01. Kapitel
02. Kapitel (ehemalige Leseprobe)
03. Kapitel
Wenn ich mein blitzendes Schwert tatsächlich schärfe
Und meine Hand zum Gericht greift,
Will ich Rache erstatten meinen Widersachern
Und Vergeltung zollen denen, die mich aufs tiefste Hassen.
Moses 32:41
Der junge Mann mit den dunkelblonden Locken umklammerte verzweifelt sein Schwert. Die pralle Sonne brannte ihm auf der Haut und jagte ihm Schweißperlen über den Körper. Dunkle Bluttropfen hingen ihm in Haar und Bart. Seine Kleidung, die dünne Stoffhose und das Hemd, das irgendwann einmal weiß gewesen sein musste, waren vom Angstschweiß und Blut seiner Feinde getränkt. Seine dünnen Finger umklammerten fiebrig das verschmutzte Silberschwert, als er erneut ausholte um einem heran rennenden Dorfbauern den Kopf von den Schultern zu schlagen. Als der Mann nah genug war, erkannte Llŷr ihn: Es war sein Adoptivvater Gwynn. Der Mann hob seine Mistgabel und wehrte damit ungeschickt das Schwert ab. Llŷr biss die Zähne zusammen. Die Klinge seines Schwertes klemmte zwischen zwei Mistgabelspießen fest. Metall kratzte an Metall, und fuhr den beiden Männern durch Mark und Bein. Llŷr ließ widerstrebend das Schwert los und entfernte sich einige Schritte von Gwynn. Sein Adoptivvater grinste triumphierend und wiegte sich im Sieg. Er schleuderte Llŷrs Schwert so weit weg, dass Llŷr nicht sofort danach greifen konnte, und trat dann auf ihn zu. Die Augenbrauen des Bauern formten sich so, dass selbst sein Gesicht im Schatten lag.
„Endlich habe ich dich, Verräter. Du warst mal so ein guter Junge Llŷr, was ist nur plötzlich aus dir geworden? Dieses Ungeheuer, was du dein Weib nennst, sie hat dich verdorben Junge! Öffne deine Augen! Erlöse dich von dem Bann, den sie auf dich gelegt hat.“, sagte er und erinnerte sich schmerzhaft an den jungen Llŷr und senkte seine Mistgabel. „Ich hatte nie ein Problem mit dir, du warst immer freundlich und hast mitgeholfen wo du konntest. Ich mache dir ein Angebot Junge. Löse dich von diesem Biest, schlag ihr den Kopf ab, bohre die Klinge deines Schwertes in ihr Herz und ich werde dir vergeben. Unser Dorf wird dir vergeben. Wir werden dich wieder in unserer Gemeinschaft aufnehmen und du wirst wieder ein normales Leben führen können!“
Llŷr stieß einen Laut des Entsetzens aus und spuckte seinen Adoptivvater Gwynn an.
„Ich werde Vanora niemals aufgeben! Sie war es, die mir die Augen geöffnet hat“, rief er entrüstet.
Llŷr sah hastig zu der Stelle hinüber, an der er sein Schwert im Gras glänzen sah. Er schätzte die Entfernung ab und grübelte dann kurz. Konnte er es wagen einfach los zu rennen in der Hoffnung das Schwert noch vor einem erneuten Angriff Gwynns zu erreichen? Was, wenn sein Adoptivvater flinker war, als er vermutete und die Mistgabel in Llŷrs Eingeweide rammte, um ihm endgültig das Leben zu nehmen? Llŷr schüttelte den Kopf. Er musste es versuchen. Für sie. Für Vanora.
Dem Dorfbauern Gwynn war der hastige Blick seines Adoptivsohnes nicht entgangen und er verzog das Gesicht zu einer wütenden Fratze. Seine Augen blickten Llŷr hasserfüllt an.
„Dann suchst du den Tod, mein dummer Llŷr. Ich werde dir einen schnellen Tod gewähren.“
Und mit diesen Worten stürmte der Bauer auf Llŷr zu. Der junge Mann schluckte verzweifelt und rannte dann ebenfalls los. Rannte direkt auf das Schwert zu, das im Gras lag und das jetzt sein Leben vor seinem Adoptivvater retten könnte. Der Bauer schlug schreiend nach Llŷr, der sich geschickt unter der Mistgabel hinweg duckte. Mit einer etwas ungeschickten Rolle schaffte er es jedoch zu seinem Schwert. Mit verschwitzen Händen griff er danach und wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um die Mistgabel von seiner Brust, in der sein Herz wild schlug, fern zu halten. Die beiden Männer knirschten mit den Zähnen als sich ihre metallischen Waffen erneut einen Todeskuss gaben. Llŷr stöhnte unter der störrischen Kraft von Gwynn und seine Arme knickten leicht ein. Hoffnungslosigkeit schoss ihm durch die Gliedmaßen und entkräftete ihn weiter. Llŷr biss die Zähne noch fester zusammen und betrachtete die Mistgabel die sich ihm Zentimeter für Zentimeter nährte. Er schluckte hart. Seine Lungen fühlten sich an, als seien sie mit hartnäckigem Staub bedeckt, der ihm frischen Sauerstoff verweigerte. Seine Kehle schnürte sich zu. Für einen Moment schloss er die Augen. Angesichts des Todes wollte er sie ein letztes Mal sehen. Sie. Seine Vanora. Ein Bild huschte für wenige Augenblicke durch seine Gedanken. Der Moment, als sie sich zum ersten Mal trafen. Hoch oben, im Wolkenthal, als er gerade seine Wächterschicht angetreten hatte, da hockte sie plötzlich auf der brüchigen Mauer und blickte ihn aus ihren dunklen, cyanfarbigen Augen an, in denen Angst und Unschuld glänzten. Ihre kunstvoll geschwungenen Augenbrauen verzogen sich, als sie die Stirn runzelte und ihn ängstlich betrachtete. Das lange lavendelfarbige Haar fiel ihr gewellt über die Schultern und um schmiegte ihr perfekt geformtes Gesicht. Neugierig ließ er seinen Blick über sie wandern und erst da bemerkte er das Groteske an ihr. Sein Mund hatte sich überrascht geöffnet. Federn, die dieselbe Farbe wie ihr Haar trugen, bedeckten die hintere Seite ihrer Arme und ihren Unterleib bis hinab zu den Pranken, wo eigentlich die zarten Füße einer Frau wären. Der Rest ihres Körpers war in schneeweiße Tücher gehüllt „Eine Harpyie“, hauchte Llŷr und hatte einen Schritt auf sie zugetan, der die Frau in blanke Panik versetzte. Sie breitete ihre Arme aus, an denen Flügel angewachsen waren und ließ sich zurück in den Abgrund fallen. Llŷr stürmte auf die Mauer zu, und sah dem Wesen hinterher, das kräftig mit den Armen schlug und in die dunkle Nacht hinausflog. Lange hatte er ihr noch nachgesehen.
Ein stechender Schmerz an der Stirn ließ ihn in die Realität zurück kehren. Verwirrt öffnete er die Augen. Gwynn hatte es bereits mit der Mistgabel an sein Gesicht geschafft und ihm ein Stück die Stirn aufgeritzt. Aus der Wunde trat dunkles Blut aus, das ihm in kleinen Rinnsalen das Gesicht hinunterglitt und seine Lippen benetzte. Einen kurzen Moment dachte er nochmal an Vanora, dann packte ihn neuer Mut. Nein, er würde nicht aufgeben, er würde sein Leben nicht diesem dreckigen Menschen überlassen. Er würde kämpfen!
Llŷr umklammerte den Schwertgriff so fest, dass die Knochen an seinen Finger hervortraten. Knurrend drückte er die Schwertklinge gegen die Mistgabel und entfernte die Waffe ein Stück von seinem Gesicht. Gwynn zog überrascht die Augenbrauen hoch. Mit diesem Kraftanstieg hatte er nicht gerechnet. Die Zuversicht wich aus seinen Augen und das siegessichere Lächeln, das sich schon in seine harten Gesichtszüge geschlichen hatte, verschwand in Windeseile. Er gab sich alle Mühe, stemmte sein ganzes Gewicht gegen Llŷrs Schwert und doch schaffte es der Junge irgendwie neue Kraft zu schöpfen und Gwynns Mistgabel immer weiter von sich zu entfernen.
Llŷr konnte inzwischen seinen Körper leicht anheben. Er presste sich mit all seiner Kraft gegen die feindliche Waffe. Die Klinge hatte sich erneut zwischen zwei der Spieße verankert, doch dieses Mal nutzte Llŷr seinen Vorteil daraus. Er schwang das Schwert so gut er konnte nach beiden Seiten und verringerte somit den Widerstand. Mit einem Aufschrei richtete er sich gewaltsam auf und stieß so kräftig gegen die Mistgabel das ihr Stiel dem Bauern in den Magen schlug, der stöhnte auf und fiel ins hohe Gras. Llŷr trat die Mistgabel aus Gwynns Hand und setzte sein Schwert an dessen Kehle an. Sein Adoptivvater röchelte und versuchte die Klinge mit bloßer Hand wegzuschlagen. Llŷr betrachtete den Mann einen Moment, dann wich alle ehemalige Freundlichkeit aus seinem Herzen und wurde von tiefem Zorn ersetzt. Er umfasste den Griff des Schwertes mit beiden Händen und hob es an, die Spitze auf das Herz des Bauern gerichtet. Dem Mann wurde mit einem Schlag klar, dass er dem Tod ins Gesicht blickte und setzte zu einem Satz an, doch da wurde er von dem plötzlichen Schmerz in seiner linken Brust unterbrochen. Er blickte an sich hinab. Die silberne Klinge hatte sein Herz grandios getroffen, so dass Blut seine Kleidung durchnässte. Mit fahlem Gesicht blickte er Llŷr traurig an.
„Ich habe dir zu viel beigebracht, mein Sohn... mein Kind“, waren seine letzten Worte, eher er die Augen schloss und starb.
Erschöpft ließ sich Llŷr auf den Boden sinken und wischte sich das Blut vom Gesicht, das ihm beim Gnadenstoß bespritzt hatte. Llŷrs Herz schlug noch immer wie wild. Doch jetzt nicht vor Angst von einer Mistgabel aufgespießt zu werden, sondern darüber, dass er endlich seinen Vater kennen gelernt... und ihn getötet hatte. Llŷr überlegte einen Moment. Wie konnte er sich sicher sein, dass Gwynn wirklich sein echter Vater war und nicht einfach nur sein Adoptivvater, wie er es all die Jahre zuvor auch gewesen ist? Llŷr zweifelte an Gwynns Worten und doch sagte ihm sein Herz, dass der alte Mann sein wahrer Vater war. Es war das erste Mal in Llŷrs Leben, dass der Mann zu ihm „Sohn“ sagte und ihn nicht nur mit seinen Namen ansprach. All die Jahre wurde er immer in dem Glauben gewiegt, dass seine Eltern bei einem Überfall von dämonischen Wesen getötet wurden und er der Einzige war, der überlebt hatte. Da fiel Llŷr plötzlich ein ganz anderer Gedanke vor die Füße. Wenn sein Vater nicht tot war, dann gab es auch keinen Überfall von Dämonen. Dann lebt meine Mutter vielleicht noch!
, rief er in Gedanken, doch dann runzelte er die Stirn. Aber wieso habe ich dann nie andere Frauen kennen gelernt, als die Bäuerinnen, die mir keine wirkliche Aufmerksamkeit schenkten, und mich stattdessen ausschlossen?
Llŷr runzelte die Stirn und blickte auf den Leichnam seines Vaters in dessen Brust noch immer das Silberschwert steckte. Wahrscheinlich hätte nur Gwynn ihm die Qual der Ungewissheit von den Schultern nehmen können. Doch Gwynn war tot. Er betrachtete den Mann eingehend. Erst jetzt fiel Llŷr die schockierende Ähnlichkeit mit seinem Vater auf: das dichte blonde Haar, welches sich leicht lockte, die blasse Haut, die wie Perlmutt glänzte, die hohen Wangenknochen und die Fähigkeit Dinge schnell zu erlernen und sie präzise auszuführen. Er starrte die blutende Wunde in seines Vaters Burst an. Zu präzise
, dachte er. Seine oberste Devise lautete immer: „Präzision und Disziplin. Wenn du diese Fähigkeiten beherrschst, dann wird dich kein Bandit jemals schlagen können. Denk immer daran: Mit Präzision und Disziplin eroberst du die Welt.“
Llŷr hatte stets viel gelernt, um so viel Wissen wie möglich aufzusaugen, vergriff sich an jedem Buch und studierte es stundenlang ein. Als er alt genug war ein Schwert zu halten verflog sein Interesse an Büchern. Stattdessen übte er sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in der tödlichen Kunst der Klingen, denn eines Tages, so sagte er immer, würde er seine getötete Familie rächen. Er würde jeden Banditen aufspüren und ihm den Kopf abschlagen und dann würde er in der Welt umher reisen, neue Gegenden erkunden und für Recht und Ordnung sorgen. Doch wie Llŷr im Laufe der Zeit gelernt hatte, träumte jeder zehn jährige Junge davon solch ein Held zu sein. Aber am Ende, und genau das erfuhr er am eigenen Leib, kommt es immer anders.
Gefühllos zog Llŷr das Schwert aus der Brust seines toten Vaters ohne ihn dabei eines Blickes zu würdigen. Llŷr wusste, dass er ihn nicht vermissen würde. Er hätte es auch nicht getan, wenn er weiter in dem Glauben gewesen wäre, dass Gwynn sein Adoptivvater war. Hastig säuberte Llŷr die Schwertklinge an seinem blutverkrusteten Hemd. Als er weitentfernte Schreie hörte hielt Llŷr inne und blickte auf wobei er die Augen zusammen kniff. Ihm nährte sich eine Gruppe von vier Dorfbewohnern die alle eine bäuerliche Waffe in den Händen hielt und diese in den Himmel streckten während sie nach Llŷr kreischten und ihn verfluchten. Llŷr fluchte. Er konnte sich jetzt nicht noch weiter mit irgendwelchen Bauerntölpeln aufhalten, die ihm in Anzahl und Kraft überlegen waren. Er musste sich beeilen um Vanora noch rechtzeitig im Wolkenthal zu treffen. Und die einzige Möglichkeit noch rechtzeitig dorthin zu gelangen, war der gigantische Wald hinter ihm, dessen Baumkronen bis in den Himmel zu greifen schienen. Hastig klemmte er das Schwert zwischen seine Hose und einem ausgefransten Gurt. Einen kurzen Moment noch blickte er seinen Vater an, dann wandte er sich ab und lief in den lichtdurchfluteten Wald der Hippogryphe. Der Wald, der von jedem menschlichen Wesen gemieden wurde.
Die Sonnenstrahlen gaben dem sonst so trüben und dunklen Wald eine friedliche Atmosphäre. Die saftig grünen Blätter der alten Bäume und die stillen aber tiefen Teiche glänzten golden im Licht. Hoch oben, mehrere Meter über dem Erdboden lebten die Hippogryphe, die geflügelten Pferde und Hüter des Waldes, auf großen Zwischenebenen die von einem Baum zum nächsten griffen. Doch der sonst unbetretene Wald wurde aufgeschreckt. Wilde Vögel schrien und flogen aufgebracht durch die Baumkronen, um allen Waldbewohnern von dem fremden Eindringling zu berichten. Die Hippogryphe schlugen wild mit den Flügeln und ließen nervös Knurrlaute durch den Wald jagen. Zögernd erhoben sich die Ältesten unter ihnen und machten sich auf den Weg den Eindringling zu verjagen, oder zu töten.
Llŷrs Lungen schmerzten vor Anstrengung. Der junge Mann rannte so schnell ihn seine Füße tragen konnten, wobei er versuchte den stechenden Schmerz in der Seite und seine Lungenflügel, die nach Luft schrien, zu ignorieren. Dicke Baumstämme und wirres Geäst versperrten ihm von Zeit zu Zeit den geraden Weg durch den Wald, doch Llŷr fand immer wieder zu seinem Pfad zurück. Und auch dicke Baumwurzeln die sich fiebernd um seine Füße schlossen, konnten ihn nicht bremsen und wurden gnadenlos entzwei geschnitten. Llŷr lief die Zeit davon. Die Sonne hatte bereits ihren höchsten Punkt erreicht, und bald würde Vanora da sein um auf ihn zu warten, damit sie endlich aus dem Land fliehen konnten. Plötzlich sirrte etwas scharf durch die Luft und bremste Llŷr unvermittelt, als es nur wenige Millimeter an seinem Kopf vorbeisauste und vor ihm zum Halt kam. Verwirrt starrte Llŷr auf den Waldboden in dem ein langer weißer Pfeil steckte, an dessen Ende ein schwarzes Band angebracht war. Pan? Hier?
, fragte sich der Mann schockiert und sah wild in alle Himmelsrichtungen. Da kam aus einem Schatten heraus plötzlich ein zweiter weißer Pfeil auf ihn zu gejagt und fraß sich nur wenige Meter neben ihm in einen dicken Baumstamm. Jemand fluchte aufgebracht.
Llŷr strengte seine Augen an, um die verborgene Gestalt im Schatten zu erkennen. „Pan?“, fragte er zögernd.
Im Schatten rührte sich etwas, die Büsche wackelten und wurden von zwei menschlichen Händen zur Seite gedrückt. Hervor kam ein magerer Junge, der ungefähr so groß war wie Llŷr. An der rechten Schläfe hatte er ein schwarzes, sichelförmiges Tattoo, das sich halb um sein Auge schloss. Der Junge war gekleidet wie ein einfacher Bauer, aber bewaffnet mit großen, weißen Pfeilen von denen er einen neuen auf die Sehne seines Bogens legte und diesen dann misstrauisch auf Llŷr richtete. „Du kannst nicht gehen Llŷr“, flüsterte er.
Llŷr blickte seinen Freund stur aber traurig an. „Trachtest du etwa wie alle Anderen auch nach meinem Leben?“
„Ich möchte dich nicht töten, alter Freund. Ich möchte dich von diesem Biest fern halten. Das ist alles“, war die schlichte Antwort. Pan kniff die Augen zusammen. Der unschuldige goldene Ton seiner Augen brannte Llŷr in der Seele. Er machte einen Schritt auf Pan zu ohne den gespannten Bogen zu beachten.
„Pan, ich möchte nicht gegen dich kämpfen. Aber ich werde auch nicht kehr machen. Ich gehöre nicht hier her“, sagte Llŷr und zeigte in die Richtung in der sein Heimatdorf lag, dann senkte sich seine Stimme. „Ich gehöre zu ihr. Lass mich ziehen.“
Pan kräuselte angewidert die Lippen und spannte den Bogen etwas weiter. „Ich werde dich nicht zu dieser Missgeburt lassen! Wieso kehrst du nicht einfach zurück und vergisst sie? Sie gehört nicht in diese Welt. Und du gehörst nicht zu ihr!“
Llŷr senkte den Kopf und sein Gesicht verdunkelte sich. Langsam legte er die Hand an den Griff seines Schwertes und zog es dann aus dem Gurt heraus. Die Klinge zeigte auf das Herz seines Freundes Pan.
„Dann bleibt mir keine andere Wahl als dich zu töten“, sagte er tonlos und holte so schnell mit dem Schwert aus, dass Pan vor Angst und Schreck erstarrte. Llŷrs Schlag war so kräftig, dass das stabile Holz des Pfeils entzwei brach. Pan stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Er hatte nie damit gerechnet, dass sein Freund Llŷr ihn wirklich angreifen würde. Was war nur mit Llŷr geschehen? Ganz klar: Die Missgeburt war schuld!
Llŷr packte das Silberschwert mit beiden Händen und wollte gerade ausholen, als er plötzlich in seiner Bewegung inne hielt. Einen Moment wurde der Himmel über ihm und Pan verdunkelt. Verwundert starrte er zu den Baumkronen empor und öffnete geschockt den Mund. Über ihnen flogen die Hüter des Waldes, die mächtigen Hippogryphe auf der Suche nach etwas. Einige von ihnen stießen furchterregende Schreie aus und kreisten bedrohlich über den Bäumen. Ihr silbernes Fell glänzte königlich im goldenen Sonnenlicht.
„Hippogryphe!“, rief Pan entsetzt und starrte gen Himmel. Den Griff um den Bogen hatte er gelockert. Llŷr bemerkte die Unachtsamkeit seines Freundes und wandte den Blick von den mächtigen Geschöpfen ab.
„Es tut mir leid, Pan“, sagte er entschuldigend. Sein Freund blickte ihn überrascht an, eher er schmerzhaft aufstöhnte und sich an den Bauch griff. Ungläubig starrte er an sich hinab. Aus seinem Magen ragte die glänzende Klinge von Llŷrs Schwert. Als er Llŷr mit verzerrtem Gesicht anblickte, schaute dieser schuldbewusst weg.
Als Pan nach vorne kippte, versuchte er sich an Llŷr zu klammern, um ihn noch etwas zu sagen. Doch sein Freund riss sich von ihm los und taumelte einige Schritte zurück, eher er zu rennen begann um die Harpyie zu treffen. Pan kippte stöhnend auf den weichen Waldboden. Die großen Laubblätter hatten sich zu einem glänzenden Sterbebett zusammen gehäuft. In Trance blickte er zum Himmel hinauf. Dünne Sonnenstrahlen brachen durch die Bäume und erwiesen Pan einen letzten schönen Anblick. Doch dann wurde alles erneut verdunkelt und in weiter Ferne konnte er das donnernde Brüllen der Hippogryphe hören, die auf ihn hinab jagten. Der Boden unter ihm zitterte als sie die großen Pranken aufsetzten und ein starker Wind schlug ihm ins Gesicht, verursacht von den kräftigen Flügelschlägen dreier Waldhüter. Pan schloss die Augen um das folgende Spektakel nicht mit ansehen zu müssen und doch konnte er nicht umhin mit anzuhören wie ihre kräftigen, gebogenen Schnäbel krachend schnappten und zu spüren, wie sich ihre klauenhaften Zähne genüsslich in sein rotes Fleisch fraßen.
Llŷrs Tempo hatte sich zu einem rasenden Vorrankommen entwickelt. Geschickt sprang er über Wurzeln und Steine und wich den Baumstämmen, die an ihm vorbei zu fliegen schienen, in einem halben Tanz aus. Doch all die betrübliche Herrlichkeit wurde von einem bitteren Gefühl ersetzt. Unbemerkt hatte sich ein Funke Hass ins Llŷrs Herz geschlichen. Hass auf Pan und auf ihm selbst. Zu seinem Entsetzen hatte sich sein treuer Freund wie alle anderen auch gegen ihn gestellt, um ihn von seiner Liebe fern zu halten. Von der Liebe die alle verfluchten und für verboten erklärten. Doch Llŷr hatte sich von Anfang an keine Hoffnungen gemacht, von irgendwem Gnade und Verständnis zu erlangen. Doch umso größer der Hass gegenüber den Anderen wurde, desto größer wurde der Zorn gegen sich selbst. Llŷr konnte sich nicht so recht erklären, was ihn dazu verleitet hatte, seinen Vater zu töten und seinen Freund den grausamen Hippogryphen geopfert zu haben, um lebend aus dem Wald zu kommen. Die Moral war für Llŷr immer das Wichtigste, um sein Gewissen rein zu halten. Doch nun war seine sonst so weiße Weste mit dem Blut seiner Feinde befleckt, und damit ein großer Teil Unschuld aus seinem Herzen gewichen. Llŷr Gesicht verzog sich zu einer Grimasse, bei dem Gedanken noch mehr Menschen töten zu müssen, wenn sie sich ihm in den Weg stellten. Doch nichts und niemand konnte ihn aufhalten.
Von dem einem auf den anderen Moment endete der Wald und warf Llŷr in ein großes Tal hinaus. Abrupt stoppte er und gönnte sich auf den Knien abstützend einige Sekunden der Auszeit um seine Lungen mit ausreichend Sauerstoff zu füllen. Eine weite Landschaft mit mittelgroßen Hügeln und weiter hinten mit gigantischen Bergen, erstreckte sich vor ihm. Das hohe Gras glänzte grün und weiß im strahlenden Sonnenlicht. Leichte Winde brachten die Grashalme zum Tanzen und trockneten den Schweiß auf Llŷrs Gesicht und seine ebenfalls schweißdurchnässte Kleidung. Er betrachtete das große Gemäuer das aus zwei Bergteilen heraus ragte. Schwarze Onyxsteine türmten sich aufeinander und deuteten das Ende der Festung erst weit über den tiefen Wolken an. Um die Festung herum war ein breiter und tiefer Abgrund erbaut worden. Eine einzelne imposante Zugbrücke verband die Festungsinsel mit dem Festland. Der junge Mann betrachtete mit Ehrfurcht den Ort der ihn mit seiner Vanora verband und musste ungewollt über die Ironie des Schicksals lächeln, denn die Festung markierte die Grenze zwischen dem Land der Menschen und dem Land der Harpyien und wurde einzig und allein aus dem Zweck errichtet, die Wesen zu beobachten und notfalls zu vernichten.
Dennoch seufzte Llŷr erleichtert. Er hatte Wolkenthal endlich erreicht und nur noch die weiten Wiesen lagen zwischen ihm und seiner geliebten Vanora. Stöhnend versetzte sich Llŷr in einen letzten Sprint und steuerte direkt auf den schmalen, geräuschlosen Wasserfall zu, der in den Festungsgraben mündete. Obwohl sein ganzer Körper schmerzte und seine Beine nach Ruhe flehten, verlangsamte er sein Tempo nicht. Nur noch wenige hundert Meter trennten ihn von seinem Ziel. Er versuchte angestrengt eine Gestalt im Schatten der Festung auszumachen, doch zu seiner Enttäuschung war Vanora noch nicht eingetroffen. Llŷr blickte zu der Festungsmauer empor, dessen Gestein bedrohlich im Sonnenlicht glänzte, um sicher zu gehen, dass ihn keine Wache entdeckte. Er stieß erleichtert die Luft aus, währenddessen er sein Tempo verlangsamte und lehnte sich schlussendlich an die kühlen Mauersteine. Hier im Schatten war er vor der brühend heißen Sonne und vor den feindlichen Blicken der Wachen sicher und hatte gleichzeitig einen guten Ausblick auf die Landschaft um nach Vanora Ausschau zu halten. Llŷr ließ sich von der Mauer den Rücken stützen als er erschöpft die Augen schloss und in Gedanken versank, während er nur wenig später in einen leichten Schlaf glitt.
*
Der kleine acht-jährige Llŷr sprang aufgeregt in die Luft. Endlich, nach fast 6 Tagen, war sein Adoptivvater aus dem Feldzug gegen die Harpyien zurück gekehrt. Nun konnten sie endlich wieder gemeinsam den Umgang mit dem Schwert trainieren. Llŷr drängte sich zwischen die anderen Dorfkinder, die ihn hin und her schubsten. Doch das störte ihn nicht. Nur zu sehr war er es gewohnt von den anderen nicht akzeptiert zu werden, obwohl ihm einfach nicht einfallen wollte, warum er so ausgeschlossen wurde. Er tat es mit einem Schulterzucken ab.
Da begannen die anderen Kinder plötzlich laut zu jubeln. Llŷr konnte mit etwas Mühe die Männergruppe erkennen die hinter einem Hügel hervor kam. Alle hatten sie silberne Helme und robuste Rüstungen an. An den Seiten trugen die Einen mörderische Langschwerter und die Anderen stabile Holzbögen auf ihren Rücken. Llŷr war Jahr um Jahr von diesem Anblick begeistert. Immer und immer wieder hatte er sich vorgestellt, wie er eines Tages mit seinem treuen Silberschwert an der Seite in sein Heimatdorf zurück schreiten würde, den Helm unter dem Arm geklemmt und befleckt von dem Blut seiner Feinde, wie ein echter Held, dessen Umhang majestätisch im Wind weht und dessen Gliedmaßen von Schnittwunden geprägt und erschöpft von langen Kämpfen sind. In seiner Träumerei hatte Llŷr nicht bemerkt, dass die Männergruppe den Eingang des Dorfes bereits erreicht hatte und eilig von Frau und Kind begrüßt und bejubelt wurden. Llŷr rannte zu seinem Adoptivvater, der ihn nur spärlich begrüßte und kurz den Kopf tätschelte.
„Und? Wie war es?“, fragte Llŷr aufgebracht und sprang um seinen Adoptivvater herum. Der erschöpfte Mann griff Llŷrs Hand und marschierte mit ihm durch das Dorf.
„Wir hatten großes Glück. Keiner ist gefallen, aber fast alle sind verletzt“, sagte er nach endlosem Schweigen.
Llŷr schob nachdenklich die Unterlippe vor und blickte dann neugierig zu seinem Adoptivvater hinauf.
„Du Gwynn, warum kämpfen wir eigentlich gegen die Harpyien? Was haben die denn böses gemacht?“
Ein Schatten huschte über Gwynns Gesicht. „Habe ich dir das noch nie erzählt? Allein ihre Existenz ist ein Verbrechen! Vor vielen, vielen Jahren, lange bevor du und ich geborgen waren, haben die Menschen schon gegen die geflügelten Dämonen, die Hippogryphe gekämpft. Warum, nun dieses Geheimnis ging mit der Zeit in den alten Schriften verloren, aber es gibt einige mächtige Zauberer und Seher die behaupten, dass es früher einen Dämonenlord gab, der beide Seiten in einen Hinterhalt gelockt und sie aufeinander gehetzt hat. Ob das der Wahrheit entspricht, das weiß keiner so wirklich, aber nicht vielen glauben daran.“ Gwynn machte eine kurze Pause eher er weiter fuhr. „Naja, auf jeden Fall hat es damals einige Menschen gegeben die sich von ihrem Volk abwandten, und auch einige Hippogryphe trennten sich von Ihresgleichen. Die Verräter wurden von beiden Seiten verbannt und so haben sie sich zusammengetan und eine neue Spezies ans Licht der Welt gebracht: die Harpyien, das Volk der Missgeburten, halb Mensch, halb Vogel. Doch ihre Vorfahren haben es den jetzigen Harpyien nicht leicht gemacht, denn die Mischlingsdämonen wurden bis heute von keiner Seite akzeptiert. Im Gegensatz zu den Menschen, die immer noch Krieg gegen die Missgeburten führen um sie auszulöschen und unser Land zu reinigen, haben die Hippogryphe das Kriegshandwerk abgelegt und töten nur noch jene, die unerlaubt ihre Waldreiche betreten, egal ob Mensch oder Harpyie.“
Llŷr hatte so gespannt zugehört, dass er gar nicht mitbekam, das sie bereits vor ihrem Heim halt gemacht hatten. Llŷrs Blick schweifte ungewollt zu der Kindergruppe am Brunnen die brüllend spielten. Für einen Moment glaubte er sich wie ein verbannter Harpyie zu fühlen, doch er schüttelte das Gefühl hastig ab. Mit trauriger Miene wandte er sich wieder zu seinem Adoptivvater und fragte mit gesenkter Stimme: „Kannst du mir sagen, warum die anderen Kinder nicht mit mir spielen möchten? Ich weiß nicht, warum sie mich nicht mögen. Hab ich was falsch gemacht?“
Gwynn hielt in seiner Bewegung inne und blickte einen Moment zu der Kindergruppe, dann auf Llŷr hinab. Seine Augen strahlten eine Kühle aus, die Llŷr noch nie zuvor gesehen hatte und die sich tief in seine Seele brannte. Als Gwynn den Mund zu einer Antwort öffnete, verschwanden plötzlich alle Geräusche. Die spielenden Kinder, die jubelnden Kriegsmänner und die Stimme von Gwynn senkten sich zu einer unverständlichen Masse als alles vor seinen Augen verschwamm und er in einen tiefen schwarzen Abgrund zu fallen schien.
Die Hand die an seinem Gesicht lag schrak zurück als Llŷr aus seinem Traum erwachte der ihn an eine seiner Kindheitserlebnisse erinnerte. Kühle Finger strichen behutsam seine Wange entlang eher sich ebenso kühle aber zarte Lippen auf die seine legten. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und er erwiderte den Kuss innig. Dann zog Llŷr das Mädchen näher zu sich hinunter und schloss schützend seine Arme um ihren Körper. Die geschmeidigen Tücher, die sich um ihren Leib hüllten und ihre weichen, lavendelfarbenen Federn schmiegten sich an ihn. Alle Spannung wich mit einem Mal aus seinem Körper und sein Geist jubelte vor Zufriedenheit.
„Vanora“, flüsterte Llŷr in einem halbgelösten Kuss.
Die Harpyie löste sich aus dem Kuss und blickte ihn entschuldigend aus ihren cyanfarbenen Augen an. Die zarten lavendelfarbigen Wimpern ließen ihre Augen groß wirken.
„Es tut mir leid, dass ich erst so spät komme, aber die Palastwachen haben mich aufgehalten und gemeldet. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich unbemerkt aus meinem Zimmer schleichen konnte.“
Llŷr zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe. „Du lebst in einem Palast? Das hast du mir nie gesagt.“
Vanora lächelte schief und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin dort nur eine einfache Dienerin.“
„Du hast den Thron verdient“, sagte Llŷr schmeichelnd und spielte mir einer ihrer Federn. Seid sie sich das erste Mal getroffen hatten, war Llŷr von ihrem violetten Gefieder verzaubert und berührte es wo er nur konnte.
Vanora blickte an der bedrohlichen Mauer hinauf.
„Was für eine Ironie des Schicksals, dass wir uns gerade hier getroffen haben“, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. Llŷr blickte sie eingehend an. „Wieso bist du damals eigentlich nicht sofort vor mir weg geflogen?“
„Und wieso hast du nicht gleich auf mich geschossen?“ fragte sie zurück und zwinkerte mit einem Auge.
Llŷr lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange eher er sich, voller Kraft gepackt erhob und die überraschte Vanora mit sich zog. Glück, Freude und Zuversicht auf ein gutes Ende ließen Llŷrs Augen glänzen. Ein breites Lächeln hatte sich auf seine Lippen gestohlen und erhellte sein Gesicht. Er wusste, mit ihr würde er bis ans Ende der Welt reisen, mit ihr würde er glücklich werden und in Frieden am Ende der Welt leben, weit entfernt von ihrer eigentlichen Heimat. Die tyrannischen Menschen und gnadenlosen Harpyien würden ihnen nichts mehr antun können.
„Vanora, lass uns los gehen. Jetzt, sofort. Lass uns in eine andere Welt reisen, wo die Berge noch höher als nur in den Himmel greifen und die Täler noch tiefer in der Erde versinken. Lass uns glücklich werden, befreit von allen Regeln und Strafen!“
Llŷr drückte vor Begeisterung Vanoras schmale Finger zusammen. Die Harpyie blickte erst auf seine Hände, dann sah über die Schulter auf das weite Feld hinter sich zurück. Sie biss sich auf die Lippen.
„Natürlich Llŷr. Das will ich auch. Über alles. Aber sieh nur, die Sonne beginnt sich langsam zu senken und vermutlich werden die Patrouillen jetzt verstärkt und strenger auf die Grenzen achten. Wir können diesen Weg nicht zurück gehen. Wir müssen einen anderen finden.“
Llŷr blickte überrascht auf und betrachtet das Land. Was für ein Idiot er doch war! In all der Euphorie hatte er gar nicht an den Rückweg gedacht und schon gar nicht erst auf die Wachen. Was für ein Tölpel! Was wenn eine Wache hier entlang gelaufen wäre? Er hätte sie umgebracht und Llŷr wäre schuld gewesen und das nur, weil er zu unaufmerksam war.
Llŷr griff Vanora an die Schulter und zwang sie dazu ihn anzusehen.
„Wir schaffen das. Wir finden einen Weg. Über das Feld können wir natürlich nicht zurück gehen. Aber wir könnten uns an der Onyxmauer entlang schleichen, tief im Schatten verborgen bis zu anderen Seite des Waldes der Hippogryphe und uns von dort aus dann weiterkämpfen.“
Vanora legte eine Hand ans Kinn und dachte über diesen Plan nach. Er könnte funktionieren, nur gab es ein Problem: Wenn sie nicht lautlos durch den Wald der Hippogryphe reisen würden, wenn sie nicht wie tanzende Blätter lautlos durch den Wald reisen würden, dann wären sie ohne Gnade tot.
„Die Hippogryphe...“
„Die tun uns nichts!“, sagte Llŷr zu ihrem überraschen und trat von einem Bein auf das andere. „Ich bin vorhin durch den Wald der Hippogryphe gerannt um pünktlich hier zu sein, weil ich von... ein paar Dörflern aufgehalten wurde.
Die Erinnerung an Llŷrs toten Vater stach ihm einen Moment ins Herz. Doch er drängte das Gefühl beiseite und erinnerte sich daran wie sein Vater ihn behandelt hatte. Kein Mitleid. Keine Gnade. Liebe war ein Fremdwort.
Llŷr bemerkte Vanoras zweifelnden und wütenden Blick.
„Ich hatte keine andere Wahl! Ich hatte Angst dich nie wieder zu sehen, mein Herz.“, er nahm ihre Hand küsste jeden Finger einzeln eher er sie an sich zog. „Gehen wir. Wir werden heil aus dieser Sache heraus kommen. Versprochen.“
Vanora wollte Llŷrs Worten glauben, doch als sie sich Hand in Hand auf den Weg machten konnte Vanora das Gefühl nicht loswerden, dass irgendetwas schief gehen würde.
*
„Vorsicht!“, flüsterte Llŷr panisch und blickte um die Ecke. Die Harpyie blieb wie angewurzelt stehen und trat einige Schritte zurück. „Jetzt komm!“
Vanora, die etwas nervös aussah, eilte von der einen Mauerseite quer zu Llŷr hinüber. Er hatte den perfekten Moment abgepasst. Gerade als die schläfrige Wache nicht hinschaute und den beiden verborgenen Gestalten den Rücken kehrte. Llŷr nahm Vanora erneut an der Hand und zog sie hinter sich her. Die beiden Geliebten eilten ängstlich und lautlos durch den weiten Innenhof. Ihr eigentlicher Plan wurde zunichte gemacht, als sie an der Außenmauer zwei Wachen auf sich hatten zukommen sehen. Llŷr hatte in diesem Moment eine schwere Entscheidung zu treffen und seines Erachtens nach blieb ihm keine andere Wahl als zurück zukehren und in eine poröse Stelle in der Mauer ein Loch zuschlagen um im äußeren Burgring zu landen. Auf ihrem Weg mussten sie unzählige male Wachen ausweichen die meist zu zweit patrouillierten und es so unmöglich machten sie auszuschalten. Llŷr hatte in dieser Zeit keine Möglichkeit gefunden zu bemerken, dass Vanora etwas extrem beunruhigte und er sie beide noch tiefer in Probleme getrieben hatte.
Sie hatten schon längst nicht mehr mitbekommen, dass sich die Sonne rasend schnell dem Horizont nährte und nur noch eine laue Wärme auf der Erde herrschte und bald die kalte Nacht anbrechen würde. Der Schatten der Festung hatte sich bedrohlich über das Land hinaus gestreckt, als würde es den letzten Rest Frieden verschlingen wollten. Es war kein Geräusch zu hören. Das Zirpen der Grillen war schon lange verstummt. Stattdessen machte sich bedrohliche Stille in der Atmosphäre breit. Am blassblauen Himmel, der sich langsam in ein tiefes schwarz verwandelte, waren die ersten schüchtern leuchtenden Sterne auszumachen.
In der Festung huschte Llŷr noch immer zuversichtlich mit seinem Mädchen an der Hofmauer entlang eher er an einer hohen Burgtür Halt machte und sich zu Vanora umdrehte. Er fasste ihr lächelnd an die Wange.
„Das hier ist ein unverschlossener Eingang in die Burg. Wenn wir es schaffen unbemerkt durch einige Räume zu schleichen, dann können wir einige hundert Meter weiter durch eine weitere Tür in den Wachturm gelangen und von dort aus hinaus aus der Festung und in den Wald hinein.“
Vanora runzelte die Stirn und kratzte mit den Pranken in die weiche Erde. Sie wusste, dass Llŷr sie nicht mit Absicht in irgendwelche Probleme reiten würde, doch ihr wurde einfach nicht wohl bei dem Gedanken nun auch noch in die Festung einzudringen. Was nur, wenn man sie entdecken würden?
„Llŷr, ich glaube das ist keine gute Idee. Ich habe Angst und...“
Der junge Mann unterbrach sie barsch und lauschte hellhörig einem Geräusch. Eine Glocke läutete leise in die Stille des Abends. Der Klang schallte goldig in Vanoras Ohren wieder.
Selbstsicher grinste Llŷr die Harpyie an. „Das waren die Postglocken! Die Wachen haben nun die Erlaubnis ihren Posten zu verlassen um eine Pause einzulegen. Das ist die perfekte Chance. Jetzt sind alle unaufmerksam.“
Vanora schluckte schwermütig, packte Llŷrs Hand jedoch zuversichtlich und drückte ihr Ohr gegen die große Holztür. Sie schaute Llŷr an und nickte.
„Alles klar, lass uns gehen.“, sagte er, legte die Hand an den dicken Türgriff und drückte ihn hinunter. Die Türangeln quietschten und knackten und ließen die Tür sich nur zögernd öffnen. Llŷr lugte durch den schmalen Türspalt hindurch eher er sich gegen das dunkle Holz drückte um sie weiter zu öffnen. Vanora trat nur zögernd hinter Llŷr in den breiten Gang. An den porösen Wänden hingen alte und verrostete Rüstungen und kleine Kerzenhalter beleuchteten den Gang nur spärlich. Alle paar Meter war eine Tür in der Wand eingebracht. Von weitem war grölendes Gelächter und freudige Musik zu hören. Eine Feier. Llŷr deutete sie trotzdessen zum Schweigen an und so schlich Vanora, zunächst ohne eine Frage an Llŷr zu richten, hinter ihm her. Doch immer wieder packte sie das Gefühl von verborgener Gefahr.
„Llŷr, bist du dir sicher, dass uns nichts passiert? Mir gefällt das nicht.“, flüsterte sie und brach somit die Stille. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist. Was wenn uns hier jemand sieht?“
Llŷr drehte sich zu Vanora um strich ihr kurz über die Wange. Seine Augen waren anders als sonst. Weder glücklich noch traurig. Es herrschte ein Kampf in seiner Seele. Ein Kampf zwischen der Angst, dass sie wirklich entdeckt werden würden und dem Drang endlich frei zu sein. Und auch dieses Gefühl war es das Besitz von Llŷr ergriffen hatte und jeden Zweifel und jeden vernünftigen Gedanken hinfort spülte. Freiheit, Freiheit, Freiheit...
Llŷrs leuchtende Augen machte ihr ein wenig Angst. Sie waren verdunkelt, bedrohlich, als wären sie zwei kleine schwarze Löcher, die alles Leben in sich einsaugen und für immer verschlucken würden. Vanora wusste, dass Llŷr ein guter Mensch war, dass er niemals jemanden mit Absicht Leid zufügen würden doch in diesem Moment erschütterten seine Augen ihre Sicherheit. Seine Lider waren leicht Lavendelfarben, die Augenlider träge und müde, die Stirn in tiefen Falten gelegt und sein Griff trotz Zärtlichkeit eisern und kalt.
Vanora blickte die groben, aufgerissenen Hände an, die sie an den Schultern fest hielten, als wollte er sie daran hindern ihn allein zurück zulassen, zerbrochen an Leid und Einsamkeit. Die Hände eines Mörders. Llŷrs Hände.
Er würde alles tun um seine ersehnte Freiheit zu erlangen!, dachte Vanora.
„Ähm, lass uns weiter gehen. Es wird schon irgendwie gut gehen“, stammelte sie und entzog sich seinem Griff.
Llŷr nickte und drehte sich um. „Ich wusste, dass du zu diesem Entschluss kommen würdest. Es gibt kein Zurück mehr, das weißt du.“
Und da hatte Llŷr recht.
Texte: Text: Copyright by Christina Huhn
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2011
Alle Rechte vorbehalten