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Kapitel 1: Kampftraining


Es war noch ziemlich früh und das Dorf war in unheimliches Zwielicht getaucht...

Ein leises Fiepen an ihrem Ohr weckte Lyra. Daraufhin zog sie die Decke weg und starrte geradewegs auf die Quelle des Geräusches: Aber da war nichts...
Naja, nichts außer das übliche Chaos in ihrem Zimmer.
Kleidungstücke, von denen eines sich bewegte, Berge von Büchern -Moment, ein sich bewegendes Kleidungsstück?
Es bewegte sich wieder, dann sprang es ihr entgegen und landete in ihrem Gesicht. Sie hatte schützend die Hände davor gehalten und sich auf einen harten Schlag vorbereitet, doch der blieb aus. Stattdessen traf sie etwas Weiches an der Stirn und fiel kreischend zu Boden.
Jedenfalls hätte es (was auch immer es war) das getan, wenn es sich nicht noch gerade so an ihrer Haarsträhne festgehalten hätte. So baumelte es hilflos vor ihrem Gesicht und fiepte wieder. Lyra pflückte es vorsichtig aus ihren Haaren und fragte:
„Na, wer bist du denn?“ Obwohl sie eigentlich wusste, was es war; ein koralischer Wiesenhüpfer. Reiche Leute hielten sich diese Tiere oft als Haustier: Sie waren sehr anhänglich und hatten keine Scheu vor Menschen. Allerdings waren sie auch unvorsichtig und neugierig, was sie meistens in Gefahr geraten ließ und einen frühen Tod der bedrohten Spezies zur Folge hatte. Tief in ihrem Herzen hatte sie Mitleid mit diesem Flauschball und verspürte den Drang, ihn zu beschützen. Aber sie kannte den Grund, warum sie sich kein Haustier halten durfte. Aus demselben Grund, warum sie auch nie ein Melim hatte: Harral, ihr Großvater hatte eine Tierhaarallergie und musste immer schrecklich niesen, wenn der Ziegenjunge aus dem Dorf das Vieh auf die Weide trieb.
Also beschloss sie, wenn auch mit einigem Widerwillen, es so schnell wie möglich auszusetzen. Doch ehe sie sich entschließen konnte, sah sie einen großen Vogel auf einem Ast eines Baumes im Osten des Dorfes sitzen.
Ich schicke es direkt in den Tod, wenn ich es aussetze. Sie entschied sich dazu, es für eine Weile zu behalten.
Als ihr Blick wieder nach draußen schwenkte, sah sie schon die Sonne am Horizont.
Nachdem sie ein behelfsmäßiges Nest für den kleinen Wiesenhüpfer errichtet und ihn eingefangen hatte, legteihn behutsam in sein neues Heim. Gleich darauf flog die Tür auf und Alasia kam herein.
Lyra hatte nicht so früh mit ihr gerechnet, da ihre Großmutter sie immer weckte, wenn die Sonne zwei Finger breit über dem Horizont stand. Also stellte sie sich hastig vor das Nest und hoffte, dass das Tier nichts anstellte.
„Guten Morgen, Lyra. Ich sehe du bist schon wach? Ich habe dir schon dein Frühstück hingestellt.“
„Ok, ich zieh mich nur schnell an.“
Als die kleine, alte Frau wieder gegangen war, atmete Lyra erleichtert aus.
Sie wollte sich ja sowieso schon anziehen, also suchte sie aus dem Kleiderberg drei Teile, ihr Lieblingsoutfit.
Heute würde sie endlich gegen ihren Freund Roy kämpfen, um dem Lehrer ihr Talent zu zeigen und zu beweisen, dass sie eines höheren Ranges würdig war.
Da gab es nur ein Problem: Nur der Gewinner durfte sich der höheren Stufe erfreuen und Lyra hoffte inständig, dass kein Streit zwischen ihr und Roy entstehen würde, weil nur einer den Sieg davon tragen konnte.
Sie hatten sich lange darauf vorbereitet und viele Techniken erlernt, doch sie war gewiss nicht halb so gut, wie viele ihrer Schule. Sie war erst auf Stufe 7, während Roy schon auf 8 und ihre Freundin Mira auf Stufe 10 war. Das Ziel ihrer Gruppe war, sich bis Stufe 15 hochzuarbeiten. Und heute würde sie die Chance dazu haben, diesem Ziel ein Stück näher zu kommen.

Als sie frisch gewaschen und angezogen war, legte sie hastig ein Tuch über das Nest des Wiesenhüpfers und kletterte die Leiter zu ihrem Zimmer herunter, die beängstigend knarrte, als sie das Gewicht auf sich spürte. Als Alasia sie erblickte, wies sie mit dem Finger auf den Tisch.
„Nun aber schnell, du musst ja gleich weg!“
Lyra setzte sich und begann damit, sich ein Brot in den Mund zu stopfen.
Während ihre Großmutter in der Küche fuhrwerkte, kam auch ihr Großvater Harral um die Ecke und setzte sich zu ihr. Nach dem Brot wandte sich Lyra der Dulapa zu und löffelte den süßen rosa Inhalt in ihren Mund.
„Musst du nicht los?“, meldete sich Harral zu Wort.
Der Zeit bewusst, sprang Lyra auf, nahm vom Schlüsselbrett einen Lederbeutel und verließ das Haus.
„Na, dann wollen wir mal!“
Mit einem gekonnten Sprung schwang sich Lyra auf den nächsten Baum und kletterte bis ganz nach oben. Ein verräterisches Rascheln hinter ihr verriet, dass ein Eichhörnchen sich schon einen Vorrat an Nüssen für den Winter anlegte.
Oben angelangt, man konnte von hier aus das ganze Dorf überblicken, sprang sie auf einen dicken Ast, der wie eine Rutsche zum nächsten Baum führte und glitt darauf nach vorne, bis sich die Äste anderer Bäume mit ihm verflochten. Einige von ihnen waren sogar so dicht verwachsen, dass kaum noch Licht den Boden erreichte. Im Schatten ebendieser Flechten wuchsen Nachtpflanzen wie die Serpentinus, eine hinterhältige Pflanze mit langen Fangarmen, die sogar ein Pferd festhalten, und nach einer Zeit auffressen könnte. Bei dem Gedanken lief Lyra ein Schauer über den Rücken. Sie hatte einmal ein Tier aus den Fängen dieser Pflanze befreit, was ihr beinahe selbst zum Verhängnis geworden wäre.
Der Wald war groß und der Trainingsplatz weit entfernt, wobei Lyra immer auf Gefahren achten musste. Sie dachte an das Erlebnis vor acht Sonnenaufgängen zurück: Sie war abgerutscht und auf die morsche Stelle eines riesigen, toten Baumstammes gefallen, der nachgegeben hatte, woraufhin sie in einen Rubinmaulwurfsbau gerutscht war. Lyra war mit dem Schrecken davongekommen. Niemand außer Roy hatte es erfahren, weil Lyra nicht wollte, dass sich ihre Großmutter unnötig Sorgen machte.
Inzwischen konnte man die Lichtung, wo die Schüler immer trainierten, sehen, also sprang Lyra an den Ästen herunter, wobei sie sorgfältig darauf achtete, nach keinen zu Dünnen oder Abgestorbenen zu greifen.
Kurz darauf landete sie im Sand, der den ganzen Platz bedeckte. Ein stattlicher, großer und muskulöser Mann, von der Sonne gebräunt, kam zu ihr. „Wo warst du solange?“, wollte er wissen. Eine Entschuldigung für ihr Zuspätkommen hatte sich Lyra noch nicht ausgedacht, wie ihr bewusst wurde und sie dachte fieberhaft nach, womit sie sich herausreden könnte.
Sie kam oft nach Anfang der Lektion, zu oft, und sie wusste, dass ihr Lehrer, Meister Qillan, das nicht länger dulden würde. Doch ehe sie sich überlegt hatte, was sie entgegnen konnte, bemerkte sie, dass sich die Mimik auf Qillans Gesicht schlagartig veränderte. Ein Lächeln ging über das Gesicht des sonst so ernst aussehenden Mannes, das zu einem unterdrückten Kichern wurde und in einem schallenden Lachen endete. Die Röte schoss Lyra in den Kopf, denn alle Schüler hatten sich zu ihnen umgedreht.
„Was ist so lustig?“, fragte sie leise.
Einige der Schüler zeigten auf etwas, unmittelbar über Lyras Kopf.
Erleichtert stellte sie fest, dass es nicht irgendein Käfer, sondern niemand anderes als der Wiesenhüpfer war, der ihr scheinbar gefolgt war, und jetzt munter auf ihrem Kopf Grimassen schnitt.
„So gut habe ich mich noch nie amüsiert, Lyra, aber du weißt, dass du eigentlich keine Haustiere mitnehmen darfst“, meinte Qillan.
„Er ist nicht mein Haustier“, entgegnete Lyra und stopfte ihn schnell in ihre Tasche, „und ich hab ihn nicht mit Absicht mitgenommen, er war heute Morgen in meinem Zimmer und hat sich wahrscheinlich in meiner Tasche versteckt-...“
„Ja, Lyra, langsam glaube ich dir nicht mehr! Ihr sollt Kämpfen lernen, nicht euren Lehrer zum Lachen bringen. Apropos, wolltet ihr mir nicht heute zeigen, was ihr schon könnt? Roy wartet schon auf dich!“ Kaum hatte er das gesagt, trat ein Junge in ihrem Alter vor. Er hatte braune Haare und war etwas größer als Lyra. Eigentlich würde er ganz gut aussehen, wäre da nicht die Narbe an seinem Kinn.
Roys Dorf, so hatte er ihr erzählt, war, als er noch ein Baby war, von Kemaren heimgesucht worden. Die blutrünstigen Tiere hatten sein Gesicht zerkratzt. Zum Glück konnte sein Vater diese Tiere verjagen. So war ihm die Narbe als Andenken geblieben, obwohl er sich nicht an dieses Erlebnis erinnern konnte.
Durch einen Schrei wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Yosh und Sharon, zwei Schüler auf Stufe 13, die wie Lyra und Roy Trainingspartner waren, kämpften bereits erbittert. Sie waren wesentlich schneller als die restlichen auf der Lichtung, ausgenommen Meister Qillan, und würden deshalb auch bald zu vollwertigen Kriegern gemacht werden.
„Wird’s bald, du Trödeltasche?“ Roy knuffte sie freundschaftlich in die Seite.
Lyra lief hinüber zu den Hütten am Rand des Platzes und kramte in ihrer Hosentasche, bis sie etwas Kaltes zwischen den Fingern spürte und es herauszog. Sie ging in die rechte Hütte. Der Gegenstand, ein Schlüssel, war zum Öffnen von einem der Schließfächer, die sich hier befanden, gedacht. Nachdem sie ihren Spind geöffnet hatte, fielen ihr ein Paar Dinge entgegen.
„Na toll!“, murmelte sie.
Als sie es geschafft hatte, alles wieder einzuräumen, suchte sie sich ihre Trainingskleidung zusammen: Eine feste Lederhose, die den Beinen Schutz geben sollte, ein Oberteil aus demselben Stoff, was zwar ungemütlich war, aber dennoch seinen Zweck erfüllte und zwei graue Handschuhe sowie Armschoner. Dann zog sie sich um.
Aus dem Schließfach holte Lyra noch zwei lange Stöcke aus Massivholz, die ohne die richtige Bekleidung ziemlich viele blaue Flecken verursachen konnten, wie sie einmal hatte feststellen müssen, als sie den Schlüssel vergessen hatte. Zudem hatte ihr Qillan einen Stock gegeben, der zu leicht war, um Roys Angriffe zu parieren, wodurch sie noch mehr Treffer einsteckte, sodass sie vier Tage lang nicht mehr hatte klettern können. Seitdem erinnerte sie sich schmerzlich daran, den Schlüssel immer mitzunehmen.
Als sie nach draußen trat, stand Roy schon an Ihrem bevorzugten Trainingsplatz.
„Ah, da bist du endlich“, sagte er.
„Haha, sehr lustig, sag mir lieber, wo Qillan ist!“
„Für dich immer noch Meister Qillan!“, sagte jemand hinter ihr in gespielt drohendem Ton. Sie drehte sich um murmelte: „Tut mir Leid, Meister.“
„Yosh und Sharon trainieren gerade die S2. Ich habe also jetzt Zeit, euch zu prüfen. Ich möchte,", sagte er zu Lyra gewandt, "dass du Roy angreifst und ihn entwaffnest. Achtet auf eure Technik und bleibt fair, Schüler!“
Ein Grüppchen hatte sich um sie versammelt und schaute neugierig zu, was Lyra anspornte. Sie würde ihnen zeigen, wie man richtig kämpft!
„Los!“ Meister Qillans Ruf war deutlich zu hören. Sofort ließen sich Roy und Lyra in ihre Kamfposition fallen. Langsam begannen sie, einen unbestimmten Punkt zu umkreisen, den Gegner fest im Blick, um zu erkennen, wann er seine Deckung vernachlässigte.
Dann, als Roy zu stolpern schien, begann Lyra, ihn anzugreifen: Ein Schlag links, ein Schlag rechts, doch beide ließen Roy unbeeindruckt.
Ein Angriff von unten ließ ihn kalt: Er sprang darüber hinweg ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Lyra überlegte.
Hm, so kann ich es nicht schaffen. Er ist zu flink.


Nach einem langen und erbitterten Schlagabtausch kam ihr eine brillante Idee. Sie täusche einen Schlag von rechts an. Roy hielt seine Waffe mit beiden Händen nach rechts, um den vermeintlichen Angriff zu parieren. Ein Moment der Unachtsamkeit genügte Lyra, um ihren Kampfstab mit Roys zu verkeilen, indem sie ihn zwischen Roys Händen in die Lücke stieß. Dann packte sie das andere Ende und vollführte eine Drehung. Roy versuchte, sich aus der Situation zu befreien und wollte umgreifen. Die Bewegung war jedoch zu schnell. Ein Wink von Lyras Stab gab ihm den Rest und er musste loslassen und zusehen, wie sein Stab weggeschleudert wurde.
Klonk! Roys Stab lag auf dem Boden. Sie hatte es geschafft!
„Ein sauberer Sieg!“ Meister Qillan stand auf und klatschte, auch ein Paar aus der Gruppe klatschten oder pfiffen.
„Huh, das war anstrengend! Nicht schlecht!“, meinte Roy, der auch außer Puste war.
Lyra war erleichtert, dass er nicht sauer auf sie war, obwohl nur sie eine Stufe aufstieg.
„Du auch, Roy! Ihr habt mich beide echt beeindruckt. Du hast ohne zu zögern alle Angriffe von Lyra pariert, von denen ich schon dachte, dass sie dich treffen. Flüssiger Schlagabtausch und eure Schnelligkeit ließ auch nicht zu wünschen übrig.
Gut angetäuscht, Lyra. Nun denn, ich freue mich, euch beide das nächste Mal auf einer höheren Stufe unterrichten zu dürfen! Ihr dürft schon gehen, wenn ihr wollt.“
Roy machte ein überraschtes Gesicht. Offenbar hatte er damit nicht gerechnet!
„So was nenn‘ ich Erfolg auf ganzer Linie!“, sagte ein für sein Alter recht kleiner, rothaariger Junge.
Lyra und Roy grinsten sich an.
„Ich hatte erwartet, dass wir nach diesem Kampf auf einer Stufe sind!“, sagte Roy.
„Tja, jetzt bist du wohl immer noch besser als ich.“, antwortete sie neckisch und schob ihn Richtung Hütten.
Lyra nahm Roys Stock, denn sie bewahrte immer die Stöcke auf, weil ihr Spind größer war.
„Hilfst du mir nachher, noch Beeren zu sammeln? Alasia hat gesagt, sie will daraus Marmelade machen. Du könntest danach noch zu mir kommen.“
Er kam nach dem Training oft zu ihr, da seine Mutter noch etwas länger weg war, um Schüler zu unterrichten. Sie hatte nur drei Schüler, die aus ganz Najur kamen, da es nur wenige Elecons gab, die wie sie Heilkräfte hatten.
„Wir brauchen Satarubeeren für den Geschmack und Qaselblätter für das Aroma.“
„Meine Mutter macht immer Tee aus den Blättern und sagt, das wäre gesund“, meinte Roy.
„Er ist aber viel zu bitter!“
„Keine Sorge, wir brauchen nur wenige, das wird nicht bitter. Komm mit, ich weiß, wo ein paar wachsen!“
Sie lief voraus, ein paar Lichtungen weiter gab es viele Büsche mit saftigen Beeren daran.

Kapitel 1: Palyn


Ich rannte durch einen dicht bewachsenen Wald, spürte den Atem des Wesens hinter mir auf meinem Nacken. Es könnte ein wildes Tier sein, oder auch eine Person, ich hatte keine Möglichkeit, mich nach hinten umzudrehen, denn sonst wäre ich womöglich gestolpert oder gegen einen dieser Baumriesen gerannt.
Ich spürte auch, wie mir langsam die Puste ausging, wie die drohende Kälte, die die Ebenen im Winter beherrschte, durch den Körper kroch. Und ich hatte nur einen Wunsch: So schnell wie möglich wieder aus diesem Wald zu kommen. Dann spürte ich, wie etwas von hinten nach mir griff…
Mit einem erstickten Schrei wachte Palyn auf. Ihr Nachtgewand hing ihr nass vom Leib. Nachdem sie sich umgedreht hatte, sah sie, dass Sensei Ogaly sich neben Palyns Nachtlager auf dem Boden kniete.
Sofort zog sie die dünne Leinendecke bis nach oben ans Kinn, sich der Tatsache bewusst, dass sie im Nachthemd vor dem Oberhaupt des Kampfdojos saß.
„Hattest du wieder einen Traum?“, fragte Ogaly mitfühlend. Sie nickte. Sie hatte in letzter Zeit öfters Albträume gehabt. Im Dojo hatte es sich schon herumgesprochen und manche vermuteten, dass Palyn, da sie nicht wie die anderen war, Visionen hatte.
Schon als Baby war sie hier abgegeben worden. Das Dojo war ihre Heimat. Sie war jünger und unerfahrener als jeder Jeontugi hier, doch taten alle ihr Bestes, um sie zu einem erfahrenen Kampfkünstler auszubilden.
Eigentlich durften Kinder nicht in ein Dojo, doch da Palyn schon 15 war, machten sie eine Ausnahme. Einstimmig wurde erklärt, sie mache gute Fortschritte und sie würde ja von den Kämpfern des Westdojos beschützt werden. Der Kaiser war ein gerechter Mann, also hatte er eine Audienz einberufen, um zu entscheiden, ob sie bleiben durfte. Das war vor 3 Jahren gewesen. Kurz darauf kam ein Abgeordneter und sah sich die Situation an, um zu dem Schluss zu kommen, es drohe keinerlei Gefahr und Palyn würde bis zu ihrer Ernennung zur Kriegerin dort bleiben.
Seitdem hatte sich viel geändert. Der Kaiser war gestürzt worden, ein Tyrann hatte seinen Platz eingenommen und über das Land fielen Monster her, da die Dojos keinen Befehl zum Säubern der von Monstern befallenen Gebiete mehr bekamen.
So reichte die Macht des Ost- und Westdojos gerade dazu aus, um die ihre benachbarten Dörfer zu verteidigen.
Das Norddojo war vom neuen Kaiser eingenommen und unter seine Gewalt gebracht worden, damit sich die Dojos nicht gegen die Festung wenden könnten. Ein Dojo allein wäre machtlos gegen die Monsterscharen und den Kaiser. Das Ostdojo hatte alle Hoffnung schon aufgegeben. Im Süden war nur noch eine Ruine des Südpostens zurückgeblieben, denn dort hatten Monster alles zerstört. Einen Neuaufbau würde es nicht geben, da sich die Wüste schon dorthin ausgebreitet hatte.
„Wie dem auch sei, ich lasse dich jetzt wieder alleine.“, sagte der Sensei, „Wenn du mit jemandem darüber reden möchtest, kannst du das bei dem heutigen Ausflug zum Schneegebirge tun. Ich werde dir etwas beibringen, was sehr wichtig ist, also nimm bitte deine Ausrüstung mit und iss ordentlich.“
„Ich werde euch nicht enttäuschen.“, erwiderte Palyn und deutete eine Verbeugung an. Nachdem ihre Tür leise geschlossen worden war, ging sie zu dem Waschkübel hinter den Paravent, den sie letzten Abend schon hingestellt hatte, zog ihr Oberteil aus und begann, sich zu waschen. Dann holte sie ein Trainingsoberteil und eine leichte, braune Hose aus dem Schrank neben dem Kübel und trocknete sich mit einem Handtuch ab. Als sie sich angezogen hatte, löste sie das Band aus ihren langen, dunkelbraunen Haaren und wusch auch sie in der Wasserschüssel. Als sie fertig war, drückte sie das Wasser aus ihnen und flocht sie.
Zuletzt zog Palyn noch ihre bequemen Trainingshosen und das lockere Oberteil an. Das war in den Bergen sehr wichtig, da man sich gut bewegen musste. Zu enge Klamotten waren hinderlich. Deshalb benötigte man auch leichte Ausrüstung.
Palyn packte etwas Brot und eine Flasche Milch ein, alle Jeontugi tranken Milch, um sich für harte Aufgaben zu stärken. Im Gegenzug für den Schutz, den sie dem Dorf boten, bekamen sie einige Waren, größtenteils Nahrung.
Während Palyn zum gemeinsamen morgendlichen Frühstück aufbrach, machte sie sich Gedanken, welche Technik der Sensei sie lehren wollte.
War sie schwer zu erlernen? Hatte er Palyn überschätzt und würde er enttäuscht sein, wenn sie versagte? Sie wollte pünktlich, also kurz nach Sonnenaufgang, am Fuß des Berges sein, um ihren Meister nicht warten zu lassen.
Aber jetzt war erst mal das Frühstück dran.

Kapitel 1: Der Feuerbändiger


Toño spürte, wie sich die Wärme in seinem Körper ausbreitete. Dann griff er nach einem Teil seiner Macht und formte diesen zu einer Kugel.
Konzentriert machte er einen Schritt nach vorne und schleuderte den Feuerball dem Holzscheit entgegen. Er ging sofort in Flammen auf.
„Schön, du machst Fortschritte!“ Die herablassende Art, mit der sein Bruder ihn begrüßte, ärgerte Toño. Nur weil Coron einen Lehrer hatte, sollte sein Bruder nicht gleich besser sein als er. Toño hatte seinen Vater angebettelt, dass er auch einen Lehrer bekam, aber der alte Knauser wollte nicht mehr Geld als nötig ausgeben und es gab ja schon einen Erben für die Familie… Also wollte Toño sich das Bändigen selber beibringen, allerdings mit wenig Erfolg. Er hatte gerade erst gelernt, das Element Feuer zu einer Kugel zu formen und es nicht unkontrolliert aus seinen Händen herausströmen zu lassen. Er konnte weder nichteigenes Feuer bändigen, noch abwehren. Außerdem musste Toño aufpassen, dass er sich nicht die Hand versengte. Da sein Vater nicht wollte, dass er ebenfalls lernte, wie Coron, musste er es heimlich tun.
Einmal hatte sein Bruder ihn dabei erwischt und die Geschwister hatten sich ein Versprechen gegeben: Coron würde nichts davon sagen, dass sich sein Bruder seinem Vater widersetzt, wohingegen Toño nicht erzählte, dass sich Coron mit einem Mädchen trifft, obwohl er mit seinen 17 Jahren bald verheiratet werden sollte.
Er konzentrierte sich wieder darauf, das Feuer aus dem Kamin der verfallenen Steinruine abseits des Dorfes zu kontrollieren aber es half nichts. „Soll ich dir zeigen, wie es geht?“, fragte Coron. „Das meinst du nicht ernst!“, sagte Toño ungläubig. „Doch, ich will ja nicht, dass mein kleiner Bruder abfackelt!“, antwortete Coron, womit er sich einen ärgerlichen Blick von Toño zuzog.
Er hasste es nämlich, immer als kleiner Bruder dazustehen, immerhin war er nur eineinhalb Jahre jünger als Coron. „Wie du willst, Tony, dann halt nicht!“, er wandte sich um zum Gehen. „Warte, ich will nicht als Braten enden“, scherzte er. „Na gut. Und wieder nutzt du die grenzenlose Barmherzigkeit deines Bruders aus!“ Toño trat gespannt vom einen auf den anderen Fuß.
Er hatte schon ewig daran geübt und ausgerechnet sein Bruder wollte ihm zeigen, wie es geht. Er, von dem er es am Wenigsten erwartet hatte!
„Also erstmal zeige ich dir, wie man eine richtige Kugel formt!“
„Haha! Sehr lustig, ich kann schon Feuerbälle machen!“ empört wandte sich Toño ab.
„Ja, aber kannst du sie auch aufrecht erhalten? Das ist das wichtigste, weil du sie so auch größer machen kannst.“ Er formte mit seinen Händen eine winzige Feuerkugel und ließ langsam Energie hineinfließen sodass sie größer wurde. Toño hatte das nie versucht, weil er die Energie gleich in einen großen Ball verwandelt hatte. Das war viel aufwendiger, wie er feststellte, als er die andere Methode versuchte. Es war zwar schwer, die Kugel aufrecht zu erhalten, doch man wurde nicht geschwächt, wie wenn man die ganze Energie sofort umformte.
„Außerdem kann man das Feuer so auch heißer machen!“
„Warum machst du das hier eigentlich? Es ist doch verboten, jemanden auszubilden, ohne selbst das Element komplett zu beherrschen!“ Auf Corons Züge stahl sich ein verbotenes Lächeln.
„Jetzt übertreibst du aber! Bilde ich dich hier gerade etwa aus? Zurück zum Feuerbändigen: Das mit dem Energie zuführen kannst du ja jetzt, also widmen wir uns dem bändigen von dem Feuer, was du nicht gemacht hast. Dazu brauche ich Holz, weil es noch zu schwer ist, dich versuchen zu lassen, das Feuer, was noch unter Kontrolle eines anderen Bändigers ist, zu übernehmen."
Mit einem Blick auf das abgebrannte Holz im Karmin fragte er: „Hast du noch mehr Brennmaterial?“
„Ja, klar, wie sollte ich sonst üben?“ Toño holte etwas Holz aus einer Nische aus der ausgemergelten Steinwand und drapierte es in der Mitte des Raumes.
„Ok, beginnen wir mit der Lektion. Ich zünde das Holz an und du wirst dich konzentrieren und versuchen, in das Feuer einzudringen. Verliere aber währenddessen nicht deine Aufmerksamkeit, denn sonst könntest du dich nicht verteidigen, wenn dich jemand angreift.“
Mit einer kleinen Bewegung seiner Finger entzündete Coron das Holz. Toño konzentrierte sich auf das Feuer und nahm unwillkürlich wahr, wie es immer näher kam, bis er daneben zu stehen schien. Am Rande sah er Coron, der ihn beobachtete. Das Feuer war jetzt näher als je zuvor.
Plötzlich sah er ihn. Den Riss in dem undurchdringbaren Schutzschild, an dem er vorher immer und immer wieder gescheitert war. Sein Geist schaffte es irgendwie, sich hindurch zu zwängen. Nun erschien nichts logischer als das, was er tat. Mit Leichtigkeit dehnte sich das Feuer aus und das natürliche Schutzschild platzte. Toño kehrte in seinen eigenen Körper zurück und formte das Feuer, das nun wie ein Stück seiner selbst war, zu einer Kugel.
Als er die Augen öffnete, hing im Raum ebendiese Kugel und Coron fiel die Kinnlade herunter, offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass Toño gleich so gut sein würde.

Kapitel 2: Gegen die Regeln


Coron sah zu, wie Toño die Augen schloss. Er konzentrierte sich ebenfalls auf das Feuer, um Toño sagen zu können, was er falsch gemacht hatte, denn diesen Test würde er mit Sicherheit nicht auf Anhieb meistern. Coron verfolgte, wie sein Bruder am Schutzschild angelangt war. Dann ging alles sehr schnell und das war unglaublich. Toños Geist schaffte es, trotz Schutzschild in das Feuer einzudringen. Normalerweise musste man erst das Schild zum bersten bringen, indem man einen Riss fand und anhand davon das ganze Schild zerbrach. Doch eine Sekunde später war das Schild weg und Coron glaubte, sich getäuscht zu haben. Als er die Augen öffnete, sah er, wie sich das Feuer vom Boden abhob und eine Kugel bildete.
Toño grinste ihn an und erst jetzt viel ihm auf, dass er seinen Bruder mit offenem Mund anstarrte. Er wollte ja nicht zu beeindruckt wirken, immerhin konnte er das und vieles mehr auch. Aber dennoch hatte Toño viel Talent, er hatte diese schwere Aufgabe tatsächlich fast ohne Schwierigkeiten gemeistert.
„Und, wie war ich?“ fragte Toño mit einem verschmitzten Lächeln, was um seine Lippen spielte. Offenbar wusste er, dass Coron nicht geglaubt hatte, dass er es auf Anhieb schaffen würde.
Er ließ sich nichts anmerken und erwiderte: „Ganz gut, für den Anfang.“, wobei er Anfang

mit einem sarkastischen Unterton aussprach.
Toño zog eine Augenbraue hoch. „Gib’s zu, du hättest nicht erwartet, dass ich es kann.“ „Ich hab nicht geahnt, dass du es gleich schaffen würdest, okay. Das ist eine echte Verschwendung, dass Vater dir keinen Lehrer geben will.
„Heißt das, du wirst mir weitere Stunden geben?“ fragte Toño begeistert.
„Lass gut sein, Toño. Vielleicht ein andermal, wir sollten etwas Holz hacken, damit Vater keinen Verdacht schöpft, wenn wir zurück kommen.“ Kaum zu glauben, was passieren würde, wenn sein Vater erfuhr, was er heute getan hatte: Gegen die Regeln verstoßen…

Sagte eine Stimme in ihm. Aber er hatte erkannt, dass Toño großes Talent besaß, daher betrachtete er es so, dass es viel schlimmer wäre, wenn dieses Talent verschwendet wurde, indem niemand Toño die Chance gab, seine Fähigkeiten auszuweiten. Das sagte er sich immer wieder, um das flaue Gefühl im Magen loszuwerden.

Kapitel 2: Lyras Wald


„Hier ist ein Strauch!“, rief Lyra Roy zu, der sich in einem Gestrüpp verheddert hatte.
„Toll, ich komme, wenn du mir hier raushilfst!“
Lyra stöhnte. Sie wühlte in ihrem Beutel, fand aber nicht das gesuchte.
„Nimm meins!“, sagte Roy und gab ihr mühsam ein Taschenmesser, damit sie die Dornen vom Gestrüpp abtrennen konnte. Lyra nahm es und fuhrwerkte damit über seinem Rücken herum. Als das Ziehen und Reißen nachließ, konnte Roy aus dem Busch entkommen.
„Was ist das hier eigentlich für eine Mörderpflanze?“, fragte er, als er seine Jacke auszog, um die Dornenreste abzuzupfen.
Lyra warf ihm als Antwort nur einen kleinen Korb vor die Füße, in dem sie schon eine Weile Beeren sammelten. Als er sich den Busch ansah, den Lyra vorgeschlagen hatte, erntete sie ihn schon komplett ab.
„Man, du bist ja schnell!“, meinte er.
„Noch viel schneller, wenn du helfen würdest!“ erwiderte Lyra und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Daraufhin nahm er den Korb in die Hand und merkte gleich, dass man beide Hände brauchte, um diese beerigen Biester von den Sträuchern zu zupfen.
„Stacheln haben sie wenigstens nicht.“, nuschelte Lyra zwischen dem Riemen des Korbes hervor, den sie, um besser ernten zu können, zwischen den Zähnen hielt.
„Ja, aber die halten sich fest!“, bemerkte Roy belustigt, als er eine Satarubeere mitsamt Stängel abriss.
Lyra stellte den Korb ab.
„Nur leider müssen wir die nachher auch knacken!“, erinnerte sie Roy.
Es war schwer, die orange-braunen Nüsse zu öffnen, wobei die Form, eine Kugel, sie noch mehr behinderte, da die Nuss wegrutschte, wenn man versuchte, an die süß-würzige Beere innen zu kommen. Leichter zu öffnen waren sie jedoch länger nach dem Erntezeitpunkt. Dann waren die Schalen weicher und ließen sich leicht abziehen. Der Nachteil war, dass sie an Geschmack und Würze verloren.
Als keine einzige Beere mehr am Busch hing, gingen sie weiter, um noch mehr zu finden. Dabei kamen sie an dem hohlen Stamm vorbei, der ihnen den Weg versperrte und zu dem Rubinmaulwurfsbau führte, in den Lyra gefallen war, als sie nicht vorsichtig genug gewesen war. Lyra beäugte ihn.
„Wie kommen wir hier vorbei?“, stellte Roy die Frage, die in ihren Köpfen umherging.
„Draufklettern können wir ja kaum, wenn man bedenkt, dass der Bau wohl noch nicht verlassen ist… Aber an den Seiten können wir auch nicht wirklich durch.“, beschloss sie.
Und das mit gutem Recht: Die Seiten waren voll mit Dornengestrüpp und Roy wollte nicht schon wieder sein Taschenmesser einsetzen. Er hatte außerdem schon mindestens 20 Schrammen am Arm.
„Ich denke, wir müssen klettern.“, Sagte Lyra mit einem belustigten Unterton, sie wusste, dass Roy Höhenangst hatte.
„Was soll’s, ich werde schon nicht runterfallen.“ Lyra suchte den Wald nach einem niedrigen Baum ab, den sie nutzen konnten, um sich in die Höhe aufzuschwingen.
„Da hinten!“ Sie zeigte auf eine kleine, abgestorbene Buche.
„Klar, die bricht doch sofort zusammen!“
Lyra warf ihm einen Blick zu, der ungefähr das sagte: Es gibt halt nichts Besseres.
Also gingen sie darauf zu.
„Du gibst mir die Beeren hoch, okay?“
Er nickte. Dann zog sie sich vorsichtig an dem untersten Ast hoch, um ihn nicht abzubrechen und kletterte sofort weiter. Irgendwie schaffte sie es, einen gesunden Baum zu erreichen, ohne dass der Morsche einen Laut von sich gab. Danach streckte sie, mit den Knien an einem dicken Stamm hängend, die Hände herunter. Er gab ihr die Riemen der Körbe vorsichtig, wobei er sich auf Zehenspitzen stellte. Mit einem geschickten Manöver stellte sie gleichzeitig die Beeren ab und setzte sich wieder richtig herum auf den Ast.
„Jetzt du!“, forderte sie ihn auf.
Roy schluckte und hoffte, der mickrige Baum würde sein Gewicht aushalten. Er machte es wie Lyra, erst zog er sich an dem untersten Ast hinauf, der beträchtlich laut knackte, dann versuchte er, möglichst wenige der Äste zu betreten, die Lyra auch zum Hochkommen strapaziert hatte. Fast geschafft. Doch plötzlich gab der Baum unter ihm nach und stürzte um. Lyra hielt ihm schnell ihre Hände hin, doch Roy hatte sich schon den Ast gegriffen und baumelte nun hilflos daran.
„Unter deinen Füßen ist ein Ast, aber er ist sehr dünn.“, informierte sie ihn.
Er sah den Ast, aber der war wirklich verboten dünn. Einen Versuch war es wert. Roy stellte einen Fuß darauf und bemühte sich, so nah am Stamm aufzusetzen, wie es nur ging. Dann schaffte er es auch, sich einen anderen Ast zu greifen und hochzuklettern.
„Oha, vielleicht hätte ich doch nach dir gehen sollen!“, neckte ihn Lyra.
Beide nahmen einen Korb und kletterten vorsichtig weiter, bis sie am Rubinmaulwurfsbau vorbei waren. Blieb nur noch, einen Baum zu finden, an dem man leicht herunter kam. Das gestaltete sich als schwierig, weil es in diesem Teil des Waldes nur hohe Bäume gab.
„Wir müssen wohl weiterklettern.“, sagte Lyra mitfühlend. Roy verdrehte die Augen.
„Wie weit noch?“
„Weiß nicht, bis ein niedriger, wenn möglich nicht abgestorbener Baum kommt. Komisch, ich hätte schwören können, dass hier mal ein kleiner Baum stand… Aber da ist nur ein Busch.“
„Kann es sein, dass wir uns verlaufen haben?“, wagte Roy zu fragen.
„Unsinn“, antwortete Lyra, „hier kenne ich mich aus, vielleicht haben sie den Baum gefällt! Und den da hinten kenn’ ich!“
Sie zeigte auf einen knorrigen alten Baum, der höher als die anderen war und seine Äste über ihnen ausbreitete, so, als wolle er sie beschützen.
„Lass uns da hoch klettern, dann sehen wir, wohin wir müssen!“ Also doch verlaufen! Roy stöhnte. Er hatte schon genug Mühe damit, nicht nach unten zu schauen. Und jetzt noch höher klettern?
„Kann ich nicht hier warten? Ich kann nicht mehr!“
„An dem Baum können wir auch runter!“, sagte Lyra.
„Dann lass uns hingehen!“, jubelte Roy. Das hinkommen stellte sich als schwer heraus, als vermutet, sie brauchten ganze fünf Minuten. Als sie da waren, kletterte Lyra nach oben und Roy langsam nach unten.

Kapitel 2: Geschichten


„Seid ihr soweit?“
„Warte, Selia kommt gleich.“, sagte Eleran. Er wollte endlich seinem Großvater zuhören. Wenn er in der richtigen Stimmung war, erzählte er den Geschwistern von Abenteuern, die er selbst erlebt hatte, als er noch jung war, doch heute hatte er etwas ganz besonderes im Sinn, das spürte Eleran. Seine Mutter hatte ihnen Kekse gebracht und Selia müsste hoffentlich gleich hier sein.
„Ich will auch zuhören!“, kam die Stimme seiner kleinen Schwester um die Ecke.
„Ok, dann will ich mal anfangen… Kennt ihr schon die Geschichte, wie alles begann? Nun, ich denke nicht, dann will ich sie euch erzählen. Vor tausenden von Jahren gab es erst die Elemente Feuer und Wasser. Da sie aber ständig im Wettstreit miteinander waren, entstanden Erde und Luft, um den Krieg zu unterbrechen und Frieden in die Welt zu bringen. Erde, um Feuer zu bändigen, Luft um Wasser zu bändigen.“
„Also haben Erde und Luft Wasser und Feuer besiegt?“, fragte Selia erstaunt.
„Nein, sie haben nur Gleichgewicht in die Welt gebracht. Durch die Begegnung der Elemente entstanden auch Lava, durch den Kontakt von Feuer und Erde, Eis, was aus Wasser und Luft hervorging und viele andere Nebenelemente.“
Eleran, der sich besonders für Heilkraft interessierte, wurde aufmerksam. Seine Familie hatte den Verdacht, dass er ein Heiler werden würde. Es gab Symptome wie die schnelle Heilung seines Knies, als er im Alter von 10 Jahren schlimm gestürzt, und wie durch ein Wunder geheilt worden war. Heilern sagte man nach, dass sie über eine hohe Vitalität verfügten.
Bald würde er zu einem Mann gehen, der prüfen wollte, ob in ihm diese besondere Gabe steckte. Wenn er das bestätigte, würde seine Familie sich alle Mühe geben, einen Ausbilder zu finden, der Elerans Fähigkeiten trainieren könnte.
„Und wann erzählst du uns was über die Magie?“, fragte Selia.
„Nun, heute jedenfalls werdet ihr von mir nichts mehr hören, also lasst euren alten Opa mal ausruhen und geht mit eurem Vater in die Kampfarena.“
Eleran hatte sich schon die ganze Woche darauf gefreut. In die Arena! Manchmal wurden sie eingeladen, bei den Kämpfen der Elitesoldaten und reisenden Kriegern zuzusehen. Elerans Vater war Waffenschmied und das gar nicht mal so schlecht. Viele kauften täglich bei ihm und manchmal bekam er Aufträge von reichen Kaufleuten oder Adeligen, die ihm dann allerlei Geschenke zuteilwerden ließen. Erst letztens hatte ihn ein Mann mittleren Alters gebeten, ihm zwei leichte und schnelle Kurzschwerter zu schmieden. Als Belohnung winkten ein Haufen Eyri und Eintrittskarten zum „Klingenplatz“ wie die große Arena an der Seite des Dorfes immer genannt wurde. Eleran wusste, dass sein Vater, Alastair, neugierig war, ob der Auftraggeber der Schwerter heute kämpfen würde und sich seine Schmiedekunst gegen die anderen durchsetzen könnte, sofern der Mann zugegen war.
„Wann gehen wir denn?“, fragte Eleran aufgeregt, denn sein Vater hatte sich zu ihnen gesellt.
„Wenn ihr wollt, sofort.“, sagte Alastair.
„Wie viel sollten wir ihnen geben?“, meinte Elerans Mutter. Er fragte sich, von was sie sprach.
„Nun, ich denke 50 Eyri werden reichen…“ Selia hüpfte aufgeregt zu Eleran und packte ihn am Arm.
„Wir gehen einkaufen!“, sang sie fröhlich, während sie mit leuchtenden Augen zu ihrem Bruder hochsah. Eleran konnte ihr nicht widersprechen. Wo er gerade darüber nachdachte, er könnte auch ein paar neue Sachen gebrauchen… Sein Taschenmesser war schon stumpf und er wollte es schleifen lassen, außerdem brauchte sein Bogen eine neue Sehne, denn die alte war gerissen, als er sie überdehnt hatte. Da störte es nicht, wenn Selia mitkam. Also nickte Eleran.
„Gut, aber du wirst nicht davonlaufen, sondern bei deinem Bruder bleiben, ist das klar?“, ermahnte ihre Mutter Selia. Die nickte ebenfalls eifrig und Alastair gab Eleran einen Beutel mit besagtem Geld.
„Vor der Eröffnung der Arena habt ihr noch etwas Zeit, aber wenn die Glocke der Kirche läutet, geht zur Arena. Ich warte am Eingang. Und Eleran, mein Sohn,“ Er kniete sich vor ihn.
„Pass auf, dass das Geld nicht gestohlen wird, ich hörte, es seien wieder Taschendiebe unterwegs.“

Als die Familie den Marktplatz erreicht hatte, gingen Eleran und Selia zu dem Stand, der allerlei Messer und andere kleine Waffen, aber auch Küchenmesser feilbot. Er ging zu dem Mann, der an der Seite am großen Schleifstein stand, um mit ihm über den Preis des Messerschliffs zu feilschen. Selia hatte sich mit großen Augen an den Stand gegenüber gestellt, wo handgemachte Puppen und Stofftiere verkauft wurden. Eleran rief sie zu sich und versprach ihr, gleich zu dem Stand zu gehen, nachdem das Messer geschliffen war.
„Was darf’s sein, junger Mann? Wir haben nur die schärfsten Messer!“, begrüßte ihn der Verkäufer mit einem Augenzwinkern.
„Danke, ich habe schon ein Messer. Ich würde es gerne schärfen lassen.“
„Zeig es mir, mal sehen, was sich machen lässt.“, meinte der Schleifer.
Eleran kramte in seinem Beutel und holte das Messer heraus, klappte es auf und reichte es dem Mann. Dieser strich behutsam über die Schneide.
„Wie viel verlangen sie dafür?“, fragte Eleran.
„Hmm…“ Der Mann kratzte sich am Kinn und beäugte nachdenklich das Messer in seiner Hand. „Wie wär’s mit 10 Eyri?“ Eleran überlegte. „Sagen wir sechs.“ Daraufhin erntete er einen anerkennenden Blick seines Gegenübers, offenbar hatte der Verkäufer nicht erwartet, dass er verhandeln würde.
„Für sieben Eyri mach ich‘s.“, meinte er, worauf Eleran nickte. Der grobschlächtige Verkäufer begann, auf ein Brett unterhalb seines Schleifsteines zu treten, der den Stein in Bewegung versetzte. Dann hielt er das Messer an den Stein und prüfte ab und zu, ob es schon scharf genug war. Am Ende der Prozedur tauchte er die Klinge in ein Becken mit Wasser und rieb mit einem rauen Tuch darüber. Dann gab er es Eleran zurück. Er begutachtete sein Messer und hielt es in die Sonne. Es war so glänzend wie eh und je und er würde wieder gut schnitzen können. Der Schleifer streckte die Hand aus und Eleran suchte im Geldbeutel nach den passenden Münzen und drückte sie dem Mann in die Hand.
„Auf Wiedersehen!“, verabschiedete er sich und Selia zog ihn zum Stand gegenüber. Selia lief in den Laden und sah ihren Bruder an
„Welches willst du?“, fragte er seine Schwester, die zwei Plüschtiere in der Hand hatte.
„Darf ich beide haben?“
„Nein, Selia, du hast doch schon sehr viele.“
„Aber welchen soll ich nehmen? Den Braunen oder doch lieber den Weißen?
Nach langem Überlegen entschied sie sich doch für den braunen Bären. Eleran ging mit ihr zur Ladenbesitzerin und fragte, wie viel er kostete.
„Das wären dann 14 Eyri und 50 Kupfereyri.
Eleran entschied sich, den Bären und einen Lutscher für Selia zu kaufen, der genau 50 Kupfereyri kostete. Den gab er Selia in die Hand, wobei er hoffte, dass dies sie fürs Erste ruhig stellen würde, sodass er noch Zeit hatte, eine Sehne für den Bogen zu kaufen.
Wieder außerhalb des Ladens warf Eleran einen Blick auf die Turmuhr. Wenn er sich beeilte, blieb noch etwas Zeit für den Bogen. Hoffentlich hatte der Jagdstand noch den gleichen Platz wie vorher, denn sonst müsste er erst mal suchen, wofür keine Zeit mehr war. Eleran kam an den Mittelpunkt, wo die meisten Leute waren. Hier war das Herzstück des Marktes, denn hier wurden Nahrungsmittel, Tiere und Waffen verkauft. Elerans Vater hatte hier einen Stand gemietet, der jedoch hatte heute nicht auf und Alastair, das wusste Eleran, war wahrscheinlich gerade bei zukünftigen Kunden oder Auftraggebern. Das letzte Mal, als sie auf dem Markt waren, war der Jagdzubehörstand neben dem großen Brunnen in der Mitte des Platzes gewesen. Jetzt aber stand da nur ein Obstverkäufer. Eleran fluchte, das mit dem Bogen konnte er wohl in den Wind schlagen!
„He, Eleran!“, begrüßte ihn eine Stimme von hinten. Eleran drehte sich um und sah seinen Freund Nik. „Suchst wohl den Jägerstand, was?“ „Ja, wegen meiner Sehne, aber er ist nicht da, wo er letztes Mal war.“ „Komm mit, ich war heute schon da, ist ganz in der Nähe.“ Der Junge ging in eine Gasse, die auf einen Nebenplatz führte und Eleran folgte ihm. Keine zwei Minuten später standen sie auch schon vor besagtem Stand. Die Leute dort kannten sie beide, sie gingen nämlich sehr oft dorthin, um ihre Bögen reparieren zu lassen.
„Tag, Loan,“, begrüßte Nik einen schlaksigen Jungen hinter der Theke. „Eleran hier braucht eine neue Sehne, denkst du, du schaffst das in fünf Minuten? Er hat es eilig.“
Eleran kannte diesen Jungen nicht. Das schien auch Nik zu merken, denn er stellte ihn vor.
„Achja, Eleran, das ist Loan, ein Cousin von mir, Loan, das ist…“ „Eleran,", unterbrach er Nik „du kennst meinen Vater? Alastair, der Waffenschmied. Er hat immer früher neben euch seinen Stand gehabt, aber du bist noch nicht solange hier, wie?“ Loan grinste.
„Nein, wir sind neu hergezogen, aber ich glaube, ich kenne deinen Vater. Früher war ich mal bei Nik zu Besuch, da hab ich ihn kennengelernt. Aber egal, kommen wir zum Geschäft… Ich denke, meine Eltern sind damit einverstanden, dass ich dir einen Freundschaftspreis mache. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte er: „Sie müssen es ja nicht erfahren!“, und zwinkerte Eleran zu.
„Was hältst du von... sagen wir 16 Eyri? “ Eleran nickte. Er wusste, dass eine Sehne mindestens 25 Eyri kostete, also war er recht zufrieden, dass Nik Loan kannte.
„Also, wie lang muss die Sehne sein? Zwei Ellen?“ Elerans Bogen hatte zweieindrittel Ellen. Das sagte er Loan und holte den Bogen hervor, damit Loan ihn sich ansehen konnte. Selia lugte über den Tisch, um zu sehen über was die Jungen sprachen.
„Ist das deine Schwester?“, fragte Loan. Selia nickte eifrig und grinste ihn an. „Wir gehen nachher in die Arena, mein Vater hat Karten von einem Kunden bekommen.“ Die beiden anderen wurden aufmerksam.
„In die Arena wollte ich auch schon lange, aber es ist immer zu voll und man bekommt keine Plätze.“, sagte Nik. Währenddessen fuhrwerkte Loan an dem Bogen herum und setzte die neue Sehne ein.
Die Sehne war an den Enden blau markiert und Eleran hätte gesagt, es sei eine sehr gute Sehne. Sie war etwas dicker, als seine Vorherige, daher stellte sich die Frage, ob er den Bogen so gut spannen könnte, wie früher. Loan gab ihm den Bogen und Eleran zog einmal daran und merkte, dass es so leicht, wie vorher ging. Es musste schon eine ziemlich gute Sehne gewesen sein, jedenfalls war er zufrieden.
„Gute Arbeit.“, lobte er Loan. „Aber ich glaube, wir müssen los, die Kirchenglocke läutet, denke ich, bald, und dann sollten wir bei der Arena sein.“
Macht’s gut, Eleran und Nik.“ Er winkte ihnen zum Abschied noch nach und Nik verabschiedete sich auch. Er musste, so sagte er, noch ein paar Einkäufe für seine Mutter machen, erst dann durfte er sich selbst etwas kaufen. Also wünschte Eleran ihm noch viel Spaß und nahm Selia an der Hand, um sie in der Menschenmenge nicht zu verlieren. Dann gingen sie zügig Richtung Arena. Da erschallte auch schon das Geläut und die Vögel im Kirchturm flogen mit lautem Gekreische auf.

Kapitel 3: Leichte Brise


Nach dem Frühstück nahm Palyn ihren Rucksack und verließ das Dojo am Fuß des Schneegebirges. Sie wusste nicht, wo genau der Sensei sie treffen wollte. Vielleicht wollte er auch, dass sie ihn fand, indem sie die neulich erlernte Technik verwendete. Ogaly hatte ihr gezeigt, wie man beinahe unsichtbare Spuren fand und deuten konnte. Der Feind konnte natürlich auch falsche Spuren legen, die einen in die Irre führen sollten. Deshalb rief sie sich die letzte Lektion noch mal ins Gedächtnis. Man musste die Schwingungen des Ortes, an dem man sich befand, wahrnehmen und spüren, woher sie kamen, und in welche Richtung sie gingen. Als sie den Berg erreichte, spürte sie sofort die Schwingungen. Sie waren aber alle von Tieren, denn sie waren sehr schnell und schwach, außerdem gingen sie durch Büsche und andere Orte, wo der Sensei sich nicht durchzwängen würde, dachte Palyn belustigt. Dann spürte sie eine Schwingung, die vom Dojo ausging und den Berg hinauffolgte. Das komische daran war, dass sie über dem Boden war und so stark war, dass es kein Vogel gewesen sein könnte. Der Sensei war doch nicht etwa geflogen? Sie wusste ja, dass er viele unglaubliche Fähigkeiten hatte, aber Fliegen?
Palyn entschloss sich, dieser Spur zu folgen. Sie machte einen hohen Sprung und landete auf einer Felsnase. Dann sprang sie noch einmal etwas höher, bis sie zu einem grünen Fleckchen auf dem nackten Stein kam. Das verblüffte sie immer wieder, dass an so einem kargen Ort Pflanzen wachsen konnten. Hier machte sie eine kurze Pause und genoss den Ausblick und den Wind in ihren Haaren. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass der Wind flüsterte und immer, wenn sie ihm lauschte, wurde er stärker.
Plötzlich kam von oben ein Geräusch und ein paar Felsbrocken fielen neben sie. Palyn sprang zur Seite und beschloss, nachzusehen, wer das Geröll verursacht hatte. Also stieg sie auf die Anhöhe, die zu der Stelle führte. Eine Bergziege hatte sich im Gebüsch verfangen und als sie Palyn erblickte, kam das Tier frei und rannte davon. Also machte sie sich weiter an den Aufstieg und sprang wieder auf den nächsten Felsen. Von hier aus konnte man die steile Felswand hochklettern. Sie setzte ihren Fuß auf und zog sich hoch. Der Berg war leicht zu bezwingen, es gab nämlich viele Felsspalten, Wurzeln und Sträucher, an denen man sich festhalten konnte. Sie kam wieder an eine ebene Stelle, wo ein hoher Baum wuchs, der weiter nach oben führte. Hier war unmöglich ans Klettern am Fels zu denken, er sah lose aus und war vermutlich aus Sandstein. Also beäugte sie den Baum misstrauisch. Er sah nicht sehr standhaft aus, war aber so dick, dass Palyn einen Versuch wagte. Die Äste standen nah beieinander, sodass sie ein Leichtes hatte, heraufzukommen. Oben angelangt blickte sie nach oben und sah einen Adler kreisen, vermutlich auf der Suche nach Beute. Oben auf dem Berg konnte Palyn eine Silhouette ausmachen, doch die Sonne blendete sie und ehe sie genauer hinschauen konnte, war die Person wieder weg.
Ab hier war die Felswand von Wurzeln und Gräsern durchzogen, sodass es leicht war, an ihr hochzuklettern. Einige Pflanzen waren jedoch locker und wenn Palyn daran zog, rissen sie einfach ab. Doch es gab auch dickere Äste und Felsvorsprünge. Wendigkeit war schon immer eines der Talente von den Jeontugi. Ogaly stellte ihnen zahlreiche, schwere Aufgaben, etwa so schnell es ging eine Wand überwinden oder sich durch Felsen hindurchquetschen, ohne in den Abgrund zu stürzen. Das Schneegebirge bot viele Trainingsmöglichkeiten.
Ehe Palyn auch diese Wand bezwungen hatte, hörte sie ein lautes Knacken von oben, das sich wie splitterndes Holz angehört hatte. In diesem Moment kippte ein toter Baum, der bedrohlich schwer aussah, langsam über die Böschung des Randes. Palyn geriet in Panik und versuchte, zu entkommen. Zur Seite klettern war unmöglich, da der Stein dort glatt wie Eis war. Ihr blieb nur der Sprung nach unten. Das konnte sie nicht riskieren, doch der Stamm kam immer näher. Sie musste schnell handeln, aber sie fand einfach keinen Ausweg. Als der Baum von der Klippe über Palyn gekippt war und nun in rasendem Tempo auf sie zufiel, sah sie vor der aufgehenden Sonne einen Schatten. Ihre Hände gaben nach und sie fiel. Der Baumstamm wurde von irgendetwas zur Seite gedrückt und sie landete hart auf den Boden, sodass ihr die Luft wegblieb. An ihrem Kopf spürte sie ein Pochen und etwas Warmes sickerte durch ihre Haare. Dann umgab sie nur noch Schwarz.
Als Palyn ihre Augen wieder aufschlug, sah sie ein altes, zerfurchtes Gesicht über ihr und erkannte, dass es der Sensei war.
„Du bist bei Sinnen.“, stellte Ogaly fest.
„Wie geht es dir?“ Besorgnis schwang in seiner Stimme mit.
„Sehr gut“, antwortete Palyn.
Von der Wunde am Kopf spürte sie nichts mehr und fragte sich, wie lange sie schon hier lag.
„Was ist…-“ Mit einer Handbewegung forderte sie der alte Mann auf, zu schweigen und sah schuldbewusst in den blauen Himmel.
„Ich hätte am Fuße des Berges auf dich warten sollen…“, sagte er.
„Zu denken, dass ein Berg wie dieser keine Gefahren birgt, das war leichtgläubig von mir. Ohne die Technik, die ich dir heute beibringen werde, bist du schutzlos.“
Palyn wurde aufmerksam und wollte fragen, was es sei, was so wichtig war, dass er sie nur ihr beibrachte. Doch der Ausdruck auf Ogalys Gesicht ließ sie schweigen.
„Kannst du mir verzeihen, dass ich dich in Gefahr gebracht habe?“, fragte er Palyn.
„Es war meine Schuld.“, sagte Palyn. „ich hätte mehr aufpassen müssen.“
„Nein, Palyn, du hättest das nicht ahnen können. Ich wollte deine Fähigkeiten testen und hätte beinahe meinen talentiertesten Schüler an dir verloren.“
Palyn konnte es nicht glauben, dass ihr Meister sie als talentierteste unter den Jeontugi sah. Es gab viele andere, die stärker und erfahrener waren, als sie. Und doch sprach aus seinen Worten großer Respekt.
„Damit so etwas nicht noch einmal passiert, werde ich dir etwas Wichtiges beibringen. Wichtiger als alles, was du bisher gelernt hast. Ich habe es viel zu lange aufgeschoben und wollte warten, bis du erwachsen bist, doch du bist mehr als fähig dazu, ein Elecon zu werden. Wir Jeontugi haben das Wissen lange Zeit gehütet und es weitergegeben. Doch immer weniger von uns hatten die Gabe in sich, die Luft befehligen zu können. Du bist eine davon, Palyn und ich werde dich ausbilden.“
Palyn blieb der Atem weg. Sie und ein Elecon? Das konnte sie nicht glauben, doch der Sensei schien fest davon überzeugt zu sein.
„Luft ist ein Element, was relativ einfach zu kontrollieren ist. Anders als Feuer oder Erde. Energie wird durch Bewegung freigesetzt, ungefähr so.“ Ogaly führte einen Karateschlag aus.
„Und wie wird die Kraft erzeugt?“, fragte Palyn. „Also wie setzt man Energie frei?“ Ihr Meister schien nachzudenken und sagte schließlich: „Du musst meditieren, um einen Zustand völliger Konzentration zu erlangen. Mit der Zeit lernt man es auch, die Energie nebenbei umzuformen, um sich auf etwas anderes konzentrieren zu können. Versuch es mal, meditiere.“ Palyn tat wie geheißen und kehrte ihren Geist in sich. Am Rande konnte sie die Präsenz des Senseis spüren. Diese kam immer näher und Palyn ließ sie, wie schon in vielen Übungen, in ihren Geist ein. In ihrem Kopf hörte sie eine Stimme. Sie wurde von einem Echo wiedergegeben und war fern und doch nah. Der Sensei bedeutete ihr, zu folgen und sie ging gedanklich der Stimme hinterher, bis sie starke Energiewellen wahrnahm.
Weißt du, was das ist?, fragte Ogaly.
Ich denke, das ist meine Energie, oder?, sagte Palyn, etwas erstaunt über die Kraft, die ihre Energie verströmte.
Richtig. Jetzt nimm ein Teil dieser Macht und forme sie in Windstöße um.
Palyn nickte und wollte die Energie greifen, doch sie war überall und so verstreut, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich ihrer zu bemächtigen.
Wie mache ich das?, fragte Palyn.
Es ist noch zu schwer, deine Kraft zu benutzen, wenn sie nicht auf einen Punkt konzentriert ist, entgegnete ihr der alte Mann. Palyn überdachte seine Worte und versuchte, die Energie, die durch den Raum verteilt war, zusammenzudrücken. Auf einmal erschien eine blassblaue Kugel in dem Raum und sie begriff, dass sie es geschafft hatte.
Gut gemacht!, lobte sie Ogaly, nimm nun ein kleines Stück davon heraus und führe es zu deiner Hand. Durch eine Bewegung wird das Element freigesetzt, vergiss das nicht! Palyn zog an der Kugel, die im Nichts hing. Ein silbrig-bläulicher Faden quoll heraus und sie musste ihn nur auffangen. Nachdem sie herausgefunden hatte, wie sie die Energie zu der Hand leiten musste, verließ sie den konzentrierten Zustand und ließ ihre Hand nach rechts sausen. Ein mächtiger Windstoß wurde freigesetzt. Der Rückstoß ließ Palyn taumeln. Ogaly hielt ihr seinen Arm hin, den sie dankbar ergriff und erst einmal ausatmete. Gerade eben war es ihr gelungen, eine Luftwelle zu erzeugen. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, das bereitete ihr Sorgen.
„Das ist völlig normal, erschöpft zu sein, mach dir keine Gedanken, Palyn. Das war sogar bei mir so, als ich gelernt habe, Luft zu kontrollieren. Jetzt sollten wir gemeinsam zurückkehren.“, sagte der Sensei zu Palyn und machte einen Schritt auf den Abgrund zu.

Impressum

Texte: © by Jamako, alle Namen, Orte, Tiere und Gegenstände sind von mir frei erfunden und könnten Ähnlichkeiten zu bereits existierenden Begriffen aufweisen.
Bildmaterialien: Die Bilder sind teilweise von mir, stammen jedoch aus dem Internet und sind mit Word bearbeitet.
Tag der Veröffentlichung: 07.09.2011

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