Ich fuhr aus der Tiefgarage heraus und setzte die Kopfhörer auf. Pat Appleton sang vom ›sweet scent of corruption‹, meine Finger klopften den Rhythmus aufs Lenkrad. Eine Adresse erschien auf dem Display des Funkgeräts. Ich drückte die Taste zur Bestätigung, dass ich den Auftrag annahm. Bei der nächsten Gelegenheit bog ich ab.
Eine Privatklinik in der Seestraße. Vor zwei Jahren hatte ich selbst für zwei Wochen dort gelegen: Blinddarmdurchbruch. Zwei Krankenschwestern erwarteten mich hinter dem Glas der Eingangstür. Die eine öffnete die Tür, während die andere eine alte Dame auf den Treppenabsatz hinausgeleitete. Ich öffnete die hintere Wagentür und ging ihnen entgegen.
Die Krankenschwester, die in der offenen Tür stand, deutete auf einen Koffer zu ihren Füßen. Ich holte den Koffer und trug ihn zum Kofferraum. Die andere Krankenschwester hatte sich von der alten Dame verabschiedet und ging die Treppe wieder hinauf. Die alte Dame, auf einmal ohne Stütze, wankte. Ich reichte ihr meinen Ellbogen. Sie lächelte dankbar: »Oh, Sie wollen mich beschützen, nicht wahr?«
»Ja, natürlich.«
Ich öffnete die Fondtür, aber als ich ihr beim Einsteigen behilflich sein wollte, sträubte sie sich: »Oh bitte – darf ich vorne bei Ihnen sitzen?«
Ich öffnete die Beifahrertür und half ihr beim Einsteigen, legte den Koffer in den Kofferraum und setzte mich ans Steuer. Die alte Dame nannte ihre Adresse, ich fuhr los.
»Ach«, seufzte sie, »bin ich froh, dass ich da rauskomme. Es ist nicht schön im Krankenhaus. Wenn ich schon sterben muss, dann lieber zu Hause. Auch wenn es kein richtiges Zuhause ist, aber immer noch besser als im Krankenhaus. Mein richtiges Zuhause habe ich im Krieg verloren. Der Krieg hat mir alles genommen: meinen Mann, mein Zuhause und meinen kleinen Jungen. Ja, der Krieg – das können Sie sich sicher gar nicht vorstellen. Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf? Achtundzwanzig?«
»Auf’s Jahr genau.«
»Und Sie haben eine Freundin?«
Ich nickte, die Dame strahlte. Ich hatte keine Freundin. Die ich küsste, hatte ich nie geliebt; die ich liebte, hatte ich nie geküsst.
»Ist sie schön?«
»Oh ja, sehr schön.«
»Ist sie blond oder braun? Welche Augenfarbe hat sie?«
»Kastanienbraunes Haar und graue Augen.«
»Graue Augen? Wie ich?«
Ich sah sie an. Ihre Augen waren grün. »Genau wie Sie«, sagte ich.
Die alte Dame strahlte: »Und kann sie tanzen?«
»Oh ja, sehr gut sogar. Wir gehen oft tanzen. Sie tanzt sehr gerne.«
»Ach ja – früher habe ich auch viel getanzt. Ballett. Und gesungen habe ich. Ich hatte eine schöne Stimme. Heute spiele ich nur noch Klavier. Und nur für mich alleine. Wir hatten einen Steinway-Flügel. Und ein wunderschönes großes Haus. In den hohen Räumen hatte er einen herrlichen Klang. Aber dann kam der Krieg und wir haben alles verloren. Mein Mann hatte für die Deutschen gearbeitet, und als die Russen kamen, musste er fliehen. Er nahm mich mit und wir sind hierher gekommen. Als er dann starb, war ich ganz allein. Ich kannte niemanden. Mein kleiner Junge – er war erst viereinhalb, als er starb ...«
»Woran ist er denn gestorben?«
»Ach, er war nicht von dieser Welt. Wenn ich ihm zu Weihnachten die Geschichte vom Jesulein vorlas, fragte er mich, ob er auch so sterben werde. Stellen Sie sich vor: ein kleines Kind von vier Jahren! Und wenn ich für ihn auf dem Klavier spielte, dann mochte er es nicht, wenn ich Polkas und Mazurken spielte. Er wollte immer nur Bach hören. Die Musik vom Jesulein nannte er es. – Nein, er war nicht von dieser Welt. Vielleicht ist er deshalb so früh gestorben ... «
Ich bog in die Burmesterstraße ein. Sie beugte sich vor und zeigte auf einen grauen Betonkasten. Hoch oben an der Fassade ein Leuchtzeichen mit rotem Kreuz auf weißem Grund. Ich parkte in der Zufahrt zum Grundstück, stieg aus und holte ihren Koffer aus dem Kofferraum. Dann half ich ihr beim Aussteigen.
Wir näherten uns dem Haus. Die alte Dame blieb mehrmals stehen und sah an der grauen Fassade empor: »Sehen Sie sich das an. Fünfhundert alte Frauen, die sich gegenseitig auffressen. Ich habe Angst.«
Ihre Hände umklammerten meinen Arm. Ich wartete eine Weile, dann ging ich zwei Schritte. Widerstrebend folgte sie mir.
Wir betraten das Foyer. Die Pförtnerloge war hell erleuchtet. Hinter der Glasscheibe saß eine Frau in weißem Kittel und Haube. Sie musterte mich mit hochgezogenen Brauen. Als sie die alte Dame erblickte, sprang sie auf: »Ja so was! Sie kommen zu uns zurück!?«
Die Pflegerin stürzte aus der Pförtnerloge und eilte auf uns zu. Die alte Dame murmelte einen Gruß und zog mich in Richtung der Fahrstühle.
»Aber so warten Sie doch!«
Die alte Dame suchte sich hinter meinem Rücken zu verstecken. Ihre Hände umklammerten meinen Arm.
»Da freuen wir uns aber, dass Sie wieder bei uns sind! Wie geht es Ihnen denn?« Die Pflegerin schrie beinahe – als wäre die alte Dame schwerhörig.
»Danke, danke, gut. Ein bisschen schwach bin ich noch.«
»Ja, natürlich! Und jetzt wollen Sie sich ein bisschen ausruhen, nicht wahr? Können wir noch irgendwas für Sie tun? Haben Sie irgendeinen Wunsch?«
»Nein, nein, danke. Vielen Dank.«
Die alte Dame zog mich zu den Fahrstühlen. Eine der Türen stand offen. Wir betraten den Fahrstuhl, die Tür schloss sich hinter uns. Die alte Dame nannte die Nummer ihres Stockwerks und suchte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel.
Wir gingen einen Flur entlang. Hinter den Türen das dumpfe Dröhnen von Fernsehstimmen. Zweimal bogen wir um eine Ecke, dann blieb sie vor einer Tür stehen: »Hier – hier ist es. Einen Moment, bitte.«
Sie schloss auf. Durch einen Windfang betraten wir den Wohnraum. Die Dame zeigte auf einen Schemel neben der Tür. Ich legte den Koffer darauf ab und reichte ihr die Hand. Sie ergriff sie mit beiden Händen: »Ich danke Ihnen vielmals. Und sagen Sie Ihrer Freundin – der unbekannten Bekannten – sagen Sie ihr einen lieben Gruß von mir. Werden Sie das tun?«
Ich sagte, das würde ich gerne tun.
Ich näherte mich dem Standplatz. Die Rufsäule blinkte. Eine Frauenstimme meldete sich und nannte Straße und Hausnummer. Die Stimme klang hart und feindselig. Als ich in die Straße einbog, hatte ich die Hausnummer vergessen, aber sie stand schon am Straßenrand und hob die Hand. An ihrer Seite ein Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.
Sie öffnete die hintere Tür und schob das Mädchen vor. Das Mädchen starrte mich aus zerknautschtem Gesicht an. Die Frau schob es auf den Rücksitz, stieg ebenfalls ein und schloss die Tür.
»Guten Abend«, sagte ich.
Sie legte einen Arm um die Schultern des Mädchen und flüsterte hörbar: »Hast du gehört? Das ist auch so einer, der nicht ›Grüß Gott‹ sagen kann!«
Mit scharfer Stimme wandte sie sich an mich: »Ins Schwabinger Krankenhaus!«
Ich fuhr los und sie beugte sich wieder über das Mädchen: »Alle sind sie so. Keiner schaut uns an. Sie wollen uns klein machen. Dabei haben wir ihnen gar nichts getan!«
Ich begegnete ihrem Blick im Rückspiegel. »Wissen Sie«, sagte sie, »wir werden nämlich verfolgt. Schon seit langem.«
»Verfolgt? Von wem denn?«
»Oh, von allen möglichen. Wir kennen sie nicht. Sie haben sich noch nicht vorgestellt!« Sie lachte und wurde wieder ernst: »Aber sie bedrohen uns!«
»Aha.«
»Jawoll, aha! So sind sie alle – so wie Sie. Schauen uns nicht an. Tun so, als wären wir nicht da. Wenn Sie wüssten, was ich durchgemacht habe. Die ganze Zeit alleine. Niemand hat uns geholfen. Und weißt du auch, warum sie so sind?«
Sie beugte sich zu dem Mädchen hinab und sprach mit Verschwörerstimme: »Sie haben Angst vor uns! Weil wir so schön sind! Schlank und schön! Sie sind neidisch auf uns!«
Sie legte den Kopf in den Nacken und lächelte: »Ja, neidisch sind sie!«
Das Mädchen weinte – ein gepresstes Wimmern.
Ich bog in die Zufahrt zur Notaufnahme ein und hielt vor den automatisch sich öffnenden Türen. Im Foyer standen Männer und Frauen in weißen Kitteln. Eine Frau zog sich einen Straßenmantel über. Sie redeten miteinander.
»Aha«, sagte die Frau auf dem Rücksitz, «da sind sie wieder. Schau dir die grimmigen Gesichter an. – Wie viel kriegen Sie?«
Sie reichte mir einen Geldschein und ich gab ihr das Wechselgeld heraus.
»Schau nur, was für Krallen er hat. Komm, mein Liebling, schnell weg von hier!«
Sie stiegen aus. Das Mädchen weinte.
Ich fuhr aus der Ausfahrt heraus und wollte die Kopfhörer aufsetzen, als ich hundert Meter weiter eine Frau am Straßenrand stehen sah. Sie winkte. Ich hielt an, sie stieg ein. Verquollenes Gesicht, Leggings, Wollsocken und keine Schuhe.
Kaum hatte sie die Tür geschlossen, fing sie an zu jammern: »Oh! Au! Au!«
»Wohin«, fragte ich.
»Milbertshofener Straße. Au, Au! Oh!«
Ich fuhr los. Sie hob den rechten Fuß aufs Knie und zeigte darauf. Er war stark angeschwollen. »Schaun Sie sich das an! Und so schicken die mich heim, die Dreckschweine! Was wolln Sie denn, ham die mich gefragt. Schaun Sie sich das an! Is das denn nix? Das is doch net normal, so dick. Und wie das weh tut! Au! Au! Was wolln Sie denn, ham die mich gefragt. Nich mal n Taxi wollten die für mich bestelln. Morgen geh ich zur Polizei. Die Schweine! Au! Aua!«
Ich bog in die Milbertshofener Straße ein und hielt vor der Hausnummer, die sie genannt hatte. »Simma schon da?« Sie beugte sich vor und sah aus dem Fenster: »Das könnt‘s sein. Sie müssn ein Moment warten. Ich muss erst das Geld holn.«
Ich schaltete den Motor aus und zog den Zündschlüssel ab: »Ich komme mit.«
Ein neu errichteter, lang gezogener Kasten mit mehreren Hauseingängen. Die Erde zwischen den Gehwegen noch unbewachsen, bis auf ein paar junge Bäume, die an Pfählen festgebunden waren.
Die Frau ging zum zweiten Hauseingang, lehnte sich gegen die Hauswand und drückte eine der Klingeln. Nach einer Weile drückt sie noch einmal.
»Wahrscheinlich schläft er schon«, murmelt sie, drückte noch einmal den Klingelknopf, dann die beiden Klingeln darunter. Starrte zu Boden, sah ihren geschwollenen Fuß und fing erneut an zu jammern.
Ich griff an ihr vorbei und drückte die oberste Klingel. Nach dem zweiten Mal wollte ich gehen, als ein Summen ertönte und die Tür sich öffnete. Wir traten ein.
Eine Männerstimme schrie durchs Treppenhaus: »Wer ist da? Seid ihr blöd? Mitten in der Nacht?!«
Sie stützte sich an der Wand ab und stieg die Treppe hoch: »Halt’s Maul! Ich bin’s!«
»Blöde Fotz‘n! Warum hast keinen Schlüssel dabei?«
»Halt’s Maul! Ich brauch Geld!«
Ich stieg hinter ihr die Treppe hinauf.
»Geld? Wofür brauchst du Geld?«
»Bin mim Taxi g‘kommen!«
»Blöde Fotze, wieso nimmst ein Taxi, wenn d‘ kein Geld hast?«
Sie hatte den vorletzten Treppenabsatz erreicht und blieb stehen, wich zurück und fing an zu schreien. Ich erreichte den Treppenabsatz und sah zu dem Mann am Ende der Treppe hinauf: Mel Gibson in Unterwäsche. Am rechten Schienbein klaffte eine Wunde. die größer als meine Hand war. In dem klaffenden Fleisch schimmerte der blanke Knochen. Die Wunde blutete kaum noch, aber die Fußmatte vor der Tür lag in einer Lache von Blut.
Die Frau war den letzten Treppenabsatz wieder hinuntergelaufen und hatte sich neben einer der Wohnungstüren in die Ecke fallen lassen und hörte nicht auf zu schreien.
»Und du«, schnauzte der Mann mich an: »Was tust du hier?«
»Ich bin der Taxifahrer.«
»Mach, dass d‘ weiterkommst, sonst kriegst eine in d‘ Fotzen!«
Er war an den Rand des Treppenabsatzes getreten und hielt sich am Geländer fest. Ich hob beide Hände, wünschte ihm frohe Ostern und ging die Treppe wieder hinunter. Die Frau kauerte noch immer in der Ecke und schrie. Hinter den Wohnungstüren blieb es still.
Draußen war es dunkel geworden, als ich nach Hause kam. Ich war im Studio gewesen und hatte an den Nautilus-Maschinen trainiert. Als ich die Wohnungstür aufschloss, klingelte das Telefon.
Helmut war am Apparat. Er hatte sich mit Michael verabredet, sie wollten sich im Schulz bei mir um die Ecke treffen. Ob ich nicht Lust habe zu kommen. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Unsere Lebensrhythmen passten nicht zusammen. »Wer geht schon am Wochenende aus«, sagten sie. Während der Woche fuhr ich Taxi. Nachts.
Freitagabend. Normalerweise wäre ich um diese Zeit im Taxi unterwegs gewesen. Aber die Woche war unangenehm gewesen. Jeden Abend Streit. Zuerst mit einem anderen Taxifahrer, zweimal mit Fahrgästen. Einmal musste ich über Funk Kollegen zur Unterstützung rufen. Zuletzt mit einem Fahrradfahrer, der mir mit den Fingern zeigte, was ich seiner Meinung nach war. In Gegenwart der Fahrgäste, eines jungen Paars im Fond. Sie hatten am Bankautomaten Geld abgehoben und ich hielt in zweiter Reihe. Als ich gegen Mittag aufwachte, rief ich in der Firma an und ließ mich für den Abend von der Liste streichen.
Helmut und Michael saßen an einem der hinteren Tische. Helmut fragte, wo ich meine Lederjacke gelassen habe. Seiner Meinung nach gehörte zu einem Taxifahrer eine Lederjacke. Dann wäre ich nicht mehr einfach nur Taxifahrer, sondern Taxi Driver – Travis Bickle. Aber Robert de Niro trägt in dem Film keine Lederjacke, sondern eine grüne Nylon-Bomberjacke. So eine hatte ich auch einmal getragen. Bevor ich Taxi fuhr. Als ich noch manchmal ins Kino ging.
»Und sonst«, fragte Helmut: »Was machst du, wenn du nicht fährst?«
»Nichts besonderes.«
»Keine Frauen?«
»Keine Frauen.«
»Kein Sex?«
»Zu anstrengend.«
Sie lachten.
»Du wartest«, sagte Michael.
»Kann sein. Aber ich weiß nicht worauf.«
»Du lebst nicht.«
»Ich weiß.«
»Man muss kämpfen.«
»In Wirklichkeit bist du einfach nur zu faul«, sagte Helmut.
Ich hob die Schultern, grinste. Vielleicht hatten sie ja recht.
Wir sprachen über die neue Hemingway-Biographie, über Lebensentwürfe. Helmut erzählte von seiner Arbeit als Regieassistent bei einem Film, der von der evangelischen Kirche finanziert wurde. Hannelore Elsner spielte darin mit. Michael schrieb Drehbücher für eine Vorabend-Serie.
Helmut stand schließlich auf, winkte dem Kellner und ging zur Garderobe, um seinen Mantel zu holen. Er musste am nächsten Morgen früh am Drehort sein. Michael fragte mich, ob ich noch mit ihm zu Roberto fahren wolle.
»Ich glaube nicht.«
Michael sagte, er fände aber doch, dass ich noch mit ihm zu Roberto fahren solle. Ich sagte nichts. Helmut, im Mantel, trat zu uns an den Tisch. Wir bezahlten und verließen das Lokal.
Vor dem Lokal standen Taxis bereit. Helmut verabschiedet sich von uns und stieg in das vordere Taxi ein. Ich begleitete Michael zu seinem Auto. Es war in einer Seitenstraße geparkt. Michael entriegelte die Türen. »Steig ein«, sagte er. Ich stieg ein. Der Abend war sowieso gelaufen und ich hatte Roberto lange nicht mehr gesehen – länger noch als Michael und Helmut.
Die Wohnung lag im Souterrain. Michael klingelte und ging voran. Die Wohnungstür stand offen. Stimmen waren zu hören. Wir traten ein. Ein Mädchen, das ich nicht kannte, überquerte den Flur. Sie winkte uns zu und verschwand in der Küche.
Michael betrat das Wohnzimmer, die Stimmen dort wurden lauter. Ich blieb in der Tür stehen. Zwei Arme legten sich um Michael. Über seiner Schulter tauchte ihr Gesicht auf, unsere Blicke trafen sich. Ich lachte und sah weg. Wie lange war es her? Wann hatte ich das letzte Mal an sie gedacht?
Ich ging an ihnen vorbei auf Roberto zu. Roberto erhob sich aus seinem Sessel. »Lass dich umarmen!« rief er. Wir umarmten uns. Danach wandte ich mich ihr zu. Ich küsste sie auf die Wange und sie hielt mir auch die andere Wange hin. Ich küsste sie ein zweites Mal. Auf der Couch saßen zwei Mädchen und ein Junge, die ich nicht kannte. Ich reichte ihnen die Hand.
Michael holte zwei Stühle aus der Küche und wir setzten uns zu ihnen. Sie sahen sich eine DVD an: Le Flic von Melville.
Alain Delon ist der Bulle. Er hat erfahren, dass sein bester Freund Kopf einer Bande von Bankräubern ist, der er seit längerem auf der Spur ist. Catherine Deneuve ist die Geliebte von Delon, aber sie ist auch die Geliebte seines besten Freundes, des Bankräubers. Sie will mit dem Freund fliehen. Das Geld vom letzten Überfall liegt in einem Koffer in seiner Wohnung bereit. Er wartet auf sie. Delon wartet vor dem Haus. Catherine Deneuve kommt in einem Austin Mini Cooper und hält auf der anderen Straßenseite an. Der Freund mit dem Koffer voller Geld tritt aus dem Haus. Delon tritt hinter einem Mauervorsprung, wo er gewartet hat, hervor und hält eine Automatik in der Hand. Er fordert den Freund auf, stehen zu bleiben. Der Freund dreht sich nach ihm um und greift mit der Hand in den Mantel. Delon schießt. Der Freund stürzt zu Boden und bleibt bewegungslos liegen. Der Assistent von Delon läuft zu dem am Boden liegenden Freund von Delon und will ihm die Waffe abnehmen. Die Hand des Freundes liegt noch im Ausschnitt des Mantels. Der Assistent, neben dem leblosen Körper kniend, hebt den Kopf und sagt: »Er war unbewaffnet.« Auf der anderen Straßenseite steht Catherine Deneuve in der offenen Tür ihres Austin Mini Cooper. Sie trägt einen Pelz.
Im Dienstwagen von Delon tutet das Telefon. Delon geht zum Wagen und nimmt den Hörer ab. Mit ausdruckslosem Gesicht hört er zu, lässt sich die Adresse wiederholen und sagt: »Wir sind gleich da.«
Delon sitzt am Steuer, der Assistent sitzt neben ihm. Sie fahren die Champs Elysées hinunter. Im Rückfenster der Arc de Triomphe. Der Assistent zieht ein Päckchen Kaugummi aus der Tasche, zieht einen Streifen hervor und bietet ihn Delon an. Delon bewegt kaum merklich den Kopf zur Seite. Das Telefon tutet wieder. Ein Blick des Assistenten aus den Augenwinkeln. Schweigend sitzen sie nebeneinander und schauen nach vorne. Im Rückfenster der Arc de Triomphe, das graue Band der Champs Elysées. Nach einer Weile hört das Tuten des Telefons auf und die Schlusstitel rollen über den Bildschirm.
Roberto stöhnte: »Jedes Mal, wenn ich den Film sehe, muss ich heulen!« Er heulte nicht.
»Wie oft hast du den Film schon gesehen«, fragte sie ihn: »Doch mindestens schon vier oder fünf Mal, oder?«
Mit einem Bein saß sie auf der Armlehne, mit dem anderen auf Robertos Schenkel, und hatte einen Arm um seine Schultern gelegt. Ich schob die Hände in den Nacken. Der Rücken tat mir weh. Ich hatte kein einziges Mal zu ihnen hinübergesehen. Während des ganzen Films nicht. Und ich hatte wieder denselben Geschmack im Mund wie in den Tagen, bevor ich nach New York geflogen war: den Geschmack kalter Asche.
Ich ging nach Hause. Im Dunkeln saß ich auf dem Bett und sah zu, wie es draußen hell wurde. Am Abend saß ich wieder im Taxi und rollte durch die Straßen.
Die ich küsste, habe ich nie geliebt; die ich liebte, habe ich nie geküsst.
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2009
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