Cover


Wings in Fire




Story by: Jacqueline Petsch

Cover by: Michael Oßwald
http://michaelo.deviantart.com/

or

http://www.bymichaelo.com/


Die Rechte liegen allein beim Autor. Alle Personen, Handlungen und Schauplätze sind frei erfunden und entsprangen der puren Phantasie.


Ich widme dieses Buch meiner geliebten Mutter, die mich unterstützt und bestärkt in meiner Schreiberei und mich so manches mal mit ihrer ungeduldigen Fragerei nach einer Fortsetzung zum weiterschreiben animierte.


Flügel sind gebrochen,
und nicht mehr bereit zu schlagen.
Zu viele Worte waren gesprochen,
die erzählt von vergangenen Tagen.
Schwarze Schwingen die einst weiß,
verraten Trauer und den Schmerz,
den dein Verlust so glühend heiß,
hinterlassen hat in meinem Herz.
Will mich dem Kummer ergeben,
nichts hält mich an diesem Ort.
Was nützt mir im Himmel ein Leben,
wenn der Engel darin fort?

Jaggy1412




Prolog

Schwerfällig erhob sich König Erion von seinem Thron und schlurfte gebeugt an das aus buntem Glas gefertigte Fenster, das in geöffnetem Zustand den Blick auf seine Ländereien freigab.
Für einen kurzen Moment spiegelte sich sein Antlitz in den Mosaiken und er hielt inne. Bekannt, und doch so fremd erschien ihm das Gesicht, das ihm entgegen starrte.
Das Alter konnte ihm hier nichts anhaben und doch hatte ihn die Zeit verändert. Tiefe Sorgenfalten durchfurchten seine Stirn und ersetzten die um seine Augen. Denn zum Lachen hatte er schon lange keinen Grund mehr gehabt. Einzig seiner Tochter zuliebe legte er gespielte Fröhlichkeit an den Tag.
Er wollte sie in ihren jungen Jahren nicht mit den Ereignissen außerhalb des Schlosses konfrontieren. Und auch nicht mit den Sorgen und Ängsten, die sein Amt mit sich brachten.
Seine blauen Augen hatten ihren Glanz nicht verloren, obgleich aus ihnen die Trauer sprach. Die Trauer darüber, was sich hinter diesem Glas befand.
Die Scharniere ließen sich leicht lösen und das Fenster schwang vollends auf. Die eintretende Briese umwehte ihn und ließ das zu schnell ergraute Haar um sein Gesicht tanzen. Schon lange war er diesen Anblick gewohnt und doch zerriss es ihm jedes Mal das Herz, sein Königreich so zu sehen. Es zeigte nicht mehr das friedvolle Bild saftiger Felder und vor Gesundheit strotzender Bäume, die seinen Untertanen an so manchem heißen Tag ein wenig Schatten spendeten, oder bei Regen Unterschlupf gewährten.
Braune, kahle Flächen zogen sich am Horizont entlang, umwabert von Nebelschwaden, die das drohende Unheil ankündigten.
Totes Holz ragte wie eine Warnung in die Luft, den Flammen zum Opfer gefallen.
Denn es herrschte Krieg.
Viel zu lange schon.
Die Stadtmauern schützten die dahinter wohnenden Bürger von Elythrea, dem Himmelreich des Südens, doch wie lange noch hielten sie stand?
Weiß und unschuldig lagen die palastähnlichen Bauten unter ihm. Gläserne Türme schossen empor und reflektierten das Sonnenlicht, bunten Regenbögen gleich, an die umliegenden Häuser. Ein Stück Paradies in all dem Chaos.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Damodar, Herrscher über Argan, dem Königreich des Nordens, mit seinen Kriegern Einzug hielt und ihm das Liebste nahm, das er besaß.
Seine Tochter Lyriell.
Einst waren sie Freunde gewesen. Fast Brüder. Doch der Neid über Erions Glück und die Besessenheit, Lyriell zu besitzen, vergifteten seine Seele und ließen sie im Streit scheiden.
Lange hatten sie gemeinsam über die Menschheit gewacht und an das Gute geglaubt. Doch sie wurden eines Besseren belehrt und abgrundtief enttäuscht.
Raub, Mord, Misshandlung und Gewalt.
Mehr und mehr verfielen der Sünde und immer weniger fanden den Weg zu den Himmelsvölkern.
Nun sandte Damodar seine stärksten Krieger aus, um Frauen und Kinder zu knechten und die Ehemänner zu töten
“Dämonenreiter” wurden die drei Geflügelten genannt, die mit ihren schwarzen Rössern das Land einnahmen und Tod und Schrecken verbreiteten. Hauptsächlich lag ihr Augenmerk auf den Frauen, die durch ihren achtzehnten Jahrestag zur vollen Blüte reiften. Denn erst mit der Volljährigkeit erhielt ein Engel seine Flügel.
Gnadenlos wurden sie gejagt, entführt und geschändet. Dienten einzig dazu, Damodar´s Kriegern Nachkommen zu gebären, um seine Armee zu bereichern und seine Macht zu erweitern. Die Knaben erhielten eine Ausbildung im Kampf, die Mädchen gewährleisteten den Erhalt seiner Art und dienten dem körperlichen Vergnügen.
Jene, die sich ihnen in den Weg stellten, fanden den Tod. Andere ergaben sich und kämpften nun auf der dunklen Seite gegen das eigene Volk.
Barbarisch. Erbarmungslos.
Der Krieg hatte seine Opfer gefordert und es war längst nicht vorbei.
Wie viele von ihnen würden übrig bleiben?
Hundert?
Fünfzig?
Eine Hand voll?
Wenn es so weiter ging, würde es Elythrea und seine Bürger bald nicht mehr geben. Ja, sie konnten sterben. Und sie würden.
Es war nur eine Frage der Zeit.


Kapitel 1

Tok. Tok. Tok.
Stöhnend ächzte die schwere Eichentür unter den donnernden Schlägen. Es klang eilig und fordernd.
Tok. Tok. Tok.
“Was?” erzürnt darüber, das er geweckt wurde, stieß König Erion einen derben Fluch aus und wandte sich dem Eindringlich zu.
Er hatte nicht sonderlich gut geschlafen und in dem bißchen Ruhe, das er schließlich fand, wurde er von Alpträumen heimgesucht.
Doch als er seinen Boten auf der Schwelle erblickte, war alle Müdigkeit gewichen und er hastete so schnell aus dem Bett, dass der Schwindel ihn überkam.
“Kadir? Gibt es Neuigkeiten?”
Der königliche Bote verbeugte sich kurz, bevor er das Wort ergriff.
“In der Tat. Die Reiter wurden gesichtet unweit unserer Grenze. Damodar´s Armee ist bereits auf dem Vormarsch und wird die Stadtmauer bald erreichen. Es kam bereits zu Ausschreitungen in den umliegenden Dörfern. Uns bleibt nicht viel Zeit um die Posten zu besetzen. Wir sollten eiligst handeln, euer Majestät “ er sprach schnell und war sichtlich außer Atem.
Erion trat ans Fenster. Wie so oft in den letzten Monaten. Das Bild hatte sich nicht geändert, im Gegenteil, der Maler hat weitere grausame Details hinzugefügt. Leuchtende gelbe und orangene Gebilde tanzten am Horizont und wiesen die Richtung, in der der Feind sein Unwesen trieb. Schreie drangen in den Palast vor, nur als leiser Abklatsch dessen, was sie wirklich waren.
“So nah” flüsterte Erion geistesabwesend.
“Majestät? Wir sollten uns beeilen. Die umliegenden Siedlungen wurden bereits in Brand gesetzt. Ihr nächstes Ziel ist der Palast.”
“Wie viele?”
“Zu viele mein König. Damodar hat den Osten eingenommen und sich mit Barak´s Herrscher Halvor verbündet.”
“Halvor? Dieser Verräter” ruckartig drehte er sich seinem Gesprächspartner zu, sichtlich entsetzt über die Korrespondenz zwischen Halvor und Damodar.
“Ja, euer Majestät. Er vertrat den Grundsatz: lieber kämpfen, als bekämpft zu werden”
Der alte Mann nickte wissend. Er konnte es seinem Nachbarn nicht einmal verübeln. Ist jeder doch darauf bedacht zu überleben.
Gegen eine Armee konnten sie Stand halten. Nicht aber gegen zwei.
Nicht zwei.
“Bringt die Frauen und Kinder in Sicherheit. Jeder, der ein Schwert halten kann, soll sich kampfbereit machen. Besetzt die Posten auf der Stadtmauer und positioniert Späher in den Türmen. Bei Sichtkontakt möchte ich umgehend unterrichtet werden.”
“Jawohl euer Majestät” eine leichte Verbeugung und Kadir schloss die Tür von außen.
“So nah” murmelte Erion wieder vor sich hin.
Er mußte Lyriell fort bringen. In Sicherheit.
Doch wo war es sicher?
Wo würde Damodar sie nicht finden?
Ihr durfte nichts geschehen. Das würde er nicht ertragen. Hatte er doch bereits ihre Mutter verloren. Doch sie würde er nicht verlieren. Sie nicht.
Er würde sie beschützen. Und wenn er sein Leben dabei ließe.
Schnell zog er sich den schweren Morgenmantel über und eilte aus seinem Schlafgemach. Die Krone lag wie immer fein poliert auf einem Kissen neben dem Bett. Doch da würde sie bleiben.
Heute war er nicht Erion, König von Elythrea. Heute war er Erion. Ein Krieger wie jeder andere Mann seines Volkes auch, der in den Kampf zog, um das zu schützen, dass ihm lieb und teuer war.

Die Sonne stand noch tief und spendete nur spärlich Licht. Die Gänge wurden durch Fackeln erhellt und leuchteten ihm den Weg in den Westflügel, den seine Tochter bewohnte.
Sicher schlief sie noch und ahnte nichts von der bevorstehenden Gefahr. Er hatte ihr nichts von den Absichten Damodar´s erzählt, wollte er sie doch nicht ängstigen.
Der Tod ihrer Mutter hatte ihr erst stark zugesetzt und noch mehr Kummer hätte sie nicht ertragen.
Doch wie sollte er ihr jetzt erklären, dass ihr Leben in Gefahr war? Das sie fort mußte? Fliehen? Sich verstecken?
Noch eine Biegung und er würde ihre Gemächer erreichen.
Syra, ihre Zofe, schlief auf einem Stuhl vor der Tür. Sie war seiner Tochter treu ergeben und seit Geburt der Prinzessin am Hofe angestellt. Erion wählte sie aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten. Syra beherrschte sämtliche Kampftechniken und stand den stärksten Kriegern trotz ihres hageren Körperbaus, in Taktik und Wendigkeit in nichts nach. Somit war sie in der Lage, das Leben seiner Tochter zu schützen. Denn als Frau konnte sie ständig in Lyriell´s Nähe sein.
Langsam legte er ihr eine Hand auf die Schulter. Er wollte sie nicht erschrecken und womöglich noch Bekanntschaft mit ihrer Klinge machen, die sie für gewöhnlich unter ihren Kleidern trug.
“Oh Majestät. Entschuldigt, ich muß eingenickt sein.” beschämt stand sie auf und richtete ihr Augenmerk auf den Steinboden zu ihren Füßen. Er war ihr nicht böse. Auch sie gönnte sich kaum Zeit zum Ruhen, immer auf die Sicherheit der Prinzessin bedacht.
“Schon gut, Syra. Weckt meine Tochter. Es eilt. Die Reiter sind auf dem Weg. Packt das Nötigste zusammen und bringt Lyriell in die Katakomben. Ich erwarte Euch unten”
“Die Reiter?” der Schock stand ihr buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Für diesen Tag wurde sie trainiert. Mit Schwert, Dolch und Bogen. Hatte Wunden ausgeteilt und Wunden empfangen. Nur für diesen einen Tag hatte sie König Erion angestellt. Doch dass er so schnell kommen würde, hätte selbst sie nicht erwartet. Sie gehorchte sofort und schlich in das abgedunkelte Zimmer.
Gerade wollte sich Erion zurückbegeben, als Kadir auf den Gang einbog. Sein Gesicht vor Anstrengung gerötet und das dunkle Haar fiel ihm in nassen Strähnen ins Gesicht. Sein Hemd war aufgeweicht und ließ die Haut blass durchschimmern. Die Rüstung, die er darüber trug, glänzte unter den vielen Regentropfen, als sei sie mit kostbaren Edelsteinen besetzt. Seinem Gesicht nach zu urteilen, hatte sich die Situation weiter zugespitzt.
“Es ist soweit euer Hoheit. Sie erreichten das Tor vor wenigen Minuten. Wir kommen nicht lange gegen sie an. Die ersten überwinden bereits die Mauer.”
“Die Frauen?” er wollte ihnen die Schmach ersparen, als Fleisch herumgereicht zu werden, wie ein Stück Vieh. Erion sorgte sich auch um ihre Sicherheit.
“Alle in der weißen Halle. Der Eingang wird von sechs Kriegern bewacht und zu ihrem Schutz erhielt jede einzelne einen Dolch.”
“Sechs? Das reicht nicht annähernd. Du weißt offensichtlich nicht, mit wem wir es hier zu tun haben?! Verdoppelt die Wachen. Augenblicklich”
Das Kampfgeschrei drang bereits bis ins Schloss vor und ließen den Tumult außerhalb dieser Mauern erahnen. Damodar´s Armee war also schon in der Stadt.
“Aber Majestät? Wir sind in der Unterzahl. Jeder Kämpfer zählt. Jeder, der vor der Halle postiert wird, fehlt uns im Kampf.” protestierte Kadir. Es war nicht seine Art zu widersprechen. Schon gar nicht seinem König. Doch auch er hatte Familie da draußen, die ihn brauchte und jeder Mann war von Nöten, um den einziehenden Horden Einhalt zu gebieten.
“Augenblicklich” wiederholte der König hart. Er war verantwortlich für sein Volk. Er konnte nicht zulassen, dass ihm seine Engel genommen wurden. Wie sollte er den Männern gegenüber treten? Falls diese den Kampf überhaupt überlebten.
Das Tosen wurde lauter und wurde durch das Klirren aufeinander geschlagenen Metalls begleitet.
Donnerschlägen gleich rammten die gegnerischen Krieger immer wieder gegen das Palasttor. Ihm blieb keine Zeit sich mit Kadir rumzustreiten. Eiligst drehte er um und lief wieder auf Lyriell´s Gemächer zu.
Erion hatte ihm einen Befehl erteilt, dem er Folge zu leisten hatte. Ob Kadir es für richtig hielt oder nicht. Immerhin war er König.
Ohne anzuklopfen stürmte er in seiner Tochter Zimmer.
Erschrocken drehte sie sich vom Fenster ab und lief ihm entgegen.
Noch immer trug sie das weiße Nachtgewand, ihr dunkles Haar fiel in Wellen über ihre Schultern und reichte bis zu den Hüften. Die Schwingen auf ihrem Rücken strahlten blütenweiß und perfektionierten die Vorstellung, die die Menschheit von einem Engel hatte. Das faszinierendste waren jedoch ihre Augen. Es waren die ihrer Mutter, grün und glänzend, wie tausend Smaragde , die wie ein Sternenkranz die pechschwarzen Pupillen umrandeten.
Ihn stimmte es jedes mal traurig in Lyriell´s Antlitz zu schauen. So viel von seiner geliebten Safiyah fand sich darin. Doch er war auch froh, das sie in seiner Tochter fortbestand. So blieb sie ihm unvergessen.
“Papa? Was geht da draußen vor sich?” ihre Miene wies Besorgnis auf und Kummer. Kurz streichelte er ihre zarten Wangen, mahnte sich dann aber zur Eile.
“Syra, lass. Wir müssen fort”
“Fort? Aber wohin?” Lyriell´s Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte nicht fort. War das Schloß und Elythrea doch das Einzige, was sie kannte. Auch wenn sich ihre Heimat grundlegend geändert hatte.
Sie vermisste die Unbeschwertheit und Fröhlichkeit der Stadtbewohner. Die Ausflüge, die sie einst unternahmen, ihr jetzt aber verwährt wurden.
Grüne Wiesen wichen schlammigen Äckern, getränkt durch das Blut anhaltender Kämpfe. Das weiße, wattige der Wolken färbte sich grau und wurde zusehend schwärzer.
Ein Himmel, der zur Hölle wurde.
Auch von ihr blieben die Ereignisse draußen nicht unbemerkt.
Einige Monate schon wüteten Kämpfe in den Siedlungen um den Palast. Das wusste sie von dem Sohn der Köchin, der sich manchmal raufstahl, um ihr Gesellschaft zu leisten. Aber so nah waren sie noch nie gewesen. Sie war kein Kind mehr und sich durchaus bewusst, dass Krieg herrschte. Obwohl der Grund ihr stets verheimlicht wurde.
Jetzt sollte sie fliehen und wusste nicht einmal wovor.
“Wohin?” wiederholte sie ihre Frage, nachdem ihr Vater sie einfach mitgerissen hatte.
“Es bleibt keine Zeit für Erklärungen mein Liebling. Du mußt fort. Du bist hier nicht sicher.” zügig schlug er den Weg zu den Katakomben ein. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu dem See, auf dem ein Boot auf sie wartete.
“Nicht sicher? Vor was?” Tränen bahnten sich nun ihren Weg über die Wangen und ihr Schluchzen hallte vom nackten Gestein wieder.
Erion mochte es nicht, sie unglücklich zu sehen, doch blieb ihm keine Wahl.
Damodar durfte sie nicht in die Finger bekommen. Er ohrfeigte sich gedanklich dafür, dass er nicht früher gehandelt hatte. War es doch abzusehen, nachdem Lyriell vor zwei Tagen ihre Flügel erhielt und somit als Frau anerkannt wurde.
Darauf mußte Damodar gewartet haben.
Aber er hatte die Rechnung ohne Erion gemacht. Einem liebenden Vater, dem das Wohl seines Kindes über alles ging. Sogar über sein Leben hinaus.
Kampfesschreie aus den Katakomben ließen ihn stoppen und machten seinen Plan zunichte.
“Verdammt” stieß er aus und wechselte sogleich die Richtung. Sie hatten seine Absichten durchschaut und drangen von dort aus ins Schloß ein. Auch aus dem Gang, den sie zuvor benutzten, war das Poltern und Ächzen tapferer Männer zu hören, die krampfhaft versuchten ,die Feinde in Schach zu halten. Das anhaltende Schreien signalisierte jedoch, dass dies mißlang.
“Schnell. Hier entlang” Syra wies auf einen Spalt im Boden, einige Meter den Korridor hinunter. Hastig entfernte sie die Lanze vom Wappen an der Wand und hebelte den losen Stein am Boden beiseite. Wie ein gähnendes Loch erstreckte der schwarze Schacht sich unter ihren Füßen.
Schon mit einem Blick erkannte König Erion, dass ihn seine Leibesfülle daran hindern würde, dort hinab zu steigen. Selbst Lyriell dürfte durch ihre Schwingen damit Schwierigkeiten haben und sie war von schmaler Gestalt.
Die ersten Männer Damodar´s erschienen auf dem Flur und hasteten auf die Flüchtenden zu. Schnell schob Erion Syra voran in die Dunkelheit und gab ihr den Befehl, über seine Tochter zu wachen und sie in Sicherheit zu bringen. Er selbst würde zurückbleiben und die Krieger so lange aufhalten, wie es ihm möglich war. “Vater.” schon halb in Finsternis gehüllt, streckte Lyriell dem König ihre zarte Hand entgegen. Die Flügel nah an ihren Körper gepresst, damit sie in der Enge Platz fand.
“Lauf, mein Kind. Schau nicht zurück. Wenn die Zeit es so will, werden wir uns wieder sehen.”
Schnell hauchte er ihr noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich kampfbereit seinen Gegnern entgegenstürzte.
Lyriell schloß die Augen.
Unfähig sich zu bewegen, verharrte sie noch einen Moment in ihrer Position. Sie konnte nicht zulassen, dass ihr Vater in den sicheren Tod rannte. Ein Zerren an ihrem Fuß ließ sie aufschrecken. Syra, ihre treue Zofe war bei ihr. Sie würde nicht allein gehen müssen. Und doch ließ sie alles zurück, was ihr etwas bedeutete.
Chem, den Küchenjungen, der ihr das Kartenspiel beibrachte.
Jack, ihren kleinen wilden Spaniel, der es liebte, sie des morgens mit seiner feuchten Zunge an den Füßen zu kitzeln.
Charis, aus der Leibgarde ihres Vaters. Er war immer so nett zu ihr gewesen und bedachte sie stets mit einem freundlichen Lächeln. In den letzten Tagen fühlte sie sich so kribbelig in seiner Nähe und genoss es, wenn er ihre Hand hielt um ihr auf´s Pferd zu helfen oder um mit ihr zu tanzen.
Und natürlich würde sie ihren geliebten Vater vermissen, dessen Schicksal ihr nun im ungewissen lag.
“Prinzessin kommt. Ihr wollt doch nicht, dass euer Vater umsonst…”
“Still. Er wird nicht sterben” nein. Er DURFTE nicht sterben.
Schnell stieg sie die glitschige Leiter hinab, die sich als rostige Eisenhaken herausstellte, die vor langer Zeit in den Stein geschlagen worden sein mußten.
Der Weg nach unten schien unendlich und die Dunkelheit verschluckte alles. Nicht einmal Syra konnte sie erblicken, die genau unter ihr die Sprossen hinabklomm. Lyriell mußte aufpassen, damit sie nicht versehentlich auf ihre Finger trat. Es war so stickig und eng, das ihr das Atmen schwer fiel. Sie spürte wie ihre Schwingen an der gegenüber liegenden Wand entlang striffen und sich der Schmerz auf ihrem Rücken weiter und weiter ausbreitete, je länger sie sie nicht ausdehnen konnte.
“Warum fliegen wir nicht einfach weg?” für Lyriell klang das als die einfachste Lösung. Also wieso so kompliziert?
“Sie würden uns sofort sichten. Und gegen ihre Reiter hätten wir keine Chance” erklärte die Zofe.
“Welche Reiter?”
Syra biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte schon zu viel verraten. Die Jugend der Prinzessin hatte bereits genug Leid erfahren und nun würde sie sie vor dem nächsten Unglück bewahren müssen. Und sie wusste auch schon wie.
Ihnen blieb nur eine Möglichkeit zur Flucht.
“Das spielt keine Rolle” warf sie barsch zurück.
“Wenn wir uns nicht beeilen, werden Sie ohnehin Bekanntschaft mit ihnen machen euer Hoheit.”
Schweigend stieg sie weiter hinab. Wie tief es hier wohl noch hinunter ging?
Lyriell wagte einen Blick unter ihrem Arm hindurch und verlor durch ihre nackten Füße den Halt auf den feuchten Sprossen. Ein spitzer Schrei löste sich aus ihrer Kehle und reflexartig öffnete sie ihre Flügel um Halt zu finden.
Vergeblich.
Wie Dolche durchbohrten die Schmerzen ihren Rücken und stachen immer und immer wieder zu, wenn sie die Felsen berührte.
Schon längst hatte sie Syra erfasst und mit sich gerissen. Blieb nur noch zu hoffen, dass die Landung nicht all zu hart werden würde.
Unerwartet schnell kam die Erkenntnis, dass dem nicht so war.
Stöhnend traf Syra als Erste auf dem Grund auf, dicht gefolgt von Lyriell.
“Uff” keuchte Syra, als sie das Gewicht Lyriell´s auf sich spürte. Wenigstens war sie weich gelandet.
“Alles in Ordnung Prinzessin? Habt Ihr Euch verletzt?” vergeblich wartete sie auf Antwort, oder darauf, das sie von ihr runter stieg.
“Prinzessin?” die Zofe hob den Kopf an und tastete nach ihrem Schützling. Das Tor, das aus den Katakomben führte, brachte nur spärlich Licht. Nicht ausreichend, um Lyriell´s Verletzungen zu begutachten.
Schwerfällig schob sie den zierlichen Körper von sich fort und stand unter schmerzhaftem Stöhnen auf. Auch an ihr ging der Sturz nicht spurlos vorbei. Aber was machten schon ein oder zwei gebrochene Rippen gegen das, was Damodar mit ihnen machen würde? Oder seine Reiter?
“Lyriell?” sie arbeitete sich vor, bis sie einen Schopf Haare in den Händen hielt. Langsam tastete sie den Kopf der Prinzessin nach Verletzungen ab. Abrupt hielt sie inne, als sie etwas warmes, nasses an ihrem Hinterhaupt spürte.
Blut.
Sie mußte sich an den Felsen den Kopf angeschlagen und das Bewußtsein verloren haben.
“Prinzessin?” energisch rüttelte Syra an den Schultern der jungen Frau. Aber sie gab kein Lebenszeichen von sich.
Hufgetrappel war zu hören, unweit des Eingangs.
Ihr blieb keine Zeit.
Sie war nicht die Stärkste, aber ein kurzes Stück würde sie Lyriell tragen können. Das Ziehen in der Flanke erschwerte es ihr, das Gewicht auf ihren Armen zu balancieren. Noch drei Schritte und sie trat ins Freie. Ins Licht.
Und da sah Syra sie.
“Dämonenreiter” flüsterte sie zwischen ihren vor Schmerzen zusammengepressten Zähnen.
Das Donnern der schweren Hufen rückte näher. Schweißnass glänzten die drei schwarzen Rösser in der aufgehenden Sonne. Vor Anstrengung schnaufend, wohl zu höchster Eile angetrieben. Rubinrote Augen brannten Syra förmlich Löcher in den Rücken und ließ sie weiter hetzen, wie die Beute vor ihrem Jäger.
Ihre Herren wirkten nicht minder angsteinflößend in ihren schwarzen Kutten, die ihren Körper vollends einhüllten und nur erahnen ließen, von welch kräftigem Körperbau sie sein mußten. Kapuzen verdeckten ihre Gesichter und ließen nur ein schwarzes Oval übrig, ganz so, als hätten sie keines.
Während ihre Schwingen weiß und rein schimmerten, waren die der Reiter pechschwarz wie die Flügel eines Raben. Ausladend erstreckten sie sich gen Himmel, so als katapultierten sie sich jeden Moment von den Rücken ihrer Pferde in die Luft, um pfeilschnell wie Raubvögel auf ihre Beute herabzustürzen.
Es unterschied die drei nichts voneinander. Völlig identisch, fast wie aus einem Ei entsprungen, bahnten sie sich ihren Weg und hinterließen eine Schneise der Verwüstung.
Dämonenreiter.
Ja. Sie machten ihrem Namen alle Ehre.
Keine Sekunde zögernd, rannte sie dem See entgegen. Immer näher drang das Schnauben und Keuchen der schwarzen Bestien an ihr Ohr, doch ein Blick über die Schulter würde Syra nur aufhalten. Schon oft genug geriet sie ins Straucheln und konnte sich im letzten Moment wieder fangen. Ein Sturz hätte fatale Folgen.
Lyriell hing schlaff in ihren Armen und bekam von all dem Horror nichts mit.
Syra überlegte, ob sie das nun freuen sollte oder nicht.
“Prinzessin. Wacht doch auf” schon weinend vor Verzweiflung drückte sie Lyriells Körper fester an sich. Ein Stöhnen ihrerseits ließ erahnen, das die Bewußtlosigkeit schwand.
Endlich.
Der See war zum Greifen nah. Doch war ihr Ziel nicht das Boot, das dort ankerte, sondern vielmehr steuerte sie das silberne Tor an, das von grünen Efeuranken vollends umwirkt war. Schon lange wurde es nicht mehr geöffnet. Der letzte Neuankömmling durchschritt das Tor zum Himmelreich vor hunderten von Jahren. Den Weg hinaus wagte bisher niemand.
Bis jetzt.
Syra erreichte es völlig außer Atem und lehnte die Königstochter gegen die daneben befindliche Mauer. Ihr weißes Nachtgewand war am Kragen mit Blut getränkt. Die tiefbraunen Haare, die eher ins schwarze tendierten, hingen verklebt an ihrem blassen Antlitz hinunter. Wieder regte sie sich kurz und wimmerte Unverständliches vor sich hin.
Ohne das Erwachen ihrer Herrin zu beachten, zog Syra den Dolch unter ihrer Schürze hervor und durchtrennte die starken Geflechte, die das Tor daran hinderten, sich öffnen zu lassen. Mit aller kraft stemmte sie sich gegen das schwere Metall.
´nur ein Stück´ betete Syra inständig. Nur so viel, dass beide hindurch huschen konnten.
Unter schwerfälligem Gequitsche gaben die Flügel des Tores schließlich nach und ermöglichten den Frauen einen Fluchtweg vor dem Unheil, das unaufhaltsam auf sie Kurs nahm.
Ein letztes mal hob die Zofe das Mädchen auf ihre Arme und schritt über die unsichtbare Schwelle, auf die ihr verbotenen Seite.
Unter Androhung höchster Strafe, war es allen Himmelsbewohnern untersagt, sich außerhalb dieses Tores aufzuhalten.
Ständig waren hier Wachen postiert und rügten diejenigen scharf, die ihm zu nahe kamen. Heute standen die tapferen Engelskrieger auf dem Schlachtfeld und verteidigten ihre Stadt und ihre Freiheit.
Nur heute war es möglich diesen Weg zu beschreiten.
Die breite gläserne Treppe erstreckte sich noch einige Meter zu ihren Füßen hinab, bevor sie abrupt im Nichts endete.
Fluchende Stimmen und das Bersten von Metall drangen zu Syra durch. Sie mußte sich beeilen, die Prinzessin in Sicherheit bringen und dann die Reiter aufhalten, damit sie ihr nicht folgten.
Doch wie lange würde sie ihnen Stand halten?
Sie war sich nicht sicher, ob diese Geschöpfe der Hölle, die hier eigentlich nicht existieren dürften, überhaupt sterben konnten. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Lyriell den Fall unbeschadet überstehen würde.
Doch war ihr vermutlicher Tod nicht eine bessere Alternative, als ein Leben als Zuchtstute, die Damodar dann und wann besteigen konnte, wie es ihm behagte?
Lyriell hatte nur die eine Chance und die würde Syra ihr ermöglichen. Für König Erion, dem sie es versprach, seit dem Tag ihrer Anstellung bei Hofe. Für sich selbst und natürlich für eine mögliche friedvolle Zukunft, falls Lyriell es gelang zurückzukehren.
Auf der letzten gläsern schimmernden Stufe stelle die Zofe ihren Schützling auf die wackligen Beine. Schnell nahm sie die Kette mit dem diamantenen Stern von ihrem Hals und zog ihn über Lyriell´s Haupt. Es war ein Geschenk der jungen Dame, die zur Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit, ihren Namen eingraviert hatte. Fast kalt senkte sich der Anhänger zwischen ihre Brüste auf die nackte Haut nieder, die das zerrissene Kleid freigab.
“Erinner dich” flüsterte sie noch, hauchte dem Mädchen einen liebevollen Kuss auf die Stirn und gab sie dann aus ihren schützenden Händen frei.
Sie fiel.

Der Wind zog scharf an Lyriell´s Körper. Fast Nadelstichen gleich prasselte der Luftstrom auf ihre Haut nieder.
Was passierte mit ihr?
Der Kopf tat weh und ihr Rücken schmerzte furchtbar.
Und wo war Syra? Ihre Zofe. Ihre Freundin.
Langsam hob sie die schweren Lider und erschrak.
Nichts. Sie fiel in ein Nichts. Immer weiter und weiter. Tränen stiegen ihr auf und verließen die smaragdgrünen Augen. Aus Angst vor dem was geschah, würde sie den Grund erreichen und wegen des Druckes, den der Wind auf sie ausübte.
Der Himmel war blau. So strahlend blau wie sie ihn schon lange nicht mehr sah. Nichts deutete darauf hin, das er weiter oben von dort wo sie herkam, gerade noch schwarz war und rot, von dem Blut, das ihr Volk im Kampf vergoss.
“Erinner dich” hatte Syra zu ihr gesagt, bevor sie sie hinunter stieß. Oder war sie gefallen?
Was meinte ihre Zofe damit? Woran erinnern?
Der Rücken brannte immer mehr, fast könnte man denken, sie stehe in Flammen.
Sie fiel weiter.
Vielleicht könnte sie einfach ihre Schwingen ausbreiten und sanft auf dem Grund unter ihr landen, der sicher nicht lange auf sich warten ließ. Aber dafür hatte sie zu wenig Übung. Ihre Flügel waren gerade einmal zwei Tage alt. Eine Flugstunde hatte sie mit Charis unternommen und ward gleich im nächsten Baum stecken geblieben.
Vielleicht sollte sie es dennoch versuchen.
Besser, als sich seinem Schicksal zu ergeben.
Lyriell spannte die Muskeln an in Brust und Rücken. Die Arme zu den Seiten gestreckt, ihre Beine nah aneinander gestellt. Gedanklich stellte sie sich jede einzelne der weißen Federn vor, die aus ihrem Rücken ragten und alle eine andere Funktion erfüllten.
Sie malte sich aus, wie kraftvoll die Schwingen sich öffneten und sie empor trugen. Schlag um Schlag sie vom Grund entfernten.
Doch sie viel weiter.
Lyriell versuchte es erneut, hielt aber nach kurzer Zeit bereits inne.
Das Gefühl für den Wind ging ihr verloren. Ebenso das der Freiheit, die sie empfand, wenn sie von ihren Flügeln Gebrauch machte.
Sie wusste nicht in welchem Winkel sie die Arme halten mußte, oder welcher Muskel, für welche Bewegung zuständig war.
Sie hatte vergessen wie man flog. Wie unnütz doch Flügel waren, wenn man nicht wusste wie man sie benutzte.
Was für einen erbärmlichen Engel stellte sie nur dar?
Der Schmerz kroch wieder den Rücken empor, bis er zwischen ihren Schulterblättern unerträglich wurde. Verkrampft gewahrte sie einen Blick nach hinten und erfuhr den zweiten Schrecken in so kurzer Zeit. Ungläubig tastete sie über ihre Schulter und arbeitete sich mit der anderen Hand die Wirbelsäule herauf. Nichts. Dort wo ihre Schwingen einst saßen war…nichts.
Sie hatte nicht vergessen wie man flog.
Nein.
Sie konnte es nicht mehr.
Ernüchterung machte sich breit. Sie würde sterben. Dem einen Unglück entkommen, dem anderen entgegen fallend.
Die Wolkendecke riss auf und gewährten einen Blick auf die darunter liegende Landschaft. Wasser. Überall Wasser.
Wenigstens würde die Landung einen Hauch Überlebenschance bieten.
Wäre ihre Situation nicht so verfahren, hätte sie vermutlich gelacht vor Erleichterung. Der Wind drückte ihr gegen den Brustkorb und erschwerte ihr das Atmen. Angst durchfuhr sie. Angst vor dem Ungewissen, das sie zurückließ und dem, das ihr bevorstand.
Viel zu schnell schoss sie auf die Erde hinab, die sie einst so gern von oben betrachtete.
Schwindel setzte ein und ließ sie die Augen schließen. Die Kälte zog an ihren Gliedern und Lyriell begann zu Zittern.
Nicht mehr lang, dann hätte sie es geschafft.
Resigniert gab sie sich der Schwerkraft hin.


Kapitel 2

Stöhnend streckte der junge Mann seine noch schlafenden Glieder von sich. Seinen gestrigen Jahrestag hatte er wohl etwas zu ausgelassen begangen, denn die Wirkung des Alkohols war noch immer zu spüren.
Ein wenig benommen öffnete er die Lider und kniff sie sogleich wieder zu, geblendet von dem Tageslicht das sein Gemach erhellte.
Magda, die Haushälterin, hatte mal wieder vergessen die Vorhänge zu schließen. Langsam müsse er ein ernstes Wörtchen mit ihr reden. Allzu oft vernachlässigte sie ihre Pflichten und kam seinen Anweisungen nur unzureichend nach. Noch immer war er Herr des Hauses und als solcher, würde er so eine Nachlässigkeit nicht länger dulden.
Nicht jetzt und auch in Zukunft nicht.
“Hmmm.” grummelnd zog er sich das dünne Laken über den Kopf und entschloss ,sich noch ein wenig Schlaf zu gönnen. Die Pflichten, die sein Amt im Stadtrat und sein Stand in der Gesellschaft mit sich brachten, forderten ihn gar sehr. Er legte nie großen Wert auf Freizeit, zu sehr nahm ihn seine Arbeit in Anspruch. Auch fand er keinen Gefallen an all den Vergnügungen des Lebens.
Warum auch? Kosteten sie doch Geld und Zeit. Geld, das er sich hart erarbeitet hatte und Zeit, die er benötigte, um seinem Geldbeutel die ein oder andere Münze hinzuzufügen. Schwerfällig rollte er sich auf die Seite und erschrak, als er etwas warmes, weiches striff.
Sofort war er hellwach und beäugte das schlummernde Geschöpf neben sich.
Sie lag auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt. Ihre Lenden nur durch ein knappes Höschen verhüllt, der Rest zweifellos nackt. Er schob die blonde Lockenpracht vorsichtig beiseite, um einen Blick auf ihr Gesicht zu erhaschen.
Ungestört schlief sie weiter und ihr süßer Atem strömte ihm entgegen. Die Augen waren geschlossen, doch konnte er sich noch vage daran erinnern, dass sie braun waren. So wie die seinen. Ihre Nase war klein und gerade und ließ das Gesicht nahezu perfekt erscheinen.
Sie war hübsch, doch außer für ein kurzes Tächtelmächtel nicht zu gebrauchen. Selten weilten Damen in seinem Haus, noch seltener über Nacht. Das Mädchen in seinem Bett war ein Geschenk seines Freundes Brian, der sich wohl einen üblen Scherz mit ihm erlauben wollte.
Ein leichtes Mädchen aus dem Freudenhaus in der Stadt, die ihn auch nur als zahlenden Freier sah. Einen Kunden, von vielen, den zu bedienen ihre Aufgabe war.
Zu seinem Glück fand sie wohl mehr Gefallen an den berauschenden Getränken, als an ihm. Und hätte auch er nicht so über die Strenge geschlagen, hätte sie sein Gemach nicht einmal von innen gesehen. Geschweige denn sein Bett. Er konnte den weiblichen Reizen nichts abgewinnen. Einzig zur Befriedigung seines sexuellen Verlangens, verbrachten einige kurze Bekanntschaften ein paar Stunden mit ihm allein. Wobei er stets darauf bedacht war, diesen Kontakt so kurz wie möglich zu halten. Längst war er als Schuft oder herzlos verschrien, als er einige Damen zurückwies, die wohl ihr Herz an ihn verloren hatten. Doch was konnte er dafür? Nie hatte er ernsthafte Absichten ihnen gegenüber zugegeben und stets wussten die Damen, worauf sie sich einließen. Schon längst hatte er gelernt, die Beschimpfungen zu ignorieren. Selbst die weniger freundlichen Kosenamen, die man ihm gab, nahm er mit einem Zwinkern entgegen.
Nie gab er zu, dass er sehr wohl ein Herz besaß und selbst einmal mit Leib und Seele geliebt hatte. Aber diesen Fehler würde er nicht ein zweites mal begehen. Ja, er hatte die Weibsbilder durchschaut. Egal aus welcher Schicht oder von welchem Stande, waren sie doch alle gleich.
Seufzend befreite er sich aus seiner selbstgefertigten Höhle und erhob sich aus dem Bett. Der Boden schwankte gefährlich und er benötigte eine Minute, um die einzelnen Steine wieder sortieren zu können. Geräuschlos steuerte er den schweren Sessel in der Zimmerecke an, auf dem er seine Kleidung tags zuvor abgelegt hatte.
Schnell hatte er Lederhose und Hemd übergezogen und verließ das Schlafgemach mit der Hure darin.
Magda würde ihr später den Weg hinaus weisen.
So wie sie es immer tat.
Seit seiner Geburt lebte er in diesem Haus nahe der Stadt. Das Anwesen umfasste mehrere hunderte Hektar Land und schloss einen Teil des nahen Strandes mit ein. Auf der hinteren Seite befand sich ein kleiner See, in dem sich unzählige Fische tummelten und der im Sommer eine erfrischende Abkühlung versprach.
Sein Herr Vater war leidenschaftlicher Angler gewesen und hielt sein Idyll tadellos in Stand. Das Herz seiner Mutter schlug hingegen für den prächtigen Rosengarten, der zur Blütezeit die Luft mit den betörendsten Düften erfüllte.
Heute hingegen war der See mit schlammigem Morast durchsetzt und das Schilf am Ufer verdeckte meterhoch die Sicht auf das kühle Nass.
Das gleiche Schicksal widerfuhr dem Rosengarten, der vollkommen von Unkraut überwuchert wurde und von dessen Pracht nicht eine Blüte zu sehen war.
Seit dem Tod seiner Eltern war hier vieles verkommen.
Er selbst hatte nicht das Interesse den Gärtner zu spielen und um jemanden zu beschäftigen, war er zu geizig. Natürlich erreichte das Vermögen der Comptons eine stattliche Summe, aber die Herrschaften hatten ihren Sohn zur Sparsamkeit erzogen und er dachte nicht daran, sein hart verdientes Geld irgend einem Unkrautrupfer in den Hals zu schieben.
Ihn zog es nicht oft in den Garten, außerdem befand er sich hinter dem Haus und war für andere nicht zugänglich.
Also wozu etwas bewirtschaften, das niemand zu sehen bekam?
Doch wie es der Zufall wollte, schritt er gerade heute den Kiesweg entlang, vorbei an den Stallungen, die er vor zwei Sommern errichten ließ. Der Garten war in einem schlechteren Zustand als angenommen und so beschleunigte er seine Schritte um schnell die angrenzende Mauer zu erreichen.
Sein Kopf dröhnte und schrie geradezu nach frischer Luft. Und nirgends war sie besser als am Meer. Behände überwand er die hüfthohe Mauer und steuerte auf die Dünen zu, hinter denen der weite Ozean lag.
Dieser Abschnitt des Strandes gehörte noch zu dem Anwesen der Comptons und war einer seiner Lieblingsplätze. Er lag weit ab jeglicher Zivilisation und kaum verirrte sich eine Seele hierher.
Gierig füllte er seine Lungen mit der salzigen Seeluft und verspürte sogleich Linderung. Jedes Mal fühlte er sich elend wenn er sich dem Alkohol hingab und doch konnte er die Finger nicht davon lassen.
Jeden verkaterten Morgen danach, schwor er sich das es das letzte Mal gewesen sei.
Noch bevor er den Sand erreichte, striff er die schweren Stiefel von seinen Füßen und krempelte den Bund der Hosenbeine bis hoch zum Knie. Das Wasser war zu dieser Morgenstunde sicher noch recht kühl, doch er wollte es sich nicht nehmen lassen, ein wenig darin zu waten.
Der Sand war kalt und schmiegte sich wohlig an seine Sohlen, bevor er bis zum Knöchel darin versank. Im Laufe des Tages würde er sich wohl durch den Regen in einen schlammigen Brei verwandeln und es sicher nicht angenehm machen, darin barfuss zu gehen.
Der junge Lord schritt auf das Wasser zu und blieb wenige Schritte davon entfernt stehen.
Er mußte nicht weiter gehen, nein, das Nass kam zu ihm. Immer näher bahnten sich die Wellen ihren Weg an Land und umspülten bald seine Knöchel. Die Gischt leckte erst an seinen Zehen, dann über den Spann und schließlich schloss sie sich um seine Ferse, bevor sie das Meer zurückeroberte.
Zwei Schritte.
Noch einen.
Ein letzter.
Das Wasser reichte ihm nun bis zum Knie. Die Kühle erweckte seine Lebensgeister und verschaffte ihm einen klaren Kopf.
Eine Weile stand er so da, die Hände in die Hüften gestemmt und den Blick in die Ferne gerichtet. Erst als seine Waden taub wurden und sich durch die Kälte zu verkrampfen begannen, wandte er sich zum Gehen.
“Buster! Was suchst du denn hier?”
Er hatte gar nicht bemerkt, das sein Jagdhund ihm gefolgt war. Dabei hätte er es sich denken können. Das braune Fellbündel kam bereits im Welpenalter zu ihm und hatte mehr Blödsinn im Kopf, als dass er nützlich wäre. Doch konnte er ihn wahrlich als Freund bezeichnen, von denen er wohlgemerkt nur wenige besaß. Unschuldig aus großen Kulleraugen blickend, lag er nun am Strand und zerkaute einen der Stiefel seines Herren.
“Wirst du wohl aufhören.” Rügend gab er ihm einen Klaps auf den Kopf und entwendete seinen Stiefel aus dem Maul.
Seufzend ließ er sich nieder um die Hose zu richten und seine Schuhe von den lästigen Körnern zu befreien. Der Wind frischte auf und peitschte ihm die schwarzen Haare in die Augen.
Normalerweise trug er sie im Sommer etwas kürzer, doch stand ihm nicht der Sinn danach, sich herauszuputzen. Im Rat achteten sie sein Können und nicht sein Äußeres. Und den Frauen, die ihm beilagen, war es erst recht egal, solange er sie bezahlte für ihre Dienste.
Kräftig zog er an dem Schaft seiner Stiefel, um ihn über die Lederhose zu bekommen. Immer mehr Wolken schoben sich über den Horizont und verdunkelten diesen bedrohlich. Erste Regentropfen prasselten nieder und gaben nur einen Vorgeschmack auf den aufkommenden Sturm. Der junge Lord ließ sich dennoch Zeit. Er würde es sowieso nicht schaffen, das Haus trocken zu erreichen.
“Da kommt aber was auf uns zu. Wir sollten besser umkehren” langsam stemmte er sich in die Höhe und beschritt den Weg, den er gekommen war.
Schon fast an der Mauer, die sein Grundstück einsäumte, bemerkte er das Fehlen seines Hundes.
“Buster, komm schon.”
Nur das Bellen des Tieres war zu hören und die Luft, die zusehend lauter um ihn toste.
“Buster, komm her mein Junge”
Wieder vernahm er nur das Gekläffe, das immer aufgeregter wurde.
Widerwillig trat er den Weg zurück an um seinem Hund Gehorsam beizubringen. Vom Hügel aus, sah er ihn aufgeregt hin und herlaufend. Sein Augenmerk lag auf dem Ozean, auf dessen Oberfläche etwas schimmerte.
“Dummer Hund. Läßt sich auf den Sturm ein um einem Stück Treibholz hinterher zu jagen.” fluchend näherte er sich dem bereits pitschnassem Fellträger.
Gerade wollte er ihn am Halsband packen und mit sich ziehen, als der braune Jagdhund sich los riss und ins Meer stürmte.
Was war bloß in ihn gefahren?
Noch nie war er freiwillig ins Wasser gegangen und nun stand er bis zu den Flanken darin. Wieder fletschte er die Zähne und wartete darauf, dass das begehrte Etwas näher an Land geschwemmt wurde. Nun war auch Lord Compton neugierig geworden und betrachtete das vermeintliche Treibgut näher, dass seinen Hund so sehr erregte. Es bildete mit seinen hellen Konturen einen scharfen Kontrast zum nun fast schwarzen Meer. Er war sich unsicher, ob es sich um ein Stück Stoff handelte, oder doch nur um die Gischt der Wellen, die der Wind heraufbeschwor.
Er konnte nicht länger warten, das Buster vernünftig wurde. Der Sturm nahm zu und es goss bereits in Strömen. Wenn sein Hund es so wollte, sollte er doch nass werden bis auf die Knochen. Er selbst würde sich jetzt vor dem Kamin eine Tasse Tee gönnen.
Gerade wandte er sich zum Gehen, als schwache Rufe an sein Ohr drangen. Hatte er richtig gehört? Oder spielte ihm der Wind einen Streich? Es war unmöglich, das sich hier her jemand verirrte. Schon gar nicht bei dem Wetter. Erneut setzte er einen Fuß voran, bis sich die Laute wiederholten.
Schnell rannte er auf die nächste Düne um alles überblicken zu können, doch automatisch richtete er sein Interesse auf das weiße Etwas, das von der See hin und her gewogen wurde. Sollte wirklich jemand so dumm sein und bei diesem Wetter schwimmen? Aber was kümmerte es ihn? Der Regen wurde stärker und in seinem Arbeitszimmer warteten etliche Dokumente, die er noch zu unterzeichen hätte. Wer immer auch da draußen schwamm, war an seiner Lage selbst Schuld. Womöglich irgendein Säufer, der zu einem letzten Bier nicht nein sagen konnte und seine Schwimmkünste gnadenlos überschätzte.
Eine Zeit lang war nichts mehr zu sehen und er tat die Gegebenheit schon als Täuschung ab, vermutlich doch nur irgendein Unrat, den jemand achtlos entsorgt hatte. Ein empor ragender Arm, der sichtlich um Hilfe flehte, ließ ihn nun doch handeln. Fluchend hastete er der tosenden See entgegen. Erbost darüber, dass er nun doch den Retter in der Not spielen mußte. Am liebsten wär er umgekehrt und hätte diesem Jemand sich seinem Schicksal überlassen. Doch war es sein Strandabschnitt und er hatte wenig Lust darauf, hier morgen sämtliche Beamte auflaufen zu haben, die eine Leiche an Land zerrten, die Wochen darauf noch Schaulustige hier her trieb.
Er dachte nicht an seine Kleidung, die Temperatur des Wassers oder die aufbrausende See. Mit kräftigen Schwimmzügen kam er seinem Ziel immer näher. Die Wellen schlugen ihm ins Gesicht und das Salzwasser brannte ihm in Hals und Augen. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Person, die er jetzt als weiblich ausmachen konnte.
Die schwarzen Haare umtanzten ihre blasse Gestalt, die krampfhaft versuchte sich über Wasser zu halten. Er trieb seine Arme an, noch schneller zu paddeln und seinen Beinen verlangte er Höchstleistungen ab um gegen die Strömung anzukommen.
Ein letzter Schwimmzug und er konnte sie am Handgelenk packen. Geschwächt und nach Luft ringend krallte sie sich an seinem Hemd fest und zog ihn für kurze Zeit mit unter Wasser.
“Beruhigt Euch, sonst ertrinken wir beide.” schrie er gegen den Wind an.
Sofort stellte sie jegliches Rudern und Strampeln ein und ließ sich von ihrem Retter unter den Armen packen. Er schwamm auf dem Rücken und hatte sie über sich gezogen. Mit einem Arm stützte er ihren Oberkörper, mit dem anderen hielt er ihr den Kopf über Wasser.
Schon nach wenigen Metern bemerkte er, dass sie schlaff in seinem Griff hing und darauf angewiesen war, dass er sie an Land brachte.
Die Strömung trieb beide weit ab und es kostete ihn einige Mühe, sie zurück an Land zu schaffen. Entkräftet zog er das junge Mädchen auf den feuchten Sand und spie das Salzwasser aus, das sich in seiner Lunge angesammelt hatte.
Es behagte ihm nicht, dass sie ihr Bewußtsein verlor, denn so war er gezwungen sie mit zu sich zu nehmen. Das gebührte der Anstand. Doch hoffte er inständig, sie möge zu sich kommen und ihm ihren Wohnsitz verraten. Nur zu gern hätte er sie dort hin geschickt, wo sie herkam. Die Standpauke ihres Vormunds klang ihm bereits in den Ohren. Dummes Ding. Wie waghalsig, bei diesem Wetter schwimmen zu gehen. Als hätte er nicht schon genug zu tun, mußte er sich auch noch mit so einem leichtsinnigen Ding rumschlagen. Am liebsten hätte er sie hier liegen lassen und ihr dummes Gesicht gesehen, wenn sie erwachte. Immerhin kannte er sie nicht und hegte keinerlei Verpflichtungen ihr gegenüber. Doch würde das Urteil schnell auf ihn zurückfallen, war es doch sein Besitz auf dem sie sich befand. Zudem war sie übersäht mit zahlreichen Abschürfungen und tieferen Kratzern, wohl durch das scharfe Gestein entlang des Ufers weiter östlich. Nun mußte er auch noch einen Arzt kommen lassen, das ihn bei diesem Wetter wohl einige Zulagen mehr kosten dürfte. Schnell hob er sie auf seine Arme und schlug die Richtung zurück zu seinem Anwesen ein. Des öfteren vergewisserte er sich, das die Gerettete noch atmete und war jedes Mal erleichtert, als er sah, das ihr Brustkorb sich hob und senkte.
Fehlte noch, das er eine Leiche herumtrug. Wegen ihr war er nass von Kopf bis Fuß und fror wie ein Windhund. Jetzt hatte sie gefälligst durchzuhalten.
Wenige Blicke genügten um zu erkennen, dass sie wunderschön war. Doch hatte er gelernt, nicht auf die Fassade hereinzufallen, war diese doch der offensichtlichste Köder einer Frau. Sie schien kaum volljährig. Mehr Kind als Frau dem Gesicht nach zu urteilen. Ihr Körper hingegen wirkte reifer. Die Haut war blass und makellos, ihre Haare schwarz und unendlich lang. Wahrscheinlich reichten sie ihr bis zur Hälfte des Rückens. Die Lippen, durch die Kälte leicht violett, doch er hegte keinen Zweifel daran, dass auch sie sonst rosig und zart waren. Ihre Statur war zierlich und schlank. Etwas zu leicht, wohl aufgrund des Nahrungsmangels. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Von Scheitel bis Fuß. Ein perfektes Antlitz um jemandem wie ihm den Kopf zu verdehen. Doch bei Lord Compton würde sie sich die Zähne ausbeißen. Um ihren Hals lag eine filigran gearbeitete Kette, dessen schimmernder Anhänger ihr Dekolletee zierte.
Üppig, wohlgeformte Brüste zeichneten sich deutlich unter dem nassen Stoff ab und ließen ihn beschämt den Blick abwenden.
Nein, so schamlos war er nicht, das er das Unglück dieser Frau zu seinem Vorteil ausnutzte. Aber er konnte auch nicht bestreiten, das sie ihn kalt ließ, rein optisch. Schließlich war er ein Mann und trotz ihres erbärmlichen Zustands regte sich Verlangen in seinen Lenden.
Schnell beschleunigte er seinen Schritt. Je eher er am Hause ankäme, desto eher konnte er sich der Verantwortung für dieses Gör entziehen.
Es schien ihm wie eine Ewigkeit, bis er die hölzerne Eingangstür zu seinem Haus erreichte.
“Maaaagdaaaa”
Laut rief er nach seiner Haushälterin, die darauf flugs aus dem angrenzenden Zimmer herbeieilte.
“Eure Lordschaft. Was ist geschehen?” besorgt umtänzelte sie ihren Herren und erwartete seine Antwort.
“Schicke jemanden zu Dr. Austin. Sag, es handle sich um einen Notfall und er solle so schnell wie es ihm möglich ist, her kommen.”
“Jawohl Eure Lordschaft.” knicksend verließ sie die Halle, darauf bedacht ihrem Herren bis zur Tür nicht den Rücken zu kehren. Denn dies galt unter den Bediensteten als respektlos und sie hatte höchsten Respekt vor ihrem Geldgeber. Ja, sie konnte es sogar mit Angst bezeichnen. Sie hasste ihn. Über alle maßen , denn für ihn zählte nur Rang und Namen und nicht das Wesen eines Menschen. Ständig feilschte er mit ihr um den Lohn und rechtfertigte eine Kürzung mit nicht erbrachter Leistung. Sie war nicht mehr die Jüngste, und so beschwerte sie sich nicht und nahm es hin. Wo sonst würde sie in ihrem Alter noch eine Anstellung finden? Eilig stürmte sie die Treppen hinab in die Küche, um ihren Auftrag zu erfüllen, bevor sie erneut den Zorn ihres Herren ernten würde.

Unendlich lang erschien die Zeit, bis Dr. Austin das Gemach verließ, das Magda für die junge Lady herrichten sollte. Die alte Dame schlich nervös den Gang auf und ab und erwartete Neuigkeiten über den Zustand des Fräuleins.
“Wie geht es ihr?” überfiel sie den grauhaarigen Alten regelrecht, um das Wohl des Gastes besorgt.
“Oh, sie hat einiges abbekommen. Natürlich ist sie unterkühlt und stark geschwächt, was nicht verwunderlich ist, bei den Gegebenheiten auf See. Doch macht mir ihr Kopf ein wenig Sorgen. Wo sagten Sie , hat Lord Compton, sie gefunden?” er schob seine Brille etwas zurück, die ihm bei jeder Bewegung auf die Nasenspitze rutschte. Die Augen hatte er zu winzigen Schlitzen zusammengekniffen. Wahrscheinlich sah er mit Brille genauso wenig wie ohne.
“Sie trieb im Meer. Hat wahrscheinlich ihre Schwimmkünste überschätzt” wiederholte sie die Worte ihres Herren.
“Oder Schiffbruch erlitten. Ihre Verletzungen an Kopf und Rücken sprechen für eine größere Gewalteinwirkung.”
“Ich werde mich umhören. Sie wird sicher schon vermisst. Sind die Verletzungen denn derart schlimm?” ihr behagte es nicht, das dieses zerbrechliche Wesen Schmerzen erlitt.
“Nichts, was ein bisschen Ruhe und Schlaf nicht beheben könnten”
Sie bedankte sich noch für die schnelle Hilfe und hielt inne, als dieser ihr die Hand aufhielt, um sie darauf hinzuweisen, das der Lohn noch fällig war.
Beklemmend schlurfte sie ein paar Gänge weiter bis sie vor der schweren Tür stand, die zu den Gemächern ihres Herren führte.
Sie ließ ihre Fingerknöchel leicht gegen das Holz fahren.
“Ja?” kam die unfreundliche Stimme von drinnen, die ihr Einlass gewährte.
“Dr. Austin ist nun fertig mit seiner Untersuchung, Sir. Dem jungen Fräulein geht es den Umständen entsprechend. Sie braucht viel Ruhe und etwas Wärme.” gab sie Auskunft.
“Warum sollte mich das interessieren?”
“Ich dachte nur, da Ihr sie ….”
“Was? Weil ich sie davor bewahrt habe abzusaufen? Das heißt noch lange nicht, das ich hier den umsorgenden Gastgeber spielen muß.”
“Aber…”
“Nichts aber. Sobald sie die Augen aufmacht, ist sie hier verschwunden.” gab er barsch zurück.
Magda sah eingeschüchtert zu Boden und überlegte, wie sie es anstellen sollte, ihrem Herrn zu berichten, das der Arzt noch immer auf seinen Beitrag wartete.
“Wenn das jetzt geklärt ist, würde ich gern weiterarbeiten.”
“Eure Lordschaft, Dr. Austin….”
“Was ist denn noch?” nun war er richtig verärgert.
“Nun ja, der Dr. wurde noch nicht bezahlt für sein Kommen und er wartet noch immer”
Ein verachtendes Lachen kam aus den Tiefen seiner Brust und verhieß nichts Gutes.
“Von mir bekommt er nicht einen Cent. Es ist schließlich sein Beruf, anderen zu helfen. Soll er die Rechnung doch an ihre Sippe schicken. Es fehlt mir noch, das ich für ihre Dummheit bezahle.”
Magda kapitulierte. Ihr war klar, das dies das letzte Wort ihres Herren war und ihr es nicht gestattet war, es in Frage zu stellen. Nach einer weiteren Anweisung verließ sie den Raum und eilte in die Bedienstetenquartiere.

Schnell entlohnte Magda den Arzt mit den Münzen, die die knappe Haushaltskasse noch her gab. Nur zu gern gaben die anderen Angestellten das hart ersparte Geld zur Begleichung der Schulden. Lord Compton dachte nicht daran, ihr etwas aus seinem Vermögen zugute kommen zu lassen.
Wieder einmal stellte ihr Herr seine Unmenschlichkeit zur Schau und machte keinen Hehl daraus, dass es ihm nicht behagte, sie hier bei sich zu haben. Wie hatte er sich doch verändert in den letzten Jahren? Wo war der nette Junge, der ihr die Körbe mit nasser Wäsche trug und für sie auf die Leiter stieg um die schweren Vorhänge abzunehmen?
Ein Tag hatte ausgereicht um ihn in das zu verwandeln, was er jetzt war. Selbstsüchtig, geizig, herzlos und gesellschaftsunfähig.
Traurig schüttelte sie den Kopf. Sie durfte sich nicht an die Vergangenheit hängen und alten Tagen nachweinen. Konnte sie daran doch nichts ändern. Nun wollte sie sich um die junge Dame kümmern, wenn es schon nicht ihr Herr tat. Sicher, war es ihre Aufgabe, das Essen zu bereiten und sie zu säubern. Doch verlangte es der Anstand, das auch Lord Compton sich vergewisserte, dass es seinem Gast an nichts fehlte. Doch da könnte sie lange warten. Diese Menschlichkeit hatte er längst abgelegt.

Wieder stand sie vor der Tür zum Gemach der Verletzten. Langsam drückte sie die Klinke nach unten, die sich trotz aller Vorsicht geräuschvoll quitschend öffnete. Verärgert über sich selbst, lugte sie in das abgedunkelte Zimmer. Doch sie schien es nicht bemerkt zu haben .Ganz leise bewegte Magda sich näher an das Bündel, das zusammengerollt unter all den Decken lag.
Vielleicht schlief sie noch immer? Magda lauschte, konnte jedoch
kein Geräusch ausmachen, dass ihr verriet ob sie wach war oder nicht.
Wie friedlich sie doch schlief. Nichts deutete auf den Kampf hin, den sie soeben um ihr Leben ausgefochten hatte. Ihr Haar war bereits getrocknet und fiel in Wellen über ihre Schultern. Wenn sie erwachte, würde Magda sie in eine Badewanne stecken und ihr das Salz von der Haut waschen, das sie ganz rau und trocken aussehen ließ. Ihre Gesichtszüge sah sie nur schemenhaft in der Dunkelheit, doch verrieten sie eine gewisse Grazie und Anmut. Sie konnte sich schlecht vorstellen, das solch eine Schönheit aus dem bürgerlichen Fußvolk stammen sollte. Wenn sich da der Lord mal nicht ins eigene Fleisch schnitt, wenn er sie so herablassend behandelte. Zärtlich strich sie über ihre Hand, die auf der Bettdecke neben ihr lag. Fühlte die Kühle und Trockenheit, die das Salz hinterlassen hatte. Sofort legte sie noch einen Scheit Holz auf das fast erloschene Feuer im Kamin und umhüllte ihren Körper mit einer weiteren Decke aus dem Schrank.
Andächtig setzte sie sich etwas entfernt auf einen der prunkvollen Sessel. Es war einst das Zimmer der Lady Estelle gewesen und mit Abstand eines der schönsten in diesem Hause. Es sprühte vor Eleganz und Weiblichkeit. Nie hätte sie gedacht, das es je wieder bewohnt werden würde. Nicht von einer Frau und schon gar nicht von einer Fremden.
Ob jemand nach ihr suchte?
Der Anhänger um ihren Hals mußte von unschätzbarem Wert sein. Sicher stammte sie aus wohlhabendem Hause und war längst einem reichen Edelmann versprochen. Sie kannte sie nicht und doch machte es Magda rasend zu denken, die Kleine könnte sich wegen einer arrangierten Ehe in Gefahr begeben haben. Oder gar beabsichtig in den Tod gehen wollte.
“Armes Ding” säuselte sie und erhob sich wieder um näher heranzutreten.
Es war ihr unmöglich sich von ihr fern zu halten. So verletzlich und schutzlos wirkte sie und um nichts auf der Welt würde sie sie allein lassen. Sollten die anderen für eine Weile ihre Arbeit mit erledigen. Sie würde einen Weg finden, sich zu revangieren.
Sie hatte ihr ein Nachtgewand der Lady übergezogen und es kleidete sie hervorragend. Viele Blessuren erstreckten sich über ihren Körper und hatten ihn stark entstellt. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis sie sich vollends von den Folgen der heutigen Nacht erholt hätte.
Kaum konnte sie es erwarten, dass sie erwachte und ihr ihre Geschichte erzählte. Solange würde sie hier bei ihr sitzen und einfach nur da sein, wenn sie das Fräulein brauchte.


Kapitel 3

Syra hechtete die gläsernen Stufen wieder empor, den Dolch angriffsbereit in ihrer rechten Hand.
Sollten sie kommen.
Sollten sie doch versuchen an ihr vorbei zu kommen. Sie würde nicht kampflos aufgeben und schon gar nicht würde sie eine von Damodar´s Spielzeugen werden.
In ihrem Sprachgebrauch existierte das Wort “kapitulieren” genauso wenig wie “flüchten”. Die Flucht ergreifen taten nur Feiglinge und solch einer war sie weiß Gott nicht.
Auf den letzten Stufen verringerte sie ihr Tempo, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Das Tor war stark nach innen gebogen. Fast so, als hätte jemand versucht einfach hindurch zu gehen. Oder sollte sie sagen etwas?
Von den Reitern war nichts mehr zu sehen, ebenso wenig wie von ihren Pferden. Die Erde des Pfades war stark aufgewühlt und vergleichbar mit einem umgepflügten Acker. Man konnte sich bildlich vorstellen, welch Kraft diese Tiere besitzen mußten.
Warum hatten sie aufgegeben?
Sie war sich sicher, das nur ein weiterer kräftiger Schlag ausgereicht hätte, um den Weg frei zu machen. Irgendetwas mußte ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.
Auf allen Vieren zwängte sie sich durch die Überreste des metallenen Portals, den Dolch zwischen den Zähnen. Gerade wollte Syra sich aufrichten, als sie links und rechts gepackt und auf die Beine gezogen wurde. 2 weitere Männer standen nun vor ihr und musterten sie eingehend. Keiner von ihnen gehörte den Reitern an, aber sie waren alle ohne Zweifel Untergebene Damodar´s, was das Wappen auf ihren Rüstungen bewies.
“Na wen haben wir denn da? Du glaubtest doch nicht wirklich, du könntest uns entkommen?” sprach der etwas rundlichere vor ihr. Schon die Tatsache, das er sie so ungebührlich ansprach, ließ erkennen, dass eine Frau für ihn keine Rechte besaß und unter ihm zu stehen hatte. Denn stehts war es üblich eine Dame zu siezen.
“Sie hat was Hector, meinst du nicht?” sagte der andere.
“Hm. Ich weiß nicht. Ein wenig zu alt für meinen Geschmack.” der jüngere von beiden kam auf die Zofe zu, die immer noch bewegungsunfähig gemacht wurde.
Alt? Wie bitte? War sie auch an Jahren den Anderen weit voraus, so entsprach ihr Aussehen doch dem einer zweiunddreißig Jährigen.
Langsam streckte der fremde Jüngling seine Hand nach ihr aus und nahm eine der roten Locken zwischen seine Finger, die sich durch die Eile aus ihrem Zopf gelöst hatte. Syra atmete gehetzt und doch überlegte sie im Stillen, wie sie sich aus dieser Lage befreien konnte.
Welche Chance besaß sie bei vier Gegnern.
Genau.
Keine.
Seine Finger glitten an ihrer Wange hinunter zum Mund, mit dem sie immer noch den Dolch an sich hielt. Sogleich ergriff der Krieger den Schaft der Klinge und entwendete sie ihren Zähnen.
“Laßt mich los. Sofort. Ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr euch anlegt” wild zappelnd versuchte sich Syra aus dem harten Griff der zwei anderen zu befreien.
“Vielleicht solltest du ihr den Dolch wieder ins Maul stopfen, Calden.” “Ich stopf dir gleich das Maul du Fettsack” Bäumte sich Syra erneut auf und brachte ihm genauso wenig Respekt gegenüber, wie er ihr zuvor. Der Angesprochene wollte gerade auf sie zustürmen, als der Andere ihm ein Zeichen gab, sich ruhig zu verhalten. Augenscheinlich hatte er hier das Sagen, auch wenn ihre Kleidung nicht erkennen ließ, wer von Beiden dem höheren Rang angehörte.
Der Junge, der nach dem Fettsack Calden hieß, wandte seine Aufmerksamkeit nun wieder Syra zu, die ihn Funken sprühend ansah.
“Ein kleiner Wildfang, was? Aber glaub mir, es gab noch keine, deren Wille nicht gebrochen werden konnte” langsam wanderte er mit der Spitze des Dolches an ihrem Kinn hinab, seitlich entlang des Kehlkopfes und schließlich verharrte er für einen kurzen Moment zwischen ihren Brüsten.
“Und ich kann dir versichern, dass ich es persönlich sein werde, der dir Gehorsam und Respekt beibringen wird.” um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, durchtrennte er flugs mit der Klinge die ersten beiden Knöpfe ihres Kleides, sodass ein Großteil ihres Busens sichtbar zur Schau gestellt wurde.
Calden schenkte ihr ein breites Grinsen und am liebsten hätte Syra es ihm aus dem Gesicht geprügelt. Stattdessen verbot sie sich zu schlucken und spuckte ihm den angesammelten Speichel ins makellose Antlitz.
Nun war sie es die grinste, während er sichtlich überrascht von ihrer Attacke war. Doch seine Starre hielt nur kurz an, bevor seine rechte Hand schallend auf ihre linke Wange traf. Blitze zuckten auf und kurz gaben ihre Beine nach. Der Kiefer schmerzte und wahrscheinlich würde ihre Wange im Dunkeln leuchten, doch ließ sie sich ihren Schmerz nicht anmerken. Ihre zwei stummen Wärter zogen sie wieder hoch, sodass sie mit Calden fast auf Augenhöhe war.
“Ich sagte doch, das ich es sein werde, der dir Respekt bei bringt. Ich hoffe Lektion 1 hat gesessen?!”
Der Dicke kam rüber und sah lüstern zu Syras Brüsten.
“Du mußt zugeben, Calden, das sie einige Vorzüge aufweist. Im Gegensatz zu den anderen besitzt die hier Temperament.”
Gerade schnellte seine Hand nach vorn um ihre weiblichen Rundungen zu erkunden, als Syra pfeilschnell das Knie anhob und ihrem Gegenüber zwischen die Beine rammte.
Nach Luft ringend und beide Hände an sein Gemächt haltend, sank er zuerst auf die Knie, bevor er zur Seite weg kippte.
Calden verkniff sich ein erneutes Lachen, traute sich aber dennoch nicht, Syra nahe zu kommen.
“Na Hector? Hast du ihr Temperament jetzt zu spüren bekommen? Wag es nicht noch einmal sie zu berühren. Sie gehört mir” stellte er klar.
“Ich gehöre niemandem. Und solltest du auch nur einen Schritt näher treten, widerfährt dir das gleiche Schicksal wie dem dort” mit dem Kopf wies sie in Hectors Richtung, der bereits wieder knien konnte. Sich aber immer noch an seinem Glied festhielt.
“Das werden wir sehen. Du darfst dich glücklich schätzen, denn ich habe gerade entschieden, das du es sein wirst, die mir einen Erben schenken wird.”
“Das Einzige, das ihr von mir bekommt, ist ein Tritt in den Arsch.” Syra hatte noch nie solche Worte benutzt, aber schließlich befand sie sich auch noch nie in solch einer Lage.
Wieder lachte der junge Krieger und seine blonden Haare fielen ihm ins Gesicht, als er sich gespielt krümmte.
Sollte er es doch versuchen. Nie würde sie sich von einem wie ihm besteigen lassen. Er würde seine Männlichkeit verlieren, noch bevor er Hand an sie legen konnte.
“Wie heißt du?” fragte er. Es klang nicht auffordernd, sondern viel mehr wie ein Befehl.
Syra schwieg. Es genügte wenn sie den seinen kannte.
“Sag mir deinen Namen. Oder soll ich dich wieder zum Reden bringen?”
Der Griff um ihre Arme wurde fester, so als müßten sie gleich den nächsten Schlag abfangen.
“Wenn du ihn mir nicht verrätst, werde ich mir wohl einen für dich ausdenken müssen” drohte er.
“Tu was du nicht lassen kannst. Alles ist besser, als meinen Namen aus deinem Mund zu hören.”
Verärgert über Syra´s Ungehorsam presste Calden den Kiefer fest aufeinander. Die Augen verengten sich zu Schlitzen und doch würde sie sein Blick töten, hätte er es vermocht.
Sein ausholender Arm verriet ihr die nächste Ohrfeige, doch auch die würde Syra ertragen. Nie durfte sie Schwäche zeigen. Insgeheim stellte sie sich bereits auf den Schmerz ein, den seine flache Hand auf ihrer Wange hinterlassen würde…doch der blieb aus. Stattdessen surrte etwas dicht an ihrem linken Ohr vorbei und veranlasste sie, die vorher geschlossenen Augen wieder zu öffnen.
“Syraaaaaaa” tönte es aus Richtung des Palastes und ließ die beiden vor ihr herumfahren.
“Dort oben. Einer von Erion´s Männern.” der Fettsack hatte sich erholt und zeigte jetzt auf eine helle Gestalt am Himmel, die Syra erleichtert aufatmen ließ.
“Charis” flüsterte sie fast tonlos, erfreut darüber, dass ihr Jemand zu Hilfe eilte.
Wieder spannte der junge Krieger seinen Bogen.
Die Schwingen in voller Größe ausgebreitet, hielten ihn ganz ruhig in seiner Position und ermöglichten ihm einen genauen Schuß auf Calden, der noch immer vor Syra stand. Dieser durchschaute jedoch seinen Plan und sprang gerade noch rechtzeitig beiseite, sodass der Pfeil den Mann zu ihrer rechten traf, der daraufhin stöhnend zu Boden sank.
Syra nutzte diesen Moment um auch dem zweiten Krieger zu entkommen. Ein kräftiger Tritt auf seinen Fuß ließ ihn den Griff lockern und gab Syra genug Freiraum um ihm den Ellbogen in die Magengrube zu treiben. Röchelnd beugte er sich nach vorn um seinen Mageninhalt zu entleeren und kassierte promt Syra´s Knie im Gesicht.
Schnell wandte sie sich um und suchte nach ihrem Dolch. Calden und der Dicke waren bereits empor gestiegen und setzten Charis stark zu. Caldens schwarze Flügel waren um einiges größer als Charis´ weiße und verliehen dem Feind somit auch mehr Kraft und Ausdauer.
Syra blieb keine Zeit, sonst würde Charis bei dem Versuch ihr Leben zu retten, seines verlieren. Schnell stieg sie hinauf zu den Kämpfenden und gab ihrem Freund Rückendeckung. Auch ohne Waffe würde sie es Damodar´s Kriegern nicht einfach machen sie zu bekommen.
“Syra, mach das du wegkommst.” bellte Charis, während er Caldens Schwerthiebe abwehrte.
“Niemals” protestierte sie und zog die Klinge aus Charis´ Gürtel.
“Ah, der Wildfang will mitspielen. Soll mir Recht sein. Dann kommt jetzt Lektion 2.” Calden setzte ein widerliches Grinsen auf und gab Hector den Befehl zum Angriff.
“Syra, nach unten” Charis nahm ihre Hand und steuerte auf den Boden zu, doch Calden hielt sie an der Schwinge zurück.
Ein Schrei entwich ihr, bei den Schmerzen, die der Ruck auf ihrem Rücken hinterließ. Sofort löste sie sich von Charis´ Hand und schnellte mit der Klinge herum. Von ihrer Schnelligkeit überrascht, blieb Calden keine Zeit zum ausweichen und so platzierte Syra den Dolch genau über seiner linken Brust. Erschrocken sah er zu ihr auf und löste den Griff, der sie bei ihm hielt. Seine Augen bannten ihren Blick und sein ewiges Grinsen verschwand. Hector stützte seinen Kameraden, als dieser sein Schwert fallen ließ und einige Meter absackte.
“Du Miststück” fauchte der Fettsack und wollte gerade auf sie zu stürzen, als Calden ihn am Fuß packte.
“Lass, die holen wir uns später.” keuchte er und zog sich das Messer aus der Brust. Der Dicke gehorchte und brach den Angriff ab.
Schnell zog Charis Syra fort und steuerte den Palast an, in dem weitere Kämpfe wüteten.
“Syraaaaaaaa. Du bist mein.”
Das Geschrei der Kämpfenden und Sterbenden erfüllte die Luft und doch verstand sie genau Calden´s Worte. Trotz aller Vernunft wandte sie sich noch einmal um und begegnete seinem Blick. Er strahlte solch eine Entschlossenheit aus, das er ihr Angst einjagte. Diese selbstgefällige Lachen schmückte nun wieder sein Gesicht und schien sie verspotten zu wollen.
Nein.
Sie würde nie die Seine werden. Weder die Seine, noch die Frau eines Anderen. Zu viel Stolz floss durch ihre Adern, als dass sie sich einem Mann unterwarf. Lieber ging sie selbst in den Tod, als das Leben einer Hure zu führen, die jeder besteigen konnte, wie es ihm behagte.
“Mann, Syra.” schimpfte Charis und zog sie noch ein paar Flügelschläge höher um außer Reichweite der feindlichen Bogenschützen zu sein.
“Von allen Kriegern mußt du dich ausgerechnet mit Calden anlegen”
“Was unterscheidet ihn schon von den Anderen? Haben sie nicht das gleiche Ziel das sie verfolgen?”
“Calden führt sein eigenes Leben und verfolgt ausschließlich seine Interessen.”
“Er wagt es, sich seinem König zu widersetzen?” ungläubig schielte Syra zu Charis hoch.
“Das darf man wohl nur wenn einem königliches Blut durch die Adern fließt und man sich Prinz nennen darf” erklärte er unbeeindruckt.
“Er ist Damodar´s Sohn?” folgerte Syra richtig. Ihr stockte der Atem als sie sein leichtes Nicken vernahm.
Das war so abwegig. Nichts verband die beiden. Weder wiesen sie Ähnlichkeiten auf, noch glichen sie sich in ihren Charakterzügen. Zwar genoss sie Caldens Anwesenheit nur kurz, doch erschien er ihr nicht annähernd so grausam wie sein Vater. Sicher, beide waren sie Bewohner des nördlichen Reiches und Calden war kein netter Zeitgenosse, doch an die Skrupellosigkeit Damodar´s kam er nicht an.
Damodar war ein Himmelsbewohner, der durch seine Untaten, die Seele an den Teufel verlor. Und genau das machte ihn so gefährlich. Was hatte man zu verlieren, wenn man bereits keine Seele mehr besaß? Weder schlug ein Herz in seiner Brust, noch plagte ihn sein Gewissen. Und so wurde er zu einem Herrscher der Dunkelheit, der all seine Mannen zur Unterwürfigkeit zwang. Jeder, der anderer Meinung war, oder es wagte sich ihm zu widersetzen, fand den Tod.
“Ja, sein Sohn. Kommt wohl eher nach der Mutter. Sein Glück würd ich sagen”
Sofort spukten seine blonden Haare und die eisblauen Augen Calden´s in Syra´s Kopf herum. Eindeutig Gene seiner Mutter.
“Was ist mit ihr passiert?”
“Sie war eine Sterbliche. Und obwohl Damodar sie liebte, ließ er sie auf der Erde zurück.”
“Vielleicht tat er das gerade WEIL er sie geliebt hatte?” vermutete Syra, obwohl sie großen Zweifel daran hegte, das Damodar überhaupt etwas wie Liebe empfinden konnte.
“Und Calden? Was geschah mit ihm?” trotz seines Auftretens ihr gegenüber empfand sie plötzlich Mitleid.
“Calden ist zum größten Teil ein Himmelsbewohner. Damodar holte ihn nach dem Tod seiner Mutter zu sich. Doch weitere Auskünfte kann ich dir leider nicht geben. Und ehrlich gesagt weigere ich mich auch, tiefer in die Familiengeschichte des Feindes zu tauchen.” entschuldigte sich Charis.
Inzwischen hatten sie den westlichen Turm des Palastes erreicht und Charis setzte zur Landung an. Jeder Muskel spannte sich in seinem Körper an und er bremste die Geschwindigkeit gekonnt mit den Schwingen ab. Gerade zu lautlos berührte er mit den Zehen den Boden und fing Syra auf, die ihm dicht folgte.
Noch immer drehten sich ihre Gedanken um den blonden Mann.
“Wie kam Calden hierher? Mußte er…?”
“Sterben..?” vollendete er ihren Satz und sie nickte zur Bestätigung.
“Nein. Damodar entsprang der Blutlinie reiner Himmelswesen. Anders wie bei den Sterblichen, die nach dem Tod mehr oder weniger den Weg zu uns finden, entstammte Damodar einer Familie, die zu den ersten Himmelsherrschern zählte. Dem Urvolk sozusagen. Dem Ursprung allem hier.”
“So wie König Erion?” fragte sie, obwohl die Antwort auf der Hand lag. Wenn nur Damodar von reinem Blute war, gäbe es nicht vier Königreiche.
“Ja, Erion. Genauso wie Halvor aus dem Osten, dem Herrscher über Barak und Lyras aus dem Westen, der Deodan regiert.” Bestätigte er ihre Annahme.
“Und Calden?”
“Das Urvolk vererbte stets die Reinheit der Blutlinie weiter. Das heißt, obwohl seine Mutter eine Sterbliche war, erhielt Calden das königliche Blut seines Vaters und wurde somit zu einem reinen Himmelswesen,
dem an seinem achtzehnten Lebensjahr Schwingen wuchsen.”
“Das erklärt aber nicht, wie er ohne weiteres hier her kommen konnte.” ließ sie nicht locker.
“Er kann nicht nur problemlos hierher kommen, ihm ist es auch möglich jederzeit auf die Erde hinabzugleiten, ohne den Verlust seiner Schwingen.” erklärte Charis.
“Man verliert seine Schwingen beim Fall?” jetzt war Syra schockiert. Doch auch Lyriell war eine Königstochter und von reinem Blute. Das hieße, auch sie könnte zurückkehren, wenn die Zeit reif wäre. Oder nicht?
“Wußtest du das nicht? Deswegen ist es uns nicht gestattet, das Tor zu durchschreiten. Nenn es eine Art Schutzmechanismus. Die Menschen würden uns mit Schwingen sofort als Engel erkennen und würden Jagd auf uns machen. Doch ohne, bleiben wir unbemerkt. Leider ist es uns jedoch nicht möglich danach wieder empor zu steigen”
Syra, als einfache Zofe hätte auf der Erde keine Schwingen. Doch Lyriell würde sie haben. Unbehagen machte sich breit, bei dem Gedanken, das sich ihr Schützling versteckt halten müsse. Sich verstecken und fliehen, wenn ihr jemand zu nahe kam. Genau genommen ging es ihr da unten nicht anders als hier in Elythrea.
Was hatte sie getan? Wie konnte sie glauben, dass dies die beste Wahl für Lyriell sei? Sie hatte sie von einem Unglück ins nächste geschickt.
“Lyriell ist übrigens auch Abkomme des Urvolks. Für sie gilt das gleiche wie für Calden. Sie sind sich absolut ebenbürtig in ihrer Abstammung.”
Na toll. Jetzt betonte Charis das auch noch so genau. Ja, das war ihr gerade eben bewusst geworden. Aber danke, für die Wiederholung.
“Wie geht es Lyriell? Und wo hält sie sich auf? Ich hoffe, du hast sie in Sicherheit gebracht.” lenkte er nun das Gespräch in eine andere Richtung.
In Sicherheit? Wo sollte das sein? Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern.
“ Versteh, das ich dir ihren Auffenthaltsort nicht nennen kann. Zu groß ist die Gefahr, dass es unseren Feinden bekannt wird. Es birgt schon ein hohes Risiko, dass ich ihn kenne”
Charis nickte stumm. Das letzte was er wollte war seine Lyriell in Gefahr zu bringen, nur um seine Neugier zu stillen.
Syra konnte ihm ansehen, das er sich um die Prinzessin sorgte und das es ihm nicht behagte, nicht in ihrer Nähe sein zu können. Ihr war nicht verborgen geblieben, das Charis mehr als nur freundschaftliche Gefühle zu Lyriell entwickelt hatte.
Doch wie sollte sie die Frage nach Lyriells Befinden erklären, wenn sie darauf selbst die Antwort nicht kannte? Inständig hoffte sie jedoch, dass es der Prinzessin gut ging, wo immer sie auch sein möge.
“Syra” Charis holte sie aus ihren Gedanken zurück in die Realität.
“Versprich mir, dass du auf dich aufpasst” bat er.
“Klar. Du kennst mich doch. Mir kommt keiner zu nah.”
“Das hab ich gesehen. Bleib Calden fern. Unterschätz ihn nicht.”
“Du irrst. Ich bin mir sicher, er unterschätzt mein Können” ein Lächeln stahl sich auf Syra´s Lippen bei dem Gedanken an die Wunde, die sie ihm zugefügt hatte.
“Ja und das wird ihm nicht ein zweites mal passieren. Syra, ich mein es ernst. Er ist gefährlich”
Sie nickte nur.
“Für ihn hat eine Frau kein hohes Ansehen. Er benutzt sie und wirft sie danach weg wie faules Obst. Du würdest für ihn nicht mehr sein, als ein Hund, dem er Manieren beibringt, wenn du nicht schwanzwedelnd ankommst, wenn er nach dir verlangt. In diesem Punkt gleicht er seinem Vater auf´s Haar. Du scheinst sein Interesse geweckt zu haben und er wird nicht aufgeben, bis er hat was er will.” erklärte er weiter.
Das war Syra klar. Sie hegte keinen Zweifel an Caldens Absichten ihr gegenüber.
“Du solltest dir ein gutes Versteck suchen, denn er wird dich finden.” Charis drehte sich um und lief die Stufen des Turmes hinab.
Noch immer in Gedanken verweilte Syra einen Augenblick.
Er würde sie finden.
Toll. Und ihren Namen kannte er nun auch.
Warum dann verstecken?
Sie würde sich nicht verstecken. Sie hatte ihn bereits einmal verletzt und es würde ihr ein weiteres mal gelingen. Wenn es sein müßte, würde er durch ihre Hand den Tod finden. Auch wenn das hieße, den Zorn Damodar´s noch weiter zu schüren.
Wie viel schlimmer konnte es denn noch werden?
Die Angst- und Todesschreie der Elythreaner waren sicher bis ins angrenzende Königreich zu vernehmen. Hier starben tapfere Krieger und mutige Männer um ihre Frauen und Kinder zu schützen.
Jungen, fast noch Kinder, hielten Dolche und Bögen um sich gegen die Feinde zu wappnen. Schwerter, so groß, dass ihre Kraft kaum ausreichte sie zu heben. Und doch ließen sie keine Angst erkennen.
Warum also sollte sie sich verstecken?
Welches Beispiel würde sie geben?
Sollten Kinder sterben , damit sie überlebte?
Niemals.
Syra hielt sich für nichts besseres. Warum auch?
Sie entstammte dem bürgerlichen Volke. In ihren Adern floß das Blut eines Schmiedes und das einer Köchin.
Ihre beiden Brüder waren bereits vor einem Jahr im Kampf gefallen und nun würde sie an ihrer statt auf dem Schlachtfeld stehen.
Entschlossen warf sie ihre Locken zurück über die Schulter. Charis´ Bogen in der Hand wandte sie sich noch einmal in die Richtung, in der Calden verschwand.
“Er wird dich finden.” hallten Charis´ Worte in ihrem Kopf.
Wieder und wieder und wieder.

Der Tag neigte sich dem Ende zu und noch immer tobten Kämpfe vor dem Palast. Das königliche Heer hatte erfolgreich einen Teil des Palastes verteidigt, sodass Syra mit ein paar Überlebenden im Westflügel festsaß.
Aufopfernd kümmerte sie sich um die Wunden der Verletzten und half hin und wieder, Damodar´s Krieger daran zu hindern, ihr auch noch das letzte Stück zu Hause zu nehmen.
Erst zu vorgerückter Stunde ebbten die Schreie ab und es wurde ruhiger draußen. Erschöpft sanken die Beteiligten nieder um zu pausieren, jedoch immer darauf bedacht, im Ernstfall sofort Position zu beziehen.
Der Raum war klein. Zu klein für die Anzahl Personen die sich darin befanden und Syra lief unruhig am Fenster hin und her. Sicher sollte sie auch ein wenig schlafen und Kraft für den morgigen Tag schöpfen.
Doch war es nicht ihre Art hier tatenlos zu warten, während da draußen die Hölle tobte. Lodernde Feuerkegel erhellten die unterliegende Stadt und ließen die Ausmaße der Kämpfe erkennen. Von den einst so prunkvollen Bauten ist wenig geblieben und schwarze Ruinen zogen sich an den ehemals so belebten Straßen entlang.
Sie mußte hier raus.
Sofort.
Keine Minute länger würde sie hier verweilen.
Wunden mußten versorgt werden und Tote bestattet. Schnell öffnete sie eines der hinteren Fenster und trat hinaus auf den durch die Jahre gealterten Sims. Er war bereits arg verkommen, doch ihr Gewicht würde er tragen.
Ihr blieb nicht viel Raum und ein Flug in dieser Haltung dürfte schwierig werden. Aber es käme auf einen Versuch an.
“Syra, was hast du vor?”
Es war Domenico, der an ihrer Seite stand und sie am Knöchel zurückzuhalten versuchte. Auch er war Mitglied der Leibgarde König Erions und hatte durch sein tägliches Training eine imposante Statur erlangt. Sie mochte ihn und es tat ihr stets Leid, seine Annäherungen zurückzuweisen.
Ihr war es nicht vergönnt zu lieben. Stets wurde ihr eingebläut, ihren Auftrag gewissenhaft zu erfüllen und Lyriell zu schützen.
Da blieb für so etwas wie Liebe kein Platz. Sie hätte Syra ohnehin nur von ihrer Aufgabe abgelenkt und sie durfte sich keine Fehler erlauben.
Er war ihr Freund. Jemand, der da war, wenn man ihn brauchte. Nicht mehr und nicht weniger.
“Ich will sehen ob ich helfen kann. Es gibt so viel zu tun und ich kann hier nicht einfach nur rumsitzen.” erklärte sie ihm.
“Bist du des Wahnsinns? Es ist gefährlich da draußen. Gerade du als Frau solltest das wissen. Willst du in dein Verderben rennen?” noch immer umfasste er ihren Fuß und verstärkte seinen Griff noch, als er ihr entschlossenes Gesicht sah und ihm klar wurde, dass sie nicht heruntersteigen würde.
Noch mehr der Anwesenden versammelten sich um die Beiden. Verfolgten den Wortwechsel jedoch ohne sich einzumischen.
“Dom. Versteh mich doch. Ich muß da raus. Ich pass schon auf mich auf.”
Gequält sah er zu Syra auf. Unschlüssig ,was er tun sollte.
“Lass mich gehen. Ich komm zurück” bat sie erneut.
“Gnade dir Gott, wenn nicht”
Widerwillig gab er sie frei und verfluchte sich gleichzeitig dafür, dass er auf sie gehört hatte. Gewiss war sie stark und besaß einiges an Kampferfahrung, aber da draußen gab es Wesen, die ihr weit überlegen waren.
Syra nutzte die erlangte Freiheit und stieß sich vom Fenster ab. So nah am Turm konnte sie ihre Schwingen nicht benutzen. Zu groß war die Gefahr, dass sie sich dabei verletzte. Noch im Fall breitete sie die Flügel aus und ließ sich vom Wind wieder empor tragen. Dicht über den Rauchschwaden, im Schatten der Ruinen bewegte sie sich nahezu unsichtbar.
Die feindlichen Truppen hatten sich zurückgezogen und die Stadt lag ruhig und friedlich unter ihr.
Die Ruhe vor dem Sturm.
Denn Damodar würde nicht aufgeben. Die Frauen waren noch hier und auch Lyriell befand sich nicht in seinem Besitz.
Was er wohl tun wird, wenn ihm bewusst wurde, dass sich Lyriell nicht mehr in Elythrea befand?
Nie durfte er ihren Auffenthaltsort erfahren. Hätte er sie erst in seinen Händen, stände der ganze Himmel unter seiner Herrschaft.
Was das hieße, brauchte sie sich nicht groß ausmalen. Welch unterschied bestand dann noch zwischen Himmel und Hölle?
Sobald die Sonne aufging würden Barak´s Krieger erneut angreifen. Bereits jetzt waren hohe Verluste zu verbuchen und weitere würden folgen.
Morgen würde sie persönlich vor der weißen Halle stehen und dafür Sorge tragen, dass keiner an ihr vorbei kam.
Doch im Moment zog es Syra ganz woanders hin.
Schnell war die Distanz zum See überwunden und sie setzte auf dem umliegenden Weideland zur Landung an.
Hier war es.
Hier war sie IHM begegnet.
Oder sollte sie sagen, von ihm gefangen genommen worden?
In jeglicher Hinsicht.
Denn sie bekam ihn einfach nicht mehr aus dem Kopf.
Ihm einen Erben schenken? Was dachte er sich denn?
Zählte der Wille einer Frau denn gar nichts mehr?
Für ihn und seine Mannen wohl nicht. Denn er versprach den ihren zu brechen.
Sollte er es versuchen. Syra wusste sich zu wehren und duldete niemanden zwischen ihren Beinen, der sie nicht respektierte.
Sie hatte sich schon oft Männern hingegeben, ohne dabei Liebe zu empfinden. Eigens um ihre Bedürfnisse zu stillen und die ihres Bettgefährten. Doch stets waren ihre Liebschaften einfühlsam und achteten sie als Frau.
Lieber stieß sie sich die Klinge selbst ins Herz, als in seinem Bett zu liegen.
Noch einmal schritt sie den Ort ihrer Pein ab, erinnerte sich an jedes Wort von ihm. Er würde ihr Gehorsam beibringen. Anstand und Respekt. Werte, die selbst Calden nicht besaß. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er dies anzustellen gedachte. Hatte sie doch bereits hier eine Kostprobe seiner Gewaltbereitschaft und Erniedrigung erfahren.
Syra hielt inne, als sie mit dem Fuß gegen etwas Hartes stieß. Vom Mondlicht angestrahlt ruhte Caldens Schwert im hohen Gras. Ohne zu zögern hob Syra es auf und hielt es analysierend in den Händen.
Die Klinge war scharf, robust und würde vermutlich selbst nach längerem Gebrauch nichts von seiner tödlichen Wirkung einbüßen.
Es war schwer, doch reichte ihre Kraft es zu heben und auch einige Bewegungen zu vollführen. Den Griff bildete eine silberne Schlange, die sich kunstvoll um das Eisen wand und Griff und Klinge miteinander verband.
Ein blauer Saphir bildete das Auge und verlieh dem Schwert ein edles Aussehen. Blau, genau sie seine Augen. Nur um einige Nuancen dunkler.
Goldene Verzierungen umwirkten das Reptil am Griff und steigerte den Wert erheblich. Eine wahrlich königliche Waffe.
Er hatte sie geschlagen. Sie gedemütigt.
Ihr Stolz hatte sie daran gehindert in Tränen auszubrechen.
Vor ihm durfte sie keine Schwäche zeigen.
Nein. Diese Genugtuung gab sie ihm nicht. Er würde sie niemals besitzen. Stets war sie bis an die Zähne bewaffnet. Sogar in ihrem Gemach verweilte ein Jagdmesser unter ihrem Kissen.
Und nun besaß sie eine Klinge mehr.
SEINE Klinge.
Er wollte sie? Dann sollte er kommen.
Syra streckte den Arm, an dem Caldens Schwert als Warnung empor ragte.
“Komm, und hol mich” schrie sie so laut es ihre Lungen erlaubten.
“Komm, und hol mich” wiederholte sie mit dem Wissen, das er den Tod durch sein eigenes Schwert finden würde.
Durch ihre Hand. Der Frau, die sich niemandem beugte.




Kapitel 4

“Barfuß lief sie durch saftiges Grün. Die Grashalme kitzelten zwischen den Zehen und zauberten ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Das Plätschern von Wasser verriet einen Bach, ganz in der Nähe. Schmetterlinge durchkreuzten ihre Bahn und strahlten im Sonnenlicht in den schönsten Farben. Es war warm und kaum ein Lüftchen wehte.
Schnell erreichte sie das Wasser und lief eiligst hinein. Angenehm kühl umspülte es ihre Fesseln und spendete etwas Erfrischung.
Kleine Fische tummelten sich darin und ließen sich von der leichten Strömung mitreißen. Nur ab und zu berührte sie einer am Fuß.
Mit geschlossenen Augen lauschte sie dem lieblichen Gesang der Vögel, die emsig damit beschäftigt waren, in den umliegenden Bäumen ihre Nester fertig zu stellen.
Langsam tänzelnd bewegte sie sich im seichten Wasser und hielt die Arme, als würde eine unsichtbare Hand sie führen. Ganz versunken gab sie sich den Melodien hin und hörte erst auf, als diese allmählich nachließen und schließlich ganz verstummten.
Enttäuscht schlug sie die Augen auf und erschrak.
Rotes Wasser umtoste ihre Knöchel. Der einst plätschernde Bach schwoll zu einem reißenden Fluß an, gefällt mit Blut, das wie warmer Regen vom Himmel herab goss.
Mit Mühe klammerte sie sich an einen umgestürzten Baum, um nicht Opfer der Fluten zu werden. Blinzelnd wandte sie den Blick nach oben und hielt vor Entsetzen den Atem an. Schwarze Wolken verdunkelten die Sonne und ließen den Tag zur Nacht werden. Unerbittert kämpften ihr unbekannte Wesen bis auf den Tod, genau über ihr.
Sie schrie, als könnte dies die Situation ändern, doch niemand nahm Notiz von ihr. Wie Messer schnitt die Eiseskälte des blutigen Wassers in ihre Glieder, als wolle es sie mit aller Gewalt vom Leben trennen.
Ein Mann nach dem anderen traf auf dem nun schlammigen Grund auf und blieb dort reglos liegen.
Pfeile surrten durch die Luft und das Klingen der aufeinander geschlagenen Schwerter war schier ohrenbetäubend. Gerne hätte sie sich die die Hände auf die Ohren gepresst um jeglichen Laut zu ersticken, doch hieße das gleichzeitig den einzigen Rettungsanker zu verlieren. Diesen kläglichen Baumstamm, an dem sie sich mit aller Kraft festkrallte.
Ihr Kleid hatte längst die Farbe des Wassers angenommen und zog sie erbarmungslos nach unten.
Kampfgeschrei zerriss die Luft und ließ sie wieder hinauf blicken. Rüstungen wurden durchbohrt und Pfeile trafen ihre Ziele tödlich. Schwingen, die einst so majestätisch und erhaben sich erstreckten, wurden abgeschlagen und ließen ihre Träger zu Boden fallen, auf dem der Kampf unerbittert seine Fortsetzung fand.
Weiße, wie rabenschwarze Federn bildeten einen Teppich, der sich flugs mit dem blutdurchtränkten Boden verband.
So grausam war dieses Abschlachten, doch vermochte sie es nicht, ihre Augen davor zu verschließen. Ständig schrie sie, dass es aufhören solle, doch war sie nur stiller Betrachter. Keiner schenkte ihr oder ihrem Überlebenskampf Beachtung.
Keiner, bis auf einen.
Ein hochgewachsener Krieger trat durch die Kämpfenden hindurch, als befände er sich auf einem Spaziergang und nicht auf dem Schlachtfeld.
Niemand berührte ihn oder tat ihm ein Leid an. So, als wäre er für alle unsichtbar. Unablässig fesselte er sie mit seinem Blick.
Die grünen Augen brannten sich förmlich fest in ihrem Gesicht, hypnotisierten sie. Ihre Augen waren ebenfalls grün, doch wirkten die des Mannes um ein tausendfaches bedrohlicher.
Weder verlangsamte er seinem Schritt, noch beschleunigte er ihn. Seine Statur war muskulös und glich der eines Bären. Sie hegte keinen Zweifel daran, dass auch er genauso stark war. Die langen schwarzen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden, der ihm über der rechten Schulter lag.
Das Gesicht war frei von Falten und strahlte eine gewisse Arroganz aus. Einzig eine große Narbe wand sich von der rechten Augenbraue hinab, bis sie am Bund seiner Rüstung verschwand.
Sein anzügliches Grinsen verzerrte das Gesicht zu einer Fratze und verhieß nichts Gutes. Ebenso seine schwarzen Schwingen, die durch das Blut der bereits von ihm Getöteten stark verklebt waren. Ihn umgab eine Aura, die sie erzittern ließ und sie wusste sofort, dass er nicht kam um sie zu retten. Fast fühlte man die Erschütterungen, die seine Schritte verursachten. Ihre Finger waren taub, so wie jedes andere Körperteil auch. Verharren, bedeutete den sicheren Tod, ebenso das Loslassen.
Wieder schrie sie um Hilfe, und wieder blieb sie ungehört. Das Grinsen dieses Mannes wurde breiter und er schien sich an ihrer Angst zu weiden. Nur noch wenige Schritte und er hatte sie erreicht. Ihr Herz schlug ihr bis zur Kehle und sie konnte es selbst in ihrem Kopf pulsieren hören. Atem entwich ihr stoßweise, aus Angst und der Kälte wegen. Der Fremde kniete nun auf dem Stamm, ganz dicht bei ihr. Der Gestank von Fäulnis und Verwesung umgab ihn und ließ Übelkeit in ihr aufkommen. Seine langen Klauen bohrten sich in das Holz um besseren Halt zu finden, als er sich zu ihr hinunter beugte.
Ganz dicht an ihrem Ohr erstarrte er in seiner Bewegung und inhalierte auch den ihrigen Duft. Überdeutlich spürte sie seinen kalten Atem an ihrem nassen Haar. Kalt wie der Tod persönlich.
“Du bist mein, Prinzessin. Auf ewig” leise, doch genugtuend lachte er, nachdem er ihr diese Worte zugeflüstert hatte.
Ihre Augen weiteten sich.
Nein.
Schonungslos trafen sie die Bilder, die ihr veranschaulichten, wie die Zukunft bei ihm aussehen würde.
Sie war niemandes Sklave.
Dann schon lieber tot.
Noch bevor er ihre Gelenke packen konnte, löste sie den schwachen Griff und wurde hinweggespült.
Sein wutverzerrtes Gesicht folgte ihr jedoch, genauso wie seine grollende Stimme in ihrem Kopf.
“Du bist mein”




Panisch schreckte das junge Mädchen auf, ließ sich jedoch gleich wieder in die Kissen fallen. Der Kopf drohte zu zerplatzen und jeder Knochen schmerzte schier unerträglich. Schweißnass klebte das Gewand an ihrer Haut und noch immer hob und senkte sich ihre Brust vor Todesangst, den der eben verlebte Traum in ihr hervorgerufen hatte.
Noch immer verspürte sie den metallischen Geschmack des vor Blut stehenden Gewässers. Alles war so real gewesen und doch wusste sie, dass sie geträumt hatte. Erst als sich Puls und Herzschlag normalisierten, wagte sie die Augen zu öffnen.
Sie erschrak, als sie gewahr wurde, das ihre Hand soeben aus einer anderen geglitten war, die sie bestimmt festhielt. Schwerfällig hob sie den Kopf an und erspähte einen matten Körper, der schlafend an ihrer rechten Seite auf der Bettkante ruhte. Den grauen Schopf von einer faltigen Hand gestützt. Die andere lag noch immer ausgestreckt auf dem Laken. Dort, wo sie die ihre gerade ergriffen hatte.
Was war geschehen?
Und wer war diese Frau neben ihr?
Wo war sie überhaupt?
Langsam ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. Versuchte jedes Detail ihres Umfeldes in sich einzusaugen.
Die prunkvollen Malereien, die die Decke über ihr zierten, erstreckten sich über den gesamten Raum, der durch sein kostbar und edlem Erscheinungsbild eher einem Palast glich.
Schwere Vorhänge verdunkelten das Zimmer und ließen nicht erahnen ob Tag oder Nacht herrschte. Allein das prasselnde Feuer im Kamin warf spärlich Licht.
Goldene Vertäfelungen zogen sich an den Wänden dahin und wurden nur durch luxuriöse Möbelstücke unterbrochen. Hochflorige Teppiche und Läufer bedeckten den kalten Steinboden, der an manchen Stellen verräterisch hervorlugte.
Das Bett war ein Traum. Weich und so groß, das es wahrscheinlich fünf Personen hätte Platz bieten können und doch jetzt nur für sie reserviert war. An den Ecken ragten Pfosten aus dunklem Holz empor, über denen ein Himmel aus feinstem Stoff gespannt war, der wallend an allen vier Seiten herunter hing. Nur durch ein dickes Kordelband in Form gehalten.
Wie war sie nur hier her gekommen?
Das Letzte, was sie noch wusste war….nichts.
Wieder kroch die Panik in ihr auf. Sie konnte sich an nichts erinnern. Nicht einmal an ihren Namen. Das Einzige, dass in ihrem Kopf rumspukte war dieser furchtbare Traum.
Sie war leer.
Ein leeres Gefäß, das sie dringend zu füllen hatte.
Wo gehörte sie hin?
Wer war sie überhaupt?
Tränen stiegen in ihr auf und kullerten unaufhaltsam ihre Wangen hinunter.
Laut schluchzend bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen, rief sich jedoch gleich die Anwesenheit dieser Frau ins Gedächtnis.
Ob die Dame sie womöglich hier her gebracht hatte?
Ihrer korrekten mausgrauen Kleidung und der Schürze nach zu urteilen, war sie eine Angestellte dieses Hauses. Doch angestellt bei wem?
Kannte man sie hier?
Wenn dem so sei, dann konnten diese Leute ihr auch sagen, wer sie war. Und wohin sie gehörte. Denn hier war ihr alles fremd. Nichts Bekanntes, oder etwas das Erinnerungen hervorrief, kam in ihr Sichtfeld.

Aber wer sagte ihr, ob dieser Jemand gute Absichten verfolgte?
Er konnte sie ebenso gut entführt haben und hier festhalten. Wem konnte sie trauen, wenn sie niemanden kannte?
Sie wusste ja noch nicht einmal wer sie selbst war.
Ängstlich schwang sie die Beine aus dem Bett und verweilte einen Moment in sitzender Position. Ihr Kopf schmerzte und sandte pulsierende Wellen durch ihren ganzen Körper. Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus und ließ sie würgen.
Doch schnell besann sie sich darauf, nicht allein zu sein und holte tief Luft um die Übelkeit zu vertreiben. Wer auch immer ihr Gesellschaft leistete, durfte nicht erwachen. Barfuss schlüpfte sie auf den weichen Teppich und griff sich den Morgenmantel am Fuße des Bettes.
Sie mußte fort. Zwar war sie sich nicht sicher wohin sie gehen sollte, doch hier bleiben konnte sie auch nicht.
Schnell nahm sie Kurs auf die Tür, darauf bedacht so geräuschlos wie möglich zu sein. Inständig hoffte sie, dass die Tür nicht abgesperrt war und der Schlüssel sich womöglich unter den Gewändern der Fremden verbarg. Erleichtert seufzte sie auf, als die Klinke nachgab und die Tür sich einen Spalt öffnete. Schummriges Licht fiel vom Gang in das Gemach und schnell huschte sie hinaus, bevor die Gestalt ihren Fluchtversuch mitbekam.
Kurz wandte sie den Blick nach beiden Seiten, um niemandem in die Arme zu laufen. Als sie sich sicher war, allein zu sein, bewegte sie sich flugs auf die Treppe zu, die am Ende des Ganges ins untere Stockwerk führte. Fackeln leuchteten ihr den Weg über die kalten Steine, die ihre Füße zu Eis gefrieren ließen. Jeder Schritt fiel zusehends schwerer und an der Treppe angelangt, mußte sie pausieren. Als beständen ihre Beine aus Watte, taumelte sie die ersten Stufen hinunter, bevor sie auf dem ersten Absatz vollends nachgaben.
Hatte man ihr bewußtseinsverändernde Substanzen verabreicht? Sie wusste sehr wohl , das es Pflanzen gab, die einen vollkommen willenlos machten. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie keine Erinnerung besaß. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was man sonst noch mit ihr getan hatte. Zu widerwärtig war die Vorstellung dass sie jemand ohne ihr Einverständnis genommen hatte.
Oh Gott, sie mußte hier raus.
Die schlechten Befürchtungen gewannen langsam die Oberhand und verdrängten allen guten Glaubens. Eiligst versuchte sie sich am Geländer hochzuziehen, um auch die letzten Stufen zu bewältigen.
Ihre Rippen schmerzten und erschwerten ihr das Armen zusätzlich.
Mühsam, mit zusammen gebissenen Zähnen, erreichte sie schließlich die Halle, die sich am Treppenabsatz anschloss.
Kaltes, nacktes Gestein erstreckte sich weitläufig und ließ den Weg zur großen Eingangspforte zu einer neuen Herausforderung werden.
Die schmalen Fenster die neben der Tür eingelassen wurden, verrieten, dass es Nacht war. Tiefe, rabenschwarze Nacht.
Die Wände waren kahl und kaum ein Möbelstück machte diesen trostlosen Ort ein wenig freundlicher.
Nichts, das Aufschluß über die Persönlichkeit des Besitzers hätte geben können.
Auch nichts, das sich mit der Ausstattung des Zimmers oben vergleichen ließ.
Entschlossen setzte sie einen Fuß vor den anderen und schlang dabei die Arme um den Brustkorb, um ihrer Flanke beim Gehen ein wenig Halt zu geben.
Gleich.
Nur noch wenige Schritte und sie konnte die frische Nachtluft inhalieren.
Wie Steine bremsten die gefrorenen Füße ihr Vorhaben und sie wusste nur zu gut, dass es draußen noch viel schlimmer werden würde. Doch nahm sie es in Kauf, in Anbetracht dessen, was ihr hier widerfahren könnte.
Unendlich erschien ihr die Zeit, bis sie den verzierten, goldenen Türknauf zu fassen bekam und leise umdrehte. Doch statt hinaus auf weitere Stufen zu blicken, die ihr den Weg in die Freiheit wiesen, stachen ihr große schlammige Stiefel entgegen, die ihr jegliche Flucht versperrten. Der Mann darin überragte sie um einiges und ließ sie geradezu winzig wirken. Sein Gesicht war düster und frei von jeglicher Gefühlsregung. Nein, das stimmte nicht. Es gab sehr wohl eine Regung, die er ausstrahlte .Verachtung.
Missbilligend musterte er sie, von ihren durcheinander geratenen Haaren bis hin zu ihren nackten Zehen. Doch auch sie konnte nicht aufhören ihn anzustarren. Die schwarzen Haare reichten ihm bis zu den Ohren und hingen in nassen Strähnen herab. Den Mund hatte er zu einem schmalen blassen Strich verzogen, dem nicht ein Wort über die Lippen kam.
Bei seinem Anblick wich sie instinktiv ein wenig zurück, abgeschreckt von dieser kühlen, arroganten Aura die ihn umgab und mit dieser Halle zu verschmelzen schien. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass dies wohl der Herr des Hauses sein mußte. Wie sehr sie sich doch getäuscht hatte in der Annahme, diese Halle spiegle nichts der Persönlichkeit wieder, die sie bewohnte. Dabei konnten sie sich beide nicht ähnlicher sein.
Seine Augen waren von einem warmen schokoladenbraun und doch wirkten sie so kalt, wie der blanke Stein auf dem sie stand.
Noch immer bewegte er sich nicht von der Stelle, sodass seine durchnässte Kleidung bereits eine beträchtliche Pfütze zu seinen Füßen entstehen ließ. Hose wie Mantel waren eher schlicht und zweckmäßig, genau wie das Mobiliar zu ihren Seiten.
Nach einem tiefen Räuspern richtete sie wieder ihre Aufmerksamkeit auf sein Antlitz und konnte kaum glauben, das er einfach beiseite trat, um sie hindurch zu lassen.
Ihr anfänglicher Schock legte sich allmählich und machte dem Fluchttrieb platz. Er schien nichts dagegen zu haben, dass sie sein Haus verließ und seine Haltung machte mehr als deutlich, das er sie auch nicht hier haben wollte. Ohne weiteres Zögern schritt sie an ihm vorbei, hinaus in die Nacht. Sie wagte keinen Blick zurück zu werfen und rannte geschwind den schmalen Weg entlang, bis sie die Dunkelheit vollends verschluckte.
Erst als ihre Lungen von der kalten Luft zu brennen begannen, die sie mit jedem Atemzug einsog, verlangsamte sie ihre Schritte. Der anfänglich pulsierende Schmerz in ihren Rippen wuchs zu einem unerträglichen Hämmern an. Der dünne Stoff war längst vom Regen durchweicht und offenbarte ihre darunter liegenden Weiblichkeit ohne Gnade. Der Saum des seidigen Gewandes war zwei Ellen hoch mit kaltem Schlamm bedeckt, der ihr als zusätzliches Gewicht zu schaffen machte. Wohin sie lief war ihr einerlei. Hauptsache fort von diesem Haus und seinem Herren, der in ihr nichts als Angst hervorrief.
Stimmen ertönten hinter ihr und trieben sie erneut an, die Beine in die Hand zu nehmen. Das letzte was sie wollte waren irgendwelche Verfolger , die sie wieder zurück schliffen.
Hufe donnerten auf den kleinen Kieseln, die ihr unablässig in die Fußsohlen stachen. Drohend kündigten sie eine Kutsche an, die genau auf sie Kurs nahm. Wütende Rufe hallten vom Führer des schwarzen Ungetüms wieder um sie von der Straße zu scheuchen, ohne dabei die Geschwindigkeit zu drosseln.
Im letzten Moment hechtete sie beiseite und rollte den bewachsenen Abhang hinab. Dornen zerrissen ihr Gewand und fügten ihr einige unschöne Kratzer zu, bevor ihr Sturz in einem Feldgraben ein Ende fand.

Schallend knallte Lord Compton die Haustür ins Schloss. Buster war bereits die Treppe empor gestürmt und hatte auf den Stufen Fluten von Wasser und Schlamm verteilt. Die blöde Töle war doch tatsächlich noch am Strand und wühlte in den Dünen umher. Er war hart im Nehmen und gesundheitlich in bester Verfassung, also würde er seine Dummheit gut wegstecken.
In den Abendstunden war der Sturm etwas abgeflaut, doch nur um jetzt schlimmer denn je wieder loszubrechen.
Der schwere Mantel fand seinen Platz auf der Bank in der Halle, wo Magda ihn nachher finden würde. Ihn gelüstete es nun nach einer heißen Dusche und seinem warmen Bett. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag, war er bis auf die Knochen durchgefroren und klatschnass. Wenn er sich wegen diesem Mädchen noch eine Grippe einfing, wäre das Unheil perfekt.
Wütend stapfte er die Stufen hoch in seine Gemächer.
Angenehme Wärme strahlte ihm vom Kamin entgegen und ließen die eingefrorenen Finger wieder zum Leben erwachen. Erst war es nur ein Kribbeln, dann kleine Nadelstiche, die seinen Tastsinn malträtierten und schließlich ein ausgewachsenes Pochen, das ankündigte, wieder Gefühl in ihnen zu verspüren.
Die Dusche tat ihr Wunder und das Bett lockte einladend mit seinen weichen Laken und dem Angebot an Platz. Doch auch nach mehreren Stunden wollten ihm die Augen nicht zu fallen. Unruhig wälzte sich Adrien hin und her. So sehr er auch versuchte zur Ruhe zu kommen, der ersehnte Schlaf wollte sich nicht einstellen. Resigniert gab er es auf und wühlte sich aus dem Laken.
Verdammt.
Jetzt stahl ihm diese Plage auch noch den Schlaf.
Der schwere Vorhang ließ winzige Staubpartikel tanzen, als Adrian ihn beiseite schob, um einen Blick in den Garten zu werfen. Noch immer verdunkelten dichte Regenwolken den Himmel und machten die Nacht noch schwärzer. Bei klarer Sicht würde der sichelförmige Mond seinen Zwilling im See finden. Doch alles was er sah, waren die dunklen Umrisse des Gestrüpps, das überall im Garten wucherte.
Noch immer dachte er an ihre grünen, verängstigten Augen, die ihm unabdingbar ins Hirn eingebrannt waren. Leuchtend wie Edelsteine, klar und unendlich tief. Er schallt sich einen Narren, das er solche Gedanken überhaupt hegte. Im Grunde konnte er froh darüber sein, sie fort zu wissen. Somit hatte er ein Maul weniger zu stopfen, dass ihm mehr Last war, als willkommener Gast.
Zudem verärgerte es ihn, das Magda mehr Zeit damit verbrachte, sie zu umsorgen, als ihren Pflichten nachzukommen. Schließlich galt ihre oberste Priorität immer noch ihm. Vielleicht sollte er ihr die Zeit vom Lohn abziehen?!
Der Regen peitschte gegen das Fensterglas und ließ die Sicht verschwimmen. So sehr er sich auch bemühte, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, immer wieder waren es diese Smaragdaugen, an denen er hängen blieb.
Wenn sie auch die Tortur im Meer überlebt hatte, da draußen würde sie den sicheren Tod finden. Das dünne Nachthemd würde nicht annähernd ausreichen um vor der Kälte zu schützen, geschweige denn ihre schuhlosen Füße.
Wie weit würde sie wohl kommen in ihrem Zustand?
Vermutlich wohnte sie hier in der Stadt und war auf dem Weg nach Hause. Doch bis zu den ersten Ansiedlungen war es weit und sicher würde sich auch keine andere Seele auf den Straßen aufhalten, um sie ein Stück mitzunehmen. Jedenfalls nicht einer der rechtschaffenen Bürger.
Und wieder fragte er sich, was es ihn anging?
Sie war sicher alt genug ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können. Und er war nicht darauf erpicht, sie hier weiter zu beherbergen.
Was kümmerte es ihn? Niemandem gegenüber war er je zuvorkommend gewesen. War er doch nicht gerade als hilfsbereit verschrien.
Warum sollte er bei ihr eine Ausnahme machen?
So wie sie ihn angeschaut hatte, konnte sie doch gar nicht schnell genug von ihm wegkommen. Fliehen, ja, das war das richtige Wort. So, wie alle anderen auch vor ihm flohen. Und das war ihm mehr als Recht. Er brauchte niemanden. Schon immer war er auf sich gestellt und die Rückschläge, die er erdulden mußte, haben ihn nur stärker gemacht.
Aber trotz allem plagten ihn Schuldgefühle und ein gewisses Maß an Sorge.
Ja, er machte sich Sorgen. Um dieses dumme, kleine Mädchen, das halbnackt im schwersten Sturm des Jahres in der Dunkelheit umherirrte.
Herr Gott, war er jetzt zum heiligen Samariter auserkoren?
Mußte er nun alle retten, die vor ihm ins Elend stürzten?
Nein.
Nicht alle.
Nur sie.

“Na Püppchen. Janz allein hier draußen?”
Die lallende Stimme brachte einen derben Geruch mit sich, als sie wie von fern zu ihr durchdrang. Zögernd hob sie den Kopf an und blinzelte durch den Tränenschleier, der sich durch stundenlanges weinen gebildet hatte.
Mühsam war sie den Hang wieder hinauf geklettert und hatte sich in einem ausgehöhlten Baum versteckt, um ein wenig Schutz vor Wind und Regen zu finden. Nur kurz wollte sie sich ausruhen und dann weiter gehen. Doch die Tatsache, das sie nirgendwo hin gehen konnte ließ sie verweilen.
Verzweifelte Tränen rannen ihr über die Wangen, aus Angst und Ungewissheit. Sie fühlte sich hilflos, verlassen und so unendlich allein.
Die drei Männer die nun vor ihr standen, machten die Sache auch nicht besser. Es war der Größte, der sie angesprochen hatte und immer noch auf eine Antwort wartete. Ein Kleinerer stand mit einem weiteren etwas abseits. Alle drei waren in guter Stimmung und konnten nicht einmal mehr gerade stehen.
“Oh, ich war gerade auf dem Weg nach Hause” log sie mit belegter Stimme und hoffte, das würde die Fremden weiter ziehen lassen. Selbst sie konnte die Angst spüren, die aus ihr sprach. Doch die Männer waren so angetrunken, das sie um sich herum wohl nichts mehr mitbekamen.
“Isch nehm disch auch gerne mit tsu miar. Du siehst so traurisch aus. Isch kenn da was… das müsste deine Stimmung heben” er blickte zu seinen Begleitern und alle verfielen in grunzendes Gelächter.
“Aber nur, wenn für uns auch noch was übrig bleibt” lenkte der Kleine ein.
Ihr war durchaus bewusst in welche Richtung dieses Gespräch führte und Panik stieg in ihr auf. Sie erhob sich und trat aus dem Baum, der jetzt keinen Schutz mehr bot, sondern sie vielmehr in die Enge trieb.
Oh Gott, wie sollte sie hier nur rauskommen? Kurz war sie sogar am überlegen, ob sie nicht zu diesem düsteren Kauz rennen sollte. Seine breite Statur unter dem Mantel nahm es sicher mit allen Dreien auf.
“Vielen Dank die Herren. Ich sollte mich besser beeilen. Man wartet sicher bereits auf mich” vorsichtig glitt sie an ihrem Gegenüber vorbei um den Lichtern entgegen zu laufen, die zu einer Stadt gehörten. Aber ein stählerner Griff um ihren Arm hielt sie an Ort und Stelle.
“Nisch so schnell Täubschen. Willsu uns nisch Gesellschaft leisten? Wiar ham sicher Spaß mitnander” nun kamen auch die anderen beiden auf sie zu. Die glasigen Blicke, die sie förmlich auszogen gefielen ihr ganz und gar nicht.
“Laß mich los. Ich schrei wenn ihr mir auch nur noch einen Schritt zu nahe kommt”
Wieder lachten alle im Chor und störten sich nicht an ihrer Drohung.
“Da wird dich aba keiner hörn Süße. Versuchs ruhig. Der Wind singt manschma komische Lieder,hicks.”
Gierig zog er sie zu sich ran und drückte seinen feuchten Mund auf ihren. Angeekelt schubste sie ihn weg, was aufgrund seiner Angetrunkenheit nicht schwierig war. Doch sogleich postierten sich seine Gehilfen hinter ihr und versperrten den Weg.
“Ey, was solln dass.? Das war eine meiner beschten Hosn.” beschwerte sich der Gestürzte und rappelte sich wieder auf.
“Bitte, lasst mich doch einfach nach Hause” nach Hause? Wo das auch immer war. Aber das konnte sie denen ja nicht aufs Auge binden.
“Kannsu ja. Aber erst wenn ma fertich sin”
“Duke, Lance” gab er einen Befehl und schon wurde sie an den Armen gepackt und zu Boden gerissen.
“Neiiiinn. Aufhören. Hiiiilffeeeee”
“Pssst Süße. Is au ganz schnell vorbei. Vielleicht.”
Kräftig bäumte sie sich auf und trat um sich so weit es ihr Bewegungsspielraum zu ließ. Trotz seiner Benommenheit packte der Große sie gezielt an der Kehle und knurrte ihr eine gefährliche Drohung entgegen. Auch die Aussprache war mit einem mal verblüffend klar und deutlich.
“Wenn du nicht still hälts du Biest, dann schwör ich bei Gott, wird das Letzte was du siehst, mein Gesicht sein.”
Zur Untermalung seines Vorhabens schlossen sich seine groben Finger noch etwas fester um ihren Hals und ließen sie abrupt verstummen.
“Ah, wir haben uns verstanden?!”
“Mach hin Luke. Sonst kommt wirklich noch jemand” drängelte der zu ihrer Rechten, der mit dem Knie auf ihrem Oberarm saß und sie auf dem Boden hielt. Der zu ihrer linken tat es ihm gleich.
“Dann wolln wir mal”
Schluchzend wand sie sich weiter unter den harten Griffen der Männer und hoffte, inständig, es würde schnell vorüber sein. Sie spürte die fleischigen Hände, die ihren Körper auf und abwanderten, die Finger, die an ihren Knöpfen am Dekolletee nestelten und die gierigen Küsse, die sich auf ihrem Bauch verteilten, nachdem man ihr das Gewand hochgeschoben hatte. Tränen vermischten sich mit den Regentropfen, die ihr aufs Gesicht fielen und mittlerweile lag sie reglos da und ließ alles einfach über sich ergehen. Mit der Gewissheit, das jede Aussicht auf Rettung hoffnungslos war.

Hektisch trieb er seinem Hengst die Sporen in die Flanke um ihn zu höchster Eile anzutreiben. Er hatte sich doch tatsächlich in den Sattel geschwungen um dieses Mädchen zu suchen. Erst graste er die nähere Umgebung ab, da er sie nicht weit fort wähnte. Sogar in seinen Stallungen hatte er gesucht. Denn da hielten sich des öfteren Landstreicher und Ausreißer versteckt. Doch zu seiner Enttäuschung befanden sich darin nur eine Auswahl an Zuchtstuten und seine preisgekrönten Hengste.
Ein Schrei ließ ihn aber nun die Schotterstraße entlang fliegen, mit dem Gebet auf den Lippen, dass es nicht SIE war, die sich in Gefahr befand.
Diese Bitte stellte sich jedoch recht bald als grausige Realität heraus, als direkt vor ihm drei gebeugte Männer auftauchten, deren vollste Aufmerksamkeit einer Person am Boden galt. Das weiße Nachtgewand mit dem roten Saum war ihm nur allzu bekannt. Erst vor wenigen Stunden durfte er sie darin bewundern.
>>Nein. Nicht sie<< hämmerte es in seinem Kopf, als er die letzten endlosen Meter hinter sich brachte. Nun bemerkten ihn auch die Männer und ließen von ihrem Opfer ab. Nur am Rande nahm er ihren halbnackten Körper wahr, der auf dem schlammigen Boden gebettet war. Seine Wut und Aufmerksamkeit galt lediglich den Mistkerlen, die es gewagt haben, eine wehrlose Frau anzugreifen.
Noch im Trab sprang er vom Pferd und stürmte auf den ersten zu. Gezielt landete seine Faust krachend im Gesicht desjenigen, der bis vor kurzem noch Hand an sie gelegt hatte. Taumelnd wich dieser zurück und spuckte röchelnd das Blut aus, das ihm nun in den Rachen rann.
“Du hast mir die Nase gebrochen du du du”
“Ich brech dir noch ganz andere Sachen. Vor allem eins “ wieder setzte er zum Angriff an. Rammte ihm die Linke in die Magengrube und setzte mit der Rechten gleich nach. Stöhnend sackte sein Opfer zu Boden und blieb gekrümmt liegen.
Doch schon war der nächste auf den Beinen, gefasst vom ersten Schock der Überraschung, und sprang Adrian auf den Rücken. Seine Arme schlangen sich von hinten um Adrians Hals und begannen ihn zu würgen. Fast mühelos griff er über seine Schulter und packte den Angreifer am Kragen. Mit voller Kraft flog dieser nun über Adrians Kopf hinweg in den Dreck, wo er nach einem weiteren Tritt zwischen die Beine liegen blieb.
“Passt auf, hinter Euch” warnte ihn das Mädchen, das bereits aus der Kampfzone gekrochen war. Der Letzte von ihnen zückte ein rostiges Messer und wog es von einer Hand zur anderen.
“Na komm schon. Ich mach dich mit meinem Freund hier bekannt.
Ihr würdet euch gut verstehen.”
In Abwehrstellung umtänzelten die Beiden sich, jeder darauf wartend, das der andere angriff. Doch Adrian wurde dieses Spiel zuwider und er schnappte sich ruckartig den Arm seines Gegenübers. Wildes Gerangel ließ in der Dunkelheit kaum erkennen, wer die Oberhand hatte und sie kam nicht umhin, sich Sorgen zu machen um ihren Retter.
Dem Mann, dem sie vor kurzem noch mit so viel Angst begegnet war.
Das schlechte Gewissen schlug zu, weil er sich nun wegen ihr in Gefahr befand.
Wieder wehrte Adrian einen Faustschlag mit seinem Arm ab und teilte einen kräftigen mit seinem anderen aus, doch der Kleine war wendig und duckte sich geschwind unter seinem Arm hindurch. Erst ein stechender Schmerz in der Schulter verriet seine Position.
“Oh Gott nein” schrie sie aufgebracht und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, um nicht weiter zusehen zu müssen.
Doch diese tückische List ließ ihn nur noch mehr in Rage geraten und er wirbelte herum um seinem Gegner ein für alle mal den Rest zu geben. Mit einem Aufschrei, der seine maßlose Wut zum Ausdruck brachte, revangierte Adrian sich bei diesem Abschaum mit einem Tritt mitten ins Gesicht. Das genügte, um dem ohnehin schon angetrunkenen Kerl den Boden unter den Füßen wegzuzerren.
Alle drei lagen keuchend und sich windend im Schlamm der überspülten Straße. Adrian bedachte sie keines Blickes, sie waren seiner Aufmerksamkeit nicht länger würdig.
“Geht es Euch gut? Seid Ihr verletzt?” fragte er das Mädchen zu seinen Füßen. Er mußte die Augen schließen, um seine Wut hinunter zu schlucken, beim Anblick ihrer fast nackten Weiblichkeit. Das Gewand war am Kragen eingerissen bis zum Nabel. Der Stoff hielt nur die heikelsten Stellen bedeckt, doch die prallen Rundungen ihrer Brüste waren deutlich zu sehen.
Sie war über und über mit Schmutz bedeckt, das Haar zeigte nur wenig von seiner schwarzen Farbe und zahllose Kratzer und Wunden zogen sich über ihren Körper.
“Danke” murmelte sie, damit beschäftigt den Stoff über ihrem Busen zusammen zu raffen. Wieder blickten ihn diese wunderschönen Augen an, verängstigt und dankbar zugleich.
Nein.
Er durfte keine Schwäche zeigen.
Auch ihr nicht gegenüber. Denn so würde sein Elend beginnen.
So etwas durfte er nicht fühlen. Liebe war eine Emotion, die er sich rigoros verbot zu fühlen.
“Schon gut. Kommt. Ihr müßt aus diesem Wetter raus.” sagte er kalt und hielt ihr die Hand entgegen. Eine Aufforderung, ihm zu folgen.
Sie ergriff die ihr dargebotene Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. Wie eine Wand ragte er vor ihr empor, ein Fels, dessen Kraft er soeben veranschaulicht hatte.
Sein Mantel war alles andere als sauber, aber er würde ihr helfen sich zu bedecken und ihn davon abhalten noch mehr von diesem dummen Zeug zu denken, dass ihm durch den Kopf spukte seit sie ihm das erste mal begegnete.
“Oh nein. Ihr seid verletzt. Eure Schulter, sie blutet.” bestürzt tastete sie die Wunde ab um das Ausmaß der Katastrophe zu analysieren.
“Das ist nichts. Ein Kratzer.” gab er zurück. Er wollte ihr gegenüber nicht zugeben, das es doch recht schmerzhaft war und er womöglich noch als Schwächling dastand.
Schmerz zeigen bedeutete Schwäche. Noch ein Fremdwort in seinem Wortschatz.
“Steigt auf. Wir sollten los. Ich habe wenig Lust, Euch ein zweites mal vor diesem Abfall zu bewahren.”


Magda, so hieß die gute Seele, die an ihrem Bett gewacht hatte, als sie aus dem Meer gefischt wurde. Die alte Dame berichtete ihr während sie ihr half sich zu säubern, wie sie den Weg in dieses Haus fand. Das es der Lord persönlich war, der ihr das Leben rettete.
Zum zweiten mal.
Das warme Bad tat gut und langsam hielten die Schmerzen Einzug, als der erste Schock wich.
“Armes Mädchen. Da haben sie dich aber kräftig erwischt.” sie hielt einen kalten Lappen an ihre rechte Gesichtshälfte um die geschwollene Wange etwas zu kühlen.
“Ja, es war, als prügelte er alles aus mir heraus. Dabei war es nur ein Schlag”
“Ach Kindchen. Die Kerle wissen ganz genau wo sie eine Frau treffen müssen, damit es weh tut. Nun aber raus mit dir.”
Sie reichte ihr das Tuch und half beim aussteigen aus dem großen Zuber.
Schnell war sie trockengerubbelt und steckte in einem frischen, blütenweißen Gewand. Der Stoff war feinste Seide und ein breites Band aus grünem Satin wand sich um ihre Taille, um auf dem Rücken in einer Schleife auszulaufen. Im Stillen fragte sie sich, wem diese Sachen wohl gehörten. Diese und die anderen, die sie vorhin trug. Außer Magda war sie keinem anderen weiblichen Wesen hier begegnet.
Schwerfällig schlüpfte sie in das große Bett und streckte die Glieder von sich. Ein undamenhaftes Gähnen entfuhr ihr und ließ sie bereits ins Kissen sinken.
“Du solltest dich ausruhen Kindchen. Morgen sieht alles ganz anders aus. Du wirst sehen.” Magda zog ihr die Decke hoch bis zum Kinn und tätschelte noch einmal die unversehrte Wange. Sie mochte die alte Dame sehr und hatte ihr gleich verboten, sie so förmlich anzureden. Ihr schien das nur Recht, neben dem ganzen steifen Getue in diesem Haus, wie sie sagte.
“Morgen erzählst du uns dann ein wenig von dir. Und mach dir keine Sorgen, der Lord ist froh, das dir nichts passiert ist. Auch wenn er das nie sagen oder zeigen würde.”
“Hmmh.” machte sie und kuschelte sich auf die Seite. Etwas von ihr erzählen. Wenn sie nur wüßte was. Das Einzige, was sie besaß war dieses Amulett um ihren Hals, das ihr diese Männer abnehmen wollten und für das sie den Schlag ins Gesicht kassierte um dies zu verhindern.
Wer immer ihn ihr auch gegeben hatte, mußte sie geliebt haben. Sehr kostbar erschien ihr das Schmuckstück mit seinen kleinen Kristallen, in den sich das Kaminfeuer brach. Sachte drehte sie den kleinen Stern zwischen Zeigefinger und Daumen. Ließ die Steine mit dem Feuer spielen und bunte Bilder an die Wand werfen. Zarte, geschwungene Buchstaben zierten die Rückseite und gaben einen Namen preis.
Den Ihren?
Ihr Herz schlug schneller, beglückt darüber, wenigstens etwas zu finden, was ihr half sich zu erinnern.
“Lyriell” flüsterte sie.
War das ihr Name?
“Lyriell” diesmal lauter. Er sagte ihr nichts. Aber war es nicht besser einen fremden Namen zu tragen , als gar keinen?
Ein leises Klopfen bremste ihre Euphorie und ließ sie sich im Bett aufrichten.
“Ja?”
Vielleicht war es Magda, die etwas vergessen hatte, oder ein anderer Angestellter, der nach ihr sehen wollte.
Doch gehörte der schwarze Schopf nicht Magda, der zur Tür hineinlugte, sondern dem Hausherren persönlich.
“Ich hoffe ich störe nicht Eure Nachtruhe. Insofern noch etwas davon übrig ist. Draußen wird es bereits hell.” stockend näherte er sich dem Bett in dem sie lag und ihn unverwandt anschaute. Er rügte sich innerlich für den Blödsinn den er da von sich gab.
“Ich wollte mich nur vergewissern, das es euch an nichts fehlt.”
“Nein danke. Ich fühl mich sehr wohl. Ich danke Euch zutiefst für Eure Hilfe und Gastfreundschaft.”
Ihre liebliche feine Stimme klang wie Musik in seinen Ohren und er stellte sich vor, wie schön sie erst sein möge, wenn sie seinen Namen aussprach.
“Ich möchte nur, das Ihr wieder schnell zu Kräften kommt. Soll ich jemanden über Euren Aufenthaltsort informieren?”
“Nein, schon gut. Ich bin sicher, das mich niemand vermissen wird. Ich gehe sobald ich ausgeschlafen bin”
So sicher war sie sich da nicht, das niemand auf sie wartete, aber welchen Namen sollte sie ihm nennen? Sie hätte selbst gern irgendeinen gehabt.
Ihr Atem ging gleich schneller als ihr einfiel, das sie ja einen hatte. Einen Namen, den einzigen den sie preisgeben konnte. Wem immer er auch gehörte.
“Lyriell”
“Bitte?” fragte er, als habe er sie nicht recht verstanden.
“Mein Name ist Lyriell. Das ist das Einzige, was ich Euch sagen kann.”
“Das Einzige? Wollt Ihr nicht, oder könnt Ihr mir nicht mehr sagen?”
Verblüfft über ihre Worte trat er nun einen Schritt näher.
Wieder eine Frau, die Geheimnisse vor ihm hatte, ihn zum Narren hielt.
“Nein. Ich kann mich an nichts erinnern. An nichts, außer diesem Namen. Es tut mir leid, das ich Euch jetzt zur Last falle. Ich bemüh mich, morgen weiter zu ziehen. Irgendwo wird man mich sicher kennen.”
Gebannt starrte er sie nun an. Sie hatte kein Gedächtnis daran, was geschehen ist und warum? Sie wusste nicht wer sie war oder wohin sie gehörte. Hatte kein Heim und keine Familie.
War das nur ein Spiel? Ein Trick um in sein Haus zu kommen? Die Annehmlichkeiten eines feinen Lebens zu genießen?
“Woher wißt ihr dann wie ihr heißt, wenn ihr doch keine Erinnerung an Eure Herkunft habt?”
Sie hielt ihm die Kette entgegen, die Rückseite auf ihn gerichtet, die ihm die Frage beantwortete.
“Himmel” was das bedeutete war ihm klar. Ein namenloses, fast namenloses, Mädchen in seinem Haus, das er solange unterhalten mußte, bis ihm seine Erinnerung zurückkehrte. Wie lang das dauern konnte, war ihm nur allzu klar.
“Bitte, macht Euch keine Umstände, ich werde für die Unannehmlichkeiten aufkommen. Ich weiß noch nicht wie, aber ich möchte Euch nichts schuldig sein. Am besten, ich verlass sofort Ihr Haus euer Lordschaft. Es tut mir Leid, Euch solchen Ärger gemacht zu haben.” flugs schwang sie die Beine aus dem Bett und schlüpfte in die Pantoffeln, die Magda ihr bereitgestellt hatte.
“Nein. Schon gut. Bleibt. Bleibt solange wie es Eurer Genesung dient. Solltet Ihr dennoch das Bedürfnis verspüren, sich in irgendeiner Weise erkenntlich zu zeigen, bin ich mir sicher, dass sich eine Arbeit finden läßt. Am besten Ihr wendet Euch an Magda.”
Er war eigen, aber nicht herzlos. So sehr er sich auch wünschte ihr nie begegnet zu sein, war er doch nicht im Stande sie gehen zu lassen. Wo sollte sie auch hin. Er hatte keine Lust, ihr hinterher zu reisen und ständig aus der Patsche zu helfen. Bliebe er hier, dann wären seine Gedanken doch nur bei ihr.
Nein.
Sie sollte sich beweisen. Oder besser wollte er sich beweisen, das sie anders war.
Und wenn sie hier bei ihm war, brauchte er sich nicht zu sorgen, das es ihr schlecht ginge.
“Ich danke Euch, Eure Lordschaft. Das Angebot nehme ich dankend an. Ihr werdet es nicht bereuen.”
“Das wird sich zeigen” galant wandte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort ihr Gemach.


Kapitel 5

Es dämmerte bereits als Syra ihren Posten vor der weißen Halle bezog. Noch immer schlug ihr der Streit mit Charis und Domenico auf´s Gemüt, in dem sie Syra für nicht mehr zurechnungsfähig erklärten.
Doch wann war sie je zurechnungsfähig gewesen?
Ihr Herz schlug schon immer für den Kampf und nun war es an der Zeit, das jahrelange Training in Taten umzusetzen. Schon als Kind hatte sie sich vor keiner Prügelei gedrückt und war an zahlreichen Knochenbrüchen schuld, die ihre Gegner davontrugen.
Jedes Mal, wenn sie mit zerrissenen Kleidern und blutiger Lippe nach Hause kam, schlug ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammen und erklärte ihr wieder und wieder, dass dies nicht dem Benehmen einer Dame entspräche.
Von ihrem Vater hingegen erntete Syra stets ein anerkennendes und verschwörerisches Zwinkern. Schon immer war sie sein ganzer Stolz gewesen. Mehr noch als ihre Brüder, die nur der Garde beigetreten waren, um der Arbeit auf dem Hof fern zu bleiben.
So weit sie denken konnte, war sie mehr Kämpfer als jeder andere, der ihr bisher begegnet war. Nicht umsonst fluchte ihre Mutter stets, sie käme sich vor, als habe sie drei Söhne großzuziehen und nicht nur zwei.
So gern Syra auch zurückdachte, war es doch nicht der richtige Augenblick um in Erinnerungen zu schwelgen.
Ein letztes Mal überprüfte sie den Sitz ihres Helmes, der ihre langen rotgelockten Haare versteckte und dessen Visier ihr zartes Gesicht fast vollends verbarg.
Eine dunkle Lederhose kleidete ihre langen Beine, die sie trotz ihrer beachtlichen Größe am Saum einmal umschlagen mußte. Ihre bequemen Schnürschuhe hatte sie gegen schwere Stiefel eingetauscht, auf die sie Wappen prägen ließ, damit sie derbe und männlich wirkten.
Ein schlichtes, weißes Hemd fiel über den Bund der Hose und versteckte den Gürtel, mit dem sie notdürftig die Weite an ihre Maße anpasste und so eher aussah, als trüge sie einen zugeschnürten Kartoffelsack.
Unangenehm schwer zog das silberne Kettenhemd ihre Schultern nach unten und wirkte eher hindernd als nützlich.
Das wichtigste Utensil ihrer Ausrüstung war jedoch zweifelsohne, eine kunstvoll geschmiedete Klinge, die nur darauf brannte ihren Besitzer zu durchbohren.
Nur ein weiterer Grund, warum Syra sich nun vor der Halle befand und nicht hinter diesen breiten Toren, die hunderte Frauen und Kinder schützten wie auch einsperrten.
Charis und Domenico hingegen verrichteten ihre Pflicht in der königlichen Leibgarde und bewachten eisern den Westflügel, in dem sich noch immer einige Schloßbewohner verschanzt hielten. Unter ihnen auch König Erion, den man schwer verwundet unweit der Stadtmauer gefunden hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seinen Verletzungen erlag und das Königreich Elythrea herrscherlos war. Somit hätte Damodar erreicht, wonach er strebte: grenzenlose Macht durch Erhalt eines weiteren Königreiches, obgleich er auf seine eigentliche Beute verzichten muße - Lyriell.
Aber noch war nichts verloren und Syra verdrängte den Gedanken an Erions Tod vehement. Denn auch wenn der König dahinschied, würde sein Volk Lyriells Erbe schützen und verteidigen. Mit allen Mitteln, die zur Verfügung standen. Solange, bis Lyriell selbst dazu in der Lage wäre.
Die Krieger, die schwerbewaffnet und in Gesprächen über Taktiken und Techniken vertieft an ihr vorbeischritten, bedachten sie keines Blickes. Ihr Äußeres zu verändern, war eine der Bedingungen Domenico´s , wenn sie gedachte an der Schlacht teilzunehmen.
Und wie sie gedachte.
Es juckte sie bereits in den Fingern Damodar´s Schergen eine Abreibung zu verpassen. Und lange würde sie nicht warten müssen um diesem Drang nachzugehen.
Das Marschieren schwerer Sohlen auf hartem, staubigen Grund, verrieten die Angreifer schon von Weitem. Hunderte Bogenschützen drängten sich hoch am Himmel zusammen, um mit den Truppen am Boden in Formation zu bleiben. Wie eine dunkle Welle des Grauens überrollten sie das Land und ließen keine Gnade walten.
Und genauso gnadenlos würde Syra sein.
Schnell überwanden Damodar´s Krieger die Hälfte der großen Freifläche vor der Halle, die sonst zu heiteren Anlässen als Festplatz fungierte. Heute würde sie zu einer Stätte des Todes werden.
“Für König Erion und die Freiheit Elythreas” erklang der Kampfesschrei aus den eigenen Reihen und stachelte nicht nur sie mit an. Im Sekundenbruchteil haben alle Umliegenden ihre Schwerter, Bögen und Dolche gen Himmel und brüllten vereint den Schwur an sich selbst und ihren geschätzten Herrscher.
Wie ein Bienenschwarm schwirrten sie ihren Feinden entgegen, mit der Absicht sie an einem weiteren Vorrücken zu hindern.
Bereit, ihr Leben für das ihres Königs zu geben, wenn das für andere von ihnen Freiheit verhieß.
Syra war es gleich, welchen von ihnen sie sich zuerst vornahm. Ihnen würde allen das gleiche Schicksal widerfahren. Sie steckte all ihre Wut und den jahrelang angestauten Hass in ihre Bewegungen und Kampftechniken. Stich um Stich traf sein Ziel und der kleine Dolch, den sie führte, verbrachte wahre Höchstleistungen.
Jede Kreatur die sie abschlachtete, war eine Gefahr weniger für die vielen Frauen, die angsterfüllt hinter den Toren kauerten.
Konzentriert auf den nächsten Gegner, bemerkte Syra den herannahenden Hünen nicht, der bereits sein Schwert zum Hieb ausgeholt hatte. Krachend traf sie die Klinge an der rechten Schulter und ließ sie zu Boden gehen. Allein das robuste Kettenhemd hinderte sie am Durchdringen. Trotzdem kam der Schlag einem Amboss gleich.
Rasend breitete sich der Schmerz in Schulterblatt und Arm aus und ließen selbst die Hand nicht mehr gehorchen.
Der blutige Dolch entglitt ihren Fingern und landete neben ihren Knien im Dreck.
Das höhnische Gelächter ihres Peinigers verspottete Syra und ließ sie die Zähne zusammenbeißen.
So schnell würde sie sich nicht geschlagen geben.
Sie nutzte sie kurze Pause, die ihr Angreifer brauchte um erneut auszuholen und trat ihn mit voller Kraft gegen den aufgebäumten Brustkorb. Keuchend und nach Luft ringend, taumelte er erst einige Schritte zurück, bevor er gebeugt und stolpernd erneut angriff, wohl sichtlich wütend über ihre plötzliche Gegenwehr.
Syra hielt den verletzten Arm nahe am Körper und griff mit der linken Hand nach ihrem Dolch. Doch ehe sie die eiserne Klinge in seine Brust stoßen konnte, durchbohrte den schwarzen Kriegerengel schon eine riesige Lanze.
Mit schreckensgeweiteten Augen sank er auf die Knie und kippte zur Seite weg. Syra stand noch immer regungslos da
Weniger aus Schock, dass sie dem Tod gerade näher war als jemals zuvor. Vielmehr war es Ungläubigkeit, wem sie ihr Leben verdankte.

Calden
Gebannt schaute sie ihn an, als seine Statur hinter den breiten Schultern ihres Angreifers zum Vorschein kam.
Mit größter Bewunderung hatte er sie beobachtet, mit welcher Inbrunst sie sich in die Schlacht warf und sich völlig angstfrei jedem stellte, sei er auch noch so überlegen.
Ihm machte es Spaß, ihre Techniken zu studieren und ´die Schwachstellen zu analysieren. Doch in Anbetracht dessen, dass sie beinahe getötet wurde, hätte er bereits eher einschreiten sollen.
Ihr anfängliches Erstaunen wich der Wut und sogleich ging sie in Verteidigungsstellung über. Knie leicht gebeugt, Oberkörper nach vorn, in der linken Hand den Dolch haltend.
“Syra” er nickte leicht, ein Zeichen, dass er sie trotz der männlichen Aufmachung erkannt hatte.
“Woher…?”
Noch ehe sie ihre Frage beenden konnte, deutete Calden auf das Schwert, das in einer ledernen Scheide um ihre doch sehr schmale Taille hing. Ihm war diese Waffe nur allzu vertraut und ihr Verlust traf ihn schwer. Umso erstaunter war er, sie in ihrem Besitz zu sehen.
“Das hat dich verraten. Das und deine gar nicht männliche Art dich zu bewegen. Du kämpfst wie eine Elfe, Syra”
“Spar dir deine Freundlichkeiten. Die helfen dir hier auch nicht weiter.”
“Dann schlage ich vor, du übergibst mir mein Eigentum und begibst dich anschließend in meine Obhut.” schlug er vor, obwohl ihm völlig klar war, dass sie dies nie freiwillig tun würde. Doch machte das die Sache für ihn nur interessanter.
“Was dein Schwert anbelangt, so hole es dir selbst, doch folgen werde ich dir nirgendwo hin. Nicht im Leben und auch nicht im Tode” weigerte sie sich und umschloss das kleine Messer nur fester.
“Das wäre mir auch zu einfach. Würde ich dich tot sehen wollen, so hätte ich ihn dort die Drecksarbeit erledigen lassen.” Calden deutete auf den Leichnam zu seiner Rechten, in der immer noch die Lanze, einem Pfahl gleich, durch Rücken und Brust steckte.
“Tja, dann muß sich Eure Majestät wohl selbst die Finger schmutzig machen. Oh, ich vergaß! Das habt Ihr ja bereits. Steht es für dich an der Tagesordnung die eigenen Männer abzuschlachten?”
“Wie ich sehe, hast du dich über mich kundig gemacht. Darf ich daraus schließen, dass du ein gewisses Interesse an mir hegst?”
Amüsiert beobachtete er ihre Mimik, die eindeutig das Gegenteil verlauten ließ.
“Und was dich anbelangt, so habe immer noch ich die Priorität dir Manieren beizubringen. Und wenn es an der Zeit ist, dich zu bestrafen, so lasse ich mir den Spaß von keinem verderben. Einen Krieger weniger nehm ich da gerne in Kauf. Außerdem wäre es sehr von Vorteil, wenn dein hübscher Körper für meine weiteren Zwecke keinen Schaden nehmen würde” er grinste überlegen und folgte ihren Bewegungen, die sich kreisförmig um ihn zogen.
“Ich muß dich enttäuschen. Meine Männer such ich mir immer noch selbst aus und du gehörst definitiv nicht dazu” nervös lugte Syra immer wieder über ihre Schulter, war aber stets darauf bedacht, Calden im Auge zu behalten. Wie absurd es doch war hier zu stehen und Konversation zu betreiben, während um sie herum die Hölle losbrach.
“Und was das Bestrafen anbelangt, so bist du gerne eingeladen es zu versuchen” weiter umtänzelte sie ihn, bereit jeden Angriff seinerseits abzuwehren.
“Willst du mir damit Angst einjagen?” er deutete auf den kleinen Dolch in ihrer Hand, dessen silbergraues Metall sich in einen blutroten Spiegel gewandelt hatte, an dem das Blut seiner Untergebenen klebte. Für ihn mochte es nur ein Spielzeug sein, doch anderen hatte er bereits den Tod gebracht.
Ihr kehliges Auflachen ließ ihn erstaunt innehalten.
Schwungvoll kam ihm das Messer entgegen und spickte nur wenige Zentimeter vor seinen Füßen in den Boden.
Was bezweckte sie damit?
Gab sie etwa auf?
Nun wandte er den Blick von seinen Füßen ab und schaute fragend zu Syra.
“Willst du es mir so einfach machen? Dabei dachte ich, wir spielen noch ein wenig.”
“Klar” sie schnaubte verachtend “Während es für uns bitterer Ernst ist und euer Sieg unsere Freiheit kostet, ist das für dich alles nur ein Spiel. Warum wundert mich das nur nicht? Gibt es bei dir so etwas wie Mitleid? Fühlst du überhaupt irgendwas?”
“Autsch. Jetzt hast du mich aber hart getroffen” mit einer übertriebenen Geste fasste er sich an die Brust. Dort, wo bei jedem anderen das Herz sitzen müßte, das er zweifelsohne nicht besaß.
“Mitleid ist eine Schwäche. Etwas, dass du bei mir nicht finden wirst. Also schlag ich vor, du versuchst erst gar nicht daran zu appellieren.”
Wieder ertönte dieses Lachen. Krampfhaft versuchte sie den bereits eingedellten Helm abzuziehen und ließ ihn scheppernd neben sich gleiten.
Ihr Haar, in der Morgendämmerung feurig lodernd, gab verschiedene Facetten von Rottönen frei. Lockig fielen sie ihr auf die Schultern und verhakten sich in den feinen Kettengliedern, die ihren zierlichen Körper schützten.
“War das ein ja?” fragte Calden hoffnungsvoll, aber immer noch verblüfft über so viel Schönheit inmitten des rauen blutigen Krieges.
“Du willst spielen?” langsam ließ sie ihre rechte Hand zur Hüfte wandern, an der blank poliert das Schwert Calden´s in der Scheide steckte. Voller Zuversicht umschloss sie den Griff und beförderte die Waffe zutage.
“Dann lass uns spielen”
Ungläubig stand Calden ihr gegenüber und beobachtete jede Regung ihrer zitternden Hände. Dieses Schwert war aus einem der härtesten Metalle geschmiedet worden und mit ihrem verletzten Arm hatte Syra sichtlich Schwierigkeiten das Gewicht zu halten.
“So gefällst du mir schon besser, Wildkatze. Aber tu dir nicht weh”
“Nach unserem letzten Aufeinandertreffen sollte dieser Rat wohl eher dir gelten.”
Auch er zog sein Schwert, das zweckerfüllend, jedoch nicht annähernd so edel und wertvoll war, wie das, dass sie in den Händen hielt.
Mit dem Fuß trat sie ihren Helm beiseite um sich mehr Platz zu verschaffen. Die Beine auseinandergestellt um mehr Halt zu finden, stand sie nun vor ihm. Die Kampfeslust spiegelte sich in ihren Augen wieder und er wusste genau, dass er es sich nicht leisten konnte sie erneut zu unterschätzen. Der Schmach, von einem Weibsbild besiegt worden zu sein, gab er sich nicht hin.
Calden war praktisch mit seinem Schwert verschmolzen und bis heute hat er immer das bekommen, wonach es ihm strebte. Ob dies friedlich oder mit Gewalt geschah, war einerlei.
“Worauf wartest du? Sag nicht, dass du Angst vor mir hast” spottete Syra und forderte ihn so heraus.
Er holte leicht aus und ließ sein Schwert klirrend gegen das ihre schnellen. Es war unnötig mehr Kraft aufzubringen, denn schon jetzt verzog sich ihr Gesicht schmerzhaft bei jedem Hieb den sie abwehrte.
Seinem nächsten Angriff folgten einige donnernde Schläge, indem sie mit dem Schwert weit ausholte und sich geschickt zu drehen begann. Syra´s Bewegungen wurden schneller, ihre Schläge härter und allmählich schien sie sich auf die fremde Waffe eingestellt zu haben, mit der sie keinerlei Übung besaß.
Auch Calden bemerkte den Umschwung ihrer Kampfeinstellung und sein siegreiches Grinsen verschwand in der Versenkung. Als hätte er nicht genug damit zu tun ihrem Schwert auszuweichen, füllte Syra die Zeit dazwischen mit harten Tritten gegen seinen Brustpanzer.
Es tat nicht weh, doch nahm der Druck den sie dabei ausübte, ihm zusehends den Atem.
Obwohl um ihn herum alles im Chaos versank und Calden große Mühe aufbringen mußte, um nicht in ein anderes Kampfgeschehen hineinzuplatzen, gab es für ihn nur Syra.
Nur sie und ihn.
Er blendete kategorisch alle Störfaktoren aus und konzentrierte sich einzig auf die Person, die ihm wirklich gefährlich werden konnte.
Und das nicht nur im Kampf.
Unablässig vereitelte er ihre Angriffe und drängte sie zurück. Allmählich forderte die Erschöpfung ihren Tribut auf beiden Seiten. Die Lungen brannten vor Anstrengung, ihre Augen von dem beißenden Qualm, der von in Brand gesetzten Gebäuden herüberwehte. Nur schleppend setzte Syra einen Schritt vor den anderen und er stellte triumphierend fest, dass ihre Armmuskeln bereits erzitterten unter dem Gewicht seiner Waffe.
Nicht mehr lange, und er würde sie dort haben, wo er wollte.
“Du machst doch nicht etwa schlapp?” zog er sie auf.
Zorn blitzte in ihren Augen auf und erneut versuchte sie mit seinem Schwert einen Treffer zu landen. Ihr Kampfeswille war ungebrochen und genau das faszinierte ihn so sehr.
Sie würde eine starke Gefährtin abgeben, ihm kräftige Erben schenken. Und die Tatsache, dass sie obendrein noch wunderschön anzusehen war, fiel wohl zu seinen Gunsten aus.
“Ich hoffe du bist in allen Dingen so leidenschaftlich wie im Kampf?!”
Syra versetzte ihm einen Hieb, der ihn rückwärts taumeln ließ. Noch bevor Calden sein Gleichgewicht wiedererlangte, traf ihn ihr Fußtritt genau im Gesicht.
“Oh ja. Und wie leidenschaftlich ich bin. Nur leider wirst du das nicht mehr erfahren” sie genoss den Moment der Überlegenheit und ihn am Boden zu sehen. Blut rann ihm aus der Nase und mischte sich mit dem Staub, der sie beide einhüllte.
>>Ein letzter Hieb. Nur noch ein Schwertstoß und sie alle wären der Freiheit ein Stück näher<<
Sie sah die Einsicht über seine Niederlage in seinen eisblauen Augen, die sie unverwandt beobachteten. Obgleich er unterlag, konnte sie kein Zeichen der Angst erkennen.
Weder senkte er seinen Blick, noch bat er um Gnade.
“Tu es.” forderte er sie auf und ließ sein Schwert fallen. Kniend spreizte er seine Arme vom Körper und breitete seine rabenschwarzen Schwingen zu voller Größe aus.
Nein, er bat nicht um Gnade.
Er bat um Erlösung.
Syra holte noch einmal tief Luft und erhob die wertvolle Klinge weit über ihren Kopf.
Wäre Calden besiegt, würden die Truppen abziehen und ihr Volk gewann etwas Zeit. Voll konzentriert auf ihr Gegenüber und dem folgenden Tötungsakt, ignorierte sie das Geschehen hinter ihrem Rücken.
Unbeabsichtigt in das Kampfgeschehen zweier Krieger involviert, wurde Syra unsanft nach vorn geschubst. Das Schwert entglitt ihren Händen und landete klirrend vor Caldens Knien. Dieser reagierte sofort und versetzte Syra einen harten Schlag gegen den verletzten Arm.
Ihr Schmerzensschrei ging ihm durch Mark und Bein und insgeheim tat es ihm Leid, ihr weh tun zu müssen.
Schnell hob er seine Waffe auf und hechtete auf sie zu. Schwungvoll stieß er sie zu Boden und drückte sie mit seinem Gewicht nieder.
“Geh runter du Bastard” zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und wand sich unter seinem Körper. Doch jegliche Gegenwehr war zwecklos.
“Ich sagte doch, ich bekomm immer was ich will.” überlegen drückte er seine Lippen auf ihre und erstickte den Schwall an Schimpfwörtern, die sie ihm entgegenbrachte.
Ihr gehetzter Atem drang stoßweise zu ihm durch und vernebelte ihm die Sinne. Syras Lippen waren warm und weich, verströmten eine gewisse Süße. Zu gern hätte er ihren Mund mit der Zunge erkundet, aber er durfte sich nicht vergessen. Nicht jetzt und nicht hier.
Dieses Privileg würde er sich bewahren bis er sie ganz für sich hatte.
Widerwillig löste er sich von ihr und begegnete Syra´s erschrockenem Blick.
Ihre Flügel hatten einen dreckigen Grauton angenommen und sie zuckte unweigerlich zusammen, sobald einer der umstehenden Krieger im Eifer des Gefechts darauf trat.
Der Druck an ihrem Hals löste sich und Calden zog die Klinge zurück. Unsanft riss er sie auf die Beine und umschloss mit einem Arm ihre Taille. In der anderen Hand trachtete ihr sein Schwert nach dem Leben, sobald sie nur an Flucht dachte.
“Ein Zucken, ein Laut, der deine Kehle verläßt oder ein Federkiel, der sich nur ansatzweise in Flugposition ausrichtet und ich töte dich auf der Stelle.”
“Pah, als ob du dazu fähig wärst. Wozu sonst dieses Theater? Ich sterbe lieber als mit dir zu gehen.” ein zweites Mal spukte sie dem arroganten Mistkerl eine Ladung Speichel ins Gesicht.
Angestachelt von ihrer Kratzbürstigkeit steckte er das Schwert in die Scheide und ergriff nun mit der freien Hand ihre Schwingen.
Kraftvoll hielt er sie hinter ihrem Rücken zusammen und hinderte sie so am Fliegen.
“Auf geht’s Schätzchen. Mein Schlafgemach wartete auf seine neue Herrin” mit einer leichten Kopfbewegung beförderte er die schweißnassen blonden Strähnen aus seinem Gesicht und erhob sich gen Himmel.
Seine Schwingen waren stark genug um sie beide zu tragen. Der Vorteil, wenn einem königliches Blut zu ein paar Zentimetern mehr Spannweite verhalf.
Nein, er wäre nicht fähig sie zu töten. Aber das würde sie nie erfahren.
Er war gut darin sich zu verstellen, mußte er dies doch sein ganzes Leben lang tun.

Beim Aufsteigen offenbarte sich das ganze Ausmaß dieser Schlacht.
Damodar´s Truppen waren vorgerückt und hatten die weiße Halle beinah erreicht.
Weniger als die Hälfte weißer Engel hielten eisern ihre Stellung und haderten ihrem Schicksal.
Ihre letzte Hoffnung zerbrach, als sie im Kampfgewühl Charis und Domenico ausmachte. Rücken an Rücken verteidigten sie sich gegen die Feinde, die sie begannen einzukesseln. Die Tatsache, das auch sie mit auf dem Schlachtfeld standen, verriet, das König Erion wohl nicht mehr unter ihnen weilte und keines Schutzes mehr bedurfte.
Mit Bedauern gedachte sie Lyriell, die jetzt ganz ohne Eltern aufwuchs und der die Möglichkeit missgönnt war, Abschied von ihrem Vater zu nehmen.
Der König war tot.
Elythrea würde fallen. Und mit ihm, ihr Volk in Ketten gelegt.
Tränen rannen ihre Wangen hinunter und sie klammerte sich an Caldens Brustpanzer.
Nein. So durfte es nicht enden. Sie sollte jetzt auch dort unten stehen. Ihren Freunden den Rücken decken und ja - auch sie sollte da unten sterben.
“Nein” schrie sie und hämmerte mit Leibeskräften gegen Caldens Brust. Sie wand sich unter seinem Griff und versuchte ihre Schwingen zu lösen. Beinah hysterisch schlug und trat sie um sich und schaffte es tatsächlich einige Zentimeter Bewegungsfreiheit zu erlangen.
Calden geriet ins Trudeln und hatte sichtlich Mühe die Balance zu halten.
“Laß mich…” noch einmal bäumte sie sich auf, bevor sie ein Schlag ins Gesicht in die Bewußtlosigkeit trieb.
Schwärze senkte sich über sie hernieder und jegliches Geschrei um sie herum verklang. Starke Arme hielten sie sicher umschlungen und trugen sie sanft empor.
Friedlich. So unendlich friedlich erschien ihr der Moment der Schwerelosigkeit und inständig hoffe Syra, sie würde nie mehr Erwachen. In dieser Welt verweilen, bis es an der Zeit war zurückzukehren.
Eine Hoffnung, die aussichtslos war.


Kapitel 6

Seufzend erhob sich Lyriell und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
Es war nicht sonderlich warm heute, doch hatte sie die stundenlange Gartenarbeit ausgelaugt.
Nach einiger Zeit hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft sie sich die spitzen Dornen in die Finger rammte, bei dem Versuch, den Rosengarten von seinem Unkraut zu befreien.
Schon des Öfteren störte sie dieser Anblick und es schmerzte Lyriell etwas so schönes, so verkommen zu sehen.
Der Lord war heute früh aufgebrochen um in der Stadt geschäftliche Termine wahr zu nehmen. Da er vor dem Abendessen nicht zurückerwartet wurde, nutzte Lyriell die Gelegenheit sich um dies versteckte Paradies zu kümmern.
Es war bereits später Nachmittag und sie mußte sich eilen, um Magda bei der Zubereitung des Abendmahls zur Hand zu gehen.
Schnell beförderte sie den letzten Rest wilder Vegetation in ihren Korb und wischte die mit Erde beschmutzten Hände an der nun völlig verdreckten Schürze ab.
Sie hoffte ihrem Herren mit ihrer Arbeit ein wenig Freude zu bereiten, denn Lachen hatte sie ihn noch nie gesehen. In all der Zeit nicht, in der sie schon bei ihm angestellt war.
Lyriell verdankte ihm ihr Leben und noch so einiges mehr. Anfangs war es diese Dankbarkeit, die sie hier verweilen ließ. Sie wollte sich erkenntlich zeigen, egal wie, obwohl ihr durchaus bewusst war, dass sie den Preis für ihre Rettung nie begleichen würde können. Doch da sie sowieso nicht wusste, wohin sie gehen sollte, war Lyriell geblieben.

Noch immer war Lord Compton ihr ein einziges Rätsel. Ständig war er mürrisch und in sich zurückgezogen. Viel zu viel Zeit verbrachte er in seinen Privatgemächern und glänzte nur zu den Mahlzeiten mit seiner Anwesenheit, um auch diese dann wortlos einzunehmen.
Sie überlegte, wann er sie das letzte Mal um etwas bat, oder mit ihr anderweitig Konversation betrieben hatte.
Aber ihr fiel nichts ein.
Immer war es Magda, die er zu sich rief und der er Höchstleistungen abverlangte.
Die alte Dame beschwerte sich nie und tat wie ihr befohlen, doch merkte Lyriell auch, wie sehr das Alter an ihren Knochen nagte und ihr das Leben auf dem Gut Tag für Tag schwerer machte.
Flugs sprang sie die Stufen empor und schlüpfte durch die knarznde Hintertür in die warme Küche. Noch im Laufen striff sie sich die viel zu großen Stiefel von den Füßen und tapste auf nackten Sohlen zu Magda hinüber, die angestrengt in einem Topf dampfender Suppe rührte.
Schnell wusch sie sich die Hände im großen Zuber und schritt auf den Herd zu. Ohne ein Wort zu sagen schob sie Magda mit der Hüfte beiseite und übernahm den hölzernen Löffel.
“Danke Kind. Nicht mal die leichtesten Arbeiten wollen mir heute von der Hand gehen” sie schnaufte bei jedem Schritt, den sie auf den Eichentisch in der Mitte des Raumes zutrat.
“Du mutest dir einfach zu viel zu Magda. In deinem Alter solltest du dich mehr schonen.”
“Das sag mal dem Herren “ wieder keuchte sie und massierte sich die wunden Fußballen.
Lyriell fischte ein Kartoffelstück aus dem Topf, entschied aber ,dass es noch nicht an der Zeit war, den Herd auszustellen. Ein paar Minuten würde das Gemüse noch brauchen. Wieder kreisten ihre Gedanken um den Lord und seine Eigenheiten.
Warum ging er ihr aus dem Weg? Denn das tat er mit Sicherheit.
Traf sie ihn in einem der Korridore, so bog er eiligst in eines der Zimmer ein. Und war dies mal nicht möglich, so senkte er den Blick um den ihren nicht zu begegnen. Er mied sie wo er nur konnte, fast so, als habe sie irgendeine ansteckende Krankheit.
Die Zeit war günstig und Lyriell entschied, Magda hier und jetzt einfach danach zu fragen.
“Der Lord…” begann sie.
“Ja, Kindchen?”
“Wieso ist er so….so…?”
“Verschlossen? Kaltherzig? Unmenschlich?” half ihr Magda auf die Sprünge.
Lyriell nickte, obwohl sie Lord Compton nicht als kaltherzig bezeichnen würde. Er hatte ihr bewiesen, dass er ein Herz besaß, denn sonst stände sie nicht hier, hätte ein Dach über dem Kopf und eine gute Anstellung.
“Du mußt wissen, das Lord Compton nicht immer so war. Im Gegenteil. Er war zuvorkommend und überaus hilfsbereit. Schon seit seiner Geburt bin ich bei den Herrschaften angestellt. Erst als seine Amme und im Laufe der Jahre, als er erwachsen wurde und mich nicht mehr brauchte, dann als Haushälterin. Der Herr hat in seinem kurzen Leben einfach zu viele Rückschläge einstecken müssen. Angefangen bei seinen Eltern, die zugegeben ihm alles ermöglichten, aber nie etwas Zeit für ihn aufbringen konnten.
Sie schickten ihn auf die teuersten Schulen und zu den besten Lehrmeistern. Er erhielt eine Ausbildung im Reiten und in der Kampfkunst, die er beide bis zur Perfektion beherrscht. Edle Gewänder, ferne Reisen, eine beträchtliche Summe ihm zur Verfügung stehender Geldmittel. Ja, er bekam alles, nur nicht das, was er sich am meisten wünschte.”
“Liebe” mutmaßte Lyriell.
“So ist es. Diese suchte er vergebens in all den leichten Damen, die er auf der Straße aufgelesen hatte. Doch erkannte er schnell, das ihre Zuneigung nur solange reichte, bis er sie für ihre Dienste entlohnt hatte. Er wollte mehr. Er wollte eine Frau, mit der er nicht nur das Bett teilte, sondern sein ganzes Leben. Die ihn verstand und unterstützte. Mit der er den strengen Prinzipien seiner Eltern entfliehen und endlich frei sein konnte.”
“Und hat er sie gefunden?” nein. Dachte sie sich. Wenn dem so wäre, würde der Lord nicht allein leben.
“Ja das hat er. So schien es zumindest. Kindchen, denk an die Suppe”
Vor lauter Wissbegierde hatte Lyriell versäumt den Löffel zu bewegen und nun durchzog ein scharfer Geruch die Küche. Schnell vermengte sie das Gemüse und gab Magda ein Zeichen weiterzuerzählen.
“Lady Estelle war eine wunderschöne Frau. Blondes Haar, das wie ein glatter Wasserfall ihren Rücken hinab rann, strahlend blaue Augen, die eine Unschuld widerspiegelten, die sie keinesfalls besaß. Sie war von schlanker Statur und üppiger Weiblichkeit ausgestattet. Und sie wusste gut mit ihren Reizen umzugehen.”
“Warum hat er sie gehen lassen? Ist sie ihm davongelaufen, weil er sie nicht beachtete?” Lyriell tippte auf die selbe Ignoranz, die er ihr gegenüber brachte.
“Nein mein Kind. Er holte ihr die Sterne vom Himmel und überschüttete sie gerade zu mit Geschenken und seiner Liebe. Alles hatte er ihr gegeben und nichts zurückbekommen. Obwohl sie den Bund der Ehe nie eingegangen waren, nahm er sie als die Seine an, trotz des Unwillens seiner Eltern. Adrien wünschte sich nichts sehnlicher als einen Nachkommen, ein Kind zur Krönung ihrer beider Liebe.” sie machte eine Pause und bog den gekrümmten Rücken durch.
“Was ist passiert?” Lyriell ermahnte sich zum weiterrühren, um die Suppe noch halbwegs genießbar zu halten.
“Ist das Kind gestorben?”
“Nein Lyriell. Es gab nie ein Kind. Die Lady hielt ihn hin und bat, bis nach der Vermählung zu warten. Doch auch die schob sie hinaus aus belanglosen Gründen. Der Lord war geblendet und gab ihr die Zeit, die sie sich wünschte. Er liebte sie und hätte alles getan um sie zu halten.”
“Und warum ließ er sie dann doch gehen?” Lyriells Ungeduld mehr zu erfahren war unerträglich und am liebsten hätte die alles stehen und liegen gelassen, nur um den Erzählungen der alten Frau zu lauschen. Noch nie war es ihr möglich gewesen, etwas über das Leben des Lord zu erfahren. Um so begieriger sog sie nun jedes Wort in sich auf.
“Der Herr wurde zunehmend ins Ausland berufen, um geschäftliche Verträge abzuwickeln. Ein Umstand, den Lady Estelle nur zu gern hinnahm. Während er sich von ihr schwer trennen konnte und der Abschied meist schwer fiel, so wartete sie nicht einmal bis er zum Tor hinaus war. Ihr Liebreiz war eine einzige Fassade und war Adrien fort, so ließ sie sie fallen. Behandelte uns wie ihre Leibeigenen und fröhnte dem schönen Leben und den Annehmlichkeiten, die damit verbunden waren. Immer öfter ging sie aus und kam erst spät oder am nächsten Morgen zurück. Uns gebührte es nicht, sie nach ihrem Verbleib zu fragen und doch wussten wir es ganz genau.”
Lyriell stellte Magda einen Kelch mit Wasser auf den Tisch und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.
Eine Ahnung beschlich sie und diese wollte sie nun von Magda bestätigt haben.
Nachdem der Kelch geleert war, fuhr die Haushälterin fort.
“Es dauerte nicht lange, da spielten sich ihre Liebschaften nicht mehr nur außerhalb des Anwesens ab. Nach dem Tod der Herrschaften hatte sie nun niemanden mehr, der sie überwachte und wir waren zum stillschweigen gezwungen. Wie oft versuchte ich dennoch dem Lord ins Gewissen zu reden und sie hinauszuwerfen. Doch er wurde nur böse und schenkte mir keinen Glauben. Umso verzweifelter wurde ich, als er ihr einen Antrag machte und sie gespielt glücklich annahm. Für mich war er wie ein Sohn, den ich aufgezogen hatte und es brach mir das Herz, ihn ins Unglück rennen zu lassen.”
Ein Schluchzen unterbrach ihren Wortschwall und man merkte ihr an, das die Erinnerung an diese wohl schreckliche Zeit, längst nicht verheilt ist.
“Der Lord war wieder auf Reisen” begann sie dann unter tränenerstickter Stimme.
“Doch wie der Zufall es wollte, zog es ihn schon 2 Tage eher nach Hause als geplant. Ich weiß es noch, als wär es gestern. Voller Ungeduld rannte er die Treppen empor und stürzte in ihr Zimmer. Wie gern hätte ich ihm diesen Anblick erspart” wieder schüttelte sie ein Weinkrampf und sie barg das Gesicht in den Händen.
“Ist gut Magda. Ich hätte dich nicht darum bitten sollen. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, wie schmerzhaft das für dich ist” entschuldigte sich Lyriell, sichtlich bestürzt über den Gemütszustand der alten Dame.
“Schon gut. Es hilft dir vielleicht ihn besser zu verstehen. Ihn mit anderen Augen zu sehen.”
Lyriell nickte und ließ sie fortfahren.
“Die Lady hatte einen ihrer Liebhaber im Haus und vergnügte sich sichtlich und unbekümmert dessen, das er in der Tür stand. Sein Gesicht werde ich nie vergessen, als er seine Zukünftige körperlich vereint mit einem Anderen sah. Etwas, das sie ihm stets vorenthalten hatte.”
“Du meinst, sie haben nie….?”
“OH, das schon. Aber so viel ich mitbekommen habe, hat sie sich ihm immer mehr verwehrt. Ihn vertröstet, wenn er ihre Nähe gesucht hat. Sie war so sehr damit verausgabt, anderen beizuliegen, dass sie nicht einmal mehr das Bett mit ihm geteilt hat.”
Mitleid überkam die Prinzessin. Sollte solch eine Enttäuschung daran schuld sein, wie er sich jetzt gab?
“Was hat er dann getan?” sie konnte sich gut vorstellen, welchen Aufstand er gemacht haben musste.
“Das ist es ja. Gar nichts. Er drehte sich um und ging. Wortlos. Erst nach einem Monat kehrte er zurück aufs Anwesen und nahm seine Tätigkeiten wieder auf. So, als wär nichts gewesen. Nur diese Unnahbarkeit hatte er sich geschaffen. Eine Gleichgültigkeit allem gegenüber. Vor allem aber Frauen. Nie wieder hat er jemanden an sich rangelassen. Und Lady Estelle? Ja, die war verschwunden, kaum das er einen Tag fort war. Sie hatte genug Bekanntschaften geschlossen und war wohl bei einem ihrer Bettgenossen untergekommen. Alles hatte sie mitgenommen. Auch den Verlobungsring, den er ihr angesteckt hatte. Der Herr verbot, je wieder von ihr zu sprechen und auch er tat es nicht. Ihr Zimmer ließ er unberührt und hatte es seit dem nie wieder betreten. Bis auf ein mal.”
“Als er nach mir gesehen hat” folgerte Lyriell.
“Es war ihr Gemach, in dem ich untergebracht bin”
Die Haushälterin nickte zustimmend.
“Ja. Und es ist mir bis heut unklar, warum er dies angeordnet hat. Vielleicht liegt ihm an dir doch mehr, als er zugeben will”
Beinah hätte sich Lyriell beim Abschmecken der Suppe verschluckt.
Sie sollte ihm etwas bedeuten? Das war das Letzte, was sie vermutet hätte und sie verdrängte diese Möglichkeit gleich wieder in Anbetracht dessen, wie er sie behandelte.
“Du solltest dich schonen. Geh zu Bett, ich kümmere mich schon um das Essen und um die Belange des Herren.” sie deutete mit dem Kopf zur Tür und wies Magda somit an, die Küche zu verlassen.
Sie hatte von ihr allerhand gelernt und fand sich gut allein zurecht.
Ein paar letzte Kräuter fanden den Weg in die Suppe und nach erneutem Aufkochen zog Lyriell den schweren Topf von der Feuerstelle.
Der Tisch im Speisezimmer war schnell gedeckt und es blieb ihr sogar noch genug Zeit, sich das Gesicht zu waschen und eine neue Schürze umzubinden.
Hufgetrappel auf dem feinen Schotter vor dem Haus kündigte den Lord an und schnell eilte Lyriell ,um ihren Herren zu begrüßen und seinen Mantel in Empfang zu nehmen. Ein junger Mann führte den prächtigen Hengst in den angrenzenden Stall, um ihn von den Anstrengungen trocken zu reiben.
“Guten Abend Eure Lordschaft. Ich hoffe Eure heutigen Geschäfte waren erfolgreich?” ein leichter Knicks zeugte von Respekt, den sie ihm zweifelsohne entgegenbrachte.
“Kann mich nicht beklagen” brummte er im vorübergehen und würdigte sie keines Blickes.
Stets hatte sie versucht seine Art zu deuten, aus ihm schlau zu werden. Doch seine Fassade hielt er derart aufrecht, das es nicht einmal ihr gelang sie zu durchbrechen.
Und nun?
War ihr sein Verhalten mehr als klar. Und sie verstand ihn.
Seine Enttäuschung.
Seine Wut.
Seinen Hass gegen jegliches weibliche Wesen.
Und auch die Distanz, die er zu allen anderen hielt.
Und er tat ihr leid. So unendlich leid.
“Es ist bereits gedeckt. Darf ich servieren, oder wünscht Ihr Euch vorher noch etwas frisch zu machen?” hastig folgte sie dem Lord durch die Halle, darum bemüht mit ihm Schritt zu halten.
Er schlug den Weg zur bereits gedeckten Tafel ein und beantwortete so im stillen ihre Frage.

Wortlos setzte Adrien sich an seinen angestammten Platz und beobachtete Lyriell, die Kelle um Kelle auf seinen Teller goss.
“Das genügt” war sein knapper Befehl an sie aufzuhören.
“Wenn Ihr noch einen Wunsch habt, so wendet Euch bitte an mich. Magda klagte über Unbehagen und bittet um Verzeihung für ihre Abwesenheit.” wortlos nahm er ihre Erklärung entgegen und löffelte weiter an seiner Suppe.
“Also…?”
“Was?” fragte er barsch.
“Habt ihr noch einen Wunsch?”
Er schwieg und Lyriell tat es als Verneinung ab. Sie war gerade dabei den Saal zu verlassen, als ihr befohlen wurde, sich zu ihm zu setzen.
Mit allem hatte sie gerechnet.
Aber damit nicht.
Etwas zögernd nahm sie auf dem ihr zugewiesenen Stuhl platz. Es waren stets mehr Gedecke parat als benötigt, für den Fall, dass Lord Compton in Begleitung seiner Geschäftspartner erschien.
Er griff zur Karaffe und füllt ihren Kelch mit einem lieblichen Weißwein.
Schnell hatte auch sie zwei Kellen des duftenden Eintopfes auf dem Teller und wusste mit dieser ungewohnten Situation nicht umzugehen. Wie gebannt starrte sie das Silberbesteck vor ihrer Nase an, als wisse sie nicht, wie man damit umging.
“Iss”

Adrien

Er wusste selbst nicht, was ihn dazu bewog, sie um ihre Gesellschaft zu bitten.
Nun ja, bitten, war wohl der falsche Ausdruck, denn kam es eher einem Befehl gleich.
Nun saß sie dicht neben ihm und begann zu essen. Erst zögernd, dann doch hastiger. Sicher hatte sie den ganzen Tag nichts zu sich genommen und ihr Magen forderte nun sein Recht ein.
Adrien beobachtete sie über den Rand seines Löffels hinweg, immer dann, wenn er den nächsten zum Mund führte. Ihre ganze Haltung drückte Unbehagen aus und sicher wünschte sie sich irgendwo anders hin, nur nicht hier an seine Seite.
Und diese Erkenntnis schmerzte ihn.
Schnell waren ihre Teller geleert und der Wein nahm stetig ab, nachdem er ihren Kelch immer wieder füllte, sobald sie Anstalten machte aufzustehen.
Er wollte sie nicht gehen lassen.
Noch nicht.

Sie wunderte sich über Adriens Zuvorkommenheit, war dies doch eine Eigenart, die sie an ihm nicht kannte.
Lyriell wagte es nicht, das Wort an ihn zu richten oder sich sonst in einer Weise bemerkbar zu machen.
Was sollte sie auch sagen?
Sie war sich sicher, das er sowieso nicht antworten würde.
Das er hier mit ihr saß war schon sonderbar. Hatte er Magda diese Ehre auch zuteil kommen lassen? Oder war sie die Erste?
>>Vielleicht liegt ihm ja doch mehr an dir, als er zugeben will<< klangen ihr Magdas Worte im Ohr.
Das kann nicht sein. Lord Compton mochte niemanden. Und sie als Frau sicher am allerwenigsten.
Nein. Sie würde warten bis er sie ansprach. Schließlich hatte er sie gebeten sich zu setzen und mit ihm zu speisen.
Aber warum wollte er ihre Gesellschaft, wenn er doch nur mit gesenktem Haupt sein Mahl zu sich nahm?
Lyriell konnte diese erdrückende Stille, die den ganzen Raum einnahm nicht länger ertragen und sah ihre Chance zur Flucht gekommen als auch der Lord seine Serviette gesättigt beiseite legte.
“Wenn ihr erlaubt, kümmere ich mich nun um den Abwasch” Lyriell wartete keine Antwort ab, sondern erhob sich und begann das schmutzige Geschirr zu stapeln.
Adriens Hand umfasste ihr Gelenk und seine Berührung traf sie wie ein Schlag, der die bereits getragenen Teller zu Fall brachte.
Als hätte er sich die Hand mit Feuer verbrannt, schreckte auch der Lord zurück.
“Verzeiht “ sagte er unter einem Räuspern. “Ich wollte Euch nicht erschrecken”
Warum war er mit einem mal so förmlich?
Sonst hörte sie ihn nur mit seinen Geschäftspartnern so reden, oder mit Gästen aus der höheren Gesellschaft.
Sie dagegen ignorierte er stets. Nie hatte er sie bei ihrem Namen genannt. Wahrscheinlich war er ihm nach all der Zeit nicht einmal im Gedächtnis geblieben.
“Ihr habt nicht…” wollte sie ansetzen, wurde jedoch abrupt von seiner Geste überrascht.
“Adrien” fast schüchtern hielt er ihr seine rechte Hand entgegen, die sie ohne weiter darüber nachzudenken ergriff.
“Bitte, nennt mich Adrien”
“L…L..Lyriell” stammelte sie sichtlich überrascht.
“Ich weiß.” schmunzelnd ließ er ihre Hand los und fiel zurück auf seinen Stuhl.
“Wie gefällt es dir hier auf dem Anwesen? Fühlst du dich wohl?”
“Oh ja” beeilte sie sich schnell ihm zu versichern.
“Es ist wunderschön hier und ich danke Euch…dir für deine Gastfreundschaft.”
“Naja. Gastfreundschaft kann man das wohl nicht nennen, wenn du arbeiten mußt um hier zu bleiben” stellte er fest.
“Das macht nichts. Die Arbeit macht mir Spaß und lenkt mich ab”
Und das tat sie wirklich. Nicht ein mal in der vergangenen Woche hat sie über ihre Herkunft gegrübelt. Nicht darüber, wohin sie gehörte und auch nicht darüber, ob sie jemand vermisste.
Niemand schien nach ihr zu suchen oder sich Gedanken um sie zu machen. Und das stimmte sie traurig. War sie so ein schlechter Mensch gewesen, das man ihr Verschwinden nur all zu gern begrüßte?
“Was?” Adrien war ihr Stimmungswandel nicht entgangen und nun beugte er sich besorgt vor, um in ihr Gesicht zu blicken.
Tränen stahlen sich aus ihren Augen und hinterließen eine salzige Spur auf ihren Wangen.
“Hab ich etwas Falsches gesagt? Dann tut es mir leid. Ich wollte nicht…”
“Nein. Schon gut. Es liegt nicht an dir. Sondern an mir. Allein an mir. Welch Scheusal muß ich gewesen sein, dass niemand nach mir sucht?”
Das also beschäftigte sie, dachte Adrien. Wie oft hatte er in der Stadt nach Verwandten gesucht oder an den Häfen Ausschau nach beschädigten Schiffen gehalten? Jedem Hinweis, der in Verbindung mit Lyriell stehen könnte war er nach gegangen. Und gegen seine Prinzipien hatte er Kontakte aufgesucht, denen er für gewöhnlich fernblieb.
Aber nichts.
Es ließ sich kein Anhaltspunkt für ihre Herkunft ermitteln. Kein Name, keine Familie, nichts. Es schien, als sei sie vom Himmel gefallen.
Er schämte sich nicht ,zu behaupten, dass er froh darüber war. Sah er sie zu Anfang eher als eine Last, so hatte sie ihr Eifer, den sie an den Tag legte und ihre Frohnatur in den Bann gezogen.
Ihre Art, wie sie sich bewegte. Schwebend, fast tanzend. Ihre wallenden Locken, die wider erwarten länger schienen als erst vermutet. Ihre Haut, die trotz der harten Arbeit nicht an Geschmeidigkeit verlor. Dieses Lächeln, das er so liebte. Die Art, wie sie sich an Kleinigkeiten erfreute. Fast so, als sehe sie sie zum ersten mal. Doch am meisten fesselten ihn ihre Augen. Zwei strahlende Smaragdsterne, die ihre schwarzen Pupillen umgaben.
Ja, er war ihr verfallen.
Hoffnungslos verfallen.
Und dies hätte er niemals für möglich gehalten.
Nicht nachdem…..
Aber sie war anders. Das spürte er.
Wie oft hatte er sie beobachtet, und versucht Gemeinsamkeiten mit Estelle zu finden. Irgendwas, das ihm verriet, das auch Lyriell eines dieser Mädchen ist, die nur nach Stellung und Ansehen aus war.
Aber Lyriell belehrte ihn eines Besseren.
Und ab da fiel die Mauer, die er schützend um sich errichtet hatte.
Die ihn davon abhielt, sich ihr zu nähern.
Wie gern wäre er zu ihr geeilt, wenn sie wieder einmal schreiend aus dem Schlaf geschreckt war. So, wie sie es jede Nacht tat.
Wie mußten sie die Ereignisse quälen? Diese Ungewissheit?
“Du bist kein Scheusal und du warst sicher nie eines. Wenn es dich beruhigt, dann bleib doch bitte, solange du willst.” und das sollte möglichst sehr lange sein, wenn es nach ihm ginge.
“Das ist sehr nett. Ich wüßte auch nicht wohin ich sonst gehen sollte.” Ihre Tränen trockneten, doch verloren ihre Augen nicht an Glanz. Das schummrige Kerzenlicht spiegelte sich darin und gedankenverloren spielte sie mit einer der Servietten, die von den Tellern gerutscht war.
“Was ließ dich deine Ansichten über mich ändern” durchbrach sie schließlich die Stille.
“Wie? Ich versteh nicht?” worauf wollte sie hinaus? Hatte sie ihn durchschaut?
“Warum sollte ich heut mit dir zu Abend essen?” sie schaute auf und blickte Adrien starr ins Gesicht. Forderte eine Antwort, der er sich nicht entziehen konnte.
“Weil ich dich kennen lernen wollte. Dich, so wie du bist. Ich möchte nicht, das du deinen Herren in mir siehst, sondern einen Freund.”
“Und warum dieser Wandel? Was ließ dich deine Ansichten ändern?”
Lyriell wusste, das sie sich auf dünnem Eis bewegte und über Magdas Worte eher schweigen sollte. Doch war sie auch neugierig, warum der Lord gerade jetzt alle Regeln über Bord warf.
“Meine Ansichten? Über was?” er schien noch belustigt über den Verlauf dieser Konversation und dachte sich nichts bei ihren Worten.
“Warum gabst du ausgerechnet mir Lady Estelles Gemach?”
Bei ihrem Namen verschwand sein Lächeln und schlagartig versteifte er sich auf seinem Stuhl.
“Woher weißt du davon?” seine Stimme klang härter als beabsichtigt, aber die Tatsache, das Lyriell über ihn Bescheid wusste ließ ihn rot sehen. Es war seine Last die er zu tragen hatte und es missfiel ihm aufs äußerste, das jemand von der Schmach, die ihm zugefügt wurde wusste.
“Nein. Sag nichts. Magda. Es tut ihr gut, nun nicht anwesend zu sein. Aber sei gewiss, dass dies ein Nachspiel haben wird”
“Warum? Weil ich sie danach gefragt hab? Weil mich interessiert hat, was aus Euch so ein Monster gemacht hat?” sie benutzte absichtlich diese Form der Anrede, denn schon jetzt zeigte sich, das der Adrien von eben nicht mehr zugegen war.
“Monster? Ich ein Monster? Die wahren Monster seid ihr und eure habgierigen Interessen. Eure Reize, mit denen ihr lockt um dann an euer Ziel zu kommen. Und dafür ist euch nichts zu wider.” sein Gesicht nahm eine rötliche Färbung an und seine Augen glänzten verdächtig im Anflug der Wut. Die Hände zu Fäusten geballt rang er um Fassung, die jeden Augenblick mit ihm durchgehen konnte.
“Wie könnt ihr von den Machenschaften einer Person auf andere schließen? Sind wir wirklich alle gleich zu betrachten? Ich denke nicht. Ansonsten säße ich wohl nicht hier.”
Darauf erwiderte er nichts.
“Magda sagte mir, das Euch ein Verrat der übelsten Art widerfahren ist, und das tut mir leid…”
“Dir tut es leid. Was? Das sie ihr Ziel nicht erreicht hat? Das ich auf sie reingefallen bin? Das ich sah, wie sie sich einem anderen hingab? Nichts weißt du. Und nichts kannst du verstehen?” er war aufgestanden und tigerte aufgebracht im Raum umher.
Lyriell schritt auf ihn zu. Ungeachtet dessen, das er sie bösartig musterte und die Arme abwehrend vor seiner Brust verschränkte.
“Ich kann nun verstehen, warum du bist wie du bist.” sie sprach ruhig und näherte sich ihm bis auf eine Armlänge.
“Ich versichere dir, dass nicht alle so sind wie Lady Estelle. Es gibt durchaus Frauen, die ernste Absichten verfolgen. Die auf der Suche nach dem Glück sind, genau wie du Adrien. Wenn ich dich verstehen kann, dann doch sicher auch andere.”
“Es gibt keine anderen. Es gibt nicht mal dich für mich.”
Das versetzte ihr einen Stich in die Brust. Gerade begann sie Adrien zu mögen. Sie war ein Nichts. Und nun hörte sie es aus seinem Munde.
“Wer sagt mir das du anders bist? Ich kenne dich nicht und weiß nicht was dir zugestoßen ist. Warum warst du im Wasser? Wer sagt mir, dass du nicht hier bist, weil du es auf mein Geld abgesehen hast? Vielleicht schickte dich sogar Estelle. Schließlich war sie hier schon einmal erfolgreich. Bist du ihre Schülerin? Tust du es ihr gleich?”
Sie konnte nicht glauben was sie da hörte. Adrien mußte sie doch in der Zeit in der sie hier war besser kennen, als solche Vermutungen anzustellen.
“Willkommen zurück Lord Compton” sagte sie stattdessen mit bitterem Unterton.
“Magda hatte Recht. Ihr seid kaltherzig und unfähig menschliche Bindungen einzugehen. Tut mir leid, das ich dies eine Sekunde außer Acht ließ.” sie wandte sich zum Gehen und hatte bereits den festlich gedeckten Tisch passiert, als sie mit enormer Wucht gegen das Gemäuer schlug.
Adrien hielt sie an den Oberarmen gepackt und drückte sie gegen das kalte Gestein.
Ihr Atem ging schwer und mit schreckensgeweiteten Augen starrte sie ihn an. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten und er rang sichtlich mit sich selbst.
“Ich werde gehen. Gleich morgen” gab sie ihm Auskunft und versuchte sich aus seinem Griff zu lösen. Doch Adrien verstärkte ihn nur nach ihren Worten und sah sie flehend an.
Mit einer Bewegung führte er ihre Hand an seine Brust und ließ sie flach darauf gedrückt liegen. Die oberen Knöpfe seines weißen Hemdes waren unverschlossen und so berührte Lyriell nun zum zweiten mal Adriens nackte Haut.
“Lyriell. Ich habe ein Herz. Doch habe ich es bereits an dem Tag verloren, an dem ich dich fand. Du läßt mich fühlen, was ich nie gehofft hatte je wieder zu fühlen. Und es tut mir leid, falls ich Dinge gesagt hab, die dich verletzt haben. Verachte mich. Meide mich. Schrei mich an. Nur bitte bleib”
Lyriell wusste nicht wie ihr geschah. Sie wusste nicht, wie sie mit all dieser Ehrlichkeit umgehen sollte und mit ihrer Hand, die immer noch auf seiner Brust lag.
Sie konnte sich nicht rühren und sie wollte auch nicht.
Was sollte sie sagen? Ihn zurückweisen als Strafe, für seine Worte? In damit wieder enttäuschen? Wie oft hielt ein Mensch das aus?
Und so tun, als sei nichts geschehen? Sie die Küchenmagd und er Lord und ihr Herr? Nein. Das war unmöglich. Nicht nach diesem Abend.
Gerade wollte sie zu einer Antwort ausholen, als Adrien ihre Lippen mit einem Kuss verschloss. Er war wild und drängend und zehrte von so viel Leid und Wut, das sie es nicht wagte ihn von sich zu stoßen.
Seine Arme umfaßten ihren Rücken und zogen Lyriell noch näher an ihn heran. Sie konnte seinen herben Duft inhalieren, seine sich hebende und senkende Brust an ihrer spüren und sie konnte ihn schmecken. Seine Lippen waren warm und weich und sein Kuss wurde zärtlicher, fast behutsam, als wolle er ihr nicht weh tun. Sie öffnete die Augen und sah, das er die seinen wohl die ganze Zeit geöffnet gehalten hatte. Langsam löste er sich von ihr, doch bevor er ihr seine Lippen vollends entzog hauchte er noch einen zarten Kuss auf ihren Mund. Fast so, als fiele es ihm schwer, sich von ihr zu trennen. Der Halt um ihren Körper verschwand und sie begann zu frösteln. Vermisste seine Nähe und Wärme. Noch immer wartete er ihre Reaktion ab und schwieg. In seinen Augen lag so viel Liebe. Und noch mehr Angst.
Er fürchtete sich, genau wie sie.
Plötzlich schien er sich seiner Tat bewusst zu werden und wich einige Schritte zurück.
“Tut ….mir leid. Ich…wollte nicht….dich nicht….” er sprach nicht zu Ende, sondern verließ fluchtartig den Speisesaal.
Lyriell stand noch immer nahe der Wand und sah ihm nach. Wie gern hätte sie die Hand ausgestreckt und ihn gebeten wieder zurück zu kommen. Doch sie brauchte Zeit. Und er wohl noch viel mehr. Was ihr blieb war die Erinnerung an diesen Moment, ihren Namen, den er zum ersten Mal genannt hatte und ihre glühenden Lippen, über die sie unwillkürlich mit den Fingern strich.


Kapitel 7

Calden

Syra hing immer noch schlaff in seinen Armen, als Calden Argan, das Königreich seines Vaters, erreichte. Nicht mehr lange und seine Truppen würden ihm hierher folgen. Zumindest die, die das Aufeinandertreffen mit Erions Kriegern überlebt hatten.
Mit ihnen kämen hunderte Frauen, die ihr restliches Dasein in Ketten verbringen würden. Hunderte Frauen, die nur als Gefäße dienten.
Brutkörper, die Argan neue Krieger schenkten und dazu gezwungen waren, jedem beizuliegen, der danach verlangte. Hunderte Frauen, von denen er sich eine hätte aussuchen können und doch fiel seine Wahl auf die eine in seinen Armen.
Keine Regung ging von ihr aus und er stellte mit Genugtuung fest, dass sie ihm nun völlig ausgeliefert war. Er hatte fester zuschlagen müssen als beabsichtigt um seinen Willen zu erlangen, doch sollte dies ihr eine Lehre sein.
Ihre Widerspenstigkeit würde er ihr austreiben.
Ein letzter Flügelschlag und er landete sachte auf dem Balkon, der ihm einen kürzeren Weg ins Palastinnere versprach.
Schnellen Schrittes durchquerte er die unzähligen Flure, die er seit seiner Ankunft hier vor 17 Jahren, nun in und auswendig kannte.
Gerade bog er zu seinen Gemächern ein, als ihm ein großer Schatten den Weg versperrte. Er brauchte kein Licht um zu wissen, wen er da vor sich hatte. Und die Tatsache, das er ihm hier auflauerte, gefiel ihm ganz und gar nicht.
“Vater” sprach er in die Dunkelheit des Ganges. Das Schloss König Damodars entsprach genau seinem Wesen. Kalt, leblos und trotz herrlichstem Sonnenschein, dunkel wie die Nacht.
So flackerten nur einzelne Kerzen, die in Lüstern ins Gestein gehauen wurden und deren Licht nicht einmal die Sohlen seiner Stiefel erreichte.
“Warum kommst du allein” das tiefe Grollen seiner Stimme hallte durch den Gang und bekundete seinen Unwillen, das Calden wieder einmal seinen Befehlen trotzte.
“Elythrea wird fallen. Da war es nicht von Belang, ob ich anwesend war oder nicht.” Calden hatte für seinen Vater wenig übrig und das scheute er auch nicht zu zeigen. Sein ganzes Leben war er auf sich gestellt gewesen, unten auf der Erde. Er war es, der seine Mutter pflegte, als diese schwer erkrankte. Dafür sorgte, das etwas zu essen im Haus war und die Steuer beglichen werden konnte.
Wie oft tat er die Erzählungen seiner Mutter als Phantasterein ihres Fiebers ab, nur um an seinem 18. Jahrestag zu erfahren, das alles der Wahrheit entsprach.
Zwei lange Wochen war er danach auf sich gestellt gewesen, unfähig mit seinem neuen Ich etwas anzufangen. Oft war er in diesen Tagen der Versuchung nahe gewesen, sich die Schwingen abzutrennen, doch auch dazu fehlte ihm der Mut.
Als sein Vater ihn holen kam, wusste er sofort wen er vor sich hatte.
Eine Intuition, die ihm auch jetzt sagte, dass Probleme auf ihn zukamen.
Trotz der doch für ihn guten Nachrichten, verzog Damodar nicht einen Muskel. Sein Augenmerk lag eher auf dem Bündel, das er in den Händen hielt. Von den gierigen Blicken seines Vaters schützend, barg er Syras Gestalt nah an seinem Körper.
“Bringst du mir die, nach der es mich verlangt?” Damodar trat nun einen Schritt auf Calden zu, und das seichte Kerzenlicht erhellte seine linke Gesichtshälfte. Hätte er es nicht besser gewußt, so machte es den Anschein, auch die andere Hälfte wäre derart makellos und unangetastet.
Calden missfiel es, wie Damodar Syra beäugte. Wie ein Stück Fleisch, das zum Verkauf stand.
“Nein.” sagte er barsch. “Die ist mein.”
“Du suchst dir ein Weib? Ausgerechnet du? Sie passt nicht gerade in deine bevorzugte Auswahl”
Der belustigte Unterton in seines Vaters Stimme entging Calden nicht und er mußte ihm Recht geben. Noch vor kurzer Zeit wäre es für ihn undenkbar gewesen, sich eine Frau zu nehmen. Calden blieb ruhig und versteckte Syra´s Reize unter seinem Umhang, um das Interesse seines Gegenübers nicht noch mehr anzufachen.
“Ah, ich verstehe. Du brauchst jemanden der dir das Bett wärmt. Dir gut zuredet und dich in den Schlaf wiegt” brummend hallte sein tiefes Lachen durch die Gänge und verspottete seinen Sohn.
“Ich bin kein Kind mehr, Vater…..”
“Dann führ dich auch nicht so auf. Bring sie zu den anderen ins Verließ. Ihr gebührt genauso wenig Respekt wie den anderen vor und nach ihr auch. Ich dulde keine Extrabehandlungen.”
Syra stöhnte leicht und versuchte den Kopf zu heben. Schnell drückte er sie näher an sich, um jegliches Kommentar ihrerseits im Keim zu ersticken.
Würde sie jetzt hier eine ihrer Revolten schlagen, könnte er nichts mehr tun für sie. Dann würde sie am eigenen Leib erfahren, was Damodar dem Weibsvolk zugedachte, das es wagte, die Stimme gegen ihn zu erheben oder gar schlimmeres. Und das würde ihr genauso wenig gefallen wie ihm.
“Ja mein König. Ich kümmer mich nur um ihre Verletzungen, dann wird auch sie im Verließ zu finden sein. Wir wollen doch nicht, das sie uns daran zugrunde geht.” log er gekonnt um seine Absichten zu verschleiern.
“Du bist Prinz von Argan und machst dir an ihr die Finger schmutzig? Lass das einen der Wächter machen und komm, ich habe mit dir noch Pläne heute”
Das passte Calden nun wirklich nicht. Ihm schwebte besseres, angenehmeres vor, als mit seinem Vater eine Unterredung zu führen.
Dennoch fügte er sich und willigte ein , ihm zu folgen, sobald er die Frau untergebracht hatte. Er hatte sich dem König schon desöfteren widersetzt, doch mit Syra bei sich, bedeutete es ihm ein zu großes Risiko. Vor allem, wenn Damodar bemerkte, was ihm wirklich an dieser Frau lag.

Syra

Dröhnende Kopfschmerzen rissen Syra allmählich an die Grenze ihrer Bewußtlosigkeit. Unablässig prügelte etwas auf ihr Haupt hernieder, dessen Ursprung sie derzeit noch nicht feststellen konnte.
Das Erste, was sie sich getraute zu bewegen waren ihre Arme, die sie schützend vor ihr Gesicht legte, um den Ansturm des trommelnden Etwases abzudämpfen.
Langsam öffnete sie die Augen, noch nicht Herrin ihrer Sinne und starrte gegen nacktes Gestein. Sie roch die Feuchtigkeit und den Moder, der von dieser Kammer ausging.
Oder sollte sie vielmehr Gruft sagen?
Stöhnend richtete sie sich auf, um dann auf die Ellbogen gestützt einen Moment zu verharren. Augenblicklich schoss ihr der Schmerz, einer Lanze gleich, durch den rechten Arm und ließ sie in sitzende Position hochschnellen.
Wasser floss in kleinen Rinnsalen die Wände herunter und sammelte sich auf dem Boden zu einer beträchtlichen Lache. Ein Arsenal an Tropfen regnete unaufhörlich von der Decke auf die Pritsche, auf der sie gerade noch lag. Ihre Gewänder waren bereits durchzogen von Nässe und diesem widerlichen Geruch.
Wie lange war sie schon hier unten?
Stunden? Tage?
Welche Tageszeit es wohl sein mochte?
Ein winziges Loch in der Wand über ihrer Schlafgelegenheit gab wenig Aufschluß darüber, ob Tag oder Nacht herrschte. Zumal es überwuchert von allerlei Gestrüpp war, das direkt vor diesem “Ausguck” nach oben wuchs. Schwindlig setzte sie einen Fuß vor den anderen und erreichte schon nach 3 kurzen Schritten die hölzerne Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Mit einer schnellen Handbewegung strich sie sich ein paar verirrte Locken aus dem Gesicht und legte zaghaft ein Ohr an die ebenfalls feuchte Tür.
Ein letztes Mal ermahnte sie sich zur Ruhe, denn das einzige was ihr in den Ohren rauschte, war ihr eigener Herzschlag, der vor Aufregung drohte ihre Brust zu sprengen.
Nur wenige Minuten genügten, um sich ein Bild dessen zu machen, was sich hinter diesem Verließ verbarg.
Nichts.
Außer das Fiepen einiger Ratten und anderem Ungeziefer vernahm sie nur Stille.
Automatisch ruhte ihre Hand auf dem eisernen Türknauf und sie hielt vor lauter Anspannung die Luft an.
“Was solls” flüsterte sie mehr zu sich selbst und betätigte das kalte Metall.
Resigniert gab sie sich geschlagen, als auch nach dem dritten Versuch, diese Tür zu öffnen, ihr der Fluchtweg versperrt blieb.
“Ich hasse dich du arroganter Wiederling” schrie Syra ins Halbdunkel und hoffte, das derjenige es gehört hatte, dem dieser Fluch galt.
Sie hatte das Bewußsein verloren, nicht aber den Bezug zur Realität, das Wissen, wem sie es verdankte hier festzustecken oder an die Dinge, die in Elythrea geschahen.
Elythrea.
Ihre Heimat.
Wie lange es wohl gedauert hat, bis Damodars Schergen die Halle stürmten und danach die ganze Stadt einnahmen?
Was war aus den Frauen geworden?
Waren sie ebenfalls hier? In einem Loch wie dem ihren?
Hatten Domenico und Charis überlebt, oder waren auch sie im Kampf gefallen?
Gab es überhaupt Überlebende?
Syra setzte sich ans äußere Ende der Pritsche und zog die Knie bis unters Kinn.
Was sollte sie machen?
Schreien würde sicher nichts bringen und wenn doch, dann nur um noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Durch das Loch in der Wand kam sie allenfalls mit dem Arm hindurch und sie bezweifelte, das sich hier irgendwo Steine verschieben ließen, die einen Geheimgang oder dergleichen freigaben.
Ihr Kopf drohte zu bersten unter dem Schlag, den ihr Calden zugefügt hatte. Schon bei seiner ersten Ohrfeige damals am See war es ihr schwer gefallen aufrecht zu stehen. Nun aber hatte er buchstäblich ins Schwarze getroffen. Und dafür würde er büßen.
So aussichtslos die Lage auch erschien., sie würde nicht aufgeben. Er konnte sie haben, aber nicht ohne selbst Narben davon zutragen.

Syra mußte eingeschlafen sein, denn schwere Schritte vor der Tür ließen sie hochschrecken und sich an die Wand pressen.
Schnell suchte sie ihr Gefängnis nach Brauchbarem ab, dass sie gegebenenfalls als Waffe benutzen konnte. Denn auch den Dolch und das kleine Messer in ihrem Stiefel hatte man ihr abgenommen.
Außer der Decke, auf der sie saß und deren Feuchtigkeit sich bis zu ihrem Untergewand durch sog ,hatte man ihr nichts gelassen.
Vielleicht sollte sie Calden in einem unachtsamen Moment packen und in der stinkenden Pfütze ertränken.
Doch wann war das Glück heut schon auf ihrer Seite gewesen? Falls es überhaupt heute geschehen ist.
Bockig nahm sie nun ihre vorherige Haltung ein und horchte wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde und ein Klicken verriet, dass die Tür nun offen war.
Langsam wurde die Klinke nach unten gedrückt und eine vermummte Gestalt betrat den Raum.
Still kam sie auf Syra zu und baute sich vor ihr auf.
Unbeeindruckt und eher gelangweilt schenkte sie der Figur keinerlei Beachtung und widmete sich ihren kurz geschnittenen Nägeln, die vor Dreck standen.
“Hat die Dame gut geruht?” kam es unter der tiefsitzenden Kapuze des schwarzen Umhangs hervor.
Syra kannte diese Stimme nur zu gut und es war ihr ein Rätsel, warum er jetzt Versteck mit ihr spielte.
“Hab schon besser genächtigt, danke.” gab sie kurz zurück.
“Und was soll die Verkleidung? Sag nicht, ich hätte dich dermaßen zugerichtet, das es dir unangenehm ist, mir ins Gesicht zu blicken?”
Mit einem kurzen Brummen, das Syra versicherte, unter dem Stoff seinem Grinsen zu begegnen, legte er sein Gesicht frei und trat nun noch näher an die Pritsche.
Sein blondes Haar hob sich strahlend vom schwarzen Stoff ab, der seine Schultern umgab. Das Gesicht war frei von Schmutz und die Wunden wurden bereits versorgt. Einzig ein paar kleine Kratzer erinnerten an die Schlacht, in der sie sich gegenüberstanden.
“Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber du siehst furchtbar aus.”
“Hier unten bieten sich auch nur wenige Möglichkeiten dies abzuändern” maulte sie zurück.
“Hier unten nicht, oben jedoch schon”
Sie wusste genau, worauf er anspielte. Aber dieses Spiel würde er verlieren. Langsam stand sie auf und einen kurzen Moment konnte sie
das Aufflackern von Freude in seinem Gesicht sehen. Wahrscheinlich dachte er, sie würde ausnahmsweise mal gehorchen.
Siegessicher drehte er ihr den Rücken zu und schritt zurück zur Tür, die ihm zuvor Einlass gewährte.
Syra dagegen lehnte sich provozierend an die Wand und verharrte dort, bis er bemerkte, sie nicht hinter sich zu haben.
Entnervt wandte sich Calden wieder um und sah Syra eindringlich an.
“Würdet Ihr mir gnädigerweise folgen, insofern es Euch keine Umstände bereitet?” schon überschwänglich verbeugte er sich vor ihr und selbst ihm war diese freundliche Redensweise fremd.
Wie absurd mußte es erst auf sie wirken?
“Du glaubst doch wohl nicht etwa, dass ich mit dir gehe? Das, was mich dort oben erwartet, kann sich von meinem Schicksal hier unten kaum unterscheiden. Und lieber sterbe ich in diesem Loch, als dir Untertan zu sein” prustend verschränkte sie beide Arme vor der Brust, darauf bedacht, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, der noch immer in ihrer Schulter tobte.
“Ich würde dir anraten, deine Haltung zu überdenken, denn dieser Ort kann dir den Tod schneller bringen als dir lieb ist”
“Je eher er mich ereilt, desto schneller bin ich von dir erlöst” noch immer hatte sie sich nicht fortbewegt und sie gedachte auch in nächster Zeit, ihren Standort nicht zu ändern.
Syra bemerkte wie sich sein Gesicht zu verändern begann.
Eine tiefe Falte bildete sich zwischen seinen Brauen, als er diese bösartig zusammen zog. Die sonst so geschwungenen Lippen glichen einem blassen Strich, der mit dem Rest seiner wutentbrannten Fratze im Einklang stand.
Er war wahrlich am Ende seiner Geduld angelangt, als er nun zu ihr voreilte um seinen folgenden Worten mit erhobenem Finger Nachdruck zu verleihen.
“Du ahnst gar nicht, welch ein Risiko ich auf mich nehme indem ich hier unten bin. Und jede Sekunde die verstreicht und in der du dich weiter zierst, bringt mich, sowie dich in arge Schwierigkeiten. Entweder du folgst mir jetzt, oder…”
“Was wenn nicht?” unterbrach sie ihn in seinem Zornesausbruch.
“Schlägst du mich dann wieder nieder?”
Seinem Ausdruck zufolge hätte er wohl genau das jetzt mit Vergnügen getan, doch stattdessen überbrückte er auch die letzte Distanz zwischen ihnen und packte Syra unsanft am Oberarm.

Calden

Ihn interessierte es nicht, ob sie sich protestierend wehrte. Ihm kam es darauf an, dass sie Beide von hier schleunigst verschwanden, bevor er einem der Wächter begegnete.
An der Tür angekommen spähte er hinaus, um sich zu versichern, dass der Weg frei war.
Schnell zog er Syra hinaus und rannte den Gewölbegang entlang, vorbei an zahlreichen weiteren Türen, hinter denen sich Verließe verbargen, ähnlich dem Syras. Immer wieder warf er einen Blick über die Schulter und rügte die maulende Frau, die ständig versuchte sich loszureißen.
Schritte näherten sich und schlagartig buxierte er Syra in eine der dunklen Nischen, von denen es hier dutzende gab. Er spürte ihren donnernden Herzschlag an seiner Hand, die sie mit dem Rücken nah an seinen Körper presste. Ihr Haar war verschwitzt und doch roch er den süßlichen Duft von Honig und Wildblumen. Ihr Atem rang ihm durch die Finger der linken Hand, mit der er ihren nicht Ruhe geben wollenden Mund verschloss.
Das Versteck verbarg sie nur dürftig, doch anhand ihrer Kleidung verschmolzen sie nahezu mit der Dunkelheit.
Es waren zwei der Wächter, die sich angeregt über die Frauen unterhielten, die eingepfercht hinter den Türen ihrem Dasein fristeten und denen es bestimmt war, ihre Dienste mehr oder weniger freiwillig abzuleisten.
“Hast du die Rothaarige gesehen? Eine richtige Augenweide sag ich dir. Hat ein wenig was abbekommen, aber solange andere Qualitäten unversehrt sind, soll es mir egal sein.”
Anzügliches Lachen erklang in der Stille und Calden mußte stark an sich halten, um nicht hervor zu hechten und seinen Dolch in einem der beiden Männer zu versenken. Ihm war durchaus klar, von wem sie sprachen und die Aussicht, das auch andere Syra begehrten, reizte ihn.
Kaum waren sie außer Sicht- und Hörweite, entließ er Syra aus seiner Umklammerung und machte ihr mit dem Finger vor den Lippen deutlich, sich still zu verhalten.
Und zu seinem Erstaunen gehorchte sie mit einem Nicken.
Am Ende des Tunnels angelangt, versperrte ihnen ein großes Tor den Weg. Das Holz war dunkel und dick, die Beschläge aus schwerem Eisen und zahlreiche Riegel und Schlösser zierten den Rahmen.
Calden hatte die Tür beim Eintreten blockiert, so das sie sich nicht richtig schließen ließ. Zu seinem Glück hatte dies niemand bemerkt und er konnte mit Syra ungehindert hinaus.
Eiligst nahm er ihre Hand und führte sie die schmale Steintreppe empor, die geradewegs in eine Halle führte, die einem ganzen Heer hätte Platz bieten können.
Um in seine Gemächer zu gelangen, mußte er diese Halle durchqueren und die große Treppe hinauf. Doch auf dem direkten Wege liefen sie Gefahr, entdeckt zu werden.
Zielstrebig lotste Calden Syra zu einer der zahlreichen Säulen, die die Ränder der Halle säumten und ihnen hoffentlich ausreichend Schutz boten. Sie bewegten sich im Schatten von einer Säule zur anderen und Calden kam es so absurd vor, sich im eigenen Schloss derart fortzubewegen. Um Syras Willen nahm er es jedoch in Kauf und zwang sich zur Eile. Sie erreichten die mit Teppich ausgelegten Stufen gänzlich ungesehen und er zog sie mehr mit sich, als das sie selbst lief. Immer wieder kam sie ins Straucheln und hatte Mühe mit ihm Schritt zu halten. Er wähnte sie bereits in Sicherheit, als sie den Treppenabsatz erreichten, der geradewegs in den Teil des Schlosses führte, den er bewohnte. Doch statt des weiterführenden Läufers nahm er zwei polierte Stiefelspitzen wahr, die augenblicklich zur Seite sprangen, als er sich ihnen näherte.
“Voltan” presste er atemlos hervor, als er den Diener seines Vaters erkannte. Sofort nahm er Syra wieder Besitz ergreifend in die Umklammerung.
“Mein Prinz.” die kurze Verbeugung war mehr Pflicht, als ernst gemeinter Respekt. Er mochte diesen Parasiten nicht und die Tatsache, das ausgerechnet er ihnen begegnete noch viel weniger.
“Ein Geschenk für den König?” mutmaßte er und kniff die ohnehin schon schmalen Augen noch ein Stück weiter zusammen.
Niemals. Schoß es Calden durch den Kopf und er verstärkte den Griff um seine Trophäe automatisch.
“Keineswegs” versicherte er seinem Gegenüber “diese hier wird mir heut Nacht Gesellschaft leisten.” um seine Absichten deutlich zu machen, umfasste er mit der linken Hand eine der wohlgeformten Brüste Syras. Er nahm ein erschrecktes Aufkeuchen wahr, als er ihr nacktes Fleisch berührte.
Doch ihre Angst würde diese Sache nur glaubwürdiger machen. Mit der noch freien Hand griff er unsanft in ihr Haar und riß sie ruckartig nach hinten. Noch in der Bewegung stieß er seine Zunge in ihren geöffneten Mund und erstickte jeglichen Protest.
Aus dem Augenwinkel beobachtete er Voltans Mimik und nahm mit Erleichterung wahr, das sein Plan wohl aufgehen würde.
Ein letztes mal noch berührten seine Lippen die ihren, bevor er sich wieder dem Diener seines Vaters widmete.
“Nun denn, mein Prinz, wünsche ich viel Vergnügen” ohne noch ein weiteres mal zurückzublicken, verschwand Voltan in die Richtung aus der sie gerade gekommen waren.
Gerade drehte sich Calden Syra zu, als ein harter Schlag ihn mitten ins Gesicht traf. Sofort rann ihm Blut aus der Nase und ergoss sich auf dem gerade erst angezogenen Hemd.
“Das hab ich wohl verdient” sprach er zu der rotgelockten Frau, die mit glühenden Wangen vor ihm stand und sich noch immer die Hand hielt, die ihm vermutlich gerade das Nasenbein zertrümmert hatte.
“Mehr als das, wie kannst du es wagen….”
“Mir wäre es sehr recht, wenn wir diese Unterredung in meinen Gemächern weiterführen könnten. Andernfalls läufst du wohl Gefahr wieder ins Loch gebracht zu werden” unterbrach er sie in ihrem Ansturm der Wut.


Syra
Sie gab ihm ein Zeichen voran zu gehen und folgte in einigem Abstand.
Nicht noch einmal würde sie sich so überrumpeln lassen. Er konnte jede haben, sie jedoch nicht. Es war ihm hoch anzurechnen, dass er sie da unten rausgeholt hatte, aber ob seine Absichten hier oben ebenso ehrenwert waren, blieb abzuwarten.
Warum half er ihr?
Charis hatte ihr die Wahrheit gesagt. Er stellte sich gegen das Wort seines Vaters. Zog sein Ding zu seinen Bedingungen durch und folgte nur seinen Interessen.
Und auch damit behielt Charis Recht. Calden würde das bekommen, wonach es ihn verlangte.
Sie war hier. So wie er es ihr angedroht hatte.
Doch zwischen sie hier zu haben und zu besitzen, lagen Welten.

Von der Treppe aus ging es unzählige Gänge entlang und Syra gab es bereits nach der vierten Biegung auf, sich den Weg zu merken. Ein Fluchtversuch schien sowieso unmöglich, in Anbetracht dessen, das er sie sicher gut bewachen würde.
Das Schloss war dunkel und kalt. Nackte Buntglasfenster erstreckten sich an der Außenwand zu ihrer Rechten und verwehrten den Blick auf Argan.
Doch Syra legte keinen Wert darauf, zu erfahren wie es draußen aussah. Wenn sie sich hier nicht zusammenriss, würde sie nie mehr etwas anderes sehen als diese nackten Steinwände und die eisblauen Augen ihres Entführers.
Die Kerzen in den Lüstern waren bereits weit runtergebrannt und ihr war unklar, wie sich bei so viel Feuchtigkeit überhaupt eine Flamme halten konnte. Anders wie in Erions Schloss fand sich hier nichts persönliches. Keine Gemälde zu ehren der Ahnen, keine Stoffe oder Wandbehänge, keine Blumen oder andere Pflanzen, die die Atmosphäre etwas aufgehellt hätten.
Einzig dieser rote Teppich erstreckte sich über alle Gänge und ihr fiel es nicht schwer darüber nachzudenken, warum Damodar gerade die Farbe rot gewählt hatte.
Hier und da thronten riesige Steinfratzen auf Podesten oder Säulen und egal wohin sie sich wandte, die Blicke dieser Bestien folgten ihr.
Calden steuerte eine der hölzernen Türen an, die jedoch etwas breiter zu sein schien, als die Übrigen. Ohne sein Tempo zu verringern trat er ein und schloss sie sogleich wieder, als er gewahr wurde, das auch Syra im Raume war.
Sie drückte sich steif an die Wand gleich neben der Tür und musterte ihr Umfeld genau. Das Gemach war groß und entgegen dem, was sie bisher gesehen hatte, hell und reich an Farben. Ein riesiges Bett stand an der Wand links von ihr, das von zahlreichen Kerzen gesäumt wurde. Kostbare Wandteppiche wallten von der Decke hinab und versteckten in bunten Farben die grauen Steinwände. Läufer schmückten den nackten Boden und geleiteten den Bewohner zu den schweren Möbelstücken, die einfach, aber kostbar wirkten.
Ein Durchgang führte in ein benachbartes Gemach, dessen Zweck Syra sich als Waschstelle erdachte.
Calden stand noch immer reglos neben ihr und beobachtete jede kleinste Regung, die sie tat.
“Willkommen zu Hause” sprach er ironisch.
“Niemals.” gab sie zurück. “Ich bleibe nicht. Nicht bei dir und nicht in diesem Schloss”
“Du wirst nirgendwo hingehen, solange ich das nicht will. Und jetzt komm, ich will mir deine Wunde ansehen” ohne auf eine Antwort zu warten schritt er auf den im Dunkeln liegenden Raum zu.
Instinktiv suchte Syra nach einer Fluchtmöglichkeit und trat an das große Fenster am Ende des Gemaches. Doch bereits beim Nähertreten bemerkte sie die schweren Riegel, die sich nur mit einem Schlüssel öffnen ließen.
“Denk nicht einmal daran” ertönte es hinter ihr und sie erschrak, Caldens Stimme so nah an ihrem Genick zu vernehmen.
“Ich habe Vorkehrungen getroffen. Und nun folge mir”
“Hatten wir das nicht schon? Ich werde dir nirgends hin folgen. Und schon gar nicht in einen Raum, in dem ich mit dir allein sein werde” protestierte sie erneut. Syra war bereits vom Fenster weggetreten und versuchte zu Calden eine annehmbare Entfernung zu bringen.
“Du bist bereits mit mir allein. Und was du tust und läßt entscheide ich. Nun komm”
Sie versuchte sich loszureißen, als Calden sie ins Dunkle zog.
“Nein…nicht” Syra schlug und trat um sich, erwischte ihn an der Schulter und beförderte ihn somit einige Meter rückwärts gegen einen hölzernen Sekretär.
Sie war ebenfalls gestürzt und versuchte mit ihrer brennenden Schulter so gut es ging auf allen Vieren davon zu kriechen. Unter Schmerzen versuchte sie sich aufzurichten, wurde jedoch gleich wieder zu Boden gerissen. Calden lag nun auf ihr und nutzte sein gesamtes Körpergewicht um sie unten zu halten.
“Meine Wildkatze ist wieder da. So mag ich dich meine Syra” schnurrte er ihr beinah ins Ohr und wieder bäumte sie sich auf um ihn abzuwerfen.
“Ich bin nicht dein” schrie sie schon fast und stieß ihn von sich um gleich darauf fortzustürmen. Schon fast hatte sie die Tür erreicht, die ihr die Enge dieses Raumes nahm, als sie von zwei Armen um den Bauch gepackt wurde. Ihre Arme waren nun eng an ihren Körper gepresst und verboten jede Gegenwehr. Die Schwingen schmerzten beinah genauso wie ihre Wunde unter dem Druck, den Calden aufbrachte um sie ruhig zu stellen.
Sie fühlte sich hilflos und ausgeliefert und gleich zweifelte sie daran, Lyriell je hätte beschützen können. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie in die Dunkelheit eintauchten. Sie spürte Caldens Atem, der angestrengt in ihre Haare strömte, den Wind, den seine Flügel verursachten um ihm Halt zu bieten. Sie vernahm brechendes Glas und das Poltern anderer Gegenstände, die er damit hinunterwarf.
Syra haßte es derart in die Enge getrieben zu werden und wurde es nicht müde, ihm sein Vorhaben so schwer wie möglich zu machen.
Ein kräftiger Tritt gegen das Schienbein ließ ihn Taumeln und den Griff um ihre Taille ein wenig lockern. Dies nutzte sie um ihren Kopf ruckartig zurückzuwerfen und den seinigen mit voller Wucht zu treffen.
Vom Aufprall überrascht entließ Calden Syra in die Freiheit, die ebenfalls benommen vom Schlag aus dem Raum schwankte.
Calden jedoch brauchte nicht annähernd so lange wie sie um sich zu erholen und streckte sie erneut nieder.
Diesesmal jedoch traf sie hart auf eines der Möbelstücke und blieb wehrlos liegen.
Calden schien sofort zu bemerken, das etwas nicht stimmte und drehte sie auf den Rücken um die Ursache zu ergründen.
“Syra?” hart schüttelte er ihre Schultern und am liebsten hätte sie ihn angeschrieen, damit aufzuhören, um das Pochen in der Schläfe loszuwerden.
“Syra? Kannst du mich hören?”
Ja, konnte sie. Aber diese letzten Worte und der sorgenvolle Blick blauer Augen zwischen blonden Strähnen feinen Haares waren das Einzige, was sie noch mitbekam, bevor sie die Dunkelheit umfing.


Calden
Langsam löste er die Knöpfe ihres Hemdes um es ihr vorsichtig über den Kopf zu ziehen. Die Schnalle des Gürtels klirrte, als sie auf den Boden fiel, der daraufhin auch gleich die Hose folgte.
In jedem anderen Zustand hätte sie sich gewehrt, doch sie schaffte es nicht einmal ihre Augenlider zu heben um zu sehen, wer sie so behutsam entkleidete.
Sie fügte sich der Führung, die er ganz übernommen hatte und genoss die Berührungen, mit der er ihren geschundenen Körper geradezu liebkoste.
Mühselig balancierte er ihre matte Last auf seinem Schoß, um sie auch von dem letzten Kleidungsstück zu befreien.
Mit einem Blinzeln schien sie ihn nun erkannt zu haben und sofort versteifte sich ihr Körper in seinen Armen.
“Calden….nein” hauchte sie kaum hörbar.
“Schhhhh…lass mich machen” die leisen und beruhigenden Worte sollten ihr das Gefühl der Sicherheit geben. Denn nirgends würde sie nun sicherer sein, als bei ihm.
Sie gehorchte und entließ sich ganz und gar in seine Obhut.
Calden sehnte sich danach, sie zu berühren, ihr Freude zu schenken und seine Lust und Phantasien zu stillen.
Er ergab sich dem Impuls und zeichnete mit den Fingerspitzen die Konturen ihres Körpers nach, strich sanft mit dem Daumen über die Rundungen ihrer Brüste und die rosigen Warzen.
Ein Wimmern entrang ihrer Kehle, dass seine Lendengegend sofort zum Leben erweckte.
Er strich ihr sanft über den Rücken bis hinunter zum Ansatz ihre Pobacken, bevor er seine Berührungen seitlich entlang über ihre Schenkel fortführte. Sein Blut geriet in Wallung, als er sie so nackt vor sich sah.
Sollte er nun ein schlechtes Gewissen haben, das er sie selbst in ihrem momentanen Zustand als derart Begehrenswert empfand?
Hatte er sich je bei einer Anderen solchen Gedanken hingegeben?
Oder gar Mitleid oder Rücksicht empfunden?
Stets war er der Nehmende, nie aber der Gebende.
Sollte diese Frau ihn so verändert haben?
Sein Verhalten beantwortete diese Frage wohl eindeutig. Denn der Versuch, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen oder sie sich komplett aus dem Kopf zu schlagen, war ein Kampf, den er niemals gewinnen würde
Er fügte dem einlaufendem Wasser etwas Rosenöl bei und drehte sich mit der Frau auf seinen Beinen um, um sie vorsichtig in das warme Bad gleiten zu lassen.
Schnell stützte er ihren Kopf mit seinem rechten Arm und schützte sie so gleichzeitig vor der Kälte des Porzellans. Das Wasser nahm eine rötliche Färbung an, als ihr Oberkörper nun eintauchte und ihre Glieder seitlich schlaff wurden.
Das heiße Wasser ließ Dampfschwaden emporsteigen, die das sonst so triste Gemach mit Rosenduft erfüllten und denen Syras ganz eigener Honigduft beigemischt war.
“Hast du Schmerzen?” fragte er ruhig, um sie nicht aus ihrer Entspannung zu reißen. Doch Syras Augen blieben geschlossen und auch auf eine Antwort wartete er vergebens.
Sanft liebkoste er ihre Schulter und benetzte auch das letzte bisschen Haut mit der warmen Flüssigkeit. Er mußte sich strecken um die Ablage mit den Tüchern zu erreichen ohne sie untertauchen zu lassen, doch mit Mühe gelang es ihm.
Behutsam durchtränkte er das Stück Stoff und säuberte ihre Verletzung, die sie erlitt, als er auf dem Schlachtfeld zu spät eingriff. Die geröteten Stellen gefielen ihm ganz und gar nicht, auch die Schwellung bereitete ihm Unbehagen.
Sie hatte sich bereits entzündet, was deutlich an ihrer Körpertemperatur zu spüren war.
Ein letztes Mal noch reinigte er ihren Körper von allen Verschmutzungen, bevor er sie in der selben Weise, in der er sie zuvor in die Wanne senkte, hinaushob. In eines der weißen Laken gehüllt trug er sie in sein Schlafgemach, dessen Bett ihr sicher genügend Ruhe versprach.
Eine Bandage schützte die Wunde vor weiteren Verunreinigungen und eines seiner Hemden vor der Auskühlung ihres Körpers.
Noch immer war sie nicht ansprechbar und hatte beim Sturz gegen seine Kommode eine recht unschöne Blessur davongetragen .
Calden beließ ihr das dünne Laken und setzte sich einige Minuten an ihre Seite. Trotz der kühleren Temperaturen wagte er nicht den Kamin anzufeuern, aus Angst ihr Fieber noch weiter hinauf zu treiben.
Sanft strich er ihre nassen Strähnen aus dem Gesicht, die nun eher rostfarben und glatt waren und nichts mit ihrem ursprünglichen, schimmernden Glanz und der gelockten Mähne gemein hatten.
Ihre Schwingen waren nass und durchtränkten bereits die Matratze.


Die Nacht verbrachte sie unruhig hin und herwälzend. Hitzeschübe und Schüttelfrost wechselten sich ab und Calden war des Öfteren damit beschäftigt ihr die Gewänder zu wechseln oder ihr Gesicht von dem Schweiß zu befreien, wenn das Fieber wieder zugriff.
Nun lag sie wieder zitternd vor ihm, auf die Seite gerollt um jedes bisschen Wärme zu speichern, das ihr Körper noch besaß.
Das Holz des alten Bettes kratzte unter der Wucht, mit der sie diese Kälteattacken ereilten. Dieses mal zögerte Calden nicht und entledigte sich seiner Waffen, die er immer noch um seinen Gürtel geschnallt trug. Sein Hemd fiel genauso schnell wie seine Hose und eine zusätzliche Wolldecke dürfte ihr weitere Wärme versprechen.
Calden rückte so nah an Syra heran wie möglich und umschloss ihre bebende Gestalt mit seinen Armen. Sogleich barg sie ihr Gesicht an seiner Brust und versetzte ihm einen Schock, als ihre eiseskalten Hände den Weg zu seinem Rücken fanden.
Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig und es dauerte eine Zeit, bis sie sich beruhigt hatte.
Ihr Haar kitzelte ihn und er vergrub unwillkürlich sein Gesicht darin.
Es tat gut sie zu halten, ihren Körper an seinem zu spüren.
Er wollte sie nicht bekämpfen und doch tat er es. Sie sollte die Seine sein. Und jetzt wollte er sie mehr denn je.
Sie würde lernen ihn zu lieben, ihn zu achten und zu akzeptieren.
Das würde die Zeit mit sich bringen.
Wieder strich er ihren Rücken hinab und über das seidige Gefieder ihrer Schwingen.
Sie gab ihm mehr als sein Vater in all den Jahren, in denen er hier war.
Sein Vater, dem ein Leben weniger bedeutete als Nichts. Dem es eher darauf ankam, seinem Sohn den Krieg nahe zu bringen und ihn in die Schlacht zu schicken, als ihm sein Leben und die Liebe zu gönnen.
Wie lange hatte es gedauert um diese Mauer zu errichten?
Diese Mauer aus Kälte und Härte?
Aus Arroganz und Ignoranz?
Sein ganzes Leben. Und diese Frau brauchte weniger als 3 Tage um ihn in seinen Grundmauern zu erschüttern und alles zu Fall zu bringen.
Sie würde es sein, die an seiner Seite stand, ob es seinem Vater passte oder nicht. Er hatte sich oft genug gegen ihn gestellt und er scheute auch nicht, es erneut zu tun.
Wie dunkel wäre dieser Ort nur wieder, wenn sie ginge?
“Ich lass dich nicht gehen” versprach er ihr, doch mehr sich selbst, bevor auch ihn der Schlaf übermannte.



Impressum

Texte: Cover by: Michael Oßwald http://michaelo.deviantart.com/ or http://www.bymichaelo.com/
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2010

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