Prolog
The Heartless schlägt wieder zu
Erneut Brunnenleiche vorgefunden
Ranglsheim
. Gestern, dem 24.01.09, wurde eine weitere Leiche vor einem Brunnen im Ranglsheimer Forst aufgefunden. Wie schon bei den ersten beiden hatte man ihr das Herz entfernt. Bevölkerung entsetzt. Herzloser schlägt wieder zu.
Knapp zwei Jahre ist es her, dass man in Ranglsheim bei Stuttgart in einem Wald im Abstand von drei Monaten zwei Leichen vor einem Brunnen kauernd vorfand (SVZ berrichtete.) Vor ein und demselben Brunnen.
Die damaligen Opfer – ein 47-jähriger Mann und eine 23-jährige Frau – hatten nichts miteinander zu tun gehabt. Jegliches Motiv fehlte.
Nun wurde erneut eine Frauenleiche vor einem Brunnen entdeckt – vor eben diesem Brunnen. Wie schon bei den ersten beiden Leichen hat man ihr das Herz entfernt und jenes in die auf dem Schoß platzierten Hände gelegt. Die Wunde an der Brust ist unsauber vernäht worden, die Einstichstellen in Form eines Kreuzes angebracht. Und wie schon bei den vorangegangenen Opfern fand die Polizei inmitten des herausgeschnittenen Herzens eine chiffrierte Botschaft. Man konnte die Codierungen bis jetzt jedoch noch nicht entschlüsseln – weder die in den Herzen der beiden ersten Leichen, noch die im Herzen des 15-jährigen Mädchens. Die Polizei ist ratlos. Das Motiv unklar. Alle drei Opfer hatten absolut nichts gemein. Aber der verschlüsselte Text – möglicherweise hält er die Intention des Serienkillers bereit.
Kommissar Körner war wie immer als erster vor Ort. Der Stuttgarter Volkszeitung berichtete er: „ (...) wenn wir diesen Wahnsinnigen nicht stoppen – wer weiß, welches sein nächstes Opfer sein wird!“.
Auf die Frage, warum man den Tatort nicht rund um die Uhr bewachte, antwortete er: „ Zwischen den ersten beiden Opfern und diesem Mädchen liegen zwei Jahre. Wir hielten den Fall für abgeschlossen...“
1.Akt - Joachim Körner
Aber das war er nicht, wie Körner in einem neuerlichen Anflug von Panik realisierte, als er sich den drei Wochen alten Zeitungsartikel in Erinnerung rief.
Er hatte wieder zugeschlagen. Er – den die Presse den „The Heartless“ nannte. Ein Mensch, ein Monster, das drei Menschen binnen drei Jahren auf grausamste und perfideste Art und Weise hingerichtet hatte. Vier.
Kommissar Joachim Körner hielt den Zettel in Händen. Er konnte sehen, was darauf mit zeitungsentrissenen, wild nebeneinander geklebten Lettern stand.
Aber er konnte es nicht lesen, nicht verstehen. Denn es ergab keinen Sinn.
Unklar und bedeutungschwer aneinandergereihte Buchstaben, die sich jedem klaren Blick scheinbar entzogen, verwehrten.
Er seufzte. Dann verstaute er den Zettel in der obligatorischen, dafür vorgesehenen Plastikhülle, steckte sie in seine Jackentasche zurück und erhob sich. Er war ein Mann mittleren Alters mit dunklen, zielstrebigen Augen, dicken, kurzen, schwarzen Haaren und meist gestenloser weil anteilnahmsloser Mimik. Er hatte in seiner Laufbahn schon viel gesehen und dabei selten mehr Gefühle zugelassen, als unbedingt notwendig waren.
Nichts jedoch hatte ihn bisher so mitgenommen wie dieser Anblick.
Kühler Wind strich ihm über das von Erfahrungen, Reife und Leiden durchfurchte Gesicht. Er meinte, entferntes Vogelgezwitscher zu hören, welches sich seinen Weg durch die nackten Birken zu ihm suchte. Doch vermochten diese Töne vor seinen Ohren nicht die Schmerzen vor seinen Augen auszugleichen.
Auch dieses Mal war er wieder als erster vor Ort gewesen.
Es war ein Junge. Er hatte wilde schwarze Locken, die einstmals sein zartes jugendliches Gesicht umrahmt hatten. Nun waren seine Augen grau, undurchsichtig. Glasig, ohne Regung. Ohne Mimik. Ohne Leben. Sein Mund war zugenäht, sein Rücken gebeugt. Er kauerte vor einem Brunnen. Einem Brunnen im Ranglsheimer Forst. Diesem Brunnen. Seine Hände – übereinandergelegt – hielten sein Herz.
Körner verachtete dieses Monster.
Wie konnte ein Mensch nur so grausam sein?
Wie konnte man sich nur anmaßen, über das Leben eines anderen zu urteilen?
Sein Hass wich alsbald jedoch Schuldgefühlen, die sich mit den Lettern des Zeitungsartikels schmückten.
Er hatte Schuld. Er hätte dafür sorgen sollen. Es war immer derselbe Brunnen gewesen. Vor zwei Jahren. Und vor drei Wochen.
Und auch dieses Mal...
Spätestens nach dem dritten Mord, als er der Zeitung dieses Statement gegeben hatte, hätte er sich um die ständige Überwachung dieses Brunnens kümmern müssen. Verdammt, ja, er hätte Mittel und Wege finden sollen, den Tatort rund um die Uhr bewachen zu lassen. Stattdessen jedoch hatte er angeordnet, die Umgebung nach Spuren abzusuchen.
Nach Spuren eines Mannes, der keine hinterließ.
Nach Fehlern eines Mörders, der keine machte.
Körner schloss noch ein letztes Mal seine von nahender Orientierungslosigkeit ermüdeten Augen; tat einen letzten tiefen Atemzug. Dann zog er in gekonnter und schon zu oft ausgeführter Manier das Blackberry aus seiner Hosentasche. Wählte eine schon zu oft gewählte Nummer.
Der Weg in seinen Augen, das Ziel, war zurückgekehrt, die Verwirrung, Verzweiflung versiegelt. Seine Stimme klang fest und resolut. Entbehrte jeglicher Emotion.
Er würde keine Gefühle mehr zulassen.
Es klingelte. Die Leitung war frei.
„Ja, hier Körner. Es hat einen weiteren Mord gegeben.“
Das Handy klickte. Er hatte nicht mehr zu sagen. Es bedurfte keinerlei weiteren Informationen.
Nun war er wieder allein. Allein mit dem Jungen. Allein mit seiner Angst.
Allein mit dem Mörder?
Plötzlich horchte er auf. Er zückte seine Waffe, schritt still um den Brunnen herum. Vorsichtig blickte er sich um. Dann senkte er seinen Blick.
Verdammt, da war doch jemand! Er glaubte, etwas gehört zu haben, tief unten im Brunnen. In der unendlichen Leere verloren sich die Töne. Nachdem er sich versichert hatte, dass niemand in seiner Nähe war, beugte er sich vorsichtig über den kalten, steinernen Brunnenrand, spähte durch das abgeschlossene Gitter hinunter in die Schwärze. Und da – für einen kurzen Augenblick - vermeinte er, etwas zu erkennen. Ein Gesicht? Es war verschwommen, unklar, unstet. Dann war das Gesicht weg. Da – hatte er soeben ein Klicken gehört?
Er beugte sich noch tiefer über das Gitter, seine adlerscharfen Augen tauchten ein in den scheinbar endlosen Schacht. Aber er konnte einfach nichts erkennen.
Plötzlich merkte er auf – die Schwärze, die er zu sehen glaubte, war überhaupt keine Tiefe. Es war der Grund!
Er beugte sich noch weiter über das Gitter, das den Brunnen wie eine Decke rostigen Eisens benetzte. Seine tiefe Narbe am rechten Unterarm schmerzte. Aber das kümmerte ihn nicht. Nicht in diesem Moment. Er spähte... suchte... da war etwas... da war... jemand...
Plötzlich ein lautes Klacken...
Verdammt... seine Waffe... er musste sie wiederholen...
2.Akt - Constantin Weise
Das Atmen fiel ihm schwer. Aber er musste weiter. Auch wenn Constantin schon schnell gerannt war – atemlos durch dieses Meer schneeweißer Birken - er war schneller gewesen. Viel schneller. Constantin keuchte. Er konnte jetzt nicht anhalten, nicht jetzt. Wenn dieses Monster ihn einholte, wäre er verloren. Das wusste er. Denn er kannte ihn – nein, nein... Er hatte nur von ihm gehört. Den Herzlosen nannte ihn die Presse, The Heartless. Er hatte bereits drei Menschen auf dem Gewissen. Hatte sie förmlich ausgeschlachtet, ihnen das Herz heraus... geschält. Und dann... bittere Galle sammelte sich in Constantins Mund... dann hatte er sie vor dem verschlossenen Brunnen platziert und ihnen die Herzen in ihre Hände gelegt. Mit irgendeiner Botschaft, erinnerte sich Constantin. Einer Botschaft, die man noch nicht entschlüsselt hatte. Er wagte nicht, sich umzuschauen. Die Bäume raubten ihm die Sicht, sein Blick war vernebelt, er sah zwielichte weiße Schatten um sich herumtanzen.
Alles war so absurd! Wieso machte The Heartless Jagd auf ihn? Wieso ausgerechnet auf ihn? Was hatte er ihm getan?
Es zerriss ihm fast die Brust. Es tat so weh. Über eine Stunde rannte er nun schon vor diesem Wahnsinnigen, diesem kranken Tier davon. Dieser Mann mit der weißen Kutte und den Bandagen um die Arme und der schwarzen Maske vor dem Gesicht. Er hatte ihm im Stadtpark aufgelauert. Hatte sich plötzlich vor Constantin gestellt und mit seinem Skalpell auf ihn gezeigt. Ruhig. Sicher.
Dann war der schwarzhaarige Junge geflüchtet, war um sein Leben gerannt.
Und er war ihm gefolgt. Die Erinnerung brannte Constantin in Gedanken. Es schmerzte so sehr, dass er sich seinen Kopf halten musste.
Plötzlich suchte ein verstörendes Zischen sich seinen Weg durch die schwarz-weiß gepunkteten Baumkronen des Birkenwaldes, die dem Schatten Versteck und Heim waren. Constantin rannte.
Seine Beine brannten wie Feuer, er ließ einen Baum nach dem anderen hinter sich. Die Angst, sich umzudrehen, war so groß, dass es ihn fast in den Wahnsinn trieb. Er konnte nicht anhalten. Es ging nicht. Er durfte nicht. Seine Brust pochte, sein Herz raste wie wild. Wie weit noch? Wohin nur? Wieso denn? Fragen, auf die er keine Antwort fand. Fragen, auf die er keine Antwort gab. Denn der Herzlose tötete nicht aus Berechnung. Er war gestört, er mordete aus Vergnügen. Aus Verlangen.
Weiter noch! Weiter noch! Immer und immer weiter!
Constantin rannte.
3.Akt - Sarah Reiche
Wo war er?
Sie hätte ihn nicht allein lassen dürfen! Sie hätte bei ihm bleiben sollen! In dieser Zeit, zu dieser Stunde! Sarah kaute nervös an ihren Nägeln. Der Waldboden gab unter ihren zögernden Schritten nach. Wo waren er hin? Tränen rannen an ihrer kalten Wange herab und schlugen auf.
Ja, er hatte sie betrogen. Ja, er hatte sie hintergangen. Ja, er hatte ihr das Herz gebrochen. Aber sie wusste, dass die Polizei dieses Waldgebiet rund um den Brunnen für höchst gefährlich hielt. Jetzt, nachdem erst neulich wieder eine Leiche dort gefunden wurde. Dort am Brunnen.
Am verschlossenen Brunnen.
Elende Vorwürfe paarten sich in ihrem Hirn mit Panik, sie schlich, stets umherschweifenden Blickes, setzte zögerlich einen Fuß vor den anderen.
Wieso hatte sie ihn nur allein gelassen?
Wieso hatte sie zugelassen, dass er in den Wald ging?
In diesen Wald. Minuten verstrichen. Der Wald war ruhig. Es war nichts zu hören. Keine Schreie. Keine Rufe. Nur entferntes... entferntes Vogelzwitschern drang an ihre Ohren. Ja... der liebliche Gesang von Vögeln...
Sie fuhr herum, torkelte etwas zurück und fiel hin.
Da war jemand.
Sie hatte ein Geräusch gehört. Nicht weit von hier. Ihre Glieder zitterten und schlossen sich dem Gesang der Vögel an. Wenn er es war? Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
Langsam raffte sie sich wieder auf und schaute sich um. Und dann... dann sah sie ihn. Ihr Herz machte einen gewaltigen Satz.
Constantin.
Das Monster war nicht auszumachen. Aber Constantin. Er stand vor einer Art Gebäude. Es schien sehr alt und groß. Eine Art Lagerhalle. Sie wollte rufen – aber es war bereits zu spät; und kurz darauf war sie froh, es nicht getan zu haben. Constantin betrat das Gebäude. Dann folgte nichts.
Doch dann folgte ein Schatten.
Und die Tür schloss sich.
4.Akt - Constantin Weise
Es war dunkel. Und stickig. Aber hier war er sicher. Das dachte er zumindest. Seine Blicke fuhren herum. Sicher. Vorerst. Aber womit konnte er nur die Tür verriegeln? Die Haare klebten ihm im Gesicht. Seine glitzernden, marineblauen Augen - wild umherschweifend – suchten nach irgendeiner Möglichkeit, sie zu versperren. Zunächst sah er nur eine endlos lange Halle, voll von metallenen Treppen und Beton. Doch dann... Er erblickte einen Balken. Einen großen, langen hölzernen Klotz, gut drei bis vier Meter von der Tür entfernt in einer Ecke. Ohne einen Gedanken an den merkwürdigen Geruch zu verschwenden, der widerlich drückend in Augen und Nase stach, hastete er darauf zu.
Es war nur ein Augenblick, ein winziger Augenblick.
Aber es war ein Augenblick zuviel. Die Tür klickte. Unmerklich.
***
Erleichtert atmete er auf. Er hatte eine Möglichkeit gefunden, mit Hilfe des Balkens die Tür von innen zu versperren. Erschöpft sank er an ihr hernieder zu Boden. Nun war er allein.
Das dachte er zumindest.
5.Akt - Sarah Reiche
Der Stein in der Hand. Spitz und schwer. Der Blick ängstlich.
Langsam schlich Sarah auf den Eingang des Lagerhauses zu. Es war erbärmlich kalt. Schnee wuchs um ihre Füße. Aber noch erbärmlicher war doch die Kälte in ihrem Innern. Sie musste etwas unternehmen. Constantin war da drin. Und er war nicht allein
Sie hatte ihn nicht erkennen können, nur einen weißen Schatten, der ihrem Freund Sekunden später in das schneebedeckte Gebäude gefolgt war. Aber sie hatte das Blitzen gesehen. Nicht das Blitzen in seinen Augen, denn er trug eine schwarze Skimaske und hatte sie auch nicht bemerkt, das hoffte sie zumindest. Aber sie hatte ihn gesehen. Und das Blitzen von Metall in seiner Hand. Ihr feuerrotes Haar umschlang ihren Nacken, flatterte im Wind. Ihr war so kalt. Was sollte sie nur tun gegen ein Monster, das andere wie Tiere auschlachtete, sie mit bizarren Botschaften grotesk in Szene setzte? Was vermochte sie mit einem einfachen klobigen, spitzen Stein in der Hand schon auszurichten? Vorsichtig tat sie einen Schritt nach dem anderen, sie war der Tür ganz nahe, war fast da, konnte es förmlich fühlen, die Kälte des Metalls, welches so viel hinter sich verbarg.
Die Hand an der Klinke – sie stoppte plötzlich.
Das konnte sie nicht tun. Das schaffte sie nicht. Nicht allein. Sie musste Hilfe holen. Aber wen? Und wie? Bis zu ihr nach Hause musste es mehr als eine halbe Stunde sein. Aber vielleicht... vielleicht schätzte sie die Situation falsch ein...Vielleicht war er überhaupt nicht...
Ihre Hand ruhte noch immer zittrig am Metall.
Der Stein in der anderen.
Im Herzen Kälte.
Im Kopf Angst.
Im Innern Feigheit.
Unschlüssig.
6.Akt - Constantin Weise
Es mussten Minuten vergangen sein.
Er hatte es gar nicht gespürt, dass Kälte daran war, in seinen Gliedern zu schlafen. Etwas beruhigt, dennoch aber mit einer Essenz Angst im Geschmack, raffte er sich wieder auf.
Wo war er nur angelangt? Wie weit war er von Zuhause entfernt?
Zuhause... Tss… er hatte längst kein Zuhause mehr. Seine Mutter tot, gestorben bei einem Unfall vor drei Jahren... und sein Vater... ein hohes Tier bei der Stuttgarter Polizei und seither daran, den Schuldigen zu finden, der seine Frau auf dem Gewissen hatte.
Denn er glaubte nicht, dass es ein Unfall war. Außerdem suchte er nach ihm... Er...
Constantins Pupillen weiteten sich.
Er konnte nicht weit sein. Und wie lange Constantin in diesem Wald aus Metall und Beton noch vor ihm sicher war, war nur eine Frage der Zeit. Und Zeit hatte im kranken Hirn dieses Monsters augenscheinlich keinerlei Bewandnis.
Unsicher schritt Constantin vorwärts. Wohin sollte er nur gehen? Und womit konnte er sich verteidigen, wenn es ernst wurde?
Ein Zittern fuhr ihm über die Lippen. Es würde ernst werden...
Plötzlich geriet ein Stein in seinen Blick. Er lag gut drei bis vier Meter vor ihm auf dem Boden.
Constantin ging auf ihn zu, die Stirn in Falten.
Blut klebte an ihm.
7.Akt - Sarah Reiche
Die Tür war offen. Langsam schlich sie in die Lagerhalle. Sie würde es tun! Sie würde dieses Monster überraschen und dann...
Die Halle war groß, sehr groß. Bald an jeder Wand zeichneten sich Gebilde aus Stahl ab. Treppen, die sowohl hinunter als auch hinaufführten. Treppen, die ... plötzlich erblickte sie ihn. Constantin. Er hantierte an irgendeinem Balken herum, unweit von ihr entfernt. Sie wollte schreien... aber sie kam nicht mehr dazu.
Ein tiefer Schnitt im Unterarm. Bandagen rissen. Dann gewann er die Kontrolle über ihren Körper, ihre Augen wurden zu schwer, als dass sie sie offenhalten konnte. Stein auf Beton, während er sie wegschleppte, eine der unzähligen Treppen hinunter in sein Kellergewölbe
8.Akt - Constantin Weise
Das Blut war warm. Er schluckte. Unwillkürlich sprang er auf und musterte aufgebrachten Herzens die Umgebung. Wieso lag da dieser Stein? An dem Blut haftete? Dass… warm war?
Ein Hämmern bahnte sich seinen Weg zu Constantins Ohren; er fuhr zusammen. Es kam von links neben ihm... Die Treppe! Zitternd verharrte er, hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugier. Dann ein Zischen... Ein boshaftes, geradezu psychedelisches Zischen. Sein Herz begann zu rasen, er wollte schreien, aber eine unsichtbare Hand verbot ihm zu sprechen.
Er war bereits hier. Seine Sinne drehten durch, instinktiv wollte er zur Tür rennen, die er mit dem Balken versperrt zu haben glaubte.
Doch dann vernahm er einen Schrei. Einen Schrei, der alles veränderte.
9.Akt - Sarah Reiche
Sie riss die Augen auf. Ihre Pupillen kreisten wild in ihren Höhlen, fuhren die Umgebung hechelnd ab. Was war nur passiert? Ein Pochen durchzog ihren Schädel und ein merkwürdiger, fast schon abartiger Gestank hing in der Luft.
Wo hatte er sie hingebracht? Wo war sie?
Und vor allem – wo war er?Als sie versuchte, sich aufzurichten, spürte sie Widerstand. Sie war gefesselt. Und nackt. Kalter Stahl säumte ihren Rücken. Arme und Beine mit Stricken, Stricke am Tisch, am Stahltisch. Und sie darauf. Plötzlich kreuzte etwas ihren Blick. Im selben Augenblick fuhr eine Hand an ihren Mund und verbot ihr zu sprechen. Er hatte sie gekriegt; er, den die Presse aufgrund seiner detestablen Vorgehensweise „The Heartless“ nannte. Der Bandagierte.
In der anderen Hand das Skalpell wanderte stillschweigend lüstern geführt zwischen ihren zarten Brüsten entlang. Dann sprach er. „Eigentlich sollte ich ja ihn bestrafen, bestrafen dafür, dass er dich betrogen hat, dafür, dass er dir das Herz gebrochen hat. Aber du bist selbst nicht ohne Schuld, nicht wahr, mein Liebes?“, ein Lächeln hinter der Maske, das sie nicht sehen konnte, „Und wir zwei Hübschen waren ja auch noch nicht fertig!“
Sarah zitterte am ganzen Leib, zitterte, dass die Fesseln wie Steine schwer gegen den Stahl schlugen. Seine Worte frästen sich in ihr Gehirn. Diese Stimme – sie kannte sie.
„Oh Gott... du... nein... wie... wieso...?“
Die Klinge liebkoste ihr Schambein.
„Gefällt dir das?“
Sie schrie, schrie erbärmlich laut auf und stieß ihm dabei ihren Ellenbogen mit voller Wucht in den Bauch, denn sie hatte gerade ihren Arm freibekommen.
„Halts Maul, du Schlampe!“, zischte er, während er sie auf den Seziertisch drückte und ihren Arm wieder festband, „Willst du etwa, dass er dich hört? Willst du -“ Dann war er plötzlich verschwunden. Verschwunden aus ihrem Blickfeld. Stille. Stille, die sie fast in den Wahnsinn trieb. Dann... dann durchbrachen Schritte die Stille. Leise. Vorsichtige. Sie schaffte es mit aller Kraft, sich etwas aufzurichten, den Kopf zumindest anzuheben, unter pochenden, an allen nur erdenklichen Stellen in ihrem Leib pulsierenden Schmerzen... Und dann verstand sie... Constantin stand in der Tür.
10.Akt - Constantin Weise
Es war Sarahs Schrei! Erfüllt von Hoffnung und Angst zugleich, nahm er allen Mut zusammen und steuerte, den blutigen, spitzen Stein sicher und griffbereit im Schutz der Handfläche verborgen wissend, auf die Treppe zu. Immer dem Geruch nach, Stufe um Stufe tiefer. Sarah!
Und dann, als er völlig unvermittelt nach links in einen kleinen Seitengang blickte, sah er sie, sah ihr in die Augen. In ihre vor Tränen glänzenden Augen. Aber er vermochte nicht mehr, Reue zu zeigen, noch Angst, noch Verzweiflung, noch vermochte er, ihren Augen zu folgen, die in eine bestimmte Richtung wiesen, weit aufgerissen, tränenfeucht.
Ein dumpfer Schlag beendete deren Blicke.
Ein Schrei begleitete jenes Geräusch.
11.Akt - The Heartless
Es war eine mühevolle Arbeit gewesen! Eine sehr mühevolle und vor allem aber auch zeitspielige! Und die Polizei hatte die Nachrichten noch immer nicht dechiffriert... tss... wie schwach... Dabei war der Code doch so einfach! So simpel! Der Schlüssel, den er benutzt hatte, um seine Botschaften zu codieren, um das Alphabet zu rotieren, war dermaßen... offensichtlich... dass auch niemand auf die Idee mit der Vigenére -Verschlüsselung und dem Key „Herzbruch“ kam... dabei hatte er an den letzten Tatorten und vor allem auch in den letzten Botschaften so viele Verweise auf den Code hinterlegt!
Einen Moment lang überlegte er noch, ob er den Buchstaben an diese Stelle kleben solle. Dann war die Botschaft für den schwarzhaarigen Jungen fertig.
Aber für Sarah...?
Sollte er auch für sie...?
Ein Geräusch erfasste plötzlich seine Aufmerksamkeit, welche die perversen Gedanken über das rothaarige Mädchen in den Hintergrund rückte.
Er würde sie einmauern, befand er, als er sich erhob, um ihr eine neue Injektion zu verabreichen. Ja, Einmauern klang schön.
Und ihn würde er bestrafen.
Nun gut... die Dosis schien zu reichen, um beide noch für ein paar Minuten außer Gefecht zu halten. Die paar Momente beanspruchte er noch für sich. Er setzte sich also wieder an seinen kleinen, aber doch sehr sauberen und trotz aller Zeitungsauschnitte zumutbar aufgeräumten Mahagoni-Schreibtisch, nahm eine Packung Papier zur Hand und blätterte die Stuttgarter Volkszeitung von vor drei Wochen durch.
12.Akt - Sarah Reiche
Sie öffnete die Augen – und spürte sogleich, wie Schmerz ihren Körper wie eine Welle der Bosheit durchflutete.
Was war geschehen?
Sie befand sich noch immer gefesselt und nackt auf dem Seziertisch. Aber ihr Körper schien bis auf die konfusen Seufzer in ihrem Innern von Wunden unversehrt. Sie konnte sich gerade noch fassen, gerade noch, als ihr verwirrter, vernebelter Blick von ihrer Armvene zu dem Seziertisch neben ihr glitt, auf dem Constantin in ebensolcher inhumaner Position ausharrte. Aber dennoch war ihr ein Laut entwichen. Unwillkürlich presste sie ihre Lider aufeinander. Versuchte, möglichst ruhig und gleichmäßig zu atmen.
Sie spürte, dass er sich von seinem Platz erhoben haben musste. Ja, er kam auf sie zu. Beugte sich zu ihr herunter. Ein widerlicher, alter Hauch zwängte sich ihre Lippen hindurch, als er sie küsste. Sie wollte würgen, doch sie konzentrierte sich. Und regte sich nicht. Erleichtert atmete sie auf, als sie dann den quietschenden Ton vernahm, der von seinem Drehstuhl herrührte.
Ihre Augen verharrten noch Minuten danach in reglosem Schweigen.
Dann schlug sie sie wieder auf.
Sie hatte nur eine Möglichkeit, nur eine einzige.
Es gab nur diesen einen Weg.
Sie musste es tun.
Jetzt!
13.Akt - The Heartless
Lächelnd und innerlich befriedigt legte er den Zeitungsartikel beiseite. Nun, nach seinem ausgiebigen Mahl würde er sich wieder um seine Kleine kümmern. Sie wartete bestimmt schon auf ihn; sie war bestimmt schon ganz feucht und verlangte nach seinem Fleisch, wie sie es schon zuvor mit dem Polizisten in ihm getrieben hatte, dieses verruchte, vergilbte Biest! Er zog wieder die dünnen schwarzen Chirurgenhandschuhe an, ging auf sie zu. Ein Skalpell in der rechten, fuhr er mit der linken Hand über ihr makelloses Gesicht, sein Atem streichelte ihren Hals, küsste ihre Brüste, liebkoste ihre Taille, bis er mit Zunge und Finger letztlich gänzlich in ihr ertrank...
Aber dennoch... dennoch erschien es ihm seltsam, geradezu falsch, als sich ihre Zungen dann trafen. Doch ergab er sich dem innigen, tiefen Kuss, der ihn blind machte in seinem unsteten Herzen.
Und in diesen Momenten bemerkte er nicht, was hinter ihm geschah.
14.Akt - Constantin Weise
Er kam langsam wieder zu sich, sein Schädel pochte und ihm dröhnte der Kopf, als hätte er in Alkohol förmlich gebadet. Bunte Männchen hüpften sternfömig vor seinen Augen auf und ab,
die –
Seine Augen fuhren ruckartig nach links, blitzten für einen Moment unheimlich hell auf und versanken dann voll Erleichterung in den ihren. Sie war noch am Leben! Gott sei Dank! Was sie nun mit ihren Blicken tauschten, vereinbarten, verrieten, verhandelten, trieben... versank im Schweigen der Ewigkeit und trat nie ans Licht. Constantin aber verstand. Und wartete. Wartete auf den richtigen Moment. Der sogleich kommen sollte.
15.Akt - Zwischenspiel: Flucht und Begierde
Noch immer spielten ihre Zungen miteinander, noch immer waren sie wie Zahnräder ineinander verhakt, noch immer schmeckten sie den Saft der Lust in ihren wild aufgerissenen Mündern... Das Skalpell glitt ihm – vor lauter Erregung und innerlich bis zum Rand angefüllt mit Begierde – aus den Händen und hinterließ einen klirrenden Ton, als es auf dem Stahltisch aufkam.
Er wollte sie, er brauchte sie, er wollte sie ficken, er wollte sie hier, hier und jetzt, jetzt sofort! Seine Hände drückten begierig ihre steifen Brüste, seine flinken, geschulten Finger streichelten ihre heißen Schenkel, Schweiß flutete ihren Körper und eine Spur von Verlangen lag in der Luft... er wollte in sie eindringen... jetzt! Jetzt sofort!
Aber plötzlich hielt er inne. Durch seine Maske, die seinen Mund nun preisgab, sah er in ihre Augen. Und er sah nicht, was er zu sehen erhoffte, er sah nicht, was er sehen wollte. Ihre Augen signalisierten...
„LAUF!!!“, brüllte Sarah aus vollem Halse und entwand sich der widerlichen stinkenden schwarzen Grotte vor ihrem Gesicht; blitzartig ergriff sie das Skalpell, das neben ihren zu Eis erstarrten Schenkeln ungeduldig wartete, und riss es durch das Maskengesicht – aber der Herzlose wich zurück und entkam dem tödlichen Schnitt. Ein Zischen wie das eines kranken, psychopathischen Tieres entfloh seinem Rachen. Er hätte sie nicht losmachen dürfen.
„Scheiße, die Tür ist verschlossen!“, schrie Constantin angsterfüllt und riss beharrlich daran, immer und immer wieder. Vergebens. The Heartless, des Zischens nicht müde, entriss Sarah das Skalpell, sprang zurück und baute sich in einiger Entfernung von der Tür auf. Furcht drechselte Constantins Stirn und ein begieriges Zittern fuhr ihm durch die Glieder. Was nun?
Doch plötzlich und völlig unvorhergesehen, trat eine Wendung ins Geschehen. Etwas, das nicht vereinbart war. Sarah erhob das Wort. Ihre Stimme war klar. Resolut. Ernst. Entschlossen. Stark.
„Lass ihn!“, begann sie ruhig, doch mit einer so enormen Kraft und Entschlossenheit in der Stimme, dass Constantin aufmerkte.
„Lass ihn, er ist es nicht wert, er ist nur Abschaum, nichts weiter. Nimm mich! Nimm mich, wie du es schon einmal getan hast! Ich will, dass du mich fickst, nimmst genau so wie damals. Hier und jetzt! Sofort!“
Stille. The Heartless links neben Sarahs Folterbank, Constantin an der Tür. Stille. Seine schweren Augen voll von Angst, Verwirrung, Entsetzen. Die des Herzlosen dagegen hin und hergerissen zwischen Begierde, Verlangen und Rache. Begierde, Verlangen, Sucht nach ihr, ihrem engen Körper, ihrem Geruch, ihrem Fleisch. Und Rache... an ihm. Rache, wie er sie an all jenen, die einem liebenden Menschen das Herz gebrochen haben, verübte. Er musste ihn töten! Es war seine Aufgabe! Sein Ziel! Seine Bestimmung! Dafür war er hier! Er hatte Sarah hintergangen, wie all jene zuvor ihre Geliebten hintergangen hatten. Er durfte ihm nicht entkommen! Er musste sterben!
„Nimm mich!“, insistierte Sarah, ihr flammend rotes Haar - wild verwoben - ruhte unruhig pulsierend auf ihrer feuchten Stirn. Ihre Finger tauchten ein in das Geheimnis zwischen ihren Schenkeln und ihre Blicke gruben sich tief in seine Augen.
„Nimm mich!“
Und dann verfiel er ihr.
Schweiß saugte sich in die Stricke. Er stieg auf sie. Stoff auf Haut. Er wollte sie und er nahm sie. Jetzt. Alles andere war nebensächlich. Jetzt! JETZT!
Aber nur eine von Sarahs zarten Händen, die verkrampft waren und lieblich und zart erscheinen wollten, schlang sich um seinen Leib.
Die andere deutete auf eine Stelle am Boden. Eine Stelle zwischen den beiden Seziertischen, direkt vor seinen Füßen, nur einen Meter – wenn überhaupt – entfernt.
Und noch bevor das herzkranke Biest ihren letzten Atemtropfen in sich aufnahm, war Constantin in der Luke im Boden verschwunden.
16.Akt - Constantin Weise
Tränen perlten von seinen Lidern, und jeder Wimpernschlag entsandte schwere Tropfen gen Boden. Tränen der Wut. Und Tränen der Verzweiflung.
Wieso zur Hölle tat sie das, wieso? Hatte sie das alles nur inszeniert, um ihm das zu zeigen? DAS?
Wie sie nackt, breitbeinig und gefesselt auf einem Tisch lag, während ein widerlicher, an den Armen bandagierter Mann mit weißer Kutte und undurchsichtiger schwarzer Skimaske, der bereits mehrere Menschen auf bestialische Weise verstümmelt hatte, an ihr herumfummelte?
Wut staute sich in Constantins Herzen. Und in seinem Kopf kreisten ständig dieselben Worte:
„...wie du es schon einmal getan hast...“
Der Formalingeruch, der ihm in der Nase saß, mischte sich mit dem Gestank schwitzender Körper. Er konnte es einfach nicht länger mitansehen! Er über ihr und seine Hände, die nach allem langten, was ihm nicht zustand. Und Sarahs Hände, die (bereit)willig alles empfingen, was... Sarahs Hände...
Eine ruhte auf dem Rücken dieses Untiers, welcher unter ruckartigen Hüftbewegungen abartige Laute von sich gab.
Aber die andere... Die andere hing vom Tisch herunter, den Arm angespannt, und deutete ausgestreckten Fingers auf...
Da war ein Griff! Ein kleiner Metallgriff, der aus dem Boden in der Mitte der beiden Stahltische ragte. Eine Bodenklappe!
Eine verdammte Bodenklappe!
Seine Wut schien zu verebben. Dann war das also alles...
Constantin verstand. Und er verlor keine Sekunde mehr. Und keinen Gedanken. So schnell war er noch nie im Leben gerannt.
***
Sein Puls raste, sein Herz pochte wie wild. Mit aller Kraft, die er aufzubringen imstande war, zog er an dem Griff, eine schmale Leiter nur unter seinen Füßen spürend und darunter... Unbekanntes. Tiefe. Schwärze.
Er wusste nicht, wo genau er war, aber das war für ihn im Moment auch nicht wirklich von Bedeutung. Viel wichtiger war ihm, zu wissen, was sich über ihm abspielte. Wieso reagierte dieser kranke Psychopath denn nicht?
Wieso machte er keinerlei Anstalten, ihm zu folgen?
Grauenvolle Gedanken rasten ihm durch den Kopf und augenblicklich bereute er seine Flucht. Er hatte sie alleine gelassen. Sarah, seine Sarah. In den Fängen dieses Monsters...
Bittere Vorwürfe sammelten sich unter seiner Zunge, die er zu Worten zu formen nicht mehr gelangte. Denn plötzlich – ein völlig unerwartetes Hämmern riss ihn aus der Fassung, er torkelte, seine Hände schmerzten, seine Füße gerieten ab von den Steigen, der Abgrund kam immer näher und näher und näher und...
Er stürzte.
Er fiel.
Hatte den Halt verloren.
17.Akt - Sarah Reiche
Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis sie wieder zu sich kam. Doch als sie sich umblickte und sich der Situation gewahr wurde, in der sie sich befand, wünschte sie, nicht erwacht zu sein. Sie war allein. Und es war kalt. Bitterkalt. Neben sich die leere Injektionsspritze wissend, versuchte sie, sich der Kanüle in ihrer rechten Armvene zu entledigen. Benommen schaute sie im klinisch toten, sterilen Raum umher. Formalin schwebte in der Luft. Schmerz waberte durch ihren nackten Körper. Angst fraß sich durch ihr Herz.
Sie war allein. Gefesselt auf einem kalten toten Seziertisch.
Doch plötzlich merkte sie auf – sie erblickte links von sich... Ein Skalpell!
Hatte er es dort etwa vergessen?
Er hatte sie wieder gefesselt – diesmal aber waren die Stricke straffer.
Sie reckte ihre kalten Finger... es musste doch...das Leben lag nur wenige Zentimeter vor ihr... sie musste... sie brauchte... sie hatte den Griff fast... sie...
Sie hatte ihn. Hoffnung zirkulierte wieder in ihrem Körper.
Die Stricke hatten merkliche Spuren an Armen und Beinen hinterlassen. Aber das war nicht das einzige, was sie kränkte. Sie glaubte zwar, das richtige getan zu haben, innerlich jedoch fühlte sie sich... falsch... dreckig...sie hatte diesen... diesen Menschen an sich... in sich...
Fragmente verdrängter Erinnerung sammelten sich in ihrem Mund
Unwillkürlich fiel sie auf die geschundenen Knie und erbrach sich.
***
Mit der Zeit wurden ihre Glieder immer steifer, sie besaß kaum noch Leben in sich. Sie musste sich etwas anziehen. Woher kam nur diese fürchterliche Kälte? Es war doch zuvor noch nicht so kalt hier drin gewesen! Wieso also jetzt? Doch gleich darauf erkannte sie, dass die Antwort direkt vor ihren Füßen lag. Die Luke war offen. Den Blick hinunter, spürte sie die Kälte noch intensiver in sich. Lange hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste sich etwas anziehen. Eisiger Wind fuhr ihr durch Mark und Bein.
Verdammt, woher kam diese Kälte? Hatte das Loch im Boden etwa einen Zugang zu draußen, zum Wald? Waren Constantin und dieser kranke Typ schon nicht mehr im Gebäude? Sie musste ihm helfen! Doch zuvor musste sie... Suchend schweiften ihre schweren Augen im Raum umher. Da – auf dem Stuhl. Ihre Sachen... Vor dem Schreibtisch. Vorsichtig ging sie auf sie zu, vergewisserte sich, dass niemand sie beobachtete und zog dann eilig Strümpfe, Slip, Hose, Shirt, Pullover und Jacke über. Der warme Schutz zog sie für einen unachtsamen Moment gänzlich in seinen Bann, doch dann erblickte sie etwas - und hielt den Atem an.
„Oh-mein-Gott....das kann nicht... nein... er ist es doch!“, bröckelte es beständig von ihren Lippen.
Der Zeitungsartikel krachte auf die Fliesen.
18.Akt - The Heartless
Es war ein ganzes Stück Arbeit gewesen und auch einige Zeit vergangen, aber nun war er soweit. Constantin lag auf dem Boden. Nackt. Bleich. Unstet. Kreisförmiges Licht fiel auf seinen schwachen Leib.
Der Mann, der ihn vergessen machen wollte, hockte über ihm gebeugt, ein Skalpell in den Händen. Dann legte er seine Maske ab.
„Schade... ob er es wohl verkraften wird, wenn sein eigener Sohn, das letzte, was er noch hat, der Habgier verfallen, bestraft wurde? Von mir bestraft wurde? Naja... eigentlich sollte ich die kleine Sarah ebenfalls bestrafen – denn auch sie hat gesündigt! Auch sie hat einem geliebten Menschen das Herz gebrochen, indem sie ihn betrog. Auch sie muss ich bestrafen, ja, ja! Nun... aber das kann warten!“
Er fasste noch einmal in seine Uniform, die er unter seiner Kutte verbarg, und vergewisserte sich, dass die Botschaft noch in der obligatorischen, dafür vorgesehenen Plastiktüte war. Dann atmete er tief ein. Und setzte zum Schnitt an.
Endakt - Gebrochenes Herz
Sarah war auf dem Grund angelangt. Die Luft hier unten war so drückend und stickig, dass ihr fast die Sinne schwanden. Aber sie dachte nicht weiter darüber nach und folgte dem langen dunklen Gang am Ende der Leiter, der nicht enden wollte. Es war noch immer unerträglich kalt – hier unten noch kälter als oben im toten Raum. Sie würde ihn aufhalten.Sie musste.
Sie würde ihn töten.Das war sie ihm schuldig.
Zitternd verschwand sie in der Dunkelheit; und je weiter sie lief, desto kälter und doch reiner wurde die Luft, die sie einatmete, förmlich in sich aufnahm. Und dann, nach zeitlosen Atemzügen, sah sie ein Licht. Genauer gesagt, sah sie Licht auf zwei Schatten fallen – und erstarrte. Es war zu spät.
Oder? Der eine Körper beschienen am Boden, nackt. Der andere... tanzte und sprang umher. Er redete wirres Zeug, reimte, sprach mit sich selbst. Philosophierte von Rache, von Sünde. Und Sarah hörte zu, versteckt, verborgen, geschützt von der Dunkelheit, welche die obskure kreisbeschienene Umgebung ihr bot. Sie wartete. Wartete auf den richtigen Moment, den richtigen Augenblick.
Und der bot sich. Alsbald. In einem Moment, da „The Heartless“ ihr unachtsam den Rücken zuwandte, rannte sie aus ihrem Versteck hervor. Ihr Herz entflammte, sie dachte nicht mehr über das nach, was sie tat, sie handelte einfach. Sie rannte, stürmte auf ihn zu, warf sich von hinten an das Monster heran – und stieß ihm die Klinge des Skalpells in die Schulter.
Ein gellender Schrei entfuhr ihm, er wirbelte herum, seine verwirrten Augen schauten in die überraschten und entsetzen Augen von Sarah und er schleuderte sie zu Boden.
Es war der falsche Moment gewesen.
Seine Augen zeigten einen fahlen Glanz, er zitterte am ganzen Körper und krümmte sich. Doch das währte nicht lange. Plötzlich hatte er den Griff des Skalpells in der Hand – und riss es unter höllischen Schmerzen aus seinem Fleisch. Blut entschlich sich der Wunde und benetzte Constantins Gesicht, der des Geschehens entrissen noch immer bewusstlos am Boden lag.
***
Sarah musste sich irgendetwas gebrochen haben. Sie hatte unerträgliche Schmerzen in der linken Schulter. Doch als ihre Blicke umherschweiften, sah sie Bilder, die sich ihrem Herz verwehrten. Blut. Constantin auf dem Boden, Blut in seinem Gesicht, er über ihm, das Skalpell in den Händen, endlich zu enden, wofür er da war, endlich zu enden, wofür er gekommen war.
Und sie schloss mit dem Leben ab. Mit seinem – und ihrem. Denn ohne ihn konnte sie nicht leben, ohne ihn konnte sie nicht bestehen in dieser Welt der gebrochenen Herzen, in diesem Brunnen aus Falschheit.
Sie schloss die Augen – aber schlug sie doch im selben Moment wieder auf.
Sie hatte etwas gehört.
Etwas, das nicht ins Bild passte. Es klickte.
Direkt neben ihr… da lag… nein… eine - eine Schusswaffe. Eine Schusswaffe? Nein, das konnte nicht sein! Das war nicht möglich! Wo war sie hergekommen? Als wäre sie plötzlich vom Himmel gefallen. Aber sie zögerte nicht. Sie hatte schon zu oft gezögert.
Zu oft.
Doch diesmal nicht. Es klickte ein weiteres Mal.
Ein letztes Mal.
Joachim Körner brach ohne jeden weiteren Laut über seinem Sohn zusammen.
Die buschigen, wilden, schwarzen Locken Constantins warfen zwielichte Schatten im Schein der Wintersonne, die hoch über ihnen in den Brunnen schien.
EPILOG
The Heartless gefasst – tot
Zwei Menschen überlebten das Massaker
Ranglsheim
. Drei Wochen nach dem Mord an dem 15 – jährigen Mädchen, hätte „The Heartless“ beinahe wieder zwei neue Opfer gefordert. Der 19 – jährige Constantin und die 21 – jährige Sarah überlebten.
Es war der Tag den niemand vergessen wird. Am 15. Februar ging bei dem Kommissariat in Stuttgart ein Anruf ein. Es habe erneut ein Opfer gegeben. Dann wurde das Gespräch von Seiten des Anrufers jedoch abgebrochen. Als die Polizei am Tatort eintraf, fand sie Fußabdrücke im Schnee vor. Des Weiteren stieß man auf Blut, welches am Brunnenrand neben dem Gitter haftete. Aber es kam anders als die Polizei zunächst dachte. Kommissar Klinge zu „SVZ“: Wir hielten es ehrlich gesagt für eine Fehlmeldung, da wir zunächst am Tatort weder Hauptkommissar Joachim Körner noch besagtes Opfer vorfanden.“ Jedoch stieß die Spurensicherung beim Sicherstellen des Tatortes auf zwei Überlebende. Man fand einen jungen Mann sowie dessen Freundin in psychisch äußerst labilem Zustand im Inneren des Brunnens vor. Sarah später im Interview: „ Ich hatte panische Angst um ihn. Wir hatten uns zerstritten und ich ihn danach vor die Tür gesetzt. Und dann... dann ist er in den Wald gegangen... in diesen Wald... und in so eine Lagerhalle. Und dieser kranke Typ ist ihm gefolgt! Es war alles so pervers und krank...“
Wie sich bereits am Tatort herausstellte, war er, den die Presse „The Heartless“ nannte, kein geringerer als Hauptkommissar Joachim Körner. Constantin über den Ablauf der Prozedur: „Es war schrecklich! Er band mich fest und tanzte wild vor mir herum, immer mit diesem Skalpell in den Händen.
Dann zeigte und sagte er mir, was er alles mit mir vorhabe. Und was er mit meinem Herzen machen wolle. Als ich ihn anschrie, warum er mir das antun wolle, mein eigener Vater, schlug er mir ins Gesicht und sagte ich sei es nicht wert, weiter zu leben. Und er hat immer wieder etwas von „gebrochenem Herz“ geredet und gedroht, mir den Mund zuzunähen, sollte ich schreien.“ Danach, so der Überlebende, könne er sich bis zum Erwachen im Stuttgarter Krankenhaus an nichts mehr erinnern. Die beiden stehen noch immer unter Schock. Mittlerweile hat die Polizei auch den Code der Botschaften dechiffriert. Es war immer wieder dieselbe Nachricht, immer wieder dieselben Sätze: Sie hat mich betrogen. Meine Frau hat mich betrogen.
An einem Wintertag.
Hauptkommissar Joachim Körner steckte den Brief in die obligatorische dafür vorgesehene Plastikhülle. Eine Träne fiel in den Schnee. Dann erhob er sich. Wind strich ihm durchs Haar. Er glaubte, Vogelzwitschern wahrzunehmen...
Aber das war absurd. Es war Winter. Und kein Vogel würde den Tod seines Sohnes beweinen, selbst kein Rabe. Plötzlich hörte er doch etwas. Oder? Kam es etwa aus dem Brunnen? Er zückte seine Waffe, schaute sich vorsichtig in der Umgebung um. Nein, da war niemand – es musste aus dem Brunnen gekommen sein. Selbstsicher beugte er sich vornüber und starrte hinab, ein rostiges Gitter im Gesicht. Doch da war nichts... Er legte die Waffe ab und spähte noch tiefer hinab. Oder?
Plötzlich ein Krächzen – doch ein Rabe – Joachim Körner erschrak, fuhr herum.
Erleichtert atmete er auf.
Beinahe hätte er seine Waffe fallen lassen...
Beinahe...
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2009
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