hinweg, wenn man sich so sehr nach etwas sehnt. Danach weiß ich nicht mehr viel. Nur, dass nicht ganz schwindelig wurde und ich meine Umgebung kaum noch wahrnahm. Automatisch bin ich wohl nach Hause getaumelt und in meinem Rausch die Kellertreppe hinuntergefallen. Dort muss ich dann anscheinend den ganzen Nachmittag bewusstlos gelegen haben, bis tu mich, Gott sei Dank, gefunden hast. Die Ärzte haben nichts bemerkt, weil die äußerlichen Symptome am Abend schon abgeklungen waren und sie nicht den richtigen Blutwert überprüft haben, um zufällig über etwas zu stolpern.“ Wie um eine große Last leichter, endete Vanessa schließlich. Unsicher und schuldbewusst sah sie Bill an, doch ihr Freund wich ihren Blicken aus.
Mit leeren Augen ließ er sich auf einen der Besucherstühle fallen. Enttäuschung, Mut- und Fassungslosigkeit brachen über ihm zusammen. Mühsam versuchte er mit dem eben gehörten fertig zu werden.
„Ich musste es dir sagen“, flüsterte Vanessa leise. „Denn der Gedanke, du wüsstest es nicht, erschiene mir bei jedem vertrauensvollen Blick, jeder zärtlichen Berührung und jedem Anzeichen deiner ständigen Fürsorge unerträglich.“ Gespannt wartete sie darauf, dass seine Antwort endlich kommen möge.
Doch Bill schien ganz in Gedanken versunken zu sein und sie überhaupt nicht mehr wahrzunehmen.
„Ich weiß“, versuchte Vanessa ihn zu ermutigen, „es war alles, was wir erreichen wollten, unser größtes Ziel und nun ist es dahin, aber warum probieren wir es nicht noch einmal. Wir hatten doch schon so viele Anläufe, was macht da ein weiterer aus? Irgendwann schaffen wir es schon!“
Der Junge fuhr fort sie zu ignorieren und runzelte nur leicht die Stirn.
„Wir schaffen das, Bill“, versicherte Vanessa und erhoffte sehnlichst seine Bestätigung. „Nicht war?“
Plötzlich stand er auf und verließ ohne ein weiteres Wort, ohne einen einzigen Blick, den Raum.
Verblüfft starrte sie ihm nach und rechnete noch eine Weile fest damit, er komme bald wieder zur Tür herein, um endlich mit ihr zu sprechen. Doch ihr Warten wurde enttäuscht und sie spürte, wie ihr langsam die Tränen kamen. Schließlich brach die Sechzehnjährige schluchzend in ihrem Bett zusammen und weinte so herzerweichend, wie sie es als kleines Mädchen oft getan hatte.

Überrascht wendete Popel den Kopf zur Tür, als sein Bruder völlig von der Rolle hereingeeilt kam.
Kelly stand, das Theaterheft in der Hand gegenüber ihres Kameraden und hielt inne, ihren Text abzulesen. „Hallo, Bill“, grüßte sie freundlich, doch dieser rannte geradewegs an den beiden vorbei in sein Zimmer.
Popel schenkte Kelly einen entschuldigenden Blick und folgte dem Älteren besorgt. „Geht es Vanny wieder schlechter?“, fragte er einfühlsam. „Kann ich dir irgendwie helfen?“
Aber Bill schüttelte nur flüchtig den Kopf, während er sich auf ein Bett schmiss, das dabei empört ächzte, und vergrub seinen Kopf tief zwischen den Armen.
Popel starrte entsetzt auf das Bündel dunkelbrauner Haare, was als einziges von seinem Bruder zu sehen war, weil dieser die Bettdecke bis über die Schultern hochgezogen hatte. Vorsichtig setzte sich der dreizehn Jahre alte Junge neben ihn und strich beruhigend über dessen Kopf.
Gereizt drehte Bill sich weg, um sich der gut gemeinten Geste zu entziehen. Das fehlt noch, dass mein kleiner Popel mich trösten muss, dachte er bestimmt.
Schweigend akzeptierte dieser die energische Abweisung und kehrte traurig zu Kelly zurück.
„Was hat Bill, denn?“, wollte Kelly leise wissen.
Popel zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich“, entgegnete er kopfschüttelnd. „Denkst du etwa, er erzählt es mir?“
Im Stillen stimmte Kelly ihm zu, denn die wusste, was ihrem besten Freund zu schaffen machte. Dass Bill seine Hilfe strikt ablehnte, ihn allerdings bei jeder sich bietenden Gelegenheit bevormundete, gehörte unter anderem auch dazu. Er ist wie ein Bruder für mich, dachte sie weiter, wir brauchen keine Worte mehr, um uns zu verstehen. Sie hielt es für angebracht, lieber das Thema zu wechseln, und schlug vor, sie würden am besten jetzt weiterzuproben, damit sie ihre Dialoge in dieser Szene bis morgen flüssig draufhätten.
Dankbar, an etwas anderes denken zu können, ging Popel auf ihren Vorschlag ein und die nächsten zwei Stunden verbrachten die beiden Teenager damit, konzentriert ihre Texte zu lernen und das gemeinsame Bühnenspiel einzustudieren.
Danach gönnten sie sich eine kleine Pause, in der sie zu Abend aßen. Popel hatte für den Fall, dass Bill sich zu ihnen gesellen wollte, für diesen mit aufgedeckt, aber am Ende der Mahlzeit konnte er das Geschirr auf dessen Platz wieder unangerührt in den Schrank stellen.
Auch als er zusammen mit Kelly noch an ihrem eigenen Theaterstück, das die beide vor einigen Wochen zu schreiben angefangen hatten, weiterarbeitete, ließ sich Bill nicht mehr blicken.
Gegen halb acht verabschiedete sich Kelly und Popel wollte selber früh zu Bett gehen, da am nächsten Tag nicht nur ein anstrengender Schultag, sondern auch noch Theaterprobe am Nachmittag anlag.
Um seinem Bruder nicht mehr als unbedingt nötig auf die Pelle zu rücken, zog er sich rasch im engen Badezimmer seine Schlafsachen an. Dann öffnete er vorsichtig die Tür des gemeinsamen Zimmers, das in vollkommener Dunkelheit lag und schaltete die schwache Deckenbeleuchtung ein.
Sein Bruder lag schlafend in seinem Bett, die Knie ans Kinn gezogen, die Decke halb auf dem Teppichboden. Leise schlich Popel zu ihm, hob die herunterhängenden Enden auf und deckte ihm wieder ordentlich zu. Wenigstens wenn er schläft lässt er sich helfen, dachte Popel bei sich und schlüpfte in sein eigenes Bett. Die regelmäßigen Atemzüge seines älteren Bruders machten ihn ebenfalls schläfrig, sodass ihm bald die Augen zufielen.

Am nächsten morgen frühstückten beide und machten sich anschließend auf den Weg in die Schule, als wäre nichts geschehen, doch als Popel am späten Nachmittag von der Theaterprobe ihr Zuhause betrat, fand er es leer vor.
Weder Bill noch Ray waren dort, wobei es ihm bei dem Letzteren nicht besonders kümmerte. Sein Bruder jedoch besorgte ihn, weil dieser, soweit er sich erinnern konnte, nichts davon erzählt hatte, am Nachmittag noch wegzugehen. Und dies war eine strenge Regel bei ihnen im Haus, die Bill eigens eingeführt hatte, um dem anderen Sorgen, die sich beide schnell machten, zu ersparen.
Unschlüssig, was er jetzt unternehmen sollte, setzte sich Popel in die Küche und versuchte Hausaufgaben zu machen. Aber nach einer Weile gab er es auf, weil er sich einfach nicht konzentrieren konnte. Immer und immer wieder fragte er sich, was denn nur mit seinem Bruder los war und wie er ihm vielleicht doch helfen konnte.

Nach einer halben Stunde Fahrzeit drückte Bill den roten Halteknopf und wartete, bis der Bus an der nächsten Station zum stehen kam. Auf einer Straßenkarte überprüfte er noch einmal, ob es auf die richtige war, dann drängelte er sich neben vielen anderen Fahrgästen aus dem übervollen Bus und steuerte auf die Parfümerie am Ende der Straße an.
Die ältere Dame an der Kasse brauchte nur wenige Sekunden, um ihn abzuschätzen. „Ich bezweifle, dass wir etwas passendes für Sie haben“, erläuterte sie ihm, ohne wirklich um Höflichkeit bemüht zu sein. „Wir verkaufen nur Ware mit einwandfreier Qualität und dem entsprechenden Preisen. Vielleicht sollten Sie es lieber mit dem Laden zwei Straßen weiter versuchen.“
Bill errötete und meinte rasch: „Ich möchte ja nichts kaufen.“
Die Verkäuferin wirkte leicht verärgert. „Darf ich dann fragen, was Sie hier wollen, wenn Sie doch nichts zu erwerben wünschen?“, verlangte sie scharf zu wissen.
Bill spürte die Wut in sich emporsteigen. „Ich suche Frau Valentine“, erklärte er durch zusammengebissene Zähne. „Sie arbeitet doch hier, richtig?“
Die Frau zögerte kurz. Sie schien wohl abzuschätzen, ob sie schnell nach ihrer Kollegin suchen könne, ohne das dieser dahergelaufene Straßenjunge, was Bill zweifellos in ihren Augen war, die Geschäftskasse stehle. „Einen kleinen Moment“, entschied sie sich am Ende. „Aber eigentlich dulden wir keinen Besuch bei unseren Angestellten.“
Gezwungen freundlich entgegnete der Junge: „In diesem Fall danke ich Ihnen außerordentlich für die Ausnahme.“
Einen winzigkleinen Moment schien sie zu überlegen, ob diese Bemerkung, die von Sarkasmus nur so triefte, nun ernst gemeint war oder nicht. Doch dann verschwand sie durch eine, nur für Angestellte zugelassene, Tür und ließ Bill allein im Laden.
Dieser sah sich mit mäßigem Interesse um. Parfümfläschchen standen in verschiedenen Farben und Größen in Regalen, die an den himmelblauen Wänden. In der Mitte des Raumes befand sich ein Tisch mit Schminksachen. Bei den Gedanken an die vielen Menschen, die ihr Geld hier haufenweise abluden, konnte er nur verständnislos mit dem Kopf schütteln.
Kurze Zeit später kam Frau Valentine in den Laden und als sie ihn erblickte, lächelte sie überrascht.
Bill sah in ihrem erschöpften Gesicht, dass sie schon den ganze Tag lang arbeitete.
„Hallo Frau Valentine!“, grüßte er freundlich. „Hatten Sie sich nicht eigentlich für heute freigenommen?“
Sie schaute schuldbewusst drein, als sie antwortete: „Hallo, ähm... Bill. Ich musste kurzfristig doch noch in den Laden, weil die Aushilfe plötzlich krank geworden war. Hat Vanessa dir das erzählt?“
Der Junge schüttelte verneinend den Kopf. „Ich konnte mir erschließen, dass sie hier sind, denn in Ihrer Wohnung schien niemand zugegen zu sein.“
„In dem Fall scheinst du mir ja etwas wichtiges zu sagen zu haben, wenn du schon überall nach mir suchst“, bemerkte sie und ein Anflug von Sorge streifte ihr abgezehrtes Gesicht. „Es ist doch nichts passiert?“
Bill war immer wieder erstaunt darüber, wie fremd die eigene Tochter mit deren Problemen ihrer Mutter sein konnte. „Nichts, was es nicht schon gegeben hätte“, antwortete er wenig aufschlussreich. „Ich muss nur mit Ihnen reden.“
Um so mehr verwirrt prüfte Frau Valentine ihre Uhr, dachte kurz nach und schlug darauf vor: „In einer dreiviertel Stunde habe ich Feierabend, dann können wir in Ruhe darüber sprechen. Wenn du mit dem Bus noch eine Station weiter fährst, kommst du zu einem Imbiss, glaubst du, du findest das?“
Bill nickte. „Danke, dass Sie sich Zeit dafür nehmen“, meinte er ernst. „Es ist wirklich wichtig, wissen Sie.“ Er verabschiedete sich vors erste von ihr und verließ den Laden.
Als er endlich wieder auf die Straße in die noch kühle Mailuft trat, atmete er tief durch, erleichtert dem stechenden, schweren Duft des Parfüms und der blendenden Helligkeit im Raum entkommen zu sein. Langsam schlenderte er wieder zurück zur Bushaltestelle. Das vor ihm liegende war nicht unbedingt angenehmer und ganz bestimmt nicht leichter. Bis dahin aber hatte er sich noch eine Menge Zeit zu vertreiben.
Seit zehn Minuten schon saß Bill auf einem der hohen Barhocker im Inneren des Imbisses, die auf die sieben kleinen, runden Tische verteilt waren, und beobachtete aufmerksam den Eingang.
Endlich trat Frau Valentine durch die schmale Tür und blickte sich suchend um. Als sie ihn gefunden hatte, setzte sie sich zu ihm und entschuldigte rasch ihr Zuspätkommen.
Bill tat dies mit einer nervösen Handbewegung ab. Nun, da Vanessas Mutter vor ihm saß und gespannt und besorgt auf das wartete, was er ihr zu sagen hatte, wusste er selber nicht mehr so recht, wo er anfangen sollte. „Nun Bill,“, ermutigte sie ihn und er hörte Ungeduld im Klang ihrer Stimme mitschwingen. „Was bedrückt dich denn so sehr?“
Der Junge erkannte schmerzhaft, dass, würde er mit seinem unheilbringenden Bericht enden, die Welt dieser Frau auf den Kopf gestellt sei. Ihre Illusion des heilen Familienlebens bräche dann zusammen wie ein Kartenhaus. Doch er wusste ebenfalls, was für seine Freundin, die er so liebgewonnen hatte, das einzig richtige war, was den letzten, sich ihr auftuenden Pfad verkörperte, den sie betreten konnte, ohne in den Abgründen ihres eigenen Lebens zu versinken.
„Vor Jahren“, begann er deshalb, „wurde ihre Tochter in eine schreckliche Geschichte verwickelt, deren Ursprung in der eigenen Familie lag. Sie fühlte sich vernachlässigt und allein gelassen und als Drogendealer auf den Pausenhöfen unserer Schule umhergingen, war sie zu schwach, sich ihnen zu wiedersetzen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern, die durch Lehrer, Freunde und Eltern hinreichend vor diesen hinterhältigen Menschen gewarnt waren, ging sie den einfachen Weg, der sie geradewegs um ihre Sorgen herumzuführen schien. Diese Art von oberflächlicher Problemlösung, der Fachbegriff dafür ist Negatives Ausweichendes Verhalten, führte Vanessa jedoch nur immer weiter von der Realität weg, ganz ohne das sie es merkte. Aus Gewohnheit wurde im Laufe der Wochen Abhängigkeit, später Sucht. Sie verbrauchte ihr gesamtes gespartes Geld für ihre Pillen, danach ging sie als Kellnerin in einer ähnlichen Bar wie dieser hier jobben. Bald, nämlich als sie zum ersten Mal pleite war, merkte sie, dass sie ohne ihren Stoff nicht mehr leben konnte. Entzugserscheinungen setzten ein und, was noch viel schlimmer war, ihr ganzes Selbst sehnte sich so sehr nach dem, das sie sich nicht mehr leisten konnte, dass sie alles andere vergaß und als unwichtig abtat. An diesem Zeitpunkt merkte sie wohl, dass sie süchtig war, doch sie wolle es einfach nicht wahrhaben. Bessere Zeiten folgten wieder und sie erreichte den Höhepunkt ihrer vollkommenen Abhängigkeit. Ungefähr an dieser Stelle trat ich in ihr zerstörtes Leben. Vanessa erzählte mir bald alles, von Anfang an, so wie ich es jetzt tue, und berichtete auch von ihrer größten Sorge, nämlich, dass Sie, ihre Eltern, von allem dem etwas mitbekommen könnten. Im Geheimen arbeiteten wir an einer Lösung, sie ohne weitere Hilfe von ihrer Sucht zu befreien, und Zeitweise schafften wir dies auch, aber sie bekam immer wieder Anfälle, Phasen, in denen sie über alte Vorräte stolperte und aus plötzlich wiederkehrender Begierde eine Überdosis nahm. In der Zeit vor dem Unfall, glaubten wir, es sei endlich vorbei mit allen dem, weil sie sich wirklich gebessert hatte und lernte, mit ihren Problemen auf andere Art und Weise umzugehen. Doch an diesem Mittag holten sie die vergangenen Jahre wieder ein und dieses Mal hätte es sie leicht das Leben kosten können. Alles, was wir versucht und erreicht hatten, war vergebens, wir stehen wieder ganz am Anfang. Aber weder Vanny noch ich haben die Kraft, erneut diese Last zu tragen und ich bin ganz sicher, noch einen Misserfolg würde sie nicht überstehen. Dieses Mal hatte sie noch Glück im Unglück, was jedoch nicht immer so sein muss...“
Bill stoppte, weil seine zittrige Stimme ihm nun endgültig versagte. In diesem Moment übergab er das Schicksal seiner geliebten Freundin in die Hände anderer. Er fühlte sich wie ein dreckiger Verräter ihr gegenüber, aber er war, wie er soeben zugegeben hatte, am Ende seiner Weisheit. Sollte Frau Valentine doch tun, was sie für richtig hielt, ihn ging es jetzt ohnehin nichts mehr an! Die ganze, schreckliche Verantwortung fiel auf einem Mal von seinen schmalen Schultern, die von dem unzumutbaren Gewicht schon arg zu schmerzen begonnen hatten.
Die Frau schüttelte fassungslos den Kopf, aber Bill konnte bei weitem kein Mitleid für sie aufbringen. Hätte sie sich doch früher um ihre arme Tochter kümmern sollen! „Ich kann das einfach nicht glauben“, stammelte sie verwirrt und suchte in dem Gesicht des Jungen nach einem Anzeichen dafür, dass er scherzte.
Als dieser jedoch ernst blieb und schwieg, fragte sie ihn unsicher: „Was soll ich denn jetzt machen? Wenn mein Mann davon erfährt, dann geht er an die Decke, da hatte Vanessa schon das richtige Gespür.“
Plötzlich wurde Bill von einem wilden Zorn erfasst, der bereits sehr lange in ihm schlummerte. „Sie sind ihre Mutter!“, rief er wütend und schlug mit der zusammengeballten Faust krachend auf den Tisch, sodass die anderen Bargäste interessiert aufsahen, um die Szene zu verfolgen. „So tun sie doch endlich mal irgendetwas! Es wird doch weiß Gott langsam mal Zeit dafür!“
Die Stille des Raumes erst machte ihn auf die ungeladenen Zuhörer aufmerksam und er fuhr fort zu schweigen. Allmählich setzte das gewöhnliche monotone Murmeln wieder ein und Frau Valentine räusperte sich beklommen. „Wir brauchen einen Plan“, beschloss sie erstaunlich bestimmt. „Vanessa hat eine reiche Tante, zu der seit Jahren kein Kontakt mehr herrscht. Aber diese müsste willens sein, uns dabei zu unterstützen. Nach der Entziehungskur, versteht sich. Denn dann darf ein Abhängiger auf keinen Fall mehr Kontakt zu seinem Dealer bekommen können, hab ich gelesen.“
Ihre Stimme klang bemerkenswert nüchtern und Bill nickte zustimmend. Daran war es bei ihrem letzten Versuch schließlich auch gescheitert.
Frau Valentine fuhr nach kurzem überlegen fort: „Bei der Tante selbst kann sie freilich nicht leben, denn das würde ja deren guten Ruf beschmutzen, aber vielleicht findet sich ja eine bessere Lösung. Das wäre dann etwas, dass man mit ihr persönlich bereden müsste.“
Das alles klang einleuchtend für Bill, doch ein schmerzlicher Gedanke wuchs in ihm heran und beschäftigte ihn schwer, auch nachdem sich Vanessas Mutter, nicht ohne ihm für seinen Hinweis zu danken, von ihm verabschiedet hatte und er zerstreut und planlos den Nachhauseweg antritt, wobei er zweimal fast in den falschen Bus gestiegen war: Wenn seine Vanny fort musste, bedeutete dies nicht etwa das Aus für sie beide? Und was würde dann aus ihm, so ganz alleine?

Popel beobachtete seinen Bruder, der sich so außerordentlich merkwürdig verhielt, in den nächsten Tagen achtsam. Dabei konnte er aus diesem vorerst einfach nicht schlau werden. Doch nach und nach fügten sich die einzelnen Puzzelteile zu einem unscharfen Bild, das immerhin schattengleiche Umrisse des Geschehens zeigte, zusammen. Es musste mit Vanessa zusammenhängen, die der Ältere seit seinem letzten Besuch im Krankenhaus, der ihn so sehr mitgenommen zu haben schien, nicht mehr erwähnt hatte. Popel kam dies höchst merkwürdig vor, angesichts der Tatsache, dass es bei ihnen im Hause in den ersten Wochen nach dem Unfall kein anderes Thema mehr gegeben hatte.
Dazu kam noch der sonderbare Telefonanruf von Vanny, den er an dem auf den Montag, an dem Bill sozusagen verschollen war, folgenden Freitag entgegennahm. Der jüngere Bruder hörte dem Klang ihrer Stimme eine ungewöhnliche Aufgebrachtheit heraus, die er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, aber seinem untrügbaren Gefühl nach in direktem Zusammenhang mit den Vorkommnissen der letzten Tage stand. Neugierig kam er ihrer Auforderung, Bill ans Telefon zu holen, nach, wurde jedoch von diesem sofort weggescheucht. Die Nervosität seines Bruders war unverkennbar und trug dazu bei, Popels Interesse noch um ein vielfaches zu steigern. Das eine Ohr fest gegen die verschlossene Tür gepresst, versuchte er angestrengt einige Worte des Älteren zu erhaschen, aber zu seiner großen Enttäuschung drang kein Laut zu ihm hervor.
Das kam wohl daher, dass Bill, als er mit zitternden Händen den Telefonhörer an sein Ohr hob, seine Stimme gedämpft hielt. Aber selbst wenn er es wollte, hätte er keinen lauteren Ton als ein heiseres Flüstern hervorbringen können, denn das Schuldbewusstsein, das ihn jetzt mit aller Heftigkeit ergriff, schnürte ihm gewaltsam die Kehle zu, sodass ihn das Atmen schwer viel.
„Warum, Bill?“, tönte es vom anderen Ende der Leitung. „Warum denn nur!“
Schluckend musste er erkennen, dass ihr die Lautstärke keineswegs ein Problem bereitete. „Vanny“, krächzte er mühsam, „es...“
Doch sie unterbrach ihn aufgebracht: „Kein Ton will ich von dir hören! Wie kannst du es überhaupt noch wagen, irgendetwas zu mir zu sagen?!“
Bill schloss fest die Augen, um die darin aufsteigenden Tränen zu verdrängen, und schwieg gehorsam.
Sie wollte mit ihm reden, sonst hätte sie nicht angerufen, aber erst einmal war es sie, die wütend alles aus sich heraussprach: „Du hast mein Vertrauern gebrochen, Bill! Es gab genau eine einzige Sache vor der ich mehr Angst hatte, als vor alles anderem, und ausgerechnet das hast du mir angetan! Aber warum, Bill, warum? Jetzt werde ich ganz von Zuhause fortgejagt. Ja, ich weiß, es war kein gutes Zuhause, aber verlieren sollte ich es trotzdem nicht! Du hast doch versprochen, dass du mich niemals alleine lässt, warum tust du es denn jetzt?“
Es entstand eine lange Pause und Bill vermutete, dass es ihm nun erlaubt war, zu sprechen. „Ich tat es nur für dich, Vanny“, wandte er ein, obgleich er wusste, dass sie das in diesem Augenblick wenig beeindrucken würde. „Dein Leben ist hier in Gefahr, verstehe das doch!“ Seine Stimme blieb dabei ruhig, sodass der lauschende Popel keine Chance hatte, etwas mitzubekommen.
Vanessa antwortete seiner Erklärung mit einem abwertenden Schnauben. „Alles, was mein Leben ausmacht wird mir genommen und du nennst das Rettung. Ein toller Held bist du!“, spottete sie höhnisch. „Was kommt als nächstes? Soll ich mich etwa bedanken?!“
Plötzlich von einer unerwarteten Müdigkeit getroffen, fuhr sich Bill durch das ungekämmte Haar. Was hatte dieses Gespräch noch für einen Sinn? Es artete in Beleidigungen und Sarkasmus aus, ohne wirklich jemandem zu helfen. „Wie geht es jetzt weiter?“, wollte er leise wissen.
„Mit uns?“, prustete Vanessa entsetzt. „Gar nicht!“
„Ich meinte, mit dir“, verbesserte er geduldig und sah bei ihren Worten das Ende so deutlich wie nie zuvor. Jetzt war er sich sicher, er würde sie nicht wiedersehen. Diese Gewissheit traf ihn zu schmerzlich, um mit ihr zu streiten.
„Erst einmal muss ich so eine Kur mitmachen“, berichtete sie und ein Schaudern schwächte ihre Stimme. „Danach bezahlt mir meine ach-so-tolle Tante den Aufenthalt in einem Mädcheninternat auf dem Land. Wahrscheinlich kommt sie sich dann so richtig wohltätig vor, die reiche Kuh. Da könnt ihr euch ja zusammentun, du, meine Mutter und sie!“
Bill stutze und hakte verwirrt nach: „Was ist mit deinem Vater?“
Der wisse nichts von dem ganzen, erklärte sie und klang zum ersten Mal erleichtert, sondern halte alles nur für eine Aktion, die ihre Schulischen Leistungen auf die letzten Jahre noch aufpolieren solle. Das leuchtete Bill vollkommen ein, nach allem, was Vanny von diesem erzählt hatte. „Gibt es sonst noch was?“, fragte er betont sachlich.
Ihre Antwort fiel ebenso kühl aus: „Nein, ich denke das war’s denn.“
Bill schluckte hart. „Tschüss, Vanny“, murmelte er schmerzlich, „und viel Glück.“
Doch in der Leitung erklang schon das Freizeichen. Eine Weile blieb er regungslos mit dem Hörer in der Hand stehen und versuchte zu erfassen, was soeben passiert war, nämlich, dass eine der Personen, die ihm am meisten bedeuteten, aus seinem Leben getreten war.
Sie hatte einfach aufgelegt.

Popel erzählte er die selbe Geschichte, die auch ihr Vater zu hören bekommen hatte. Obwohl es ihm wehtat, seinen Bruder anzulügen, hielt er es Vanessa gegenüber für fair, ihr Geheimnis von nun an zu wahren. Es dauerte seine Zeit, aber allmählich kam er über den Verlust seiner Freundin hinweg, auch wenn er das niemals gedacht hätte. Seinen normalen Alltag wieder aufnehmend, kümmerte sich Bill wie gewohnt um seinen Bruder, traf sich mit seinen Nachhilfeschülern und arbeitete an neuen Plänen, um seine vielversprechende Zukunft noch glanzvoller zu machen.
Der jüngere Bruder sah mit Erleichterung und einem Hauch von Wehmut, denn wenn er so darüber nachdachte, hatte ihm die Unabhängigkeit in der Zeit von Vanessas Krankenhausaufenthalt doch gefallen, wie der Ältere wieder auf die Höhe seiner gewohnten Kräfte kam.
Bald begann das neue Schuljahr, für Bill das Zwölfte, für Popel das Achte, nachdem beide das Letzte mit Erfolg abgeschlossen hatten.
Der Kleinere sah in diesem nur ein weiteres, unspektakuläres Jahr, dass so sein würde, wie die vorigen, doch sein Bruder lief nun zu Höchstformen auf. Immerhin sollte er schon in gut anderthalb Jahren seinen Abiturprüfungen entgegensehen.
Eifrig begann er, strenge Wiederholungspläne aufzustellen, mit deren Hilfe er den gesamten Stoff des Gymnasiums noch einmal aufarbeiten wollte. Die Nachmittage verbrachte er vor speziell angelegten Heftern, in denen er fächergeordnet alle wichtigen Themen festhielt. Dabei begann er in der fünften Klasse, was Popel amüsiert beobachtete, und schuftete sich langsam hoch bis zur Oberstufe. In ihm wuchs das ehrgeizige Vorhaben, das beste Abitur in der Geschichte seiner Schule zu erreichen, und er war mit der Zeit fest davon überzeugt, dies würde ihm auch gelingen.
Popel traf sich währenddessen mit Kelly, um an ihrem gemeinsamen Stück weiterzuschreiben, und zog immer öfter auch mit Albert durch die Straßen, auf der Suche nach neuen Freizeitangeboten und interessanten Neuigkeiten, denn sie beide waren seit kurzem Mitwirkende der Schülerzeitung. Dort versäumen sie es nicht, fleißig Werbung für die Theater-AG, die neue Mitglieder für größere Projekte brauchte, zu machen.
Auf diese Weise taten beide Brüder, was ihnen wichtig erschien, so unterschiedlich ihre Beschäftigungen auch waren. Nur Sonntags ließen sie ihre Aktivitäten ruhen, um einen Familientag einzulegen. Im Sommer machten sie Picknicks im nahegelegenen Park, wo die Bäume ihnen angenehmen Schatten spendeten. Sie lagen danach oft stundenlang auf der alten, löchrigen Wolldecke, die Bill ausgegraben hatte, und starrten in den klaren, blauen Himmel. Die warme Luft strich, von einem mäßigen Winde bewegt, sanft über ihre Haut und sie wurden umgeben von dem zarten Duft der vielen verschiedenen Blumenarten.
Dies erschien Bill um ein tausendfaches schöner, als all die teuren Parfüme auf der ganzen Welt.
Popel berichtete von seiner Arbeit in der Schülerredaktion und wurde angenehm schläfrig, als Bill ihm von seinen Fortschritten beim Wiederholen erzählte. Seine Worte klangen schwer und monoton in den Ohren des Kleineren und diesem fielen bald die Augen zu.
Im Herbst ließen die beiden auf der selben Parkwiese selbstgemachte Drachen steigen und als Bill von seinem Nachhilfegeld einen kaufte, den man dazu bringen konnte, wilde Loopings zu machen, war die Freude der Jungen groß.
Wurde es Winter und bedeckte der erste Schnee die hügelliege Parklandschaft, holten die Brüder ihre einfachen Holzschlitten heraus und suchten nach den geeignetesten Abhängen zum Rodeln. Zwar waren sie jetzt schon alle beide zu jugendlichem Alter herangewachsen, doch an diesen Tagen wurden sie wieder zu den Kindern, die sie einmal waren. Frei von allen Sorgen verbrachten sie ein paar ungestörte Stunden miteinander und die alte, felsenfeste Bruderliebe blühte wieder zu angeahnten Kräften auf.
Es waren diese Sonntage, die sie an ihrer gemeinsamen Vergangenheit festhielten, denn an den übrigen Tagen waren sie so sehr mit ihren eigenen Leben beschäftigt, dass sie sich manchmal nur zum Essen sahen, und es wurde immer klarer, dass die Zukunft sie immer weiter auseinander reißen sollte.


Kurz nach Weihnachten 1980
Bills Zukunftspläne nahmen eine ständig deutlicher werdende Gestallt an.
Alles begann, als er Tage vor Silvester durch die Innenstadt eilte, um einige Heuler und Raketen zu kaufen. Noch nie hatten sein Bruder und er sich solche Spaßartikel geleistet, doch dieses Jahr wollte er dem nun schon vierzehnjährigen Jungen eine besondere Freude damit machen, die Knaller selber entzünden zu dürfen, wie all die anderen aus seiner Klasse auch. Schließlich wollte Bill, dass sein kleiner Bruder mitreden- und fachsimpeln konnte und nicht als Außenseiter am Rand stehen musste.
Einen ganzen Nachmittag verbrachte er damit, von einem Geschäft zum nächsten zu schlendern und von jedem das Beste zu kaufen, selbst wenn es ihn schmerzte, sein hart verdientes Geld über die Verkaufstheke gehen zu sehen.
Als er im Bus zur nächsten Einkaufsstraße saß und ganz vertieft darin war, seine Erwerbungen zu zählen (es waren fünf Raketen und zehn andere Knaller), verpasste er im Eifer des Gefechts seine Haltestation und war ganz verdutzt, als er eine weiter ausstieg. Anstatt bunt geschmückte Schaufenster zu sehen, stand er vor hochgebauten Bürotürmen, die ihm die Sicht zum Himmel empor nahmen.
Bill stockte der Atem, als er sich den Hals verrenkte, um das Ende des Hochhauses vor ihm zu erblicken, denn noch nie zuvor hatte er so etwas überwältigendes gesehen. Die Spitze des Gebäudes schien geradewegs durch die dicken grauen Wolken zu führen, die schwer über der Erde hangen, und die von vielen Fensterreihen durchsetzten Wände bestanden aus so mächtigen Steinquadern, dass Bill sich interessiert fragte, wie es möglich war, sie aus Felsen hinauszuschneiden.
Neugierig ging er weiter die Straße entlang, die vier Fahrspuren, auf denen dichter Verkehr herrschte, und einen bis aufs letzte Staubkorn gefegten Bürgersteig besaß. Andere Bauten ragten links und rechts von ihm auf, sodass Bill sich kaum entscheiden konnte, welches er sich zuerst ansah. Schließlich kam er auf einen für Autos gesperrten Platz, in dessen Mitte ein munter plätschernder Springbrunnen stand, und der, von der Straßenseite mal abgesehen, gänzlich von Hochhäusern eingeschlossen war. Staunend um sich blickend steuerte der Junge über das sorgfältig geschnittene Kopfsteinpflaster auf eine kleine hölzerne Bank zu, auf die er sich setzte um eine kleine Pause einzulegen. Wer hat das alles nur gebaut, fragte er sich verwundert.
Sein Blick fiel auf einen schlanken, vielgeschössigen Turmbau, dessen Stahlverkleidung in der hellen Wintersonne, die sich an vereinzelten Stellen einen Weg durch die Wolkendecke bahnte, wie von Diamanten besetzt funkelte. Die hohen Fenster reihten sich in exakten Abständen aneinander, die so gering waren, dass der Eindruck entstand, das überragende Gebäude würde nur von dem gerippeartigen Metallgerüst getragen, dass so leicht und zerbrechlich wirkte, wie ein Kartenhaus.
Bill wunderte sich unwillkürlich, dass es nicht, seiner Metapher gleich, beim ersten Windstoß in sich zusammenfiel.
„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich setzte?“, wurde er plötzlich aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Ein kleiner Mann stand lächelnd vor ihm und deutete auf den leeren Platz neben ihm. Sein braunes Haar fing von den Seiten her an, leicht zu ergrauen und auch die deutlich sichtbaren Fältchen auf seiner Stirn und um seine Augen herum deuteten auf ein fortgeschrittenes Alter hin.
„Ähm... nein, natürlich nicht“, stammelte Bill überrascht.
Der Mann ließ sich an seiner Seite nieder und folgte seinem wieder auf den Bau zurückschwenkenden Blick. „Erstaunlich“, meinte er auf einmal und schmunzelte. „Dort steht es jetzt schon seit zehn Jahren und seitdem hat es jedem Unwetter getrotzt. Wirklich erstaunlich, nicht war?“
Der Junge war mehr darüber verwundert, dass dieser Herr seinen vorherigen Gedanken, so ohne weiteres wieder aufgriff, als hätte er eben laut mit ihm darüber gesprochen. Trotzdem nickte Bill und bemerkte verträumt: „Es ist so elegant, so leicht.“
Der Mann wurde ernst und betrachtete das berauschende Bauwerk fast mit einer Art Hass. „Hoch ist es, stabil ist es und glänzen tut es auch“, meinte er bitter. „Aber elegant ist es nicht!“
Verwirrt sah Bill zu ihm auf. Was redete der da? Da setzte sich ein völlig fremder, alter Mann zu ihm auf die Bank und fing an, wirres Zeug zu sprechen!
Ohne dem Jungen Zeit zu einem Widerspruch zu geben, fuhr der Alte fort: „In die großen Städte dieser Welt musst du gehen, mein Junge! London, Rom, Paris... Ja sogar an New York kann man etwas finden, wenn man über die wild vermengten Baustile hinwegsieht. Dort wirst du sagen können: Was für eine Schönheit! Oder: Oh, welche Eleganz! Aber das, was du hier, vor deinen Augen hast, ist nichts weiter, als eine billige Kopie von anderswo. Hat nichts eigenes, diese ganze Stadt! Nur jede Menge Buntes, Wirres, Armseliges...“ Er sackte kopfschüttelnd in sich zusammen und Bill fragte sich für einen Moment, ob er wohl auch noch anfinge zu weinen. Doch er tat es nicht und der Junge fuhr fort, das Bauwerk zu begutachten.
Er sah eine Menge rechter Winkel, nach denen es von unten nach oben errichtet schien. Deshalb kommt es mit so geringem Stützmaterial aus, erkannte Bill bald, es ist die Genauigkeit, von der alles zusammengehalten wird. Diese Einsicht faszinierte ihn und er konnte bei weitem nichts unschönes an diesem Kunstwerk finden. „Was ist anderswo soviel besser?“, verlangte er interessiert zu wissen.
Der Mann erwachte schnaubend aus seinem Schweigen und behauptete überzeugt: „Alles! Roms Bauten sind ein Wunderwerk der Antike, auch die Londons sind tief in der Geschichte des Landes verankert. Und sieh dir erst Paris an! Was ist schon das hier gegenüber dem Eifelturm? In New York ist es die unglaubliche Höhe. Wolkenkratzer, kommen dir die bekannt vor? Ehe sich jemand versehen hat, waren die aus dem Erdboden gesprossen. Für historischen Hintergrund hatte diese Stadt doch gar keine Zeit, so schnell ist sie gewachsen!“ Bill war beeindruckt, denn noch nie hatte er an vielen Orte hinter den Mauern dieser Stadt auf diese Weise gedacht. Sein Viertel hatte ihm bislang immer ausgereicht, aber auf einmal war seine kleine Welt nicht mehr groß genug für ihn. „Waren Sie dort?“, fragte er wissbegierig. „Haben sie das alles gesehen?“
Der ältere Herr nickte und war beim Anblick der Begeisterung des Jungen sichtlich amüsiert. „Ja“, bestätigte er und schloss für einen Moment, in dem die fernen Länder und Städte, die er einst besucht hatte, wieder ganz nah vor ihm erschienen, die wässrig blauen Augen. „Ich habe vor jedem erdenklichen architektonischen Wunder dieses Planeten gestanden, antike Baupläne studiert, endlose Besichtigungen mit dem langatmigen Geschwafel unverständlicher Fremdenführer in Kauf genommen, nur um den Stil im Inneren mit eigenen Augen zu begutachten. Das alles nur, um meinem naiven, jugendlichen Selbst die Genugtuung zu verschaffen, eines Tages ein ähnlich meisterhaftes Wahrzeichen in die Welt zu setzten.“ So jäh und unerwartet, dass dieser heftig zusammenzuckte, richtete er seine bohrenden Blicke auf Bill und beteuerte felsenfest: „Du bist genauso, Junge, dass habe ich sofort gemerkt. Auch dich zieht es heimlich hinaus in die Ferne und selbst das Beste kann dich nicht zufrieden stellen. Aber begehe nicht den selben Fehler, den ich... den viele vor dir gemacht haben, denn behalte es gut: Der, der hoch oben ist, kann tief fallen und vielleicht nie wieder aufstehen.“
Verwirrt runzelte Bill die Stirn. „Das stimmt doch gar nicht, was Sie da reden!“, wandte er leicht empört ein. „Sie kennen mich doch überhaupt nicht!“
Der Mann lachte vergnügt. Nun schien er an der Unterhaltung deutlich mehr Gefallen zu finden. „Wäre ich meiner nicht hundertprozentig sicher gewesen,“ fragte er rätselhaft, „hätte ich mich dann hier auf diese Bank gesetzt?“
Der Junge stockte und überlegte fieberhaft, um eine gleichermaßen unnutze, möchtegernweise Antwort zu finden.
Aber der Alte gab ihm nicht annährend genug Zeit dazu, denn schon fügte er hinzu: „Ehrlich gesagt war mir ganz und gar nicht nach sitzen. Und erst recht nicht hier. Auch ein Gespräch stand nicht in meinem Sinn. Viel lieber wollte ich für mich alleine sein und bei einem winterlichen Spaziergang meine Beine vertreten.“
Jetzt gab Bill es endgültig auf, in der Kontroverse mitzuhalten. Stattdessen entgegnete er patzig: „Niemand hat Sie von ihren Plänen abgehalten.“
Da stand er Alte plötzlich auf und trat einen Schritt von der Bank weg. „Weißt du was, du hast recht!“, fand er zustimmend. „Aber hast du auch etwas aus dem ganzen gelernt? Vielleicht einen kleinen Einblick in deinen von Gott geschaffnen Charakter bekommen?“
Der Junge verdrehte verächtlich die Augen und erklärte, er glaube an nicht an jegliche Art von Religion.
Der Mann nickte, als hätte er sich so etwas schon gedacht. „Und gelernt hast du wahrscheinlich auch nichts“, setzte er Bills trotzigen Bemerkung hinzu. „Na dann leb wohl! Auch wenn du es ablehnst, dir weise Ratschläge zu Herzen zunehmen.“ Er drehte sich um und schritt über den menschenleeren Platz in Richtung der rauschenden Straße, wobei er ein Bein leicht nachzog.
„Wie heißen Sie eigentlich?“, rief Bill ihm noch hinterher.
Hans Dieter Sallheim, klang es leise und undeutlich über die wachsende Entfernung zu ihm herüber und der Sechzehnjährige war sich nicht einmal sicher, die Worte überhaupt gehört zu haben.
Als die kleine Gestallt des Mannes um die Ecke verschwunden war, erhob sich auch er und schlenderte auf das heftig umstrittene Gebäude, das immer mächtiger vor ihm in den Himmel ragte, zu. Zögernd berührte er die kühle Stahlverkleidung und stich sanft mit seiner Hand darüber hinweg.
Ein Etikett zu Ehren des Architekten war neben der hohen, gläsernen Eingangstür, hinter der Bill vornehm gekleidete Menschen in einer Art Eingangshalle sah, befestigt. In silbernen, kursivgedruckten Lettern war folgender Name eingraviert: Herr Hans Dieter Sallheim.
Verblüfft schüttelte Bill den Kopf und fragte sich, ob er sich wirklich sicher war, diesen Namen gehört zuhaben. Daraufhin kam er zu dem Entschluss, dass das nicht war. Der Mann könnte auf jede erdenkliche Art geheißen haben, über die Entfernung hinweg, waren seine Worte wohl einfach zu verzerrt gewesen. Auf dem Weg nach Hause, konnte Bill nicht anders, als über all diese fernen Orte, von denen Sallheim, falls er es denn gewesen war, geschwärmt hatte, nachzudenken. War das etwa eine zarte, kaum merkliche Spur von Abenteuerlust, die sich da in ihm regte? Unwillig schob er diesen erschreckenden Gedanken von sich. Hatte er denn hier nicht genug Dinge, die ihm leicht über den sorgenschweren Kopf zu wachsen drohten? Entschieden fasste er den weisen Entschluss, sich nicht von seinen kindlichen Träumen vom realen Leben abhalten zu lassen, denn in seiner Welt gab es keinen Platz für so etwas.

Mit lautem Getöse feierte die Brüder Einzug ins Jahr 1981.
Popel war begeistert von den Knallern und der Ältere sah liebevoll zu, als er ein ganzes Packet davon ohne Pause nacheinander entzündete. Die verschiedenfarbigen Funken sprühten etwa einen Meter hoch über dem Boden und tauchten den enthusiastisch darum herumtanzenden Jungen in ein geheimnisvoll flackerndes Licht. Bill liebte es, ihm so zuzusehen, weil es ihm das Gefühl gab, dieser sei so glücklich wie jeder normale Junge auch. Er konnte beinahe vergessen, dass der Kleine mit neun seine Eltern verloren hatte, von seinem großen Bruder aufgezogen wurde und sich nie das hatte leisten können, was er sich wünschte. Alles, was der Ältere, in der Gegenwart, nicht in der Zukunft, wollte, war es, diese Freunde und diese Zufriedenheit jeden Tag aufs neue zu erblicken. Es waren die kleinen Dinge, über die sich nur ein kleiner, offenherziger Junge so freuen konnte, die Bill immer wieder an den Sinn zu leben erinnerten und ihn für einen winzigen Moment von seinen hochgesteckten Plänen, vom Reichtum und Ansehen, das er sich über alles erträumte, aber nicht bekam, trennte.

Wochen später jedoch, als sie in der Schule über Berufswünsche sprachen, kam wieder seine ehrgeizigste Seite zum Vorschein.
Viele aus seinem Kurs hatten noch keine Ahnung, was genau sie in anderthalb Jahren zu tun vorhatten, und diejenigen, die bereits langsam eine Vorstellung von ihren Wünschen und realen Möglichkeiten bekamen, bevorzugten es, sich, bescheiden und ohne viel Hoffnung, vage zu äußern. „Lehrer wäre schon nicht schlecht“, meinte einer verlegen und setzte rasch hinzu: „An dieser Schule.“
Der nächste deutete mutiger an: „Der alte Doc in unserer Nachbarstraße hat vor, die Praxis abzutreten und ich hatte mich eigentlich schon immer für Medizin interessiert.“
So ging es noch eine ganze Weile weiter und jeder der sprach, schien vollkommen entsetzt davon zu sein, aus der Gegend, in der sie geboren waren und sich sicher fühlten, auch nur einen Schritt zu weit fortzugehen, denn dicke Autos, villenartige Häuser und Gehälter, die einem schier den Atem raubten, verunsicherten sie und dazu noch hatten sie viel zu viel Angst davor, von den anderen ausgelacht zu werden.
Doch als Bill an der Reihe war, wechselte die Richtung dieses Gespräches um hundertachtzig Grad.
„Ich werde Architektur studieren und danach selber Gebäude planen“, berichtete er eifrig und nicht ohne einen Anflug von Arroganz. „Natürlich nicht die alten Modelle, sondern eher etwas ganz neues. Je höher und leichter, desto besser.“
Bei dem Wort neu ging ein aufgeregtes Raunen durch die Runde, so als wäre es ihm verboten, dieses zu benutzen.
Marko Ludwigs, ein langjähriger Klassenkamerad von ihm, der nun fast immer in denselben Kursen wie er war, schüttelte hoffnungslos den Kopf, so als wollte er den anderen zeigen, es sei schon immer so bei ihm gewesen. Eines der Mädchen beugte sich interessiert zu dem stämmigen jungen Mann hinüber und missbilligend erkannte Bill, wie sie miteinander erst ernst tuschelten, danach in ein leises, spöttisches Lachen ausbrachen.
Auch musste er wohl wieder einmal bemerken, dass er im Allgemeinen keine große Beliebtheit genoss. Ludwigs war da kein Ausnahmefall.
Nur sein Lehrer lauschte seinen Berichten so verzückt wie immer.
Was soll’s, dachte Bill wütend, der sitzt mit in der Zeugniskonferenz, nicht die!
Der Lehrer befand, als er geendet hatte, Düsseldorf brauche einen guten Architekten dringend, worauf hin Bill spontan ganz ohne nachzudenken erwiderte: „Düsseldorf interessiert mich da eher weniger. Die Baukunst anderer Länder ist mir wichtiger. Sie wissen schon, große Städte mit großer Bedeutung.“
Sein einziger Zuhörer seufzte bedauernd. „All unsere begabten Leute zieht es ins Ausland“, merkte er an. „Wie soll unser Staat das nur überstehen? Aber wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich sagen, ich hätte ebenso entschieden wie Sie, Bill. Es ist eine großartige Chance.“
Hatte er sich denn etwa schon entschieden? Überrascht stellte Bill fest, dass er diesen Plan für selbstverständlich hielt, ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran verschwendet zu haben. Dabei war es ein Entschluss, der sein ganzes Leben bestimmen würde. Es wunderte ihn, dass er diesen so leichtfertig traf, wo er doch normalerweise alles bis ins letzte Detail zu überlegen gedachte.
Nach der Stunde, bat ihn der Lehrer zu sich. „Wissen Sie, Bill“, begann er stolz. „Sie waren schon immer unser Eliteschüler, auf den jeder an dieser Schule entweder mit Neid oder Bewunderung zu sehen pflegt, deswegen erzähle ich Ihnen etwas, was Sie und Ihre Kameraden eigentlich erst später erfahren sollten. Es fiel mir nur eine Sache ein, als Sie von Ihren Absichten Architekt zu werden erzählten, denn paradoxer Weise habe ich gerade heute davon gelesen, dass die Britische Regierung angehende Architekturstudenten sucht, da ihre eigenen in den letzten Jahren ein weinig knapp geworden sind. Es wäre sicherlich ein verlockendes Angebot gerade für Sie, weil es Ihnen, wie ich vermute, nicht sehr viel Schmerz bedeutet, hier einiges aufzugeben und Sie die Bezahlung dieses Berufes dort ganz bestimmt ansprechend fänden. Auch wenn Sie sich einmal selbstständig machen sollten, kann man jetzt schon davon ausgehen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit niemals nach Arbeit suchen müssten. Hier in Deutschland ist es nicht annährend so sicher.“
Bill wurde plötzlich von einer unerwarteten Aufregung ergriffen. Das war es doch, was er sich immer gewünscht hatte: Ein gut bezahlter, sicherer Job, der ihn dazu noch auf diese unglaubliche Weise fesselte! Ein ganz neues Leben tat sich vor seinem inneren Auge betörend und herausfordernd auf. Er war versucht, sofort zuzustimmen, doch mit einer kaum aufbringbaren Selbstdisziplin hielt er sich gerade noch zurück und zwang sich zum vernünftigen Denken. War es denn wirklich das was er wollte, Häuser bauen?
Er sah überwältigende, atemraubende Bauten vor sich, was eine Antwort vollkommen überflüssig machte.
Und war er auch ganz sicher bereit dazu hier so vieles zurückzulassen?
Die Gegenfrage, was es denn schon groß aufzugeben gäbe, stellte sich ihm mit überzeugender Kraft.
Und was war mit Popel?
Bill stockte unsicher und dachte an den zwar nicht mehr ganz so kleinen, doch immer noch von ihm abhängigen Jungen. Endlich kam er zu dem Entschluss, es fördere ja auch das Wohl des Kleineren, an bessere Lebensumstände zu kommen. Und er war felsenfest davon überzeugt, dass ihn dies rechtfertigte, ihn ebenfalls aus seiner Umgebung zu reißen. Er hatte doch auch nichts zu verlieren. Freunde fand man schließlich überall neue.
Eine attraktive, feste Zukunft als wohlhabender Mann mit viel Ansehen und wenigen Sorgen begann sich in seinen Gedanken zu verankern.
Er hatte seinen Weg gefunden, jetzt brauchte er ihn nur noch zu gehen.

In der nächsten Zeit informierte sich Bill gründlich über seine Möglichkeiten und es stellte sich heraus, dass sein Lehrer tatsächlich recht hatte. Das Angebot war einfach zu verlockend. England wollte nur das Beste vom Besten, doch der Junge sah darin kein Hindernis für sich. Er würde dem Begriff Elite eine neue Bedeutung geben, dachte er selbstgefällig.

Ein Jahr später, kam er selbst zu diesen Gedanken nicht mehr, denn sein Abi stand kurz bevor. Tag und Nacht, vorrausgesetzt er war nicht in der Schule, saß er an dem kleinen Schreibtisch und jagte seinen Bruder und Raumgenossen sofort mit drohender Stimme hinaus, sollte dieser der Zimmertür auch nur zu nahe kommen. Popel bemerkte zähneknirschend, dass der Ältere einem Pulverfass glich, das immer kurz vorm Explodieren stand. Selbstverständlich behielt er seine Meinung für sich und sprach im Allgemeinen wenig mit seinem Bruder. Er war überzeugt, dieser Zustand würde, hatte Bill erst einmal sein Abitur in der Tasche, schon wieder seinem normalen Verhalten weichen. Um seine Zuwendung von Seiten der Familie betrogen, traf Popel sich nun noch häufiger mit Kelly.
Die Siebtklässlerin holte sich jetzt oft Rat bei ihm, weil sie in der Schule immer weiter zurückhinkte. Eifrig half er ihr, so gut er konnte, da es ihn traurig machte, seine jahrelange beste Freundin mit Problemen belanden zu sehen. Dabei musste er unausweichlich an ihr Abbild in der Schulgalerie denken, das unablässig aus zutiefst besorgten Augen die bewundernden Blicke der stehengebliebenen Passanten erwiderte.
Aber es war nicht der alleinige Grund für ihre Verabredungen. Meistens spazierten sie einfach Seite an Seite durch die Stadt, vorzugsweise machten sie eine lange Pause im Park mit einem winzigen Picknickkörbchen, das sie zuvor mit einigen bescheidenen Leckereien gefüllt hatten, und sprachen über ihre Fortschritte in der Theater-AG und bei ihrem eigenen Stück. Als sie es zu schreiben begonnen hatten, war es ihr Ziel gewesen, es einmal zum Ende des Schuljahres mit all den anderen aufzuführen, doch nun musste Popel voller Entsetzen feststellen, wie sehr ihnen die Zeit dazu davongeeilt war.
„Es ist unglaublich“, meinte Kelly an einem der ersten Februartagen, an dem es trotz der Kälte erträglich war, auf ihrer Lieblingsparkbank vor dem kleinen, halbzugefrorenen See zu sitzen. „In einem Jahr musst du schon deine Prüfungen schreiben! Bei all dem Getue um Bills Abi, ist es leicht, das zu vergessen.“
Sie sah betrübt aus und Popel klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. „Es ist noch lange hin, glaube mir. Komm, lass uns zum See gehen! So einen wunderhübschen Tag sollte man ausnutzen!“
Sie nickte zustimmend, froh, dieses unbehagliche Thema fürs erste beiseite schieben zu können. Die beiden schlurften durch den knöchelhohen Schnee den leichten Hang zum Wasser, das unter einer hauchdünnen Eisschicht schlummerte, hinunter.
„Es glitzert so traumhaft, wenn die Sonnenstahlen sich auf der Oberfläche brechen“, fand Kelly entzückt.
Popel ging in die Hocke, nahm eine handvoll Schnee, während sie sich bewundernd im Kreis drehte, den Kopf in den Nacken gelegt, um die Schneekronen auf den Bäumen, die den See einschlossen, zu bestaunen, und formte ihn zu einem kleinen, gleichmäßigen Ball. Das tat er so lange, bis er eine feste Perle aus weißem Eis in den Händen hielt. Danach griff er sanft nach ihrer Hand und legte ihr sie in die von der Kälte rötliche Innenfläche. „Wie schön“, raunte Kelly glücklich und drehte das winzige Geschenk zwischen ihren zarten Fingern, um es zu betrachten, bis es schmolz und das kühle Wasser aus ihrer Handfläche tropfte.
„Nur für einen Atemzug“, fügte der Junge leise hinzu und die Magie des Augenblicks fesselte beide in einem zeitlosen Beisammensein, das in ihren Gedanken nie enden sollte.
Aber an der Realität tat es das und verlegen sahen die Jugendlichen sich an, bis Kelly ebenfalls ein kleines Häufchen Schnee aufsammelte und mit einem verschmitzten Grinsen meinte: „Und das hier ist für dich.“
Voller Freude streckte Popel seine Hände aus, um das vermeidliche Geschenk entgegenzunehmen, und ihr Schneeball traf ihn mit ganzer Wucht ihm Gesicht. Prustend erwachte auch er wieder aus dem Traum, in dem sie sich soeben noch befunden hatten, und wischte sich den Schnee von der Stirn.
Ein bisschen blieb in seinen Augenbrauen hängen und Kelly lachte vergnügt. „Jetzt siehst du genauso aus, wie mein Geschichtslehrer“, stellte sie amüsiert fest. „Ich glaube du solltest besser gewaschen werden, ehe der Anblick haften bleibt!“
Dieses Mal konnte er der weißen Ladung, die sie ihm entgegenschleuderte, leicht ausweichen und ehe sie sich versah, war sie selber von oben bis unten mit Schnee bedeckt, der von dem über ihr hängendem Ast stammte, dem Popel kräftig geschüttelt hatte.
Die wilde Schneeballschlacht, die sie sich noch lieferten, endete erst, als es schon zu dämmern begann. Vollkommen durchnässt liefen sie nach Hause, wobei sie nicht aufhören konnten zu lachen.
Bill, der zum ersten Mal seit Stunden von seinem Schreibtischstuhl aufgestanden war und aus dem Fenster auf die Straße blickte runzelte besorgt die Stirn, als er die zwei freudentrunken neben einander heralbern sah. Er hoffte innig, dass das ungute Gefühl, was ihn dabei überkam, täuschte.
Sein kleiner Bruder war doch nicht etwa in Begriff sich zu verlieben, so kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatten?

Zu seiner Erleichterung blieb ihn keine Zeit, selbst darüber genauer nachzudenken, denn der in seinem Kalender rot eingekreiste 17. Februar rückte unaufhaltsam Stück für Stück näher. Tage vor seinen schriftlichen Prüfungen war Bill ein nervliches Wrack. Er musste sich genauso zwingen, nachts den Weg ins Bett zu finden und nicht über seinen Büchern und Aufzeichnungen einzunicken, wie zumindest einmal pro Tag ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen. Seine neuste Gewohnheit war es, vor der Schule zwei große Tassen schwarzen, ungesüßten Kaffee in sich hineinzuschütten, um einigermaßen die Augen aufzubekommen. Wie er dies schaffte war ihm selbst ein Mysterium, weil er dieses Getränk früher immer schon mit löffelweise Zucker und im Gemisch mit Milch im Verhältnis 2:1 (wobei Milch die Stelle zwei einnahm) verabscheut hatte. Desgleichen war es höchst verwunderlich, dass er in der Schule hellwach schien. Aber wie gesagt, es schien nur so. In Wirklichkeit fühlte er sich halbtot und ausgelaugt und hatte nicht die geringste Ahnung, wie er in diesem Zustand noch die Prüfungsbogen richtig herum halten, geschweige denn die richtigen Antworten draufschreiben sollte.
Popel beobachtete seinen großen Bruder sorgenvoll dabei, wie er mit einem Schulbuch vor der Nase nach Hause kam, ein schlechtgelauntes „Hallo“ grummelte, mit eben demselben neben seinem Teller hastig sein Mittagessen verschlang, falls er dieses nicht ganz vergaß, und sich danach für den Rest des Tages in ihrem gemeinsamen Zimmer, dass zu dieser Zeit für Popel tabu war, einschloss.
Einmal war der Jüngere plötzlich aus dem Schlaf geschreckt und hatte eine apathisch dreinstarrende Gestallt im Pyjama am Schreibtisch, die sich taumelnd nach einem heruntergefallenen Buch bückte und dabei fast vom Stuhl kippte, gesehen. Im rötlichen Licht der Leuchtanzeige des Digitalweckers, auf der die grellen Ziffern von 3:56 auf 3:57 umsprangen, hatte Popel noch erkennen können, dass dieses Etwas seinem Bruder fast ein wenig ähnelte, bevor er wieder eingeschlafen war.
Am 15. Februar konnte der Kleinere es einfach nicht mehr ertragen, Bill so zu sehen, und versteckte kurzerhand alle Bücher im Hause, die er finden konnte. Popel befürchtete, aus dieser geistergleichen Erscheinung werde nie wieder sein Bruder, wenn dieser vor lauter Müdigkeit auf seinen Testbögen einschliefe. Deshalb hielt er es für seine Pflicht, ein bisschen nachzuhelfen.
Bill teilte diese Meinung jedoch ganz und gar nicht. So gab es zwei Tage vor dem wichtigsten Moment im Leben des Älteren noch ein großes Gebrüll, zwischen einer Wasserleiche und einem trotzköpfigen fünfzehjährigen Jungen, der gerade die schönsten Seiten der Pubertät aufblühen ließ. Daraufhin folgten wutentbrannte Gesichter, krachende Türen, aber immer noch keine Bücher.
Was für ein tolles Omen für mein Abi, stellte Bill voller Ironie fest.
Was für gute Voraussetzungen für seine Prüfungen, dachte Popel ohne diese, ein klarer Kopf ohne dicke Wälzer voller Formeln davor.
Nachdem sich Bill wieder einigermaßen beruhigt hatte und auch seine Schulhefte nicht finden konnte, fiel er tatsächlich wie ein Stein ins Bett und schlummerte zehn wunderbare Stunden lang einen tiefen und vollkommen traumlosen Schlaf.
Als es schließlich soweit war, sah er wieder wie Bill aus und hatte nichts gespenstisches mehr an sich. Er fühlte sich, wenn er auch ein wenig aufgeregt war, frisch und gut vorbereitet.
So schrieb er also sein schriftliches Abitur, wusste alles ohne an einem bestimmten Bereich länger als nötig fest zu hängen, sah alles noch mehrmals flüchtig durch, schenkte den aufsichtsführenden Lehrern ein zuversichtliches Lächeln und ging durch die von Schülern leeren Gebäude dem Ausgang entgegen.
Als er wieder zu Hause war, stürmte er auf seinen kleinen Bruder zu und umarmte ihn glücklich und dankbar, womit der kurze Streit wieder behoben war.
Doch wenn Popel wirklich geglaubt hatte, jetzt würde alles in Ordnung kommen, so hatte er sich gründlich geirrt, denn jetzt begann das große Warten.
Nervös hühnerte sein Bruder in der Wohnung auf und ab, sodass es ihn ganz kribbelig machte und er sich sehnlichst wünschte, dieser verkrieche sich wieder zum Lernen in ihrem Zimmer und ließe ihn so in Ruhe. Also gab der Kleinere barmherziger Weise die versteckten Bücher und Hefte wieder frei, was Bills Aufregung jedoch nicht im Geringsten milderte.
Manchmal schreckte er sogar aus tiefstem Schlaf wieder auf und war sich ganz sicher, einen gravierenden Fehler in seinen Antworten gefunden zu haben, oder er träumte, dass nicht er, sondern Marko Ludwigs, der Jahrgangsbeste geworden war. Danach wachte er immer schweißgebadet und schlechtgelaunt auf, fluchte und zeterte so laut, dass sein friedlich schlummernder Bruder ebenfalls aus seinen wesentlich besseren Träumen erwachte, und legte sich erst nach vielen endlos langen Minuten in ängstlicher Unruhe wieder hin.
In den nächsten drei Monaten versuchte Popel, möglichst wenig Zeit zu Hause zu verbringen. Stattdessen konzentrierte er sich vermehrt auf seine geliebte Schauspielerei, was ihm nebenbei auch noch die Chance, Kelly zu sehen, gab.
Irgendwann, fiel ihm auf, dass sie sogar der Hauptgrund für ihn wurde, sich in strömendem Aprilregen, der so dicht war, dass er nur wie durch verschwommene Schleier den Weg zum Schulgebäude erkennen konnte, durch die menschenleeren Straßen zu kämpfen. Die sind nicht so verrückt wie ich, dachte Popel missmutig, nachdem er bemerkt hatte, dass das Wasser in seinen abgetragenen Schuhen hin und her zu schwappen begann, die bleiben bei diesem unausstehlichen Wetter zu Hause.
Hatte er erst einmal die Aula, seinen rettenden Zufluchtsort, erreicht, in der sich auf schon die anderen versammelt hatten und Albert wissend den Platz zwischen ihm und Kelly freigehalten hatte, stellte Popel besorgt fest, sein Herz müsse einen schweren Fehler erlitten haben, weil es plötzlich wie wild zu rasen anfange. Dazu kamen noch all seine Sinne, die nur auf einen einzigen Ort gerichtet waren und sich auf nichts anderes mehr konzentrieren wollten. Ihr Haar glitzere so atemberaubend, sahen seine Augen, die sie wie hypnotisiert anstarrten. Und wie sie rieche, fügte seine Nase hinzu, wie ein frischer Sommerwind, der geradewegs vom Meer komme!
„Hi, Popel!“, begrüßte sie ihn fröhlich. „Hast du unterwegs noch ein Bad genommen?“ Sie deutete grinsend auf seine triefenden Klamotten. Ihre Stimme sei so sanft und freundlich, dass man bei ihrem Klang ganz vergessen könne, wo man sei, meldeten seine Ohren, ohne ihre Worte so wirklich aufzunehmen. Ein dicker Wassertropfen löste sich aus seinen Haaren und lief ihm über die Wange.
In einer flüchtigen Bewegung wischte Kelly ihn weg und Popel zuckte unwillkürlich zusammen. Ihre Hand fühlte sich weich und warm auf seiner Haut an, doch Alberts bohrende Blicke in seinem Rücken, ließen die Situation unangenehm werden.
Rasch drehte sich der Junge von ihr weg. Er wurde ohnehin bald erlöst, denn Kelly musste auf die Bühne, um in der ersten Szene mitzuproben.
Verträumt sah Popel jeder ihrer Bewegungen zu, verfolgte ihren selbstsicheren Auftritt beeindruckt. Der geübte Schauspieler in ihm erkannte sofort das Talent, das sie besaß und im Laufe der Jahre mehr und mehr ausgebaut hatte. Doch der restliche Teil in ihm sah nur sie, ihre sanftmütige Persönlichkeit, ihr liebliches Äußeres und ihre vielen gemeinsamen Erlebnisse, die alle voller Glück, Spaß, Freude und auch Trost waren.
Bevor Albert sich auf den Weg zur Bühne machte, beschuldigte er seinen weggetretenen Freund: „Mann, du bist echt voll verknallt!“
Verwirrt richtete Popel seine Blicke auf den grinsenden Jungen und brauchte einen Moment, wieder so weit zur Wirklichkeit zurückzufinden, um in einer kraftlosen Antwort zu erwidern, das sei doch alles Quatsch und er solle jetzt lieber zusehen, seinen Auftritt nicht zu verpassen. Außerdem, was konnte Albert ihm schon vorwerfen? Schließlich hatte er doch selber einmal eine Freundin gehabt, wie viel andere Jungen aus der Klasse auch. War das denn mit fünfzehneinhalb ein Verbrechen?
An diesem Abend, als er wie gewöhnlich seinen Tagebucheintrag machte, schrieb er nachdenklich:
Albert hat Unrecht. Ich bin nicht nur „voll verknallt“, sondern sogar verliebt, glaube ich.
So richtig eben. Gut möglich, dass das bei Kelly und mir das von unserer ersten Begegnung
an, die mir noch immer so eindrucksvoll vor Augen steht, vorherbestimmt war.
Ich gehöre zu ihr und sie zu mir, das ist unabänderlich, für immer und ewig.

Als Bill endlich seine schriftlichen Ergebnisse bekam und auch seine mündliche Prüfung ohne Schwierigkeiten ablegte, atmete Popel erleichtert auf. Zumindest das hatten sie jetzt hinter sich. Eine Woche später war Abiturientenentlassung und danach war es schon so weit.
Glücklich und befreit von der drückenden Anspannung der vergangenen Monate, verließ Bill zum letzten Mal durch den großen Haupteingang, über dem das Schulwappen hing, den Ort, an dem er neun Jahre lang hart gearbeitet hatte um zu erreichen, was er gerade eben bekommen hatte:
Ein Abitur mit Auszeichnung und das gute Recht, sich Jahresbester nennen zu dürfen. Absoluter Spitzenreiter in der Geschichte der Schule zu werden, hatte er zwar nicht ganz geschafft, doch ihm war versichert worden, es sei sehr nah dran gewesen. Jetzt konnte er das Kapitel seiner ärmlichen Kindheit endgültig abschließen und sich auf das nächste freuen.
Dieses Jahr lagen die Events dicht beisammen und das nächste was anstand, war die Theateraufführung, die anspruchsvoller denn je war.
Popel und Kelly hatten, sie waren ja schon „Alte Hasen“, die Hauptrollen bekommen und dazu die Aufgabe, sich vor der Vorstellung um die Jüngeren zu kümmern, die unter dem unbeschreiblichen Lampenfieber eines Anfängers litten.
Kelly nahm sich rührend den Ängsten der Mädchen an und Popel versprach den Jungen, es gehe schon nichts schief.
Als sie die Kleinen kurz vor Beginn des Stückes in die Maske schickten, lächelten sie einander gerührt an. „Waren wir auch mal so aufgeregt?“, zweifelte sie gutmütig und beobachtete, wie sich die kleinen Fünftklässler stolz von den Älteren schminken ließen.
Darauf hin erwiderte er ehrlich: „Eigentlich geht es mir nicht viel besser. Jedes Jahr ist das Stück ein anderes als im vorigen und bringt neue Stolpersteine mit sich, aber diesmal fehlt uns wirklich die Erfahrung.“
Zustimmend nickte sie und zupfte mit einer Spur Nervosität an ihren bereits frisierten Haaren herum. Es war wahrlich eine Herausforderung für sie, weil das Bühnenwerk, das die Gruppe im Begriff war aufzuführen, kein anderes als das berühmte „Romeo und Julia“ von Shakespeare war. Zuvor hatten sie immer nur irgendwelche Märchen oder Schultheaterstücke gespielt, was ihre Vorstellung in diesem Jahr zu einem wahren Überraschungspaket machte. „Was machst du nun eigentlich, wenn du mit der Schule fertig bist?“, wollte sie völlig unerwartet wissen.
Popel musste ganz ehrliche eingestehen, dass er sich im Gegensatz zu seinem älteren Bruder noch keine ernsten Gedanken darum gemacht hatte.
Daraufhin schlug sie fast schüchtern vor: „Falls du ein eigenes Theater aufmachst, wartest du dann wieder auf mich?“
Überrascht sah er sie an, worauf sie errötete und sich verlegen abwandte.
Als er schweigend nach Worten suchte, schien Kelly das Gefühl zu haben, ihren Wunsch erklären zu müssen. „Wir beide lieben das Schauspiel und haben darin etwas gefunden, was wir wirklich gut können“, meinte sie so stockend und unsicher, als hätte sie dies zwar stundenlang vor sich hin geübt, aber ihren Text jetzt im entscheidenden Moment doch vergessen. „Da wäre es doch schön, wenn wir uns zusammentäten?“
Es klang mehr wie eine Frage, die nach Bestätigung seinerseits verlangte, als nach einer festen Äußerung, aber ausgerechnet jetzt wurden die Türen zur überfüllten Aula geschlossen und Frau Sommer begann vor dem zugezogenen Vorhang mit ihrer Begrüßungsrede durch das Mikro.
Plötzlich war alles hinter der Bühne wieder in stumme Hektik ausgebrochen und Popel und Kelly fanden sich mittendrin. Die Bühnenbauer suchten panisch nach den letzten Requisiten, die sie nicht finden konnten, weil die Kostüme, die für den zweiten Akt gebraucht wurden, darüber lagen. Eine der Maskenbildnerinnen kam ganz außer sich auf Kelly zugewuselt, um ihre mittlerweile vollkommen zerzupfte Haarpracht auf die letzten Minuten wieder zu richten. Ehe sie sich versahen, wurden sie in dem ganzen Durcheinander voneinander getrennt und Popel blieb noch Zeit, über eine Antwort nachzudenken, worüber er sehr dankbar war. Geistesabwesend überprüfte er noch einmal sein Kostüm und entdeckte dabei ein wichtiges Detail in der Kulisse, das sich noch nicht auf der Bühne befand.
Alles ging drunter und drüber, so das durch das Chaos kaum noch durchzublicken war, aber damit hatte hier jeder gerechnet, weshalb Frau Sommer auch ihre Ansprache ein wenig länger als nötig geschrieben hatte. Also war letzten Endes doch alles an seinem Platz, die Darsteller eingeschlossen, und Popel stand schon knappe fünf Minuten später mitten im gleißenden Licht der Bühnenbeleuchtung, als sich der schwere Vorhang langsam öffnete.
Sofort sah er Bill, der ihm aus der ersten Reihe stolz zulächelte, einen geheimnisvollen Ausdruck, den der Junge nicht deuten konnte, auf seinem Gesicht.
Popel spielte seine Rolle als Romeo wie gewohnt und ohne Fehler zu machen und auch Kelly verkörperte Julia exzellent, so wie sie es immer tat. Sie waren beide viel zu gute Schauspieler, um sich ihre grundverschiedenen Gefühle, bei Kelly war es Angst und Erwartung, bei Popel Überraschung und Freude, anmerken zulassen. Stattdessen inszenierten sie die dramatische Liebesromanze, so echt und ergreifend, wie es nur möglich war, und wurden damit zu den Stars des Abends. Im Laufe des Stückes passierten zwar so einige Pannen, von denen die meisten aber nur denjenigen, die es kannten, auffielen.
Am Ende der Vorstellung erwachten beide, sowohl Kelly als auch Popel, aus dem Bühnentod wieder zum Leben, um sich den vielen Glückwünschen und dem Beifall zu stellen. Froh nahm der Junge die Anerkennung seines Bruders entgegen, die er sonst selten genug bekam, und den überschwinglichen Dank Frau Sommers, dass er sich so sehr für die diesjährige Aufführung eingesetzt hatte.
Dasselbe galt auch für Kelly und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie auch den letzten Theaterliebhabern entwüschen konnten und es ihnen vergönnt war, sich in den getrennten Mädchen- und Jungenumkleiden ihren verschwitzen Kostümen zu entledigen.
Als Popel endlich wieder in T-Shirt und Hose steckte und sich am Getränkestand eine wohltuend kalte Cola besorgt hatte, fand er Kelly draußen vor dem Eingang in der kühlen Abendluft stehend.
Vertieft starrte sie in den klaren Sternenhimmel, ihr Gesicht noch immer gerötet von der Hitze auf der Bühne. Popel gesellte sich schweigend zu ihr und sie erschrak. „Oh, Popel, ich habe dich nicht kommen sehen!“, rief sie überrascht.
Doch er legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihr, ruhig zu sein. Lange betrachteten sie die helle Vielzahl der Sterne, die scheinbar wahllos über den Himmel verstreut lagen. Popel, der in diesen fernen Lichtern schon immer eine stille und eiskalte Schönheit gefunden hatte, die ihn erstaunte, entdeckte sofort ein paar seine liebsten Sternenbilder. Doch eines der Himmelsgestirne war ihm neu. Noch die war es ihm aufgefallen, dabei erstrahlte sein Licht in dieser verzauberten Nacht um ein vielfaches heller, als das der anderen. „Sieh, der leuchtende ganz oben neben der Kassiopeia?“, fragte er leise.
Es dauerte eine Weile, bis sie ihn ebenfalls gefunden hatte, da sie mit Sternenbildern kaum etwas anfangen konnte. Schließlich erkundigte sie sich flüsternd: „Wie heißt der? Er ist so viel schöner, als die anderen!“
„Es ist der Liebesstern“, raunte Popel ihr bedeutend zu.
Sie war beeindruckt und gab ein zaghaft zurück, sie habe dies noch nie gehört.
„Ich auch nicht“, räumte Popel ehrlich ein. „Aber der Name passt zu ihm, findest du nicht?“
Kelly nickte verträumt und rückte ein Stück näher an ihn heran.
Popel war erstaunt, wie natürlich und angenehm sich diese Nähe anfühlte und wisperte fast unhörbar: „Unser Stern.“ Schüchtern legte er einen Arm um sie, die ihn ruhig gewähren ließ.
„Hast du schon darüber nachgedacht?“, verlangte Kelly vorsichtig zu wissen. „Du weißt, mir ist die Sache ernst. Vielleicht hältst du solche Überlegungen für überfrüht, doch du bist ja in einem Jahr schon fertig. Und ich würde wirklich schrecklich gerne mit dir zusammenarbeiten...“
Popels Herz klopfte ihn bis zum Halse, genau wie das ihre auch, und in diesem Moment, in dem die Nachtluft sie wie ein erfrischender Mantel umgab, wie sie so aneinandergeschmiegt dastanden und in das überwältigende, weitreichende Himmelsreich hinausblickten, empfand er eine unzerstörbare Zuneigung für Kelly, wie sie noch nie da gewesen war. „Kelly“, gestand er nach all den Jahren ihres Beisammenseins endlich. „Ich würde es nicht nur lieben, mit dir zusammenzuarbeiten...“
Glücklich legte sie ihren Kopf an seine Schulter und versicherte ihn auf vollem Herzen: „Glaub mir, ich weiß genau, was du meinst.“
Mehr Worte bedurfte es nicht, um ihre ewig währende Liebe endgültig zu besiegeln.


2004
Plötzlich erklangen laute Schritte hinter ihm und Bill fuhr erschrocken zusammen.
Er konnte gerade noch rechtzeitig das Buch zuschlagen, bevor Claudia hektisch auftauchte und mit einem nahezu hysterischen Blick auf ihre diamantenbesetzte Armbanduhr, die er ihr zu ihrer Verlobung geschenkt hatte, bemerkte: „Der Möbelwagen ist da! Hast du diese Kiste nun endlich heruntergeschafft?“
Bill blinzelte sich mühsam zurück in die Gegenwart. War es denn wirklich schon so spät? Gehorsam nahm er das Paket, wessen Papier nun aufgerissen war, und folgte seiner Ex herunter zur Haustür. Dort fand er sein gesamtes Hab und Gut bereits auf dem LKW verstaut und musste missbilligend feststellen, das sich auch seine Arbeitsunterlagen, in dem größten der Umzugskartons, darunter befanden. Normalerweise erlaubte er niemandem, in seinem Auszeichnungen herumzuwühlen, doch war seine Autorität als Hausherr seit der Scheidung beträchtlich gesunken. Er war schon im Begriff, das Paket zu seinen anderen Sachen zu legen, aber im letzten Moment überlegte er es sich anders. Wenn er am Abend noch ein wenig erholsame Ruhe finden sollte, würde er in dem Buch weiterlesen, das für ihn so voller Bedeutung war.
Nachdem der Möbelwagen abgefahren war, kehrte er in seine, oder besser gesagt ihre, kahle Wohnung zurück, um sich noch mit Claudia über ihr selbsternanntes Recht, seinen teuren BMW zu behalten, auseinander zusetzen. Letztendlich gewann sie und er musste sich ohne großen Widerwillen geschlagen geben. Zwar war es schade um das prachtvolle Fahrzeug, das er sich erst vor drei Monaten angeschafft hatte, doch tröstete er sich damit, sich in ein paar Wochen, wenn er sich in seinem neuen Apartment, das noch näher an seinem Architektenbüro gelegen war, als das alte, ein Neues zu kaufen.
Schließlich war es Zeit für ihn, sich auf den Weg zum Flughafen zu begeben, denn das Taxi, das er sich für diese Uhrzeit bestellt hatte, war bereits eingetroffen. „Wie auch immer, Claudia, ich muss“, erklärte er ihr und nahm seinen Wintermantel vom Haken. Draußen hatte ein heftiger Hagelschauer eingesetzt, der laut gegen die Fensterscheiben prasselte. Es schauderte ihm bei dem Gedanken, die fünf Meter bis zum Taxi zurückzulegen, da er befürchtete schon auf der kurzen Strecke völlig durchnässt zu sein und in diesem unangenehmen Zustand den Acht-Stunden-Flug nach New York überstehen zu müssen. „Hab viel Gefallen an meinem überaus nützlichen Geld“, wies er sie in zuckersüßen Tonfall an, „und an meiner netten Wohnung und auch an meinem hübschen, kleinen Wagen!“
„Das werde ich, danke“, gab Claudia selbstzufrieden zurück, „aber all diese erfreulichen Dinge sind jetzt meine, nicht mehr deine.“
So verabschiedete er sich von dem Monster von Frau, mit dem er die letzten elf Jahre verheiratet gewesen war. Die Fahrt durch Londons Straßen verlief ruhig, trotz des widerborstigen Wetters und Bill, seine Ledertasche mit dem Buch darin schützend auf dem Schoß haltend, graute es schon vor den absoluten, immer währenden Verkehrsstaus in New York. Obwohl er von sich im Allgemeinen nicht sagen konnte, er sei ein Angsthase, musste er zugeben, dass ihm diese, auf allen Nähten platzende Stadt nicht behagte. Die überfüllten Straßen engten ihn ein und die schrille Leuchtreklame am Broadway machte ihn ganz schwindelig. Da war er immer, wenn er sich geschäftlich zu einem Aufenthalt im Big Apple gezwungen sah, froh, endlich in seinem feinen Hotelzimmer zu sitzen und sich bei einem Glas Wein von der nervenaufreibenden Reise zu erholen. Am liebsten würde er diesen Ort ganz aus seinem Leben heraushalten, doch Bill Capola war ein großer Mann und New York eine große Stadt, was es ihm im unmöglich machte, seinem Wunsch nachzugeben. Übermorgen, stand ihm ein bedeutender Vortrag zur modernen Architektur bevor, bei dem viele wohlhabende Menschen, die möglicherweise spätere Auftraggeber für ihn darstellen könnten, anwesend sein würden. Außerdem träfe Bill wieder einmal zu seinen Kollegen und Konkurrenten, die ebenfalls an der vornehmen Veranstaltung teilhaben würden. Bei solchen Begegnungen gab es gewöhnlich immer die Aussicht auf interessante Diskussionen, die ihn gelegentlich zu neuen Ideen anregten, was überhaupt der Grund war, dass er es auf sich nahm, immer wieder aufs neue in das hektische Gewusel New Yorks zurückzukehren.
Am Flughafen war der Weg vom Taxistand zur Halle gnädigerweise überdacht, was Bills Laune ein wenig hob. Er hatte noch eine Stunde, um in den Flieger über den Atlantik zu steigen, was jede Menge Zeit für ihn war. Schließlich war er den Ablauf auf dem Flughafen bestens gewöhnt und jetzt in der Schulzeit war der Betrieb dort eher mäßiger. Doch irgendetwas hielt ihn zurück und dieses Gefühl wurde mit der Zeit immer stärker. „Fliegt heute noch ein Flieger nach Deutschland, in dem noch ein Platz zu bekommen ist?“, fragte Bill die Frau am Schalter und war selbst überrascht über seine Worte. Sie bestätigte und Bill buchte rasch um.
Damit er es noch rechtzeitig bis zum richtigen Gate schaffte, musste er laufen. Andere Leute, an denen er sich eilig vorbeidrängelte, sahen ihm verärgert hinterher.
Eine halbe Stunde später saß er nicht etwa in der Businesclass des Flugzeugs nach New York, sondern auf einem unbequemen Dritteklassesitz eines Spätfluges nach Deutschland, wieder das Buch in seinen vor Aufregung leicht zitternden Händen haltend, und konnte kaum fassen, was er im Begriff war zu tun.


1982
Als Popel und Kelly wieder Hand in Hand zur Aula zurückmarschierten, waren schon fast alle Gäste gegangen.
Auch Bill war nirgends mehr zu finden. Die Theaterleute räumten noch schnell das Gröbste von der Bühne, alles ordentlich wegpacken und saubermachen wollten sie am nächsten Tag. Danach richtete Frau Sommer ein herzliches Lob an die ganze Truppe und entließ sie.
Popel ging noch ein kleines Stück mit Kelly, bis sich ihre Wege fürs erste trennten. Sie hauchte ihm ein schüchternes Küsschen auf die Wange und mit leichtem Herzen hüpfte der Junge gutgelaunt nach Hause.
Dort rannte er freudig in die Küche, wo noch Licht brannte, um Bill alles von Kelly und ihm zu erzählen. Es machte ihn froh, endlich einmal seine eigenen Zukunftspläne zu präsentieren. Bill tat dies ja schließlich alle Tage, würde es ihn da nicht hoch erfreuen, zu hören, dass auch sein kleiner Bruder endlich vernünftig und erwachsen wurde? Insgeheim wollte Popel auch ein wenig damit protzen, eine solche Unabhängigkeit erreicht zu haben, ganz zu schweigen von Kellys Herz!
Aber als er die Küchentür aufstieß, traf ihn fast der Schlag. Der Tisch , auf dem eine echte, weiße Stofftischdecke, die zu kaufen ein reines Vermögen gekostete haben musste, lag, wurde vom festlichen Schein der Kerzen erhellt, deren Flammen edel und würdevoll flackerten. Das Gedeck war nicht etwa das gewohnte, brüchige Keramikgeschirr, sondern bestand aus feinstem Porzellan. Dazu kam noch, dass keines der Weingläser einen Sprung hatte, was einem schon arg zu denken geben musste. Als Popel den Inhalt der kostbaren Schlüsseln erblickte, fiel ihn glatt die Kinnlade herunter. Da waren neben denen, die mit Rotkohl, Kroketten und brauner Soße gefüllt waren, noch Platten mit Rinderbraten, der appetitlich zugeschnitten war. So etwas königliches hatte der Junge in seinem ganzen Leben noch nicht einmal gesehen!
Am einen Ende dieser ungewöhnlichen Tafel saß Bill, in einem eleganten Anzug, die Haare ordentlich gekämmt, die Krawatte tadellos gebunden, und faltete sorgfältig seine weiße Spitzenservierte auseinander. Nachdem er sie vornehm auf seinen Schoß gelegt hatte, meinte er zu dem verblüfft dreinschauenden Popel: „Ich hoffe, es ist dir noch nicht zu spät für ein kleines Abendessen?“
Der Angesprochene rieb sich ungläubig die Augen. War ihm das ganze Glück dermaßen zu Kopf gestiegen, dass er anfing zu halluzinieren?
Sein Bruder, den er in diesem Aufzug beinahe nicht erkannt hatte, wies auf den Platz ihm gegenüber.
Popel zog langsam den Stuhl zurück und setzte sich. Vielleicht war eingeschlafen und träumte das alles nur? Unwillkürlich betete er, dass sein Erlebnis mit Kelly ein waches war. Der zweite Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war, dass Bill mit ihm seinen großen Theatererfolg feiern wollte. So etwas traute er seinem Bruder schon zu, doch glaubte er nicht, dass dieser dafür Geld für all diese Dinge ausgegeben hätte.
Bill ermunterte ihn großzügig, sich soviel aufzufüllen, wie er wollte und nach einigem Zögern tat er das auch. Danach präsentierte der Ältere gönnerhaft eine Flasche Rotwein und schenkte ihnen beiden ein.
Nachdem Popel einen Bissen von dem herrlichen Fleisch gekostet und festgestellt hatte, dass es nicht verschwand, sobald er hineinbeißen wollte und auch sonst mehr als in Ordnung war, musste er doch zugeben, vor einem unlösbaren Rätsel zu stehen. Ohne, dass Bill ihn über den Anlass für dieses Wunder aufklärte, aßen sie bis sie satt waren.
Schließlich tupften sie sich mit ihren Servierten anständig den Mund ab und Popel, der sich schon vom ersten Glas des Weines leicht schwindelig fühlte, lehnte ein zweites dankend ab. Bill goss sich selber noch einen Schluck nach und antwortete, als er das fragende Gesicht seines Bruders sah, mit einem feierlichen „Nun...“.
Der Jüngere wartete gespannt darauf, dass er fortfahre und Bill schien die Wirkung des Augenblickes voll auszukosten. „Erst einmal Gratulation zu deinem wundervollen Auftritt“, redete er geheimnisvoll um den Punkt herum.
Hatte er ihn nicht schon in der Aula gelobt? Allmählich wuchs die Unruhe in Popel, denn es sah seinem Bruder ganz und gar nicht ähnlich, sich zu wiederholen. „
Nun aber zu dem Grund für dieses Festessen“, berichtete dieser endlich. „Wir haben es nach all den Jahren letzten Endes doch noch geschafft!“
Bedeutungsvoll richtete er seine Blicke auf seinen Gegenüber, dessen Gedanken allerdings zu dieser späten Stunde und nicht zuletzt auch wegen der Wirkung des Alkohols wie gelähmt waren. Mit einem Kopfnicken bat er ihn, fortzufahren. Für solche unnötigen Spielchen fehlte ihm jetzt einfach die Kraft.
„Was ich meine“, rückte Bill selbstzufrieden raus, „ist, unser sehnlicher Traum, aus diesem armseligen Leben herauszukommen. Vor einiger Zeit habe ich viele Anträge gestellt, die nun, Gott sei Dank, endlich bewilligt worden sind. Mein geliebter, kleiner Bruder, ich freue mich sehr, dir mitteilen zu können, dass wir in wenigen Wochen in England ein neues, ein besseres Leben beginnen werden. Es ist eine einmalige Chance für uns beide! Popel, alles hat nun ein gutes Ende gefunden!“
Popel blinzelte hilflos, um seiner plötzlich fallenden Müdigkeit zu entfliehen. Was behauptete sein großer Bruder da? Sie würden fortgehen? Für wie lange und was war noch einmal der Grund? Gab es überhaupt einen? Das alles wurde auf einmal viel zu viel für ihn. Verständnislos bat er Bill, das noch mal zu wiederholen.
„Es gibt ein Angebot von der britischen Regierung, um angehende Architekturstudenten, wie mich, mit guter Schulbildung ins Land zu holen“, erklärte dieser vollkommen begeistert und schien die offensichtlichen Konzentrationsprobleme seines Bruders einfach zu übersehen. „Es ist einmalig. Und wird es so gut gehen wie nie zuvor, Popel. Du wirst da deine Schule zu Ende machen und einen vernünftigen Beruf auf Realschulniveau erlernen und ich meinen Traumjob studieren und später bei erstaunlicher Bezahlung ausüben. Und das Beste ist: Während des Studiums werden wir finanziell vom Staat unterstützt, sodass wir schon dann besser leben können, wie wir es je getan haben!“
Mühsam schaffte es der völlig überforderte Popel einige Punkte auf die Reihe zu bekommen. Sie sollten bald nach England auswandern und für einen längeren Zeitraum, wenn nicht gar für immer, dort bleiben. Das Motiv dafür sah er allerdings noch nicht. Wahrscheinlich hätte er es auch in wacherem Zustand nicht verstanden. Irgendetwas von angenehmeren Seiten des Lebens? Aber er hatte doch ein gutes Leben und würde es auch in Zukunft haben, wenn er mit Kelly zusammen ein eigenes Theater aufmachte. Kelly! So schoss es ihn durch seinen verwirrten Kopf. Was würde aus ihr, wenn er so einfach von einem Tag auf den anderen fortginge? Und was täte er ohne sie? „Das geht nicht“, murmelte er unverständlich. „Es tut mir leid, Bill...“
Der Ältere starrte seinen kleinen Popel verwundert an und fragte sich, was für ein wirres Zeug dieser da faselte. Besorgt legte er ihm die Hand auf die Stirn. „Oh, mein Gott“, entfuhr es ihm erschrocken. „Du bist ja glühend heiß! Ich glaube, das mit dem Wein ist keine gute Idee gewesen!“ Führsorglich nahm er den Jüngeren bei der Hand und half ihn, taumelnd den Weg in ihr Zimmer zu bestehen. „Du solltest jetzt schlafen, es ist ja schon kurz nach zwölf“, ordnete Bill wie in den alten Tagen ohne Widerspruch zu dulden an. „Morgen sieht alles wieder ganz anders aus, Kleiner!“
Mit lahmer Zunge wollte Popel etwas einwenden, das klarzustellen er für wichtig hielt, aber bevor er ein Wort herausbringen konnte, hatte er es wieder vergessen. Sanft legte Bill ihn zu Bett und wenige Sekunden später war er auch schon in einen erschöpften, verworrenen Schlaf gestürzt.

Als Popel am nächsten Tag, einem Samstag, die Augen aufschlug, war es bereits nach acht Uhr. In seinem Kopf hämmerte es wie verrückt und zuerst konnte er nicht sagen, was am vorigen Abend passiert war. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein und der Schreck fuhr ihm in alle Glieder.
Bill wollte ihn von hier fortbringen, das musste er verhindern! Eilig sprang er auf die Füße, sodass sein Kopf empört pochte und rannte in die Küche, die jetzt wieder normal aussah.
Der Tisch war wieder mit dem alten Keramikgeschirr gedeckt und eine Decke fehlte ganz.
Sein älterer Bruder stand an der Spüle und wusch das Porzellan vom Vorabend, behutsam um nichts zu zerbrechen, ab. Als er den Kleineren in der Tür stehen sah, stellte er die Platte, die er gerade säuberte, beiseite, trocknete sich die feuchten Hände in dem Handtuch, das er anschließend wieder an den Haken in der Wand hing, und ging ihm lächelnd entgegen. „Wieder alles OK?“, wollte er leicht besorgt wissen.
Popel wich unwillkürlich vor ihm zurück. „Ich komme nicht mit nach England!“, rief er entschlossen und Bill stockte und stellte fest: „Natürlich wirst du das, Kleiner. Was redest du denn da?“ Er schien sichtlich verwirrt von dem plötzlichen Widerwillen seines Bruders, der ihn entschieden fixierte. So etwas kannte er von diesem überhaupt nicht. Vergeblich suchte Bill nach einem Anlass, an dem der Jüngere sich ihm auf diese Weise entgegengestellt hatte.
„Kelly und ich machen hier ein Theater auf, wenn wir mit der Schule fertig sind“, erklärte Popel mit zitternder Stimme.
Bill seufzte unglücklich. Also hatte er doch Recht gehabt. Nichts würde so einfach werden, wie er gehofft hatte und das nur wegen diesem Mädchen! „So höre doch endlich mit dieser verdammten Schauspielerei auf“, entfuhr es ihm wütend. „Lerne lieber etwas vernünftiges und mache uns nicht alles damit kaputt!“ Kaum das er es gesagt hatte, bereute er es schon wieder.
Aber sein Bruder starrte ihn betroffen und verletzt an.
Bill sah die Tränen in seinen Augen aufsteigen und seine Lippen zu zittern anfangen. Er fühlte sich elend dabei, seinen geliebten Bruder zum Weinen zu bringen und wollte ihn schon mit sanften Worten trösten, als dieser plötzlich und unerwartet schrie: „Ich hasse dich, Bill! Ich hasse dich für immer und ewig! Und an meinem achtzehnten Geburtstag werde ich aus deinem schönen, neuen Leben abhauen und du sollst mich nie, niemals wiedersehen!“ Darauf drehte er sich heulend um und schlug die Tür hinter sich mit einem ohrenbetäubenden Krachen zu.
Verblüfft starrte Bill ihm nach und ein unbeschreibliches Entsetzen keimte in ihm auf, begleitet von Wut. Sein Bruder hatte ihn angebrüllt und gemeint, er hasse ihn! Er konnte es gar nicht fassen. Wollte dieser kleine Junge allen Ernstes diese unbeschreibliche Chance, die er ihnen mit so viel Mühe und Arbeit ermöglicht hatte, zerstören?
Was sei es drum, dachte Bill zornig, wir fahren trotzdem nach England. Wenn er erst einmal merkt, was ihm dort alles offen steht, wird er sein Mädchen schon sehr bald vergessen haben und mit ihr dieses hirnrissige Theater!

So duldete Bill also keine Einwände, als es Wochen später darum ging, Abschied zu nehmen. Es gab zwar eine Menge weiteres Geschrei, literweise Tränen und heftige Verfluchungen, die darin endeten, dass Popel nicht mehr mit ihm sprechen wollte, aber schließlich saßen beide nebeneinander im Flieger nach London, wobei der Kleinere die ganze Zeit lang stur aus dem runden Fenster starrte, und eilten der glorreichen Zukunft entgegen, die Bill ihr ganzes Leben lang für sie geplant hatte.
Popels Gedanken waren bei Kelly, die bei ihrem Lebewohl herzerweichend weinen musste. Er hatte ihr mit brüchiger Stimme versichert, so bald wie es ihm möglich war wieder zu ihr zurückzukehren, damit sie so zusammen leben konnten, wie sie sich es wünschten. Nein, für ihn begann die Zukunft nicht hier in diesem Flugzeug und auch nicht, als sie zum ersten mal englisches Festland betraten.
Bill hielt den Kopf wohl voller Stolz mit dem Blick nach vorne gerichtet, aber Popel schlich nur mit hängenden Schultern hinter ihm her. Er fühlte sich dabei wie ein elender Sklave, der auf dem Weg war, seinem Schicksal entgegenzutreten, ein Knecht seines eigenen Bruders. Aber nicht für immer, schwor er sich im Stillen, das hier war noch lange nicht das Ende...

Aber für eine Lange Zeit schien es so, denn sie lebten ohne über ihre unangenehme Vergangenheit, die immer noch ein sehr heikles Streitthema war, zu sprechen in Bills neuer Welt dahin. Popel besuchte eine englische Schule und kam dort bald einigermaßen klar, obwohl ihm die fremde Sprache anfänglich schwergefallen war. Freunde jedoch hatte er keine, was wohl daran lag, dass er sich nicht ernsthaft um welche bemühte. Es belastete ihn sehr, so schrecklich allein zu sein, da es nicht in seiner Natur lag und er gerne Menschen um sich hatte, aber seinem großen Bruder gegenüber zeigte er nichts davon. Das Vertrauen, das ihre Beziehung früher stets geprägt hatte, hatte sich in dem frischen Seewind, der hier an der nordenglischen Küste oft wehte, wie feiner Sand verloren und es war unmöglich, jedes einzelne Korn davon wieder aufzulesen. Sowieso bestand weder bei Popel noch bei Bill, der viel zu sehr mit seinem eigenen Leben beschäftigt war, das Bedürfnis, das ernsthaft zu versuchen.
Der Ältere nahm seinen Bruder, der einst einen so festen und tiefgreifenden Platz in seinem jungen Herzen gehabt hatte, mit der Zeit kaum noch wahr. Sein Studium beanspruchte seine gesamte Aufmerksamkeit und nicht mehr gemeinsame Sonntage mit Popel, wie sie sie früher regelmäßig veranstaltet hatten, brachten seine blauen Augen zum Leuchten, sondern die verliebten Blicke auf seine Kontoauszüge, wenn die monatliche Unterstützung des Staates eingetroffen war. Zwar war es nicht die Welt, was er bekam, doch es reichte bei weitem aus, um ihn und seinen Bruder zu ernähren und ihnen eine kleine, gut gelegene Wohnung, die sie mit keinem habsüchtigen, unberechenbaren Drogenabhängigen teilen mussten, zu ermöglichen. Zusätzlich waren kleine Extras, wie ein altmodisches Fernsehgerät, angesagtere Kleidung oder Essengehen im gemütlichem Restaurant um die Ecke, bezahlbar geworden, Dinge, die sie sich früher niemals hätten leisten können. Ein flüchtiger Blick aus dem Fenster genügte, um Bills Laune, so schlecht sie auch war, zu heben, denn er liebte es, aus dem fünften Stock des Wohnblockes auf den daran angeschlossenen Spielplatz zu sehen und die kleinen Kinder auf den bunten Geräten beim vergnügten Herumturnen zu beobachten. Manchmal bedauerte er es, dass Popel und ihm nie ein solcher Luxus geboten worden war, als sie noch jung und sorglos waren, doch dies waren Gedanken, die er schnell beiseite schob. Er pflegte, seinem Blick offen nach vorne zu richten und so geschah es, dass er seine dunkle Jugend bald gänzlich aus seiner Gegenwart verdrängt hatte.
Die zwei Jahre, die folgten, waren die glücklichsten und unbeschwertesten seines Lebens und sie sollten es auch bleiben.
Mit einundzwanzig war auch der erschütternde Streit der Brüder aus Bills Gedächtnis gestrichen worden und der achtzehnte Geburtstag Popels, welcher nun weit davon Entfernt war, ein kleiner Junge zu sein, stand kurz bevor. Voller Eifer kaufte der Ältere die tollsten Geschenke um des Jüngeren Volljährigkeit zu feiern. Er entwarf den Plan, mitten in der Nacht leise aufzustehen und die Wohnung für den großartigen Anlass zu dekorieren und einen Geburtstagstisch zu errichten, der in ihrem gemütlichen Wohnzimmer stehen sollte, sodass Popel ihn sofort bemerkte, wenn er auf dem Weg durch dieses in die Küche war, um wie immer einen Kaffee zu schlürfen, bevor er sich zu seiner Ausbildung zum Tischler, die er vor kurzem begonnen hatte, aufmachte. Nachdem er von der Schule mit eher schlechten Noten abgegangen war, weil ihn das viele Englisch bei den schwierigeren Themen letztendlich ein unüberwindbares Hindernis bereitet hatte, hatte Bill ihm diese mehr oder weniger gegen seinen Willen aufgezwungen, wobei ihm das unreale Bild vor Augen schwebte, auf dem sein Bruder die von ihm errichteten Gebäude mit nobler Möblierung und feinem Holzboden versah. Mit erstaunlich geringem Widerstand hatte sich Popel seinem Urteil unterworfen, was Bill mit tiefster Zufriedenheit erfüllte. Zwar hatte sein kleiner Bruder, wie sei es ja schon seit langem angenommen hatten, keinen besonders guten Bildungsstand errungen, doch waren sie beide auf ihre eigene Art und Weise auf bestem Wege, sich zu angesehenen, ehrbaren Männern zu entwickeln. Und was die bevorstehende Feier anbelangte, so war Bill sich sicher, dass sie eine perfekte Überraschung würde. Er ahnte nicht, wie Recht er damit haben sollte.

In der Nacht auf den 27. Juli 1984, Popels Geburtstag, quälte sich Bill um ein Uhr morgens aus dem Bett, kramte möglichst leise nach den farbenfrohen Luftballons und –schlangen, die der am Vortag gekauft hatte, und schlich auf Zehenspitzen am Zimmer seines Bruders, das direkt neben seinem eigenen lag, vorbei. Er empfand fast so etwas wie kindliche Aufregung, als er die Deko überall in der Wohnung verteilte, die sich in totaler Dunkelheit und Stille befand, und sich den verblüfften Gesichtsausdruck des frisch gemachten Erwachsenen ausmalte, wenn dieser am nächsten Morgen in den Flur trat und verschlafen um sich blickte. Was für ein Spaß! Plötzlich hörte er eine Tür zufallen und ein auf das Geräusch folgendes Fluchen. Bill erstarrte zu Eis, denn er erkannte sofort, wem diese Stimme gehörte. Geräuschlos starrte er auf den stockfinsteren Flur, wobei er sich selber hinter der Tür zur Stube verbarg, und konnte die undeutlichen Konturen seines Bruders vor dessen Zimmer ausmachen. Bills Herz begann zu pochen. Wahrscheinlich war Popel nur aufgewacht, weil er durstig war oder das dringende Bedürfnis zur Toilette verspürte, und würde auch ahnungslos wieder ins Bett zurückkehren, solange er nur das Licht ausgeschaltete ließe. Mit schweißnassen Händen sandte ein Stoßgebet gen Himmel.
Doch sein Bruder tastete sich weder in Richtung des Bades noch der Küche vor, sondern stahl sich einem Schatten gleich lautlos zur Treppenhaustür.
Prüfend kniff Bill die Augen zusammen, aber es bestand kein Zweifel. Jetzt erkannte er auch, dass Popel einen schweren Gegenstand über den geräuschdämpfenden Teppichboden hinter sich herzog. Der Ältere legte eine Hand auf den Lichtschalter, zögerte jedoch, unentschieden, ob er seiner Neugier nach- und die Überraschung preisgeben sollte. Beim unverkennbaren Klicken des Türschlosses legte er den Schalter schließlich doch um.
Die Flurbeleuchtung flackerte kurz und tauchte dann alles in ein helles Licht, das Bills Augen, die sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, blendete und Popel erschrocken herumfahren ließ.
Eine Weile standen sich die Brüder ungläubig gegenüber und starrten sich an. Der Ältere umgeben von seiner bunt schillernden Partydeko, der jüngere mit einer großen, prall gefüllten Reisetasche in der Hand. Beide in der Rolle des Kommissars, der den Verdächtigen gerade in flagranti ertappt hatte, und eben diesem mit der Tatwaffe noch in der Hand.
„Du wolltest heute noch wo hin?“, fragte Bill endlich mit zitternder Stimme und deutete anklagend auf die Tasche.
Kühl entgegnete Popel: „Die Deko kannst du dir getrost sparen! Am meinem Achtzehnten bin ich wieder zu Hause, so wie ich es dir angekündigt und Kelly versprochen habe.“
Plötzlich kam Bill wieder die Worte seines Bruders an diesem bedeutungsvollen Abend nach der Theateraufführung in den Sinn. Er meinte damals, er hasse ihn und das würde sich nie ändern. „Du bist so undankbar“, schleuderte der Ältere Popel mit vor Verbitterung bebenden Worten entgegen. Es war ihm in diesem Moment schon glasklar, dass der Jüngere sich nicht bekehren ließe, doch er wollte nicht der Schuldige sein. „Mein ganzes, verdammtes Leben lang habe ich geschuftet, um dich glücklich zu machen. Nachdem wir vor neun Jahren von zu Hause türmen mussten, weil die Polizei Mama und Papa verhaftet hatten, habe ich immer dafür gesorgt, dass wir genug zu Essen hatten. Freilich, ich konnte dir nicht alles kaufen, da uns einfach das Geld fehlte, doch ich habe mich in der Schule dafür abgerackert, dass sich das änderte. Und jetzt, da es endlich so weit ist, wo unser Traum Wirklichkeit geworden ist, zeigst du nicht einmal eine Spur von Dankbarkeit!“
Popel lachte wütend. „Das war klar, dass du diese Nummer abziehst!“, erklärte er zornig und öffnete die Tür. Die Tasche hinter ihm herpolternd stieg er wortlos die Treppen zur Haustür herab.
Bill folgte ihm und fuhr scharf fort: „Ja im Gegenteil: Alles, was du zu tun in der Lage warst, war Theaterspielen und mit deiner Kelly herumturteln. In deinem Alter damals hatte ich andere Sorgen und um ein vielfaches mehr an Verantwortungsgefühl, aber du kamst nicht einmal auf die Idee, mir ein wenig dabei unter die Arme zu greifen, uns über Wasser zu halten!“
Kurz bevor er das Haus verließ, stoppte Popel. Seine Reisetasche knallte laut zu Boden. „Nur um mal eines klarzustellen“, meinte er erstaunlich ruhig. „Du warst es doch, der mich ständig bevormundet hat, obwohl ich bei weitem alt genug war, um alleine klarzukommen. Das hat dir doch gefallen! Bill hilft mir, zumindest noch auf die Realschule zu kommen, wo ich doch seiner Meinung nach ohnehin schon minderwertig bin, weil ich es nicht zum Gymnasium gebracht habe. Bill ermutigt mich, mein Versprechen, zum Theatertreffen zu kommen, wie ein ehrenhafter Mann einzuhalten, und erklärt eben diese Beschäftigung später für untauglich. Bill schleppt mich gegen meinen Willen mit nach England und Bill befielt mir, einen Beruf zu erlernen, den ich überhaupt nicht möchte. Du wolltest mich doch so haben: Ein von dir abhängiger , kleiner Junge für immer! Und nun entschuldige mich bitte, ich habe noch ein Leben zu leben!“ Mit diesen Worten drehte Popel sich um und marschierte über den gepflasterten Weg am Spielplatz vorbei in Richtung Straße.
„Tu was du für richtig hältst!“, brüllte Bill ihm wutentbrannt hinterher. „Aber komm niemals auf die Idee zurückzukommen! Denn ab heute habe ich keinen kleinen Bruder mehr!“
Das Echo seiner Worte lastete schwer in der milden Sommernachtsluft und mit zornig funkelnden Augen beobachtete Bill Capola, wie der Junge, dem er einst seine ganze Liebe und Fürsorge geschenkt hatte, als Fremder in der Dunkelheit verschwand.

Nachdem monatelang kein Tag vergangen war, an dem Bill nicht mit einer Mischung aus viel Zorn und auch ein wenig Wehmut an Popel gedacht hatte, wenn er an dessen ehemaligem Zimmer vorbeigegangen war, beschloss er, dieses endgültig auszuräumen. Er stellte die Möblierung auf den Sperrmüll und entfernte die Blumen, die er bis hierhin wie gewohnt gegossen hatte, und die Landschaftsposter an den gelb gestrichenen Wänden.
Als er die Matzratze vom Bett hob, um dieses in seine Einzelteile zerlegt besser das Treppenhaus hinabschaffen zu können, stockte er plötzlich. Auf dem Mattenrost lag ein dickes, verstaubtes Buch, das Popel wohl bei seiner turbulenten Abreise vergessen haben musste. Neugierig nahm Bill es in die Hand, blies die Staubschicht, die sich in den vergangenen Monaten drauf angesammelt hatte, herunter und schlug die erste Seite auf.
Tagebuch von Richard Popel Capola stand handschriftlich in der oberen Ecke des vorderen Vorsatzblattes. Der junge Mann erkannte die eng zusammenstehenden Buchstaben auf den ersten Blick, nur der wirkliche Name seines verstoßenen Bruders klang ihm unvertraut. Popel hatte es immer gehasst, Richard, nach seinem Urgroßvater, zu heißen, fiel es ihm schmerzlich ein. Deshalb hatte Bill ihm den Kosenamen gegeben, den später jeder, selbst seine Lehrer benutzt hatten. Flüchtig strich er über den Namen, in Erinnerung an den kleinen Jungen, an den er sein Herz gehängt hatte, und der nichts mit dem erwachsenen Mann zu tun zu haben schien, der im Streit voller Verbitterung und Hass von ihm gegangen war.
Schließlich warf er einen zögernden Blick auf den ersten Eintrag, der sich in den krakeligen Buchstaben eines Drittklässlers ohne großer Übung im Schreiben schwarz vom schneeweißen Papier abhob.
1975, Wir mussten von Zuhause weg, Bill und ich. Ich fürchte mich sehr, denn Mama und Papa sind nicht bei uns. Warum weiß ich nicht genau, aber es hat glaube ich etwas damit zu tun, dass die Polizei Bill und mich befragt hat und es Mama oft sehr schlecht geht. Bill will mir nichts sagen, aber er passt jetzt auf mich auf. Ich habe ihn lieb.
Dicke Tränen traten in Bills Augen. Er blinzelte sie mühsam weg und blätterte einige Seiten weiter. Die Einträge, die am Anfang sehr unregelmäßig waren, umfassten jetzt beinahe jeden Tag. Mal wurden jedoch auch ganze Wochen ausgelassen, die wohl ereignislos und ruhig verlaufen waren. Willkürlich schlug er eine Stelle weiter in der Mitte auf und las:
1976, Heute war Zeugnisausgabe. Alles ist so schrecklich, weil ich es nicht schaffe, obwohl ich mich so sehr bemühe. Ich will Bill nicht enttäuschen, aber ich glaube, es hat ihn schon traurig gemacht, als er gesehen hat, wie schlecht ich bin. Zumindest hatte er keine Zeit, mit mir zu schimpfen, weil er sich Sorgen um unsere Ernährung gemacht hat. Ray meint, wir haben kein Geld mehr und Bill soll etwas tun, was er aber nicht will, damit wir wieder was zu Essen kaufen können. Ich würde Bill gerne helfen, sodass er wieder fröhlich ist, aber ich bin noch zu klein dafür. Bill schafft das bestimmt. Ich glaube, er ist der klügste Mensch auf der Welt.
Ein Kloß bildete sich in Bills Hals, als er dies las, denn die Liebe Popels und das starke Vertrauen, das dieser in ihn gesetzt hatte, berührte ihn am empfindlichsten Punkt seines Herzens und ließ stechende Schuldgefühle in ihm aufkeimen. Damals war es seine Aufgabe gewesen, sich nicht nur um die Problematik ihrer Lebensumstände zu kümmern, sondern auch die Gefühle des Kleineren stets wahrzunehmen und diesen zu einem selbstbewussten, unabhängigen Menschen zu erziehen, der, noch viel mehr als gute Noten, echte innere Werte und einen von Ehrlichkeit und Anteilnahme geprägten Charakter besitzen sollte. Hatte er diese Herausforderung, die wahrscheinlich die größte seines Lebens darstellte, etwa tatsächlich so unterschätzt?
Er schlug eine der hinteren Seiten auf und war von dem Unterschied zu den liebevollen Worten am Anfang des Buches entsetzt.
1982, Bill zwingt mich dazu, mit ihm nach England auszuwandern. Aber ich kann Kelly nicht verlassen! Als ich mich von ihr verabschiedet habe, mussten wir beide weinen. Sie konnte gar nicht mehr aufhören und immer wieder meinte sie, ich solle bei ihr bleiben und Bill zum Teufel schicken. Am liebten täte ich das auch, denn er hat kein Recht, mich so zu behandeln. Nur weil er nicht weiß, was Glück heißt, muss das für mich nicht genauso zutreffen! Wenn ich nach Hause zurückkehre, was ich ganz sicher tun werde, heirate ich Kelly, falls sie mich dann immer noch liebt. Sie ist die Bedeutung meines Lebens, das ohne sie trostlos und unecht wäre. Alles was zählt ist dieses Mädchen und die Macht, die mich zu ihr zieht ist so stark, dass es mich immer wieder aufs neue erstaunt. Doch Bill schafft es, das nicht zu bemerken. Sein Leben ist von Geld und Ruhm so sehr vergiftet, dass ihn jedes Zeichen von Armmut, wie es sie hier in so vielen Facetten gibt, krank macht. So klug, zielstrebig und verantwortungsbewusst er auch ist, Liebe ist etwas, was er nicht verstehen kann, so sehr er es auch will, und dafür bemitleide ich ihn.
Bills Hände zitterten, als er das hintere Vorsatzblatt aufschlug, das das Datum von Popels Abreisetag trug und auf dem folgender Text sorgfältig geschrieben stand:

Alles beherrschende Liebe und bewundernde Anerkennung wird zu schüchterner, brüderlicher Zuneigung,
und diese schließlich zu stummen Leid und Mitleid,
welches sich in den schicksalhaften Winden der Zeit verliert und auf ewig dahingeschwunden ist.
Übrig bleibt quälende Leere und Gefühlskälte dem gegenüber, ohne den man einst nicht sein konnte.
Lebe wohl, Bill Capola, denn wir haben uns verloren.

Das Buch glitt aus Bills Händen, die dessen Gewicht auf einmal nicht mehr zu tragen vermochten, und fiel plumpsend zu Boden. Tränen flossen nun in Strömen über sein vor Trauer verzogenes Gesicht und er sackte, unfähig zu stehen, in die Knie und schließlich neben Popels Aufzeichnungen auf den Teppich.
Dort lag er lange Zeit wie ein Häufchen Elend und konnte nicht anders als erbärmlichst zu weinen.
Erst, als der Abend begonnen hatte, schleppte er sich mit neuer Kraft in sein Zimmer und setzte sich vor die Schreibmaschine.
Dort saß er in Zukunft noch an so manchem Tag. Das Hämmern der niederschlagenden Tasten pochte laut in seinem Kopf, als Freude, Liebe, Zuversicht und viel zu viel Schuld, Elend und Unglück wie pechschwarze Tinte auf das unbefleckte Papier liefen, direkt aus seiner Seele heraus.


2004
Jetzt, zwanzig Jahre später, ein neues Leben lebend, das von Reichtum, Ansehen und erfüllten Wünschen bestimmt war, wusste Bill, dass er damit nichts erreicht hatte. Immer hatte er versucht, seine Augen vor einer Wahrheit zu verschließen, die seinen eigenen Charakter ausmachte: Er hatte schwere Fehler gemacht, die nie hätten passieren dürfen, und darum hatte er seinen Bruder verloren. Seinen kleinen, geliebten Bruder, der in vieler Hinsicht um ein Wesentliches klüger gewesen war, als er. Damals, als er diesen hätte um Vergebung bitten müssen, hatte er seine Chance versäumt, und sein einziges Anliegen war es gewesen, recht zu behalten, nicht die Schuld dieses unnötigen Streites zu tragen. Ehre war etwas, was ihm sein ganzes Leben lang den Weg zum Glück versperrt hatte, und nun sah er es nicht mehr ein, nur noch für seine Zukunft zu arbeiten, wenn ihm die Gegenwart nicht gesonnen war. Jetzt wollte er auf seine Fehler in seiner Vergangenheit mit offenen Augen zugehen, um die Dinge wieder gut zu machen, soweit dies überhaupt möglich war, die den Menschen, an dem er am meistem gehangen hatte, einst so sehr verletzt hatten. Was er brauchte, war Frieden. Und den bekam man nicht, wenn man die Taten, denen man sich schämt, in ein Buch schrieb, das man anschließend so tief vergrub, dass es niemandem, am wenigsten einem selbst, jemals in die Hände fallen konnte. Er hatte seine Sorgen früher lebendig in einen Sarg gesperrt und diesen weit unten in der Erde hinter sich zurückgelassen. Doch voller Empörung und mit nie erahnter Stärke waren die Geister seiner unerträglichen Vergangenheit in seine Gedanken zurückgekehrt. Bill Capola fühlte sich von ihnen verfolgt, so sehr, dass er dachte, sie würden ihn ans Ende der Welt hetzen, und hoffte inständig, sein Bruder möge ihm nach all diesen Jahren noch verzeihen.
Das Flugzeug wurde auf seiner kurzen Route von heftigen Windböen geschüttelt und Bills Sitznachbar stand schon nach den ersten zehn Minuten auf, um mit grünem Gesicht auf die Bordtoilette zu hasten.
Nachdem er eine Weile das unbarmherzige Naturschauspiel mitverfolgt hatte, spürte Bill, dass er selbst beobachtet wurde. Irritiert wendete er den Kopf und blickte in die brauen Augen einer Frau, die wie erstarrt vor seiner Sitzreihe stand. Leute gibt’s, dachte er und erkundigte sich höfflich: „Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“
Sie zuckte zusammen, wobei Bill nicht wusste, ob der plötzliche Klang seiner Stimme oder vielmehr der in diesem Moment laut vom Himmel herabfahrende Blitz die Ursache dafür war. „Dürfte ich mich bitte für einen kurzen Moment setzen?“, fragte sie nervös und Bill, der den Herren neben ihm ohnehin nicht so bald wieder zurückerwartete, gerade wo der Captain soeben unruhige Minuten und einen Haufen fieser Luftlöcher angesagt hatte, gestattete es ihr etwas verwirrt.
Das Fasten Seatbells Symbol flammte über den Sitzen auf, gerade, als der Flieger sich so sehr zur Seite neigte, dass die Frau beinahe auf den Sitz vor ihr und neben ihm gefallen wäre.
„Ich schätze, jetzt bleibt Ihnen nichts anderes mehr übrig“, stellte Bill überflüssigerweise fest und seine Finger krallten sich beim nächsten Rütteln um die Armlehnen. Er litt zwar im Normalfall nicht unter Flugangst, aber das hier ging ihm entschieden zu weit.
Minutenlang saßen die beiden ängstlich nebeneinander und die Maschine, in fester Hand des Windes, wurde wie ein kleiner Spielzeugflieger durch die schwarzen Wolken, die sich um ihr zu von Blitzen durchzuckten Türmen zusammenballten, geschleudert. Bill warf einen flüchtigen Blick auf seine Nachbarin, die wie erstarrt dasaß und bei jeder Erschütterung verängstigt aufschrak. Sie war, wie er schätze, um die Anfang Vierzig, also in seinem Alter, und trug einem modischen, schwarzen Kurzhaarschnitt. Ihre Kleidung war schlicht, ihr Gesicht nur leicht geschminkt. Hätte sie ihn nicht wie von Sinnen angestarrt, wäre sie ihm überhaupt nicht aufgefallen. Er sah wieder aus dem Fenster, blinzelte, musterte erneut ihr Gesicht und das Gefühl, sie schon einmal irgendwo getroffen zu haben, stieg in ihm auf.
Viel Zeit, diesen Gedanken weiterzuverfolgen, blieb ihm jedoch nicht, den in eben diesem Moment, stürzte das erbebende Flugzeug in ein riesiges Luftloch und stürzte Meter im freien Fall in die Tiefe. Einige Passagiere schrieen laut auf und Bills Fingernägel bohrten sich vor Panik in den Stoffüberzug der Armlehnen. Nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, schaffte es der Pilot endlich wieder, die Maschine unter seine Kontrolle zu bringen und er atmete erleichtert auf.
Bald legte sich der Sturm wieder und die Landung stand kurz bevor. Von seinem Schrecken erholt dachte Bill wieder voller Optimismus an das Wiedersehen mit seinem kleinen Bruder. Zwar hatte er auch Angst, von diesem gleich an der Haustür abgewiesen zu werden, doch überwiegte die große Neugier, zu wem der junge Erwachsene von damals herangewachsen war. Hatte er Kinder? War er verheiratet? Mit Kelly?
In seinem Portmonee bewahrte er das einzige Zeichen, was er von Popel je erhalten hatte. Jahre nach ihrem Streit hatte Bill einen Briefumschlag in seiner Post gefunden, der an ihn, von seinem Bruder adressiert worden war. Aber als er diesen voller Erwartung öffnen wollte, hatte er ihn leer vorgefunden. Er sah es als gutes Omen gegenüber seinen Versöhnungsplänen, dass der Jüngere ihm seine neue Adresse hatte wissen lassen.
Als er in Deutschland aus dem Flugzeug stieg, blinzelte er in ein zartes Sonnenlicht, dass hinter der aufgerissenen Wolkendecke hervorschien. Das Unwetter war vorüber. Die seltsame Frau aus dem Flieger hatte Bill bereits wieder vergessen, als er zum ersten Mal seit über zweiundzwanzig langen Jahren wieder Fuß auf sein Vaterland setzte.
Sie jedoch sah ihm auf dem Rollfeld enttäuscht nach. Und er hat mich nach all dem, was zwischen uns einmal war, noch nicht einmal wiedererkannt, dachte Vanessa Valentine traurig. Darauf nahm sie einem großen Sonnenhut aus ihrer Tasche und setzte ihn so auf, dass er ihr Antlitz in undurchsichtigen Schatten hüllte. Als eine unter vielen verschwand sie gesichtslos in der Menschenmasse. Auch sie zog es zurück in die Heimat.

Am nächsten Tag, die Nacht hatte er in einem Hotel in der Nähe des Flughafens verbracht, machte sich Bill auf, sein Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen. Popels neues Zuhause lag in einem kleinen Dorf, nahe der Stadt ihrer Kindheit. Nachdem Bill es endlich gefunden hatte -es war auf keiner Landkarte verzeichnet-, schlenderte er die mit Kopfsteinpflaster versehenen Straßen kleiner, gemütlicher Reetdachhäuser entlang, auf der Suche nach der richtigen Hausnummer. In den wild überwucherten Gärten rannten kleine Kinder miteinander um die Wette, wobei sie von den Älteren beaufsichtigt wurden.
Unwillkürlich fragte er sich, ob eines davon vielleicht seine Nichte oder sein Neffe war. Er hatte sein Leben lang noch nicht auf diese Weise mit Kindern zu tun gehabt. Seine wenigen Freunde und Geschäftspartner, geschweige denn er selbst, hatten keine, sodass er dieses Kapitel mit seiner eigenen Jugend abgeschlossen hatte.
Schließlich fand er die Nummer Zwölf, ein kleines, niedliches Häuschen, zu dem ein schöner, mit Tannen eingezäunter Garten gehörte. Bill trat durch die hölzerne Pforte und ging dem Kiesweg zur Eingangstür entlang. Sein Herz klopfte ihm bis zum Halse, so aufgeregt war er, als er das Keramikschild an der Tür überprüfte und tatsächlich die Namen Richard und Kelly Capola darin eingraviert fand. Also hatte sein Bruder sie doch geheiratet.
Alles in dessen Leben war so bedächtig vorbestimmt worden: Kelly, die er seit seiner Grundschulzeit liebte, dieses ruhige Fleckchen zum Leben, das immer mehr Popels Wunsch gewesen war, als Geld und Luxus... einfach alles passte zu ihm!
Bill beneidete ihn fast um diese sichere Ordnung und diesen traumhaften Frieden. Warum hatte es so etwas in seinem Leben nie gegeben? Nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte, klingelte er, wobei er Mühe hatte, mit seinen zitternden Fingern den schmalen Knopf zu treffen. Eine halbe Minute lang, für Bill war es eine Ewigkeit, geschah nichts.
Schließlich erklang im Inneren des Hauses Stimmen und der Schlüssel wurde klickend im Schloss herumgedreht. Bill erstarrte gespannt.
Langsam schob sich die Tür auf und ein kleiner Junge mit karottenroten Haaren und vielen Sommersprossen stand vor ihm.
Sofort wusste Bill, dass an der richtigen Tür geklingelt hatte, als er das Ebenbild seines Bruders im jungen Alter von vier Jahren erblickte. Ihm stockte der Atem und gefesselt starrte er den Kleinen an. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich, von einem Augenblick auf den anderen, zu erfahren, dass man Familie hatte und genau das durchlebte der Mann gerade.
Aus großen Augen musterte der Junge ihn, da er in seinem Onkel schließlich nur einen fremden, merkwürdig starrenden Erwachsenen sehen musste.
„Wie heißt denn du?“, fragte Bill, als er die Fähigkeit zu sprechen zurückerlangt hatte.
Einen kleinen Moment lang schien sein Neffe zu überlegen, ob er diesem Unbekannten antworten durfte. Doch dann erzählte er fast ohne eine Spur von Misstrauen: „Ich bin Martin und meine Schwester heißt Marie. Die ist aber immer ganz blöd!“ Martin warf einen schnellen Blick über die Schulter, als er das protestierende Geschrei eines wesentlich jüngeren Mädchens hörte.
„Sei lieber lieb zu deiner Schwester“, bat Bill den Jungen sofort mit der Angst, Auseinandersetzungen lägen in der Familie. „Sie mag dich doch bestimmt genauso gerne, wie du sie.“
Das nahm Martin nicht so recht zur Kenntnis. Stattdessen fragte er neugierig: „Und wer bist du?“
Bill stockte unsicher. Ob es Popel und Kelly wohl recht wäre, wenn er seinen Neffen über seine Existenz aufklärte? Er wollte es lieber nicht drauf ankommen lassen. „Ich heiße Bill“, meinte er schlicht und ohne seinen Nachnamen zu nennen. „Ist vielleicht dein Vater da?“ So nett es auch war, mit dem Kind zu plaudern, er durfte sein Vorhaben nicht so lange herauszögern, bis er den Mut dazu verloren hatte.
Martin sah ihn daraufhin nur merkwürdig an und verschwand eilig im Flur des Hauses. Bill wunderte sich noch über dessen Reaktion, als plötzlich Kelly in der Tür erschien. Er erkannte sie sofort, denn noch immer wurde ihr Gesicht von ihren wilden Naturlocken umwuchert. Sie trug eine karierte Schürze und war anscheinend gerade dabei gewesen das Mittagessen zu kochen.
Nun, als sie ihn als den Fremden, von dem ihr Sohn ihr so zerstreut berichtet hatte, identifizierte, schlug sie erschrocken die Hände vors Gesicht. „Bill!“, entfuhr es ihr überrascht. „Was suchst du denn hier?! Ich dachte, du hattest und bereits dunkelster Vergangenheit zugeordnet?“
Er versuchte sie zu beruhigen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Schließlich hatte sie mit jedem gerechnet, vielleicht mit einem Staubsaugervertreter oder einem Typ von irgendeiner neuen Versicherung, doch ganz bestimmt nicht mit ihm. „Es tut mir leid, dich zu stören und dazu noch do unerwartet“, entschuldigte er sich ehrlich und ihm kam der verspätete Gedanke, er hätte eventuell besser vorher angerufen. „Ist mein Bruder zu sprechen?“
Sie sah ihn unverständlich an. „Popel“, flüsterte sie ungläubig. „Das ich diesen Tag noch erlebe, wo du ihn wiedersehen möchtest...“ Langsam kehrte die Farbe wieder zurück in ihr Gesicht und Bill las zu seinem Unglück so etwas wie Abneigung darin.
Noch nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, doch auch für sie musste es damals schrecklich gewesen sein, von dem älteren Bruder ihres Liebsten wegen Bildungsstand und Elternhaus abgelehnt geworden zu sein. „Ich weiß“, gab er zu. „Damals habe ich einige Fehler gemacht, aber ich glaube nicht, dass es nötig ist, diese mit ins Grab zu nehmen.“
Auf einmal huschte ein bekümmerter Ausdruck über ihr liebliches Gesicht und Tränen stiegen in ihren blauen Augen auf. „Ich befürchte“, flüsterte sie traurig, „das ist es.“
Bill kniff verwirrt die Augen zusammen und fixierte sie scharf. „Was meinst du damit?“, verlangte er ernst zu wissen.
Kelly schluchzte leise und hauchte kaum hörbar: „Es geschah vor etwa zwei Jahren. Wir sind in die Stadt gefahren, um einige Babysachen zu kaufen, denn die Geburt von Marie stand kurz bevor. Martin haben wir einen Fußball gekauft, damit er nicht leer ausgehen musste. Dummerweise rollte dieser Ball auf die Straße, was ja nicht weiter tragisch gewesen wäre, wäre Martin nicht hinterhergerannt. Er lief direkt in den Feierabendsverkehr einer vierspurigen Straße. Ich war total geschockt und konnte vor Angst noch nicht einmal schreien, doch Popel stürmte sofort zu unserem Kleinen. Noch immer sehe ich das Auto klar vor mir, einen silbernen Sportwagen. Ein Wunder, dass Popel nicht auf der Stelle tot war, obwohl ihm das wohl viele Schmerzen erspart hätte. Gott sei Dank, hatte zumindest Martin Glück. Die Autos hielten alle an, sodass ich ihn gleich von der Straße holen konnte. Ein Fahrer hatte ein Handy mit und rief den Rettungsdienst. Der arme Popel! Wochenlang lag er im Krankenhaus, an Geräte und Schläuche angeschlossen. Zwar konnte er noch sprechen, doch die Fähigkeit, auch nur einen Finger zu krümmen war ihm genommen worden. Er war viel mehr eine Maschine, als ein Mensch. Letzten Endes, nach all den qualvollen Tagen, verloren ihn die Ärzte ganz.“
Stille erfüllte seine Umgebung, sein Innerstes. Der schlechte Film vor seinen Augen war angehalten und seine Gefühle abgestellt. Er fühlte nichts und das erschreckte ihn am meisten. Wo waren die Emotionen, die Tränen, die eigentlich salzig über seine Wangen hätten strömen sollen? Bill wusste nicht, was in ihm ablief, als er langsam und gnadenlos realisieren musste, dass es kein Frieden zwischen ihm und Popel geben würde. Sein Bruder war tot. Seinem jungen Leben war so plötzlich und unerwartet ein Ende bereitet worden, dass es Bill schier das Herz zerriss. „Nein“, murmelte er gequält.
Kelly sah ihn mitleidig an. Aber konnte sie überhaupt die ganze Bandbreite der Zerstörung erfassen, die in seinem Leben angerichtet wurde?
Es gab kein Verzeihen, keine Versöhnung, keine Erlösung von all seinen schwerwiegenden Fehlern. „NEIN!!!!!!!!!“, schrie Bill gellend, sodass ese von den Straßen widerhallte. Die Geschwister tauchten angsterfüllt am Treppenabsatz auf.
„Bitte!“, bat Kelly ihn flehend. „Sei doch ruhig! Die Kinder hören dich doch! Wir sind gerade darüber hinweg. Denk bitte an die Kleine! Sie hat ihren Vater nie gesehen, weil er kurz vor ihrer Geburt umgekommen ist!“
Die Witwe seines Bruders forderte ihn sanft, aber bestimmt zum Gehen auf; sie war nicht bereit, Nachsicht mit ihm walten zu lassen. Bevor er von Trauer erschüttert, die Straße einem ungewissen Ziel entgegentaumelte, nahm ein seine Aufzeichnungen aus der Tasche und überreichte ihr das Buch, ohne weitere Erklärung.
Darauf begab sich Bill Capola ohne Seele und jeglichen Kräften beraubt in eine zeitlose Zukunft, in der das Warten auf den Tod, das Warten auf eine Absolution, die niemals erteilt werden würde, jeden Millimeter seines erschöpften Körpers erfüllte.
Jahrelang lebte der so plötzlich gealterte Mann in diesem Dorf. Niemals kehrte er in sein früheres Leben zurück. Stattdessen brachte er Stunden am trostlosen Grab seines verlorenen Bruders zu und gab sich seinen immer währenden Schmerzen hin.
Manchmal saß eine Frau seines Alters auf der Friedhofbank, beobachtete ihn stumm und sinnte darüber nach, warum diesem Mann ihr ganzes Leben gehöre, angefangen in ihrer Jugend, fortan bis zu ihrer beider Ende.

Fast sechs Jahre später lag ein Brief auf der Fußmatte Claudia Camarerros Apartments. Sie selber wohnte dort schon seit Langem nicht mehr. Adressiert war den Umschlag an Mr. Bill Capola. Das Datum auf dem Poststempel lag in ferner Vergangenheit, doch wegen schwerer Verzögerung am Zoll, erreichte der Brief erst jetzt sein langbestimmtes Ziel.

Liebster Bruder, stand auf dem Papier darin geschrieben.
Du magst erstaunt sein, diese Mitteilung zu erhalten, doch sie ist von bedeutender Wichtigkeit für mich. Denn mit mir geht es nun dem Ende zu, die Gründe dafür sind zu langatmig, um sie nun zu erläutern, bedenkt man, das ich noch nicht einmal in der Lage bin, dieses Dokument mit eigenere Hand zu verfassen. Angeschlossen an Maschinen, die mich Stunde um Stunde am Leben erhalten, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Das, was damals, vor geraumer Zeit, zwischen und vorgefallen ist, belastet mich zu sehr, als das ich es mit ins Grab nehmen könnte. Ich habe dir großes Unrecht getan, mit allem was ich dir sagte, denn immer warst du mit rührender Fürsorge und Selbstaufopferung für mich da gewesen. Alles was du wolltest, war das beste Leben für und, was wir uns vorstellen konnten. Nur leider war unsere Auffassung vom Glück eine grundverschiedene. Daran scheiterte alles. Zwar war es falsch von dir, mich gegen meinen Willen nach England zu beordern, genauso wie ich deine großen Taten für unsere kleine „Familie“ hätte würdigen müssen. Doch letzen Endes war unsere gegenseitige Intoleranz, den anderen nicht als den Menschen, der er nun einmal war, mit den Plänen, die er nun einmal hatte, wahrzunehmen, Schuld an all dem Unglück in unseren Leben.
Ich verzeihe dir deine Schuld von ganzem Herzen und hoffe inniglich, das du mir auch die meine vergibst,
dein, dich immer liebender, Bruder
Popel

Damit war alles gesagt, was zu sagen nötig gewesen wäre, doch niemand war da, die tröstenden Worte zu empfangen. Wochenlang trotze der schicksalhafte Brief draußen vor der verschlossenen Tür jeden Unwetters. Doch Regen durchweichte ihn bald Stück für Stück und durchdrang sein leichtes Papier, bis die feine Schrift auf ewig verwischt war. Als es einen letzten Sturm in diesem Jahr gab, wurden die kläglichen Überreste der erlösenden Botschaft von ihm erfasst und durch die kalte Oktoberluft weit fort getragen. Sie verloren sich in den Winden und alle Wunden, die hätten geheilt werden können, blieben bestehen...


2033
Am ersten Dezember des Jahres 2033 versuchte Vanessa Valentine mit steifen Fingern die erste Tür ihres Adventskalenders zu öffnen und musste seufzend feststellen, das diese dazu nicht mehr in der Lage waren.
Sie hatte in ihrem gesamten Leben schon siebenundsechzig solcher Kalender geleert, wobei sie in ihren ersten vier Jahren noch keinen besessen hatte, was stolze eintausendsechshundertacht Türchen ausmachte, und diese eintausendsechshundertneunte sollten ihre alten Finger nun nicht mehr mitmachen? Frau Valentine litt seit Jahren an sämtlichen Alterskrankheiten, doch erst jetzt sah sie der unausweichlichen Tatsache entgegen, dass sie nicht mehr das junge Mädchen oder die hübsche Frau von früher war. Bedauernd fragte sie sich, ob ihr Leben, wäre sie als Jugendliche nicht allzu leichtsinnig damit umgegangen, nicht ein wenig weiter gereicht hätte.
Statt des Kalenders griff sie nach der Tageszeitung und blätterte wahllos darin umher. Es war eh immer das Selbe, sodass es sich nicht lohnte, genauer darin zu lesen. Politik in der Krise, Verbrechensrate wie vermutet gestiegen, Aktienkurse wieder ins Bodenlose gestürzt.
Bei den Todesanzeigen hielt sie inne und ging prüfend die Namen durch. Jemand, den sie gekannt hatte? Plötzlich stockte sie erschrocken.
Meine Kräfte sind zu Ende,
nimm mich, Herr, in deine Hände.
Nach einem schweren Leben verstorben
im Alter von einundsiebzig Jahren ist Bill Capola.
Wir hoffen, dass der Tod ihm Erlösung von alten Leiden brachte.
Eine Hand auf dem Herzen, ließ die Frau langsam die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie fragte sich unwillkürlich, wer wohl diese Anzeige in die Zeitung gebracht hätte. Ihre Gedanken schweiften zu Kelly. War es ein letztes Zeichen der Versöhnung von ihr?
Eine der Pflegerinnen des Seniorenheimes, in dem sie wohnte, kam nach höflichen Klopfen hinein. „Sie wollten kurz raus auf den Balkon?“, fragte sie prüfend nach und griff nach der Jacke der alten Dame, welche beklommen nickte. Mit Hilfe der Pflegerin schaffte sie den Weg auf den Balkon vor ihrem Zimmer.
Klirrend kalte Luft umgab sei, als sie draußen stand. „Könnten Sie bitte so nett sein und mich einen Moment lang allein lassen?“, bat sie flüsternd und als die junge Frau hinter der Glastür verschwunden war, ließ sie ihren Blick nachdenklich umherschweifen. Es war über Nacht alles mit einer strahlend weißen Decke überzogen worden. Der erste Schnee in diesem Jahr. Sie fragte sich, wo Bill in seinen letzten Stunden wohl gewesen war. Bei seines Bruders Grab vielleicht? Hatte ihn die plötzliche Kälte dort überrascht? Auch auf den Baumkronen lag eine sanfte Schneeschicht und sie wehte nicht hinunter. Ja, auch der unbarmherzige Sturm hatte sein wüstes Treiben aufgegeben und an diesem friedlichen Morgen schien die Welt stehen zu bleiben.
„Kommen Sie wieder rein, Frau Valentine?“, wollte die Pflegerin von drinnen wissen. „Sie verkühlen sich sonst noch!“
Doch Vanessa bat sie um ein paar weitere Minuten und schloss ihre Finger um das eiskalte Metallgeländer vor ihr. Sie fühlte sich vollkommen leer, obwohl sie eigentlich hätte trauern sollen, um ihren geliebten Jugendfreund, den sie all die Jahre lang nicht in der Lage war loszulassen. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass der Tod die einzige Absolution für ihn war, die er hatte empfangen können.
Fragend hob sie ihren Blick gen Himmel und plötzlich entdeckte sie dort einen schmalen Spalt in der grauen Wolkendecke, durch den klarer, eisblauer Himmel schien. Als Vanessa Valentine mit zusammengekniffenen Augen in das ungewohnte Sonnenlicht blinzelte, kam es ihr fast so vor als sähe sie dort zwei lachende Jungengesichter, die sich in grenzenloser Liebe und stummem Verständnis anlächelten.
Manchmal, dachte sie still vor sich hin, bevor sie in ihr Zimmer zurückkehrte, um ihr eigenes Leben zu Ende zu leben, manchmal bedarf Vergebung eben keiner großen Worte.

Ende.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.12.2008

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