Cover

„Ich war völlig aufgelöst, hatte mal wieder meine düsteren Momente.“, sprach er und es klang selbstironischer als je zuvor. Doch weder er noch sein Gegenüber ließen sich davon unterbrechen. Schließlich war etwas Schreckliches geschehen. Da verkamen Details zu albernen Kleinlichkeiten. „All das Leid stieg in mir auf, als ich ihn sah - mit seinem gemeinen und zugleich feigen Grinsen im Gesicht. Beinahe wie einer dieser Puppen lachte er - so hölzern. Wie dieses…Kasperle. Er fuhr nur an mir vorbei, fuhr durch eine Pfütze und ich wurde klatschnass.“
„Das war vielleicht gar nicht seine Absicht.“, entgegnete der schnurrbärtige Mann gegenüber nur knapp, wobei er für einen kurzen Moment den Bleistift auf dem dicken, linierten Block ruhen ließ. Dann blickte er fordernd, sodass der andere mit seinem Bericht fortfuhr.
„Es war ein trüber und verregneter Tag gewesen und das Wasser fühlte sich nicht nass an. Es brannte auf meiner Haut wie Säure. - Und tief in mir drin. Es ist schon so lange her. - Ich meine, die Schule ist ja schon einige Jahre her…“
„Ja. - Wann verließen Sie die Schule?“
„Vor fünf Jahren.“
„Fünf Jahre. - Das ist eine lange Zeit. Und trotzdem ging es Ihnen so nahe, dass er…“, sprach der Mann mit Schnurrbart, ohne dabei seine Notizen zu unterbrechen und seinen Blick auch nur ein Stück weit von dem linierten Papier zu erheben.
„Das kann keiner verstehen!“, wurde er unterbrochen und löste daraufhin nun doch seine Augen vom Blatt.
„Wieso? Was ging in Ihnen vor? Oder was geht noch immer in Ihnen vor?“
„Wut! - Wut, dass er mein Leben zerstört hat. Wut, dass er lächelnd herumläuft und ich das Lachen verlernt habe. Hätte ich meinen Collie nicht, wüsste ich nicht…“, sprach er und stockte, blickte zu Boden. In seinen Augen standen Tränen, die er - voll Scham - wegwischte. „Ich bin wütend auf ihn, dass er der Täter war und ich das Opfer. - Damals in der Schule. Verstehen Sie? Er hat mich erniedrigt, hat mich verfolgt, hat mich geschlagen, terrorisiert. Er hat mich bei anderen schlecht gemacht, hat mich dadurch in die Isolation getrieben. Er hat denen, die mit mir befreundet sein wollten, gedroht, hat mich bei ihnen madig gemacht oder hat diese falschen Freunde schlicht auch dazu gebracht, mich zu terrorisieren! Er hat mir meine Zukunft verbaut. - Die schlechten Noten im Abschluss, die Isolation nach der Schule, die Ängste und die Depressionen. - An alledem ist er Schuld. - Oder besser, er war es!“
„Vielleicht waren Sie ja…“
„Schuld? Ich soll schuldig daran gewesen sein, dass er mich angegriffen hat? - Dass er mich erniedrigte und terrorisierte? Das hatten damals auch die Lehrer behauptet. Ich wurde vom Opfer zum Täter. - Weil ich mich nicht so verhalten habe, wie man es von mir erwartete. Ich war schuld an meinem eigenen Leid. - Das wollte man mir weis machen!“
„Herr Bergburger - das wollte ich doch gar nicht sagen. Aber kommen wir zum eigentlichen Thema. - Letzte Nacht…“
„Ja. Genau!“, sprach Bergburger in ruhigerem Ton, nachdem er zwei, drei mal tief ein- und ausgeatmet hatte. „Letzte Nacht. - Ich kann mich nicht mehr so recht entsinnen. Es ist verschwommen - das Bild.“
„Sagen Sie mir, woran Sie sich erinnern können.“
„Es war dunkel und ich machte noch einen Spaziergang. Es war wunderbar kühl, der Wind pfiff so schön um mein Gesicht. Ich ging durchs Feld, hinten am Bach. - Am alten Mühlbach. Der Bach führte eine Menge Wasser und es rauschte so herrlich entspannend. Es war zwar relativ finster, aber die Lichter der nahen Kirche erhellten den Himmel und damit auch den Weg. - Das ist der Lichtsmog! In der Schweiz wollen sie endlich etwas dagegen…“
Bergburgers Gegenüber nickte nur knapp, unterbrach den Abweichenden und bat ihn, sich auf das Geschehen zu konzentrieren.
Und Bergburger berichtete von einer Gestalt, die sich ihm näherte. - Es war das Kasperle-Gesicht, das ihm über den Weg lief. Und es hatte sofort sein Grinsen wieder aufgelegt.
„Er begann damit, mich zu beschimpfen, sagte mir, ich hätte nichts erreicht. Ob ich mich nicht schämen würde - sagte er.“ Die Worte gingen nur schwer über die Lippen Bergburgers, es fiel ihm sichtlich nicht leicht, darüber zu berichten. Doch sein Gegenüber bestand darauf, dass er weiter sprach.
„Er beschimpfte mich immer weiter, auch nachdem ich ihn angeschrieen habe, endlich damit aufzuhören, verspottete mich. Das konnte ich doch nicht auf mir sitzen lassen. Plötzlich hielt ich diesen Stein in der Hand und eh ich mich versah - ich weiß gar nicht, wie es genau passierte - lag er am Boden. Er hatte eine Wunde am Kopf, doch die blutete nicht. Und sein Lachen war immer noch da. Ja - er spottete sogar noch, als er am Boden lag. Und er rappelte sich nach einigen Momenten wieder auf, begann damit, mich herumzuschubsen. Dann schlug er irgendwie den Stein aus meiner Hand und wir standen uns waffenlos gegenüber. Eh ich mich versah, stürmte er auf mich ein und trat mich. Ich stürzte mich in meiner Not gegen ihn, er taumelte zurück und fiel in den Bach. Es krachte dort unten und das Wasser färbte sich rot. Er blieb regungslos da liegen. Und das Lachen in seinem Gesicht war Entsetzen gewichen.“
„Und dann?“, fragte der gegenüber Sitzende mitgerissen.
„Dann wurde ich wach… - Schweißgebadet!“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Was haben Sie aber genau dabei gefühlt, als er sie beschimpfte, verspottete?“
„Hm - was habe ich gefühlt?“ Kurzes Nachdenken, dann die Antwort: „Ich fühlte mich so schwach und klein. - Wie damals in der Schule. - Es war wie damals!“
„Und wie fühlte es sich an, als er am Boden lag, als sie ihn mit dem Stein schlugen?“
„Zunächst war es Freude und Überlegenheit. Doch dann, als seine Wunde nicht blutete und er wieder lächelnd aufstand, war es…glaube ich…Ohnmacht!“
„Ohnmacht?“
„Ja! - Es war absolute Ohnmacht und Verzweiflung.“
„Und dann? - Als er Sie physisch attackierte?“
„Da war es glaube ich zunächst Ersetzen, dann aber Wut. - Unglaubliche Wut! Als er dort unten im Wasser regungslos lag war es…eine Erleichterung!“, sprach Bergburger und er erschrak offensichtlich vor seiner eigenen Aussage.
Beide schwiegen für einen Moment, um das soeben nochmals durchlebte besser verarbeiten und erfassen zu können. Dann sprach der Fragende wieder.
„Sie sehen auch hier wieder einen ganz typischen Traum, der auf die Situation des Träumenden hinweist. - Also Ihre Situation. Wer glauben Sie war dieses…‚Kasperle’ in Wirklichkeit?“
Bergburger schwieg für einen Moment, grübelte nach. Dann sprach er aus, was er dachte.
„Es war vielleicht eine Art von Sinnbild meines Selbstvertrauens. - Oder genauer gesagt meines Selbstmisstrauens.“
„Ja. Denken Sie denn so wie dieses Kasperle, das Sie im Traum angegriffen hat?“
Bergburger war diese Frage offensichtlich unangenehm und er starrte für einen Moment lang aus dem Fenster des Therapeutenraumes. Er sah zu, wie die Vögel dort draußen umher flatterten - in der Leichtigkeit ihres Seins. Sie hatten ein gutes Leben, konnten im Wind davonfliegen, während er sich jahrelang wie in Gefangenschaft gefühlt hatte. Sie hatten ein unbeschwertes und freies Leben. Wenn er doch nur ein Vogel wäre und wie diese…
Ein unwillkürliches Räuspern seines Gegenübers riss ihn wieder in die Situation zurück und er erinnerte sich an die Frage.
„Ja, natürlich!“, schoss es aus ihm heraus. „Ich meine, er hat alles, ich habe nichts. Ich muss kämpfen, muss mühsam die von ihm geschürten Ängste überwinden, muss riesige Hürden überspringen, während er unbeschwert durch die Gegend fährt und lächelt. Ich habe nichts erreicht, während er alles hat.“
„Was hat er denn? Wissen Sie denn überhaupt, was er hat?“
„Keine Ahnung! Aber ich denke, er ist glücklich, weil er lacht.“
Bergburger blickte in ein skeptisch dreinschauendes Gesicht. „Ja - glücklich? Glauben Sie, er ist glücklich? Ich meine, es könnte durchaus sein, dass er es ist. Doch Sie leiten Ihre Schlussfolgerung einzig von seinem Lächeln ab. Glauben Sie, dass ‚Kasperle’ glücklich ist, nur weil es lacht? - Und ich meine jetzt das echte Puppenkasperle.“
Bergburger verstand die Andeutung seines Therapeuten und musste bei der Vorstellung schmunzeln, dass hinter der Kasperle-Maske vielleicht auch ein ganz trauriges Wesen mit Krokodilstränen stecken konnte. Doch zugleich wanderte durch seinen Geist, dass sein einstiger Widersacher sicherlich besser dran war, als er. Der hatte sicherlich schon mehr erreicht, hatte mehr Freunde und mehr Spaß an seinem Leben.
Immer, wenn er dieses Kasperle sah, wünschte er sich ein wenig mehr Gottesgerechtigkeit. Gott sollte doch bitte für Gerechtigkeit sorgen. Er war kein Sünder, half der alten Dame über die Straße und ließ den alten Mann in der Straßenbahn sitzen. War das der Dank? - Ihm ging es schlecht und dem, der ihm Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch Zukunft verbaut hatte, flogen die gebratenen Hähnchen direkt in den Mund, floss der Milchhonigbach direkt in den Vorgarten. Das konnte nicht sein! Es musste sich etwas ändern!
„Ich kann es natürlich nicht beschwören, ob dieser Mensch glücklich ist, oder nicht.“, durchquerte der Therapeut die Gedankengänge seines Gegenübers. „Doch was ist mit Ihnen? Wie können sie glücklicher werden? Er hat Ihre Vergangenheit bestimmt und bis heute Einfluss auf Ihr Leben. Wollen Sie das nicht ändern?“
„Natürlich!“, schoss es aus Bergburgers Mund unbeabsichtigt laut. Und er korrigierte sich. „Selbstverständlich will ich das. Aber wie? Das ist doch mein Problem!“
„Sie müssen aufhören, sich an den Erfolgen anderer zu messen. Sie sind Sie und machen Ihre Schritte, durchleben Ihre eigenen Erfolge. Manche andere sind vielleicht schon weiter als Sie, haben Familie und Kinder. Sie sind eben noch nicht so weit, doch Sie kommen auch von einer völlig anderen Ausgangslage. Sie haben vieles erreicht und können sowohl stolz sein, als auch darauf aufbauen.“, sprach der Therapeut und die Stunde war wie immer schnell verflogen.
Bergburger ging aus der Praxis, die er nun schon zwei Jahre lang besuchte. - Heute mit äußerst gemischten Gefühlen. Sicher hatte er schon einiges erreicht. Doch er kam sich trotzdem so schwach vor. - Wie ein Weißkopfseeadlerjunges, das im Nest saß und wartete, bis das Leben ihm Futter brachte. - Futter, das es jedoch gegen seinen größeren und stärkeren Bruder verteidigen musste. Und nur das stärkere Weißkopfseeadlerjunge überlebte in der Regel. - Das Schwächere wurde immer schwächer, weil es kein Futter erhielt und wurde irgendwann von seinem Bruder oder der Schwester aus dem Nest in die Tiefe gestoßen…
Sein einziger und letzter Flug…

„Todeszeitpunkt?“
„Ich schätze gegen neunzehn Uhr. Glatter Genickbruch. Er war sofort tot.“
Ein Grauhaariger und Vollbärtiger mit ebensolcher Melierung blickte auf den leblosen Körper, liegend auf dem kalten Boden der Realität. „Kein Wunder. - Wenn er von dort oben heruntergefallen ist…“
„Ja - die Fliesen hier haben ihr Übriges getan.“, sprach ein Mann, der in einen weißen Stoffanzug gehüllt war. Der Gerichtsmediziner war wie immer früher als der Kommissar und seine Kollegin am Tatort angekommen. Überall wuselten ähnlich gekleidete Menschen umher - in weißen, steril anmutenden Stoff gehüllt. Es war ein gespenstisches Ambiente. - Gerade in diesem Gebäude.
„Gibt es irgendwelche Augenzeugen?“, fragte Kommissar Kelchbrunner und blickte sich um, wobei er erst jetzt erkannte, dass es wahrlich einen Zeugen gab. Den konnte man zwar fragen, doch er würde sicherlich die Aussage verweigern. - Der liebe Gott persönlich blickte zu Boden, genau auf die Stelle, an der der junge Mann seinen letzten Atem ausgestoßen hatte. Oben in der Kuppel war Gott verewigt und sah herunter auf die schwarzen und weißen Schäfchen.
„Nein - es war keiner in der Kirche. Auch draußen war niemand, der den Suizid beobachtet haben könnte.“, antwortete Herr Kunze, Chef der Gerichtsmedizin im Bezirk.
„Suizid? - Wieso Selbstmord?“, fragte Kelchbrunner. „Wie kommen Sie darauf?“
„Ganz einfach. Es gibt laut SPU-SI und auch am Körper selbst keine Anzeichen für Fremdeinwirkung. Wie es scheint ist der junge Mann bewusst hinauf gegangen und ist in die Tiefe gesprungen.“
„Warum so kompliziert? Ich meine, er musste über das hohe Geländer hinwegklettern. Ich frage mich, warum er ausgerechnet diesen Platz gewählt hat.“, sprach die Assistentin des Kommissars und ging einige Schritte weiter, blickte zwischen die Bänke.
„Sie glauben auch nicht an den Selbstmord?“, erwiderte Kelchbrunner und seine Kollegin Maier schüttelte den Kopf.
„Nicht wirklich. Er hätte es schließlich einfacher haben können.“
„Vielleicht wollte er Gott nahe sein?“, merkte Kunze, der Gerichtsmediziner, an.
„Ja. - Das mag sein. Oder aber jemand versucht uns gezielt in die Irre zu führen.“, sprach Maier und kniete sich auf die alten Holzbretter der Kirchenbank. - Nicht jedoch, um Gott die Ehre zu erweisen. Das hatte sie schließlich schon zuvor mit einem kleinen ‚Knicks’ und dem Blick zum Altar getan. Sie murmelte etwas in die Holzbank, was auch kein Gebet zu sein schien. Vielmehr hatte sie offensichtlich etwas entdeckt, was andere nicht gefunden hatten. Sie erhob sich wieder und hielt ein schwarzes Handy in der rechten, mit einem Handschuh bestückten, Hand. Als sie wieder im Mittelgang der Kirche stand, betätigte sie einige Tasten des eingeschalteten Mobiltelefons und stieß ein „Bingo!“ aus.
„Meine Dame! - Ich darf doch sehr bitten. Dies ist ein Haus Gottes!“, sprach ein Mann mit beinahe weißem Haar, rundem Bauch und Brille auf der Nase. Er blickte zu dem Altar und dann wieder in die blauen Augen von Frau Maier.
„Sie sind…?“, fragte diese.
„Das ist der Herr Pfarrer Waldach.“, entgegnete der Mann der Gerichtsmedizin.
Und der Geistliche nickte andächtig. „Ich habe den Armen, Verzweifelten heute Morgen gefunden.“
„Wann war das?“
„Es muss so um sieben Uhr gewesen sein. Ich wollte gerade eine Messe vorbereiten…“
„Da!“, hallte die Stimme der Assistentin durch den Kirchenraum, worauf sie von einem neuerlich rügenden Blick des Geistlichen getroffen wurde. Sie mäßigte ihre Stimme, eilte jedoch zu Kommissar Kelchbrunner und hielt ihm das Handy vor die Nase.
„Ist das das Telefon dieses Armen, des Lebens Überdrüssigen?“, fragte der Pfarrer.
„Das ist das Telefon der Opfers. - Sehr richtig.“, erwiderte die blauäugige, dunkelhaarige Kriminalistin. „Aber ich vermute, dass er nicht des Lebens überdrüssig war.“
„Ach nein?“, schallte die Stimme des Gerichtsmediziners hinter ihnen.
„Nein! Welcher Selbstmörder versucht ansonsten vor seinem Suizid noch den Notruf zu wählen?“
„Notruf? Wie kommen Sie darauf?“, fragte der Pfarrer.
„Auf dem Display war ‚11’ zu sehen.“
„Das könnten genauso gut die Anfangszahlen der Auskunft sein.“, sprach der anwesende Gerichtsmediziner und Frau Maier lächelte. „Genau… - Aber dann stellt sich die Frage, warum er die Auskunft anrufen wollte, bevor er sich in den Tod stürzte.“
„Vielleicht ist das Handy auch beim Fall in die Tiefe auf die Taste ‚1’ gefallen und hat somit die Eingabe der beiden Einsen ausgelöst.“, mutmaßte Kunze.
„Mag sein.“, sprach Kelchbrunner, der sich zwischenzeitlich über den Toten gebeugt hatte. „Doch erklärt dies noch lange nicht diese kleine Brandtwunde hier am Finger. Und ist Ihnen auch aufgefallen, dass der Mann etwas nach Wein riecht?“
Der Gerichtsmediziner nickte. „Wir sind hier in einem der größten Weinanbaugebiete Deutschlands. Man bekommt hier an jeder Ecke Wein zu kaufen, wenn man nicht sogar selbst in dieser Branche arbeitet. Vielleicht hat er sich Mut angetrunken, um sich dann umzubringen.“
„Und er ging angetrunken in eine Kirche, um sich dort dem Risiko auszusetzen, entdeckt und aufgehalten zu werden? Und vor allem stieg er hinauf auf die Empore, um dort über ein Geländer zu klettern und sich von dort aus in den Tod zu stürzen? - Wobei ein Fall aus dieser Höhe nicht zwangsläufig den Tod sondern auch schlicht Knochenbrüche oder gar Querschnittslähmung nach sich ziehen kann?“, sprach Kelchbrunner.
„Ob er betrunken war und wie viel Promille Blutalkohol er hatte wird sich noch bestimmen lassen. Und diese Brandtwunde kann er sich sonst wo zugezogen haben. Selbst beim Ausdrücken einer Zigarette.“, sprach der Gerichtsmediziner und Kelchbrunner wurde einmal mehr bewusst, warum er diesen Mann partout nicht leiden konnte. Immer, wenn er kurz vor seinem Jahresurlaub stand, in dem er drei Wochen lang Asien besuchte, war er nicht nur wenig ausstehlich. Vor allem hatte er dann auch den Hang, zu pfuschen. Man musste ihm in dieser Zeit sehr genau auf die Finger schauen, was bereits mehrere seiner Kommissar-Kollegen moniert hatten. Doch dieser Mediziner hatte einflussreiche Fürsprecher im Innenministerium. - Er war genau genommen mit der Cousine des Ministers dieses Ressorts verheiratet. - Da war nichts zu machen und jegliche Kritik wirkungslos…
„Ich möchte eine toxikologische Untersuchung. Außerdem muss ich wissen, welchen Wein er getrunken hat.“, sprach Kelchbrunner und der Gerichtsmediziner antwortete brüskiert. „Das ist meine Arbeit. - Ich weiß schon, was ich zu tun habe!“
„Genau. - Und es ist meine Arbeit, aus den medizinischen Ergebnissen meine Schlüsse zu ziehen. Also - komplette toxikologische Untersuchung und besonders auch eine Untersuchung, wodurch die Brandtwunde an seinem Finger verursacht wurde und wie alt diese ist.“
„Okay!“, sprach der Mediziner knapp. „Und wie meinen Sie das mit dem Wein?“
„Können Sie feststellen, ob es sich um einen Rot- oder Weißwein handelte und auch, ob es billiger Fusel war, oder ein gutes Tröpfchen?“
„Ja - kann ich. Sonst noch was? - Vielleicht die Geschmacksnote oder den Jahrgang?“, bläffte der Mediziner und der Kommissar antwortete.
„Wenn es keine Umstände macht, gerne…!“

Knisternd schlug er am Morgen die Tageszeitung auf. Es war ein allmorgendliches Ritual, dem er nicht nur wochentags sondern auch an den Wochenenden frönte. Heute war Mitwoch und er war glücklich, wenn der Freitag gekommen war. Am Wochenende musste er sich nicht mehr mit den Problemen der anderen herumschlagen. - Er konnte sich endlich den seinen widmen. Der Haussegen hing bereits seit Wochen schief, nachdem seine Frau und er einen heftigen Streit gehabt hatten. Zwar hatten sie sich wieder verbal versöhnt, doch es stand trotzdem noch etwas zwischen ihnen. So saß sie auch am Esstisch, schlürfte wortlos ihren Schwarzen Tee, den sie mit Kandiszucker mehrfach nachsüßte und dabei mit dem Löffel laut hörbar rührte. - Offensichtlich als Revanche zur morgendlichen Papierknisterorgie.
Der Therapeut blätterte schnell weiter, denn er spürte bereits wieder, wie die Luft zu brennen schien, somit alles kurz vor einer Explosion stand. Und plötzlich traf es ihn wie ein Blitz. - Seine Augen waren auf der Kreisseite erstarrt, als sie das Bild in der Zeitung sahen. - Und darüber die Überschrift: „Tod in der Kirche! - War es Selbstmord?“
„Warum?“, sprach er unwillkürlich aus und bemerkte, wie ihn seine Frau verwundert anblickte. Mit diesem Wort hatte sie wohl gar nicht gerechnet. Doch er hatte keine weiteren Worte mehr übrig, las vielmehr jene, die schwarz auf weiß standen, ihm jedoch keine wirkliche Erklärung gaben. Eigentlich sagte die Überschrift bereits alles, was in dem Text geschrieben stand. Man hatte sich offensichtlich einzig die Mühe gemacht, die Seite mit schwarzen Buchstaben zu füllen.
Warum hatte er das getan? Oder hatte er es überhaupt getan? War es vielleicht auch ein Unfall gewesen? Er konnte es sich nicht beantworten und spürte, wie Unruhe in ihm aufstieg. - Und ein erdrückendes Schuldgefühl. Hatte er vielleicht etwas nicht gespürt? - Etwas überhört?
Beinahe mechanisch ließ er die Zeitung sinken, ohne sich klar zu sein, dass er den Lokalteil gerade in die Frühstücksflocken seiner Frau versenkte, was sie weiter in Rage versetzte. Doch er brachte nicht mehr als ein gepresstes „Entschuldigung… - Ich muss los.“ hervor. Sein Innerstes schien gelähmt zu sein von der Vorstellung, eventuell ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben.

Sie hatten bereits tags zuvor den schweren Gang hinter sich gebracht - die Befragung der Familie des Getöteten. Dort war man untröstlich und reagierte äußerst gereizt, als die beiden Beamten der Kriminalpolizei obligatorisch nach dem jeweiligen Alibi fragten. - Schließlich stand zwar noch nicht fest, ob es sich um Mord oder Selbstmord handelte, doch sowohl Kelchbrunner als auch seine Assistentin glaubten schon seit dem Fund des Handys nicht mehr an einen Freitod. Schließlich musste es sich um einen äußersten Zufall handeln, dass das Gerät ausgerechnet die beiden ersten Zahlen des Polizeinotrufes im Display angezeigt hatte. Zudem fand es seine Assistentin äußerst merkwürdig, dass jemand, der sich selbst ermorden wollte, das Handy offensichtlich in den Händen hielt, während er in die Tiefe sprang. - Nicht anders konnte man sich den Fundort unterhalb der Kirchenbank erklären.
Und dass es sich um sein Handy handelte, war zwischenzeitlich sicher. Es sah alles nicht nach dem typischen Selbstmord eines Angetrunkenen aus und Kelchbrunner hatte sich vorgenommen, in alle Richtungen zu ermitteln. Dabei war auch die Familie kein Tabu, denn Kommissar Kelchbrunner hatte schon so oft erlebt, dass die, die am lautesten weinten, am Ende den Mord begangen hatten…
Kelchbrunner und Maier betraten nun - einen Tag nach dem Leichenfund - die Gerichtsmedizin. Der überaus unfreundliche Mediziner hatte in ihrem Revier angerufen und seine Botschaft dort ausschließlich an anderer Stelle hinterlassen. Ein Streifenpolizist hatte daher ihr Büro mit der Nachricht betreten, man hätte es sich wohl mit der Gerichtmedizin verdorben. - Und dies war zuvor schon vielen anderen Kollegen so ergangen… Wie dem auch sei berichtete der Streifenpolizist, der Chef der Gerichtsmedizin habe angerufen und berichtet, es gäbe etwas Neues im Fall ‚Kirchen-Mord’.
Um die Wogen etwas zu glätten, kaufte Kelchbrunner - unter Protest seiner Assistentin - einen kleinen Glücks-Bambus, da der Gerichtsmediziner ein bekennender Fan asiatischer Kultur war. Schließlich war es äußerst belastend, wenn man mit jemandem zusammenarbeiten musste, der nur das Nötigste mit einem sprach und auf dessen Mithilfe man angewiesen war.
„Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht.“, sprach Kelchbrunner, als er den sterilen, gefliesten Raum betrat und in das verärgert erscheinende Gesicht des Gerichtsmediziners blickte. Dessen Züge wechselten von einer verzerrten zu einer leicht schmunzelnden Ausstrahlung.
„Das ist aber nett. - Wäre aber nicht nötig gewesen. Ich bin professionell genug, um über die eine oder andere Entgleisung hinwegzusehen.“, sprach er, griff nach dem Geschenk und positionierte es auf seinem - mit Buddha-Figuren und kleinen japanischen Keramikhäuschen - dekorierten Schreibtisch.
Kelchbrunner musste schwer schlucken, doch er verkniff sich eine Gegenrede. Seine Assistentin hatte bereits zuvor genau aus diesem Grund von einem Geschenk abgeraten, da sie die Reaktion des Mediziners erahnt hatte. Dass sie Recht behalten hatte, erfüllte nun ihr Gesicht mit einem schelmischen Grinsen.
„Spartein und Cholchicin in relativ hoher Dosis.“, sprach der Mann in grünem OP-Kittel und lenkte die beiden Blicke der Kriminalangestellten auf sich. Er hielt dabei ein Blatt mit Untersuchungsergebnissen aus dem Labor in den Händen.
„Bitte was?“, erwiderte Kelchbrunner und wechselte mit seiner Begleiterin einen neuerlichen Blick.
„Colchicum autumnale und Sarothamus scoparius. - Vermutlich stammen die Stoffe, die er zu sich genommen hat, aus diesen beiden Gewächsen. - Aus Herbstzeitlose und Besenginster. Das ist eine teuflische Mischung.“, erwiderte der Mediziner
„Er wurde also vergiftet?“, schoss es aus Maier heraus, die den Grünkittel triumphierend anschaute. Schließlich hatte der sich getäuscht mit seiner Vermutung, es sei Selbstmord gewesen.
„Ein Suizid ist vor dem Hintergrund relativ unwahrscheinlich, da kein vernünftiger Mensch auf die Idee käme, eine Mischung von Herbstzeitlose und Besenginster zu sich zu nehmen. Zwar wäre dies der sichere Weg in den Tod - aber ein sehr unangenehmer.“
„Also wollte ihn jemand umbringen. - Aber hat er es auch getan?“, fragte der Kommissar mehr sich selbst als die Umstehenden.
„Hat das Gift bereits seine Wirkung gezeigt?“, konkretisierte Maier die Frage des Kommissars und der Mediziner schüttelte den Kopf.
„Nicht schon nach etwa 30 Minuten. Ich denke, er verspürte vielleicht einzig eine gewisse Benommenheit.“
„Meinen Sie, er ist deshalb über das Geländer gestürzt? - Oder vielleicht gesprungen?“
„Also, es gibt Anzeichen, dass ihm jemand einen Stoß auf den Brustkorb versetzt hat. Allerdings hätte das nicht ausgereicht, dass er über das Geländer katapultiert worden wäre. Wir haben einige Hundehaare auf seinem Pullover gefunden. - Genau an der Stelle, an der der Stoß versetzt wurde. Da er selbst keinen Hund besitzt, ist anzunehmen, dass der Täter hier eine Art von Fingerabdruck hinterlassen hat.
Es ist jedenfalls ganz offensichtlich, dass der Täter beim Sturz über das Geländer nachgeholfen haben muss. Denn das Gift war nicht ganz so hoch konzentriert, dass es sofort Wirkung gezeigt hätte. Jemand wollte offensichtlich, dass der Tod erst einige Stunden später eintritt.“
„Das passt nicht zusammen! Warum sollte ihn jemand vergiften, speziell darauf achten, dass er erst einige Stunden später zu Tode kommt und ihn dann doch hinunter stürzen?“, fragte die Assistentin Maier und der Gerichtsmediziner warf ihr einen desinteressierten Blick zu.
„Das ist nicht meine Aufgabe. Fakt ist: Er hatte wohl weder Halluzinationen durch das Toxin noch war er derart beeinträchtigt, dass er alleine über das Geländer stürzen konnte. Sein Zustand war wohl mit leichter Benommenheit bei geringem Alkoholkonsum vergleichbar.“
„Njet!“, sprach der Mediziner, als lese er die nächste Frage aus den Gesichtern der beiden Besucher. “Nur 0,3 Promille. Er hatte wohl nicht sehr viel von dem Wein getrunken. - Übrigens! Es war ein Rotwein und vermutlich ein nicht ganz so billiger Tropfen.“
„Ja - der Wein… Der konnte ebenso gut aus seinem Weinkeller stammen.“, merkte Kelchbrunner an, denn sie hatten beim Besuch der Familie des Opfers festgestellt, dass es eben aus einer Weinbaufamilie entstammte.
„Hm - mag sein. Aber dann nehmen Sie besser die Familie fest. Denn das Gift, das ich in seinem Magen gefunden habe, ist vermutlich genau über diese Trägersubstanz in seinen Körper gelangt. Denn der Wein und der Alkohol verminderten etwas den Geschmack oder genauer gesagt das Empfinden von Herbstzeitlose und Besenginster-Extrakt.“

„Herr Bergburger?“ Der Therapeut war sich nicht sicher, wie der junge Mann in die Geschehnisse verwickelt war. Doch er wollte es klären, sonst konnte er nicht mehr ruhig schlafen.
„Ich hab ihn gestern Abend getroffen. - Auf der Straße und zwar in Realität.“, sprudelte es aus Bergburger heraus, als er hinter sich die Tür zum Wartezimmer geschlossen hatte.
„Sie haben ihn getroffen?“, wiederholte der Therapeut und die Angst beschlich ihn, tatsächlich mit verantwortlich zu sein - für den Tod eines Mannes.
„Ja. Er hat mich wieder mit seinem spottenden Lächeln angeschaut. Und da konnte ich nicht anders…“
Der Therapeut zuckte zusammen…
„Da hab ich ihm einen Stoß verpasst!“
„Einen Stoß?“ Die Therapeutenstimme klang leise und heiser.
„Ja. - Und dann hab ich zu ihm gesagt, er sei ein ganz armes Würstchen und sein hölzernes Lachen könne mir nichts mehr anhaben. Sie hatten Recht damit! - Er hat meine Vergangenheit bestimmt und meine Gegenwart. Meine Zukunft gehört jedoch mir ganz allein!“
Der Zuhörer ließ einen Atemstoß der Erleichterung durch seine Lungen strömen und lächelte über seine eigene Phantasie. Predigte er nicht - tagaus, tagein - seinen Klienten, dass man sich zunächst fragen solle, ob der Gedanke, der einen mit Angst erfüllt, auch der Realität entspricht? Sagte er nicht immer, man solle zuerst nachdenken, ehe man dem Gefühl ‚Angst’ einen Weg ebnete? - Und was hatte er getan…?
„Was ist mit Ihnen?“, fragte Bergburger etwas verunsichert. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Oder etwas Unpassendes?“ Er rieb sich nervös die Hände und sein Gesicht wurde mit einem Mal rot vor Scham.
„Nein, nein. Es ist nur…“, begann der Therapeut, doch er wusste nicht so recht, wie er seinem Gegenüber erklären konnte, was in ihm vorgegangen war. Er konnte sicher nicht freiheraus sagen, dass er vermutet habe, Bergburger hätte einen Mord begangen…
Er blickte auf die zusammengefaltete Tageszeitung, die er auf dem kleinen Beistelltischchen abgelegt hatte und griff nach ihr. Bergburger würde es erfahren und es war sicherlich therapeutisch sinnvoll, es hier zu klären. So schlug er den Regionalteil der Zeitung auf und streckte ihn dem verwundert schauenden Klienten entgegen. Der griff nach dem Blatt und begann zu lesen…
Sein Gesicht verfinsterte sich, um dann schlagartig in ein unterdrücktes Schmunzeln umzuschlagen. „Oh mein Gott!“
„Was denken Sie, wenn Sie das lesen und sehen?“, fragte der Therapeut neutral.
Und sein Klient suchte einen Moment lang nach den Worten. Dann hatte er sie gefunden.
Die Mimik von Bergburger veränderte sich erneut und schlug um in ein beinahe diabolisches Grinsen.
„Endlich Gerechtigkeit!“
Und dem Therapeuten lief ein eiskalter Schauer über den Rücken.

Inzwischen war ein weiterer Tag vergangen und alle Ermittlungen hatten ins Nichts geführt. Die Brandtwunde - so hatte der Gerichtmediziner berichtet - stamme offenbar von einem glatten Gefäß mit heißer Oberfläche. Es war also keine Verbrennung durch eine Zigarette oder durch offenes Feuer gewesen, die das Opfer am Finger davongetragen hatte. Die Wunde war wohl am Tag des Mordes entstanden. - Vermutlich sogar am frühen Abend, mit Sicherheit vor seinem Tod. Den genauen Zeitpunkt konnte der Mediziner jedoch nicht bestimmen. Die Wunde konnte allerdings maximal zwei Stunden vor dem Todeszeitpunkt entstanden sein.
Dies half nicht wirklich weiter, denn zwischenzeitlich hatte sich ein Zeuge gemeldet, der den jungen Mann etwa eine Stunde zuvor noch im Feld gesehen hatte, wo er alleine zu Fuß unterwegs gewesen sein musste. Und was er zuvor unternommen hatte, konnte niemand sagen. Er war mit dem Auto unterwegs gewesen und hatte niemandem seiner Familie berichtet, wohin die Reise gehen sollte. Auch eine genaue Untersuchung des Handys ergab keine weiteren Anhaltspunkte. - Keine Gespräche im betreffenden Zeitraum, keine Einträge in den Handy-Kalender. - Bloß diese beiden Einsen standen noch im Raum, die zwar Zufall sein konnten, andererseits jedoch auch ins Geschehen passen würden.

Das Abendrot hatte längst den Himmel ins Blut des sterbenden Tages getaucht und der Nacht ihren Weg geebnet. Der volle Mond stand hoch oben und um ihn herum verstrahlte das letzte Licht am Himmel. Mit andächtigen Schritten begab sich der Pfarrer zur Kirche, um nach dem Rechten zu schauen und letztendlich die große, hölzerne Tür zu schließen. Mit einer Verneigung betrat er das Gotteshaus, bekreuzigte sich und ging noch einmal nach vorne, um das Buch mitzunehmen, aus dem er noch am Vormittag zitiert und schlicht vergessen hatte, es mit zu nehmen. Er ging bedächtig zum Altar, nahm das alte Buch und folgte dem roten Teppich wieder zum Ausgang, schaltete die vorderen Lichter in der Kirche aus. Und plötzlich huschte ein Schatten über ihm auf der Empore vorbei. Die Orgel gab einen kurzen dunklen Ton von sich und das Buch fiel aus der Hand des Geistlichen. Verängstigt blickte er sich um. „Gott zum Gruße! - Wer da?“, rief er mit dunkler, beinahe melodischer Abfolge.
Er erhielt keine Antwort und hob flink das Buch auf, das vor seinen Füßen gelandet war.
„Hallo?“, rief er erneut und seine Stimme hallte wider im gesamten Kirchenschiff.
Lautes Poltern und Knarren erregte seine Aufmerksamkeit. Offensichtlich kam jemand schnellen Schrittes von der Empore hinab gestiegen, über die hölzernen Treppen, und würde gleich aus dem Türbogen ins Licht treten. Der Pfarrer ging einige Schritte zurück, denn der Weg zum Ausgang war zu weit, um ihn vor dem Unbekannten zu erreichen.
Schnaubend kam eine Person aus der Dunkelheit in den Lichtkegel der elektrischen Lampen an der Decke gelaufen. - Schnaubend nicht vor Wut, sondern vor Eile.
„Halt, halt, halt!“, rief eine bekannte Stimme und eilte - ohne auf den starr und schweigend dastehenden Pfarrer zu achten - auf den Ausgang zu. Erst jetzt bemerkte der Mann, dass der Pfarrer die Kirche noch nicht verlassen hatte und bremste ab, drehte sich um zu dem Geistlichen.
„Herr Kelchbrunner.“, sagte der Pfarrer und seine Worte klangen vorwurfsvoll. „Sie haben mich beinahe zu Tode erschreckt!“
„Entschuldigen Sie bitte. Mich hat die Sache einfach nicht losgelassen und deshalb bin ich noch einmal hier her gekommen. Ich saß oben und überlegte mir, wie sich alles zugetragen haben könnte. Dann bemerkte ich plötzlich, dass Sie hier sind und die Lichter löschten. Und ich befürchtete eingeschlossen zu werden.“
„Das wäre Ihnen auch um ein Haar passiert.“, sprach der Pfarrer und ging auf den Kommissar zu, legte die Hand auf seine Schulter und deutete damit an, dass er ihm doch bitte folgen solle.
„Es ist schon später Abend - Herr Kommissar. Ich bin sicher, es tut Ihnen gut, Ruhe zu finden. Gehen Sie nach Hause zu Ihrer Familie und denken sie nicht zuviel nach. Die Arbeit lässt sich auch noch morgen tun.“
„Ja - ich werde gerne nach Hause fahren. Doch dort draußen läuft ein Mörder frei herum und ich…“
„Mord? - Also doch?“
„Allem Anschein nach, war es Mord. Doch ein sehr mysteriöser.“
„Mysteriös? - Inwieweit?“ Der Pfarrer öffnete die knarrende Tür und schob seinen Begleiter sanft aber bestimmt hinaus, folgte ihm, verschloss die Tür hinter sich und verriegelte das alte Türschloss unter lautem Knacken.
Kelchbrunner schwieg einen Moment nachdenklich, da ihm ein Gedanke durch den Kopf wanderte, er ihn jedoch wieder beiseite schob. - Es war zu belanglos. Dann berichtete er dem Geistlichen von den Fragen, die sich in dem Fall auftaten.
„Wissen Sie - welchen Sinn macht es, einen Menschen zu ermorden, in die Tiefe zu stoßen, den man zuvor schon vergiftet hat und der bereits dem Tode geweiht ist?“
„Nun - mein Freund…“, sprach der geistliche Mann, der vielleicht Anfang siebzig war und legte erneut die Hand auf den Rücken des Kommissars, ging mit ihm einige Schritte in Richtung seiner Wohnung. „…welchen Sinn macht ein Mord an sich? Ich meine, kann ein Mord wirklichen Sinn ergeben? Ist denn eine Tat, die Gott zuwider strebt, tatsächlich sinnvoll? Sollten wir nicht alle ausschließlich Gottes Werk dienen?“
„Das ist richtig. Doch weiß der Mensch auch heute noch nicht wirklich, was er tut. Daran hat sich 2000 Jahre lang nicht wirklich etwas geändert. Und wer darf das wieder ausbaden? - Die Polizei, Dein Freund und Helfer…“
Der Pfarrer blickte zur Tür des Hauses, in dem er wohnte und löste seine Hand vom Rücken des Kommissars mit einem leichten Klopfen. „Gott wird Sie die richtigen Schlüsse ziehen lassen und alles in die Bahnen lenken, die er für uns vorbestimmt hat.“
„Mag sein. Aber ich verlasse mich lieber auf meine Ermittlungsergebnisse. Und wenn Gott mir ein wenig hilft, wird mir das schon eine große Hilfe sein.“
„Eine gute Nacht - Herr Kommissar.“
Eine gute Nacht… - dies war exakt das, was er mit Sicherheit nicht haben würde. Denn er war sehr zielstrebig und gerade derartige Fälle beschäftigten ihn sehr. - Nicht solche, dessen Täter praktisch noch mit dem Messer in der Hand gefasst wurden. Sicher standen auch hinter diesen Schicksale, die einen Polizisten schwer belasten konnten. Doch andererseits war es genau ihr Job, den Täter zu fassen, in dingfest zu machen, ihm keine Chance für weitere Delikte zu geben und ihn vor allem der gerechten Strafe zuzuführen. - Was jedoch oftmals auch nicht geschah, da die Gesetzgebung in Deutschland in vielen Fällen einfach zu lasch erschien.
Doch dies war heute nicht sein Thema…
Er ging noch einmal um den Block, ehe er zu seinem Auto zurückkehrte, um nach Hause zu fahren…

Die Nacht war kurz gewesen, er hatte vielleicht insgesamt vier Stunden Schlaf gefunden. Nun begab er sich völlig übernächtigt ins Büro, wo er bereits von seiner Assistentin brennend erwartet wurde. „Wir haben einen Zeugen, der beobachtet haben will, wie sich das Opfer mit einem etwa Gleichaltrigen gestritten hat. - Kurz vor dem Mord!“
Kelchbrunner war kaum zu bremsen, schnappte sich die Kaffeekanne und eine Tasse, ging ins Nachbarbüro, in dem eben jener Zeuge saß. Die Aussage war bereits zu Papier gebracht worden, doch Kelchbrunner wollte es sich wie immer nicht nehmen lassen, noch einmal genau nachzufragen.
„Das ist Herr Groß.“, stellte Frau Maier den Zeugen knapp vor und Kelchbrunner setzte sich auf die gegenüberliegende Seite des Schreibtisches, sodass er dem vielleicht sechzigjährigen Mann ins Gesicht schauen konnte.
„Mein Name ist Kelchbrunner. Vielen Dank, dass Sie sich gemeldet haben.“
„Keine Ursache. - Ich denke, das ist man doch als Bürger unserem Staat schuldig.“
„Gut, dass Sie das so sehen. Nun - ich weiß, Sie haben es bereits erzählt, doch was genau haben Sie beobachtet? Können Sie mir das noch einmal kurz zusammenfassen?“
„Na eine handfeste Auseinandersetzung habe ich gesehen. - Zwischen dem Toten und dem jungen Bergburger. Er hat ihm auf dem Feldweg einen Schlag versetzt. Oder einen Stoß.“
„Wer hat wen geschlagen?“
„Na der Bergburger hat geschlagen. Das ist man gar nicht von ihm gewöhnt. - Hätte ich nie gedacht. Ich sehe ihn immer mit seinem Collie spazieren gehen.“, sprach der Mann mit grauem Dreitagebart und fügte flüsternd hinzu. „Der kriegt doch auch Hartz vier. - Eine ganz arme Sau, sag ich Ihnen.“
„Aha. Und was haben Sie noch beobachtet?“
„Ja, nichts. Bergburger ist weitergegangen. Ich bin dann auch weiter, denn mein Adebar kann nicht so lange auf einer Stelle stehen. - Die Hüften, wissen Sie…“
„Ihr Adebar…?“
„Na mein Schäferhund. Der ist schon mehr als vierzehn Jahre alt.“
„Adebar.“, lachte Kelchbrunner auf. „Na, das ist ja mal ein schöner Name für einen Hund.!
„Jedenfalls hat Bergburger nichts weiter getan. Es war ja nur ein harmloser Stoß. Ich bin sicher, der hat damit nichts zu tun, aber ich dachte, ich sag es trotzdem.“
„Ja, das hilft uns wirklich sehr weiter. Ich danke Ihnen ganz herzlich.“, sprach Kelchbrunner und bat Maier mit einer Geste, den Mann aus dem Büro zu führen. Dann griff er sich das Protokoll, das ein Kollege kurz zuvor getippt hatte. Er goss sich dabei eine große Tasse Kaffee ein.
„Klingt plausibel, oder? An der Leiche des Opfers wurde eine Gewalteinwirkung auf den Brustkorb festgestellt und zugleich Hundehaare gefunden. Ich glaube, wir haben eine heiße Spur.“
„Auch Spuren sind nur so heiß, wie sie gekocht werden…“, sprach der Kommissar, schlürfte am viel zu heißen Kaffee und zog mit verzerrtem Gesicht die Tasse von seinen Lippen weg, wobei der Kaffee in der viel zu voll gefüllten Tasse nun auch über seine Finger schwappte.
Maier konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und Kelchbrunner stellte erbost das Getränk beiseite.
„Sie haben die Adresse von diesem Bergburger?“
„Ja - alles schon recherchiert.“
„Na dann mal los. - Der Kaffee wird heute Mittag wohl auch noch warm genug sein, um ihn zu trinken.“, sprach er und lächelte dabei.
Gerade, als sie im Begriff waren, ihr Büro zu verlassen, in dem sie noch einen Notizblock geholt hatten, klingelte das Telefon. Maier nahm ab und vernahm vom Gerichtsmediziner, dass er noch ein „kleines Schmankerl“ entdeckt habe. Es sei nur ein sehr kleiner Fleck gewesen, doch auf dem Pullover des Opfers habe er Rotwein entdeckt. - Wahrscheinlich jenen, den er auch im Magen des Toten gefunden hatte. Allerdings sei es durch diese Tatsache möglich, eine Analyse zu machen. „Bringt mir eine Flasche Wein und ich werde euch sagen können, ob es der Wein war, den das Opfer getrunken hat.“, brachte er es auf den Punkt und als Maier ihrem Vorgesetzten diesen Satz mitteilte, lachte der laut auf. „In einem Weinanbaugebiet wird sich wohl mehr als eine Flasche finden lassen…“

Das Haus war unscheinbar, ebenso der junge Mann, der nach mehrfachem Klingeln zur Türe gelaufen kam.
„Kriminalpolizei. - Sind Sie Herr Hans Bergburger?“, sprach Kelchbrunner und beide Bedienstete streckten dem dunkelblonden Mann ihre Ausweise entgegen.
„Ja. Um was geht es, wenn ich fragen darf? Ist was passiert?“
„Wie man es nimmt. Können wir kurz rein kommen?“, fragte der Kommissar und Bergburger bejahte. Er nahm sie mit in ein relativ spartanisch, aber doch sehr angenehm eingerichtetes Zimmer.
„Wollen Sie etwas trinken? Es tut mir leid, dass ich Ihnen nichts anderes anbieten kann, als billigen Orangensaft, aber wenn man vom Arbeitslosengeld zwei lebt, ist das nicht wirklich genug um gut zu leben.“
„Kein Problem. Ich bin eh nicht durstig.“, sprach Maier, doch Herr Kelchbrunner bat um ein Glas des vermeintlich süßen Saftes.
„Worum geht es?“, fragte der Gastgeber, doch Kelchbrunner spürte, dass er sehr genau wusste, in welchem Fall sie ermittelten, denn die Frage klang nicht sehr interessiert.
„Es geht um den Mord in der Kirche. Haben Sie davon gelesen?“
„Ja. - Ich hatte gelesen, dass er Selbstmord begangen haben soll. Aber dass es Mord gewesen sein könnte, habe ich nur gehört.“
„Kannten sie das Opfer?“, fragte Kelchbrunner und Bergburger nickte mit ernstem Blick. Zugleich lachte er verbittert auf. „Besser als die Meisten. Ich weiß, wie er wirklich ist. - Oder besser gesagt, war…“
„Ach ja? Und wie genau war er denn?“
„Wollen Sie eine ehrliche oder eine höfliche Antwort?“
„Ehrlich währt am Längsten.“, gab der Kommissar zu verstehen und trank einen Schluck des süßen Saftes aus Zitrusfrüchten.
„Er war… - ja, was genau war er? - Ein Monster? Ein absoluter Egoist? Ein Alptraum in Person?“
„Das war er?“, fragte Maier. „Und weshalb, wenn ich fragen darf?“
Bergburger blickte kurz zum Fenster, als wolle er dort die Antwort ablesen. Dann sah er Maier direkt in die Augen und begann von seiner Vergangenheit zu berichten. - Von den vielen Psycho-Spielchen, die er durchmachen musste während seiner Schulzeit. Von Ausgrenzung und Angriffen. Von den Ängsten, die ihn Abend für Abend plagten, wenn er an den nächsten Tag dachte. Von den Bauchschmerzen, die ihm die Schule nach einiger Zeit immer mehr brachte. Von seiner Perspektivlosigkeit, dem schlechten Schulabschluss, der Isolation, den Ängsten, seiner Therapie und der Niedergeschlagenheit.
„Deshalb auch die Attacke im Feldweg?“, fragte Kelchbrunner mit leiser Stimme.
„Ja. Er sollte endlich erfahren, dass ich mich wehren kann. - Verstehen Sie? Er sollte sehen, dass ich nicht mehr das Opfer bin, sondern…“, Bergburger stockte und spürte eine gewisse Unsicherheit, als ihn die vier Augen des Gesetzes beinahe durchdringend anblickten.
„Wo waren Sie am Einundzwanzigsten zwischen achtzehn und einundzwanzig Uhr?“, fragte Maier in die Stille und Bergburger blickte zu Boden.
„Wo sollte ich gewesen sein? - Hier natürlich.“
„Gibt es Zeugen?“
„Shirley - mein Hund - und mein Notizbuch hier…“ Er deutete auf ein grünes Buch, das auf einem Beistelltisch der abgenutzten Sitzgruppe lag, griff danach und öffnete es. Er übergab seine Aufzeichnungen der Assistentin, die interessiert im Buch blätterte. Sie zitierte laut daraus…
„Am Einundzwanzigsten: ‚Heute habe ich ihm einen Stoß verpasst…’ ‚Endlich Rache…!’ Am Zweiundzwanzigsten: ‚Kasperle ist tot…’ ‚Gottes Gerechtigkeit…!’“
„Ja, das sind meine Gedanken dazu. Wenn Sie aber genau hinschauen, werden Sie erkennen, dass ich diesen Eintrag am Einundzwanzigsten um siebzehn Uhr achtundfünfzig begonnen und um…“, er blätterte zwei Seiten weiter und blickte konzentriert auf die Zahlen unterhalb seiner niedergeschriebenen Gedanken. Dabei deutete er auf die Stelle, von der er zitierte. „Um zwanzig Uhr siebenundfünfzig beendete ich meinen Eintrag an diesem Tag.“
Verwunderte Blicke trafen den jungen Mann. Über und unter jedem seiner Einträge - so erkannte Maier beim Durchblättern einiger Seiten des Notizbuches - stand sorgfältig und minutengenau die Zeitangabe von Beginn und Ende der Niederschrift.
„Das ist ein…Tick von mir. Man…nennt es auch Zwangserkrankung.“, bemerkte Bergburger nur knapp und es war ihm sichtlich unangenehm, diese Schwäche eingestehen zu müssen.
Keiner ging jedoch auf die Anmerkung ein.
Vielmehr fragte Maier, ob er ganze drei Stunden an diesem Text geschrieben habe.
„Ja - mit Unterbrechungen. Hier…“, Bergburger blätterte eine Seite zurück und deutete dann auf einen schwarzen, ovalen Fleck, der nach eigener Aussage ein Hühnerei darstellen sollte. „…hier kochte ich mein Essen. - Einen guten Eintopf mit viel Gemüse. Das hat etwa eine Stunde gedauert. Es muss von achtzehn Uhr dreißig bis neunzehn Uhr dreißig gewesen sein. - Ungefähr…“
Maier las weiter und blickte nach einigen Zeilen auf.
„Sie hatten allen Grund, ihn zu töten. - um es ehrlich zu sagen…“
„Aber trotz allem… - Ich war es nicht! Ich habe ihn nicht umgebracht, denn ich würde das nie tun.“
„Und warum - wenn ich fragen darf?“, meldete sich Kelchbrunner wieder zu Wort, nachdem er einen weiteren Schluck des kalten Orangensaftes zu sich genommen hatte, um die Verbrennung des heißen Kaffees zu kühlen und dessen große Hitze endlich vergessen zu machen.
„Na ganz einfach! - Er hat meine Vergangenheit zerstört und verbaut. Ich werde mir sicherlich nicht auch noch die Zukunft verderben und mir die Hände an ihm schmutzig machen. Ich habe oft an Rache gedacht. - Aber ich hab sie nie umgesetzt. Ich will die Vergangenheit ruhen lassen und in die Zukunft schauen. Ich werde nun eine Fortbildung besuchen, um aus dem ganzen hier endlich raus zu kommen. Denn ich hab mich lange genug von der Vergangenheit beeinflussen lassen. Ich will jetzt in die Zukunft sehen.“ Der junge Mann schwieg für einen Moment nachdenklich. Dann fuhr er fort.
„Und wissen Sie, was ich ihm gesagt habe, als ich ihm gegen die Brust gestoßen habe?“
„Was?“, fragte Kelchbrunner offensichtlich ergriffen von dem Plädoyer seines Gegenübers.
„Dass er ein ganz armes Würstchen sei und sein hölzernes Lachen mir nichts mehr anhaben könne. Er habe meine Vergangenheit bestimmt und meine Gegenwart. Meine Zukunft gehöre jedoch mir ganz alleine!“, sprach Bergburger mit hörbarem Stolz in der Stimme und Kelchbrunner trank den Orangensaft leer, nahm seiner Kollegin die Aufzeichnungen aus der Hand und gab sie dem Gastgeber zurück. „Herr Bergburger, ich danke Ihnen.“, sprach er und warf seiner Kollegin einen Blick zu, der die Verwunderung im Gesicht lag.
Kelchbrunner stand auf und deutete Maier an, sie solle es ihm gleich tun. Er drückte Bergburger die Hand und wünschte ihm alles Gute und viel Erfolg bei seinen Plänen. Dann verließen er und seine Assistentin das Haus des Verdächtigen. Als sie draußen waren, wandte sich die Frau verärgert an ihren Kollegen.
„Warum haben Sie das getan? Er ist Hauptverdächtiger.“
„Nein - dieser Mann nicht!“
„Es ist eine heiße Spur!“, erneuerte sie ihre Kritik.
„Diese heiße Spur ist eisig kalt! Er ist Opfer, nicht Täter. Er hat der Wut von Jahren Luft gemacht, indem er seinem Peiniger auf dem Feldweg einen Stoß versetzt hat. Sicher war dies schon lange sein Traum gewesen. - Mehr aber auch nicht!“
„Aber er hat ein Motiv, kein Alibi und zudem ist er stark genug, einen Menschen über das Geländer stoßen zu können.“
„Dieser Mann ist nicht unser Mann. - Glauben Sie mir! Wir sind auf dem Holzweg, wenn wir glauben, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat. Der verbaut sich nicht die Zukunft, indem er einen Mord begeht. Er hatte eine beschissene Vergangenheit und er würde niemals die Zukunft riskieren. Ganz davon abgesehen hätte er den Mord direkt im Feld begehen können. - Warum hätte er es in der Kirche tun sollen? Und noch etwas müssen wir bedenken. Unser Opfer wurde zunächst vergiftet und ich bin mir sicher, dass weder Bergburger noch sein Widersacher jemals ein Gläschen Wein zusammen getrunken hätten. - Nein! Dieser Mann ist nicht unser Mann!“
„Aber wer dann?“, fragte Maier, während beide in das dunkelblaue Dienstfahrzeug stiegen.
„Das wird sich weisen…“ Maier war nicht seiner Meinung und schätzte Bergburger weiterhin als Hauptverdächtigen ein. - Zumindest, was den Stoß in die Tiefe anging. Und dies sei der vorrangig strafrechtliche Fall. - Die Vergiftung sei zunächst allenfalls ein Körperverletzungsdelikt. Für dieses käme ein zweiter Täter in Frage, dem Bergburger zuvorgekommen war.
Doch Kelchbrunner ließ sich nicht beirren und beschloss, an der heutigen Beisetzung des Opfers beizuwohnen. Vielleicht tauchte dort die eine oder andere verdächtige Person auf.
So standen beide Kriminalbeamten in der Kirche hinter der letzten Bank, um alles überblicken zu können und hörten dem Pfarrer bei seiner Predigt zu. Er sprach die üblichen Worte einer Beisetzung, wobei er natürlich besonders auf das Alter des Verstorbenen, der 25 Jahre alt geworden war, hinwies. - Wie schlimm es doch sei, dass dieser junge Mensch so früh aus dem Leben gerissen wurde… Und umso größer sei die Gunst Gottes, in der er stehe. Dies sei sicherlich nicht tröstlich für die Hinterbliebenen, doch Gottes Wege seien nun einmal unergründlich… Er erwähnte mit keinem Wort, dass der Mann ermordet wurde. - Sicher um den ohnehin emotional sehr angespannten Angehörigen keine zusätzliche verbale Last aufzubürden.
Es folgte das ebenso übliche Abendmahl, bei dem der Geistliche Wein in einen Kelch eingoss, diesen trank, mit einem Tuch das Kelchinnere säuberte und…
In Kelchbrunner keimte erneut ein Gedanke, den er beiseite schob und weiter der Zeremonie folgte. Die Menschen in der - bis zum letzten Platz gefüllten - Kirche strömten nach vorne, um den ‚Leib Christi’ zu empfangen und bald machte sich die trauernde Gemeinde auf zum Friedhof.
Vor dem Sarg sprach der Pfarrer noch einige Worte, ein Gebet. Er segnete mit Weihwasser und schwenkte ein Behältnis voll mit glühendem Harz…
Kelchbrunner ließ den Gedanken, der neuerlich in ihm aufkeimte, dieses Mal zu und plötzlich ergab alles einen Sinn. - Zumindest fast alles. Er stieß seine Kollegin sanft an und machte ihr mit einer Geste deutlich, dass sie ihm folgen solle. Sie tat es - wenn auch widerwillig - und als sie einige Schritte von der Trauergemeinde entfernt waren, beschleunigte Kelchbrunner seinen Gang.
„Was ist los? Ich dachte, Sie wollten sehen, ob sich jemand verdächtig verhält.“
„Ich glaube, ich habe eine Idee, was geschehen sein könnte. Ich weiß nur noch nicht, warum er es getan hat. Irgend etwas fehlt in dem Puzzle.“
„Und wo wollen Sie jetzt hin?“
„Zum Tatort.“
Kaum hatte das Wort die Ohren der Assistentin erreicht, standen sie auch schon direkt in der Kirche. Der Kommissar begab sich nach vorne zum Altar und suchte nach etwas Unbestimmtem. Ohne es offensichtlich gefunden zu haben trat er zurück in den Mittelgang. Er blickte sich grübelnd um, rekonstruierte noch einmal vor seinem geistigen Auge den Fall des Opfers in die Tiefe. Ein Klingeln der Glöckchen, die neben ihm vor dem Altar standen, weckte seine Aufmerksamkeit und als er herum wirbelte, erkannte er eine junge Messdienerin. Sie war vielleicht acht Jahre alt und als sie den Kommissar erblickte, rannte sie zur Seitentür der Kirche, als habe er sie bei etwas ertappt.
Kelchbrunner lief ihr nach. „Halt! Bleib doch stehen. Ich tu Dir nichts und will Dich was fragen.“
Das Kind blieb stehen und blickte den Kommissar mit tränengeröteten Augen an.
„Was ist mir Dir? Und was machst Du hier?“ Kelchbrunner war inzwischen in die Hocke gegangen, um auf gleicher Augenhöhe mit dem Kind zu sein.
„Ich habe gebetet.“
„Kanntest Du den Toten?“, fragte der Kommissar und er spürte aufgrund seiner Wortwahl einmal mehr, dass er nicht wirklich gut mit Kindern umgehen konnte. Doch das Mädchen verstand und nickte kurz.
„Das tut mir leid.“
„Das ist nicht schlimm.“, sagte das Mädchen, als habe es den Satz einstudiert. „Denn das sind Gottes Wege und Gottes Wege sind immer richtig.“
Der Kommissar vernahm die Worte und ihm war klar, woher sie ursprünglich stammten.
„Und wenn einer böse war, dann wird er halt bestraft.“
„Böse? - War er denn böse?“
Das Mädchen nickte.
„Was hat er denn gemacht?“
„Er war böse zu Gott.“
„Böse zu Gott?“, fragte der Kommissar. „Was hat er getan?“
„Er…“, begann das Mädchen und stockte, „…das darf ich nicht sagen.“
„Warum darfst Du das nicht sagen?“
„Weil Gott mich sonst auch bestraft.“
„Wirklich? Wer hat Dir denn das gesagt?“
Das Mädchen schaute unter sich und schwieg für einen Moment. Dann blickte es zum goldenen Kreuz am Altar. „Das darf ich Dir auch nicht sagen. Und jetzt muss ich weg. Meine Mama wartet auf mich.“
Das Kind öffnete die Seitentür, verließ das Gotteshaus. Und Kelchbrunner war, als stecke ihm ein Kloß im Halse. Er sollte es also doch gewesen sein? - Gerade er? Zuerst hatte er es ja nicht glauben wollen, hatte stets Gedanken an eine eventuelle Schuld verdrängt. Doch nun…
Er drehte sich um zu seiner Kollegin, die ihn unwissend und betroffen anblickte. „Das arme Kind.“
„Ja - das arme Kind!“, sprach Kelchbrunner und deutete an, nun zunächst einmal etwas essen gehen zu wollen. Schließlich hatte er am Morgen das Letzte gegessen und nun schlug die Kirchenuhr drei mal. Dann wollte er sich noch einmal in der Wohnung des Opfers umschauen.
„Was geht in Ihnen vor?“, fragte Maier, als sie bereits wieder im Auto saßen.
„Es ist nur so ein Verdacht. Und ein Verdächtiger ist so lange unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Gerade, wenn es sich um eine solche Person handelt… Ich sage nur eins: Vielleicht war es Erpressung und wenn es stimmt, was ich denke, wird der Skandal ganz Deutschland erschüttern.“
Das Essen, das beide zu sich nahmen, bestand am Ende aus einem Fischbrötchen und einer Banane - einem nicht gerade reichhaltigen und wohlschmeckenden Mahl. Doch Kelchbrunner hatte es eilig. Es brannte auf seiner Seele und er konnte das Feuer erst löschen, wenn sich der Verdacht bestätigt oder als falsch herausgestellt hatte.
Aus diesem Grund fuhren sie gleich danach zur Wohnung des Opfers. Dabei konnten sie keine große Rücksicht auf die Trauer der Angehörigen nehmen, die Unverständnis äußersten, als Kelchbrunner und Maier die Zimmer des Opfers durchsuchen wollten. Besonders der Computer war Ziel des Kommissars. - Und eine kleine Kamera, mit der das Opfer wohl einige Videosequenzen gefilmt und ein paar digitale Bilder geschossen hatte.
Der PC war schließlich hochgefahren und Kelchbrunner klickte sich durch die ‚Eigenen Dateien’. Unter welcher Bezeichnung hatte er wohl die Dateien abgelegt? - Vorausgesetzt, sie existierten überhaupt?
Er fand einige Ordner, die Bilder enthielten und er klickte sich durch. Hier eine Fotoreihe, die offensichtlich vom Winterurlaub in den Alpen stammte, im nächsten Ordner ein paar Bilder, die offensichtlich Freunde zeigten. Dann fand er wiederum die Sammlung einiger Video-Sequenzen von tanzenden Leuten in der Disco. Der vierte Ordner enthielt nur ein Foto. Und beim fünften stockte ihm der Atem. Er konnte nicht glauben, was er bereits in der „Miniatur-Ansicht“ zu Gesicht bekam und seine Kollegin stand hinter ihm mit - vor Staunen - offenem Mund. Sein Verdacht hatte sich also bestätigt. Er konnte es nicht fassen und klickte weiter auf andere Bilddateien, öffnete sie. Und die Aufnahmen wurden immer dramatischer. Könnte er doch nur eingreifen in diese abgrundtiefe Verletzung einer Kinderseele…
Schnell packte er einen CD-Rohling aus dessen Verpackung und brannte das Beweismaterial auf das Speichermedium. Dann klickte er weiter, denn dies war zwar Beweis für das Eine, nicht jedoch für das Andere. Er musste das letzte Puzzleteil finden, musste etwas entdecken, mit dem er den Täter endgültig dingfest machen konnte.
Er schaute nach, wann die Bilder geschossen, die Videosequenzen gedreht wurden und verließ den Ordner.
Er durchwühlte die Schubladen des Schreibtisches und fand schließlich eine Stofftasche. Als er sie öffnete, staunten er und seine Kollegin nicht schlecht. - Ein großer Stapel Geldscheine lagen darin - viele 5 ¤-Scheine, es fanden sich auch 10 ¤-Scheine darunter. Insgesamt waren sicher über 200 ¤ in dem Beutel. Und der Kommissar hatte nun, was er brauchte zum Beweis.
Er schaltete den Computer aus, entfernte die Kabel, nahm den Tower unter den Arm und verließ - zusammen mit seiner Assistentin - die Räumlichkeiten des Opfers. Im Flur begegneten sie Schwester und Mutter des Opfers und Kelchbrunner streckte ihnen mit der einen Hand CD und Stoffbeutel entgegen - auf den PC deutete er mit einem Kopfnicken.
„Vielen Dank. - Diese Dinge hier sind vorläufig beschlagnahmt. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“
Die Mutter fragte hinter den Kriminalisten her, ob denn ihr Sohn etwas verbrochen habe.
„Ja, das hat er. - Er hat geschwiegen!“, brummte Kelchbrunner zurück und steuerte auf den Dienstwagen zu, packte die Beweise in den Kofferraum.
Maier setzte sich ans Steuer und Kelchbrunner auf die Seite des Beifahrers.
„Jetzt aber los - bevor noch ein Unglück geschieht!“, sprach er und der Wagen brauste mit Blaulicht davon.

Die große Tür der Kirche öffnete sich mit einem lauten Knarren und die beiden Beamten traten ein. Der Pfarrer kam gerade aus der Sakristei.
„Ah - Frau Maier, Herr Kelchbrunner. Schön, dass sie heute an der Trauerfeier teilgenommen haben. Das zeugt von Menschlichkeit. Ich wusste, sie sind gute Menschen. Nur schade, dass Sie nicht bis zum Ende der Beisetzung bleiben konnten. Aber das bringt ihr Beruf eben mit sich.- Diese Ruhelosigkeit.“
„Herr Pfarrer, wir müssen mit Ihnen reden.“, sprach Maier.
„Gerne. Kommen Sie doch mit in meine kleine Sakristei.“, bat der Geistliche und die beiden Bediensteten nahmen das Angebot an.
Der kleine Raum hatte nur ein winziges Fenster und die brennenden Kerzen boten mehr Licht, als es durch die Öffnung in der Wand eindringen konnte. Der Raum bot gerade mal Platz für die drei Personen und sie hatten sich auf die alten, knarrenden Holzstühle gesetzt. Ein kleiner, dunkelbrauner und abgenutzter, hölzerner Tisch bot ihren Unterarmen eine Liegefläche, die Kelchbrunner auch gerne nutzte.
„Herr…Waldach…“, begann Kelchbrunner und der Angesprochene reagierte sofort.
„Pfarrer Waldach, bitte. Ich bin Diener Gottes und dies möchte ich auch in meinem Namen betont sehen.“
Kelchbrunner drehte sich der Magen um und er atmete tief durch.
„Herr Waldach…“, wiederholte er und ließ sich nicht beirren. „Wo waren Sie am Einundzwanzigsten zwischen achtzehn Uhr und einundzwanzig Uhr?“
„Wo ich war? - Lassen Sie mich überlegen. Ach ja - ich war an jenem Abend, an dem der Teufel dieses Gotteshaus heimsuchte, in meinem Haus und habe die Rede für die Predigt am Wochenende vorbereitet. Es ist immer eine große Herausforderung und jede Menge Arbeit, die passenden Worte für einen Gottesdienst zu finden.
Selbstverständlich muss ich nun die Rede abändern und habe den Kampf zwischen Kain und Abel zum Thema meiner Predigt an diesem Sonntag gemacht. Ich würde mich freuen, Sie in meiner heiligen Messe begrüßen zu dürfen.“
„Herr Waldach, ich will ehrlich mit Ihnen sein…“, begann Kelchbrunner und beugte sich näher zu dem Geistlichen hin. „Wir wissen alles!“
„Was wissen Sie denn? Ich halte ja eigentlich nicht viel von diesem Wissen der so genannten ‚Wissenschaft’. Der Glaube ist das, was uns Halt gibt. - Glaube und Gottvertrauen.
Aber das ist mein Metier, nicht Ihres. Doch trotzdem - sagen Sie mir, was Sie wissen. Haben Sie den Sünder etwa gefunden, der ein wertvolles Mitglied dieser Gemeinde aus unserer Mitte gerissen hat? War es der junge Bergburger? Man munkelt, er habe Streit mit dem Opfer gehabt. Oder vielleicht war es tatsächlich ein anderer seines Alters. Wenn man sich umschaut, nimmt die Gewalt zwischen den Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer mehr zu. - Auch eine Folge des fehlenden Glaubens an Gott und seine Gerechtigkeit, wenn Sie mich fragen.“
„Herr Waldach, Sie sind ein hervorragender Schauspieler.“, würgte Kelchbrunner hervor und der Pfarrer lächelte. „Wie meinen Sie das? - Ich hoffe doch nur im positiven Sinn. Schließlich interessiere ich mich schon seit meiner Kindheit für die Schauspielerei. Ich war sogar…“
„Hören Sie auf damit!“, schoss es aus dem Kommissar heraus. „Das ist ja nicht mehr zum Aushalten!“
Der Pfarrer blickte den Schreienden brüskiert an. „Herr Kommissar, ich unterhalte mich wirklich sehr gerne mit Ihnen, aber nicht in diesem Ton. Ich möchte Sie bitten, die Würde des Gotteshauses zu respektieren.“
„Einen Dreck werde ich tun!“, brummte Kelchbrunner und atmete erneut tief durch, um sachlich zu bleiben. „Sie sind der Mörder!“
„Das ist ja absurd! Verlassen Sie bitte sofort diese Kirche! Sie bezichtigen einen Geistlichen des Mordes?!“
„Lassen Sie mich bitte ausführen, was mich zu dieser Erkenntnis gebracht hat - Herr Waldach.“
Der Pfarrer nickte widerwillig und die Wut verzerrte sein Gesicht.
„Das erste Indiz war die Tatsache, dass Sie den Toten erst morgens gefunden hatten, obwohl er um neunzehn Uhr tags zuvor bereits tot in der Kirche gelegen hatte. Einen Tag später - Sie können sich sicher noch daran erinnern - haben Sie nach zwanzig Uhr die Lichter in der Kirche gelöscht und mich beinahe eingeschlossen…“
„Ich hatte tags zuvor schlicht vergessen, die Kirche abzusperren. Ich bin ein alter Mann und mein Gedächtnis ist nicht mehr das Beste. Wollen Sie mir daraus etwa einen Vorwurf machen?“
„Nein, aber es geht noch weiter. Haben Sie nicht einmal einen Lehrgang für Pflanzen- und Kräutermedizin belegt, in einem Klostergarten gearbeitet?“, fragte Kelchbrunner weiter und Maier wunderte sich einmal mehr über die Recherchen, die ihr Kollege offenbar im Verborgenen unternommen hatte.
„Das ist richtig. Viele Pfarrer wählen eine solche Laufbahn, um ein wenig Stille in ihr Leben zu bringen. Denn erst wer hinter den Klostermauern gelebt hat, erfährt das Leben außerhalb. Die Stille sorgt dafür, dass man besser…“, erklärte der Pfarrer, doch Kelchbrunner hob die Hand leicht an und bat den Pfarrer damit, seine Erklärung zu beenden. -Der brach sichtbar verärgert seinen Satz ab.
„Sie lernten damals auch, wie man mit Giftpflanzen Krankheiten behandeln kann und sicherlich ebenso, dass es die Dosis ist, die heilt, krank macht oder im schlimmsten Fall tötet.“
Der Pfarrer nickte, ohne ein Wort zu sagen.
„Dabei sind Ihnen Herbstzeitlose und Besenginster ein Begriff?“
„Natürlich, aber was wollen Sie damit sagen?“
„Das Opfer wurde bereits vergiftet, ehe man es in die Tiefe stieß. Ich bin sicher, dass ich in Ihrem kleinen Kräutergarten hinterm Haus beide Pflanzengattungen vorfinde.“
„Das mag sein, aber ich nutzte die Pflanzen schon immer für gute Zwecke.“
„Über den guten Zweck lässt sich ja bekanntlich streiten.“, bemerkte Kelchbrunner und der Pfarrer wirkte sichtlich erregt.
„Herr Kelchbrunner, ich habe heute noch mehr zu tun. Wenn das alles ist, was Sie vorzubringen haben…“
„Das ist noch lange nicht alles, Herr Pfarrer.“, erwiderte der Kommissar in äußerst abwertendem Ton.
„Ihre Kirche besitzt Messwein. Auf der Kleidung des Toten wurde Rotwein gefunden.“
„Mit Verlaub - werter Kommissar - aber ich denke, der Rotweinfleck kann aus jeder Flasche stammen, denn vermutlich gibt es noch mehr des guten Tropfens.“
„Mag sein. Aber in jedem Tröpfchen Wein steckt auch ein Stück Wahrheit. - Quasi ein Puzzleteil, das sich sicherlich mit einer chemischen Analyse finden lässt, wenn wir Ihren Weinkeller durchsuchen.“
„Das ist infam! Ich soll den Armen vergiftet haben? Und sollte ich ihn etwa auch noch in die Tiefe gestürzt haben? - Sie haben eine blühende Phantasie, Herr Kommissar!“
„Nun, ich denke wirklich, Sie sind der Täter beider Taten. Ich vermute, Sie haben dem Opfer das Gift in einem Glas Wein verabreicht. Er trank davon und spürte in irgend einer Art und Weise, dass etwas nicht mit dem Rotwein in Ordnung gewesen sein musste. Vielleicht verspürte er eine Benommenheit von einem oder zwei Gläsern - obwohl er normalerweise viel mehr vertrug. Irgendwie kam er dahinter, dass Sie ihn vergiften wollten und versuchte in seiner Verzweiflung, die Polizei zu rufen. Sie wollten ihn davon abhalten und stießen ihn in die Tiefe. Im Übrigen bedienten Sie sich zur Verteidigung eines gerissenen Manövers. Sie wussten, dass der Weihrauch extrem reizend wirkt und bei manchen Menschen davon die Augen tränen. Also schwenkten Sie ihm den Rauch entgegen, wobei er die Verbrennung am Finger erlitt und zurück taumelte. Es war ein Leichtes, ihn an den Beinen zu packen und in die Tiefe stürzen zu lassen.“
„Das ist eine schöne Geschichte. Sie sollten unter die Märchenerzähler gehen, denn mehr ist es nicht, als ein spannendes Märchen.“, erwiderte der Pfarrer.
„Ach ja? - Ich denke, diese Geschichte wäre alles andere als jugendfrei. Bedenkt man doch, dass das Opfer Sie zuvor bei äußerst verfänglichen Akten mit einer Ihrer Messdienerinnen erwischte, Sie filmte und Sie dann erpresste, er würde an die Öffentlichkeit gehen, wenn Sie nicht einen Obolus an ihn entrichten würden. Ich denke, dieser Obolus - bestehend aus kleinen Geldscheinen - sollte wohl in gewissen Abständen erfolgen. - Vielleicht monatlich? - Und Sie sammelten dafür das Geld aus den Klingelbeuteln. Damit keiner von der ‚Schwarzen Kasse’ erfuhr, lagerten Sie sie natürlich weder in Ihrem Haus noch in der Sakristei. Vielmehr positionierten Sie das Geld an einem Ort, wo niemand damit rechnete und vor allem, wo Sie keiner unbemerkt beobachten konnte bei der regelmäßigen Übergabe. Vielleicht in dem kleinen Schränkchen auf der Empore, das unter der Orgel eingelassen ist? Die laut knarrende Treppe, die hoch zur Empore führt, war praktisch Ihre Alarmanlage. Und das würde auch erklären, weshalb Sie das Opfer ausgerechnet auf der Empore stand, von der Sie es in den Tod stürzen konnten.“
Der Verdächtige stockte für einen Moment und schien verunsichert. Dann erhob er sich leicht vom Stuhl, um seine Worte mit einer Geste zu paaren, ließ sich dann aber wieder fallen. „Es ist eine Unverschämtheit, was Sie mir altem Mann da unterstellen. Dass Sie sich nicht schämen!“
„Schämen? - Das müssen Sie sich, Herr Waldach! Sie haben ein junges Leben ausgelöscht und zugleich das eines kleinen Mädchens für immer gezeichnet! - Das hat nichts mit Nächstenliebe zu tun!!!“
Mit einem Mal fiel die Maske des Geistlichen und er brach in Tränen aus.
„Ja - ich habe gesündigt - oh Herr!“, sprach er, stand auf und erhob die Hände in Richtung des Holzkreuzes an der Wand. „Es war so ein liebes, kleines Mädchen. Es behandelte mich wie seinen Vater, den es nie hatte. - Und ich liebte es wie meine eigene Tochter, die mir auch verwährt geblieben ist. Mein Geist war willig - doch der Körper wurde mit der Zeit schwach…“, sprach der Geistliche mit tränenerstickter Stimme.
„Dann kam dieser junge Mann. Er kam scheinbar in die Kirche mit seinem neumodischen Fotoapparat und ich bemerkte ihn nicht. Er muss sich irgendwo versteckt haben. Bei der nächsten Messe saß er in der Kirchenbank und nachdem alle anderen gegangen waren, zeigte er mir die Aufnahmen… Er drohte damit, es zu verraten und Gott zu entweihen! - Verstehen Sie? Er drohte damit, Schande über die Christenheit zu bringen. - Alles nur, um an den schnöden Mammon zu gelangen!“
Maier lächelte ungläubig über die Worte und schüttelte dabei den Kopf.
„Ich bot ihm an, monatlich die gesamten Einnahmen aus dem Klingelbeutel zu bezahlen. Mit der ersten Rate war er zufrieden. - Die zweite erschien ihm zu niedrig. Und er drohte mir, alles auffliegen zu lassen, wenn ich nicht mehr zahlen würde. - Ich konnte doch auch nichts dafür! Die Gläubigen spenden einfach immer weniger der Heiligen Katholischen Kirche.“
„Also beschlossen Sie, ihn zu töten?“
„Ja - alles im Namen des Herrn und für eine sündenfreie Christenheit. Ich wollte die Schuld auf mich nehmen, um zu verhindern, dass alles an den Tag kam. Das arme Mädchen. - Stellen Sie sich vor, man hätte davon erfahren…“
„Das Mädchen…“, lachte Maier voll Unverständnis auf.
„Er wollte wieder seine Rate abholen. Ich bat ihn um ein Gespräch in der Sakristei. Dort berichtete ich ihm davon, dass ich noch nicht viel Geld zusammen hätte. Und ich versprach ihm aber, dass er beim nächsten Mal eintausend Euro erhalten würde, da noch eine größere Erbschaft eines Verstorbenen ausgezahlt würde. Damit gab er sich zufrieden und als ich ihm dann ein Glas Wein anbot, lehnte er nicht ab. Er trank von dem Wein. Dann begaben wir uns hinauf auf die Empore, auf der ich tatsächlich das Geld positioniert hatte. Als wir dort oben standen sagte er plötzlich, der Wein brenne in seinem Mund. Ich sagte, dies sei die Strafe Gottes für seinen Umgang mit mir und darauf schöpfte er scheinbar Verdacht. Dieser Narr wollte die Polizei rufen. Beinahe wäre alles aufgeflogen! Ich wusste mir nicht anders zu helfen und schleuderte ihm den Weihrauchschwenker entgegen, den ich zuvor aufgeheizt hatte, ehe er aufgetaucht war und sein Geld abholen wollte. Denn ich liebe diesen feinen, edlen Duft und trage den Behälter manchmal einfach mit mir herum. Scheinbar hat er sich dabei den Finger verbrannt. Das habe ich nicht gesehen. Jedenfalls ist er aufgrund des Rauches zurück getaumelt und seine Augen haben derart getränt. - Er hat nichts gesehen, als er in die Tiefe stürzte. Und zum Glück ist er gleich zum Herrn gerufen worden…“
Kelchbrunner und Maier blickten einander schockiert an und der Kommissar zog schließlich die Handschellen aus seiner Tasche.
„Herr Waldach. Ich verhafte Sie wegen Mordes und Kindesmisshandlung. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Weiterhin haben Sie auch das Recht auf einen Anwalt.“
Die Handschellen klackten und der Pfarrer wurde aus der Sakristei ins Kirchenschiff geführt.
Grüne Kinderaugen schauten auf Pfarrer und Kriminalbeamten. - Sie wussten nicht, wie lange das Kind schon in der Kirchenbank kniete und offenbar zu Gott betete. - Das kleine Mädchen im Messdienergewand… Es stand auf und blickte zum Pfarrer, dann zum Kommissar.
„Hat er was böses gemacht?“, fragte es verwundert.
„Ja - mein Kind, das hat er.“, sprach Maier. „Und er muss dafür bezahlen.“
„Und ich? - Hab ich auch etwas Böses getan?“ Angst sprach aus der Stimme des Mädchens.
„Nein! Du hast nichts Böses getan.“, sprach Kelchbrunner und ging in die Hocke. Dann blickte er zum Altar. „Gott liebt Dich! Er wird Dich nicht bestrafen.“
„Und ihn?“, fragte das Mädchen, blickte auf den beschämt dreinschauenden Geistlichen.
„Ihn wird er bestrafen!“, sprach der Kommissar.
Und das Mädchen lächelte zum ersten Mal. „Das ist nicht schlimm, denn Gottes Wege sind immer richtig. Und wenn einer böse war, wird er halt bestraft!“, sprach es den auswendig gelernten Satz und Kelchbrunner sah, wie aus dem beschämten Gesicht des geistlichen Würdenträgers Tränen zur Erde fielen.
„Ja - wer böse ist wird halt bestraft…“, wiederholte er. „So ist es…!“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.12.2008

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Widmung:
Ich widme dieses Buch allen "Bergburgern"...

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