Prolog
»Wir werden nicht untergehen, meine Kleine, halt dich an mir fest. Halt dich einfach nur fest und lass nicht los, hörst du? «
Sie schluckte Wasser. Brackiges, altes und abgestandenes Wasser. Die eklige Brühe füllte ihre Lunge mit jedem Atemzug, den sie tat.
Er schwamm direkt vor ihr, sein Mantel zog ihn beinahe in die tiefes des Meeres hinab.
»Halt dich fest«, beschwor er sie ein weiteres Mal und seine starken Armen hoben ihren Kopf über die Wasseroberfläche.
Sie schnappte gequält nach Luft und strampelte gegen den Sog an, der sie fortzureißen drohte.
»Ich kann nicht mehr«, japste sie und ihre Finger glitten von dem Stoff seiner nassen Kleidung.
»Ich werde dich nicht sterben lassen, Kleine, siehst du da drüben ist das Ufer. Nur noch ein kleines Stück.«
In der Dunkelheit der Nacht konnte sie nicht sehen, worauf er deutete, denn überall wohin ihr panischer Blick glitt, konnte sie nur Wasser, Wasser und nochmals Wasser sehen.
»Du wirst leben. Du wirst leben …«, erscholl seine tiefe Stimme neben ihr, aber ihr Körper wollte ihr nicht mehr gehorchen. Ihre Muskeln zitterten und gaben schließlich nach.
Sie sank nach unten, hinunter in die blaue Stille, die über sie hereinschwappte wie das eiskalte Wasser.
»Kleines, wo bist du?«, brüllte es dumpf über ihr.
Sie streckte ihre Hand aus und griff ins Leere. Fische schwammen ihre Kreise und berührten ihre kalte Haut, streichelten sie mit ihren schuppigen Körpern.
»Kleines.« Erklang es verzweifelt, traurig, herzzerreißend.
Ein harter Ruck und ihr Körper schlug auf den Grund des Bodens auf.
Sie holte Luft, atmete das Wasser tief ein. Ihre Lungenflügel zogen sich brennend zusammen, sie hustete, mehr Wasser drang in ihren Körper ein.
»Andrew«, dachte sie und machte eine letzte, kraftlose Armbewegung, als könnte sie dem Tod davon schwimmen.
»Andrew«, wisperte sie. Schwärze hüllte sie ein, umfing sie gnädig. Sie stemmte sich mit aller Macht gegen die drohende Ohnmacht. Sie war noch nicht bereit, zu sterben.
»Hilfe«, schrie sie stumm. Sie wusste nicht, wen sie um Hilfe bat, aber sie flehte um ihr Leben. Sie wollte nicht an diesem nassen, unwirklichen Ort begraben und vergessen werden.
»Kann mir denn niemand helfen? Bitte, bitte, ich flehe um Hilfe. Ich will leben!«
Ein dunkler Schatten huschte vorbei, streifte ihr Gesicht. Sie erschrak, waren dass schon die Raubfische, die ihren nahenden Tod witterten?
Ängstlich drehte sie ihren Kopf.
Wieder hielt dieses Etwas auf sie zu und stierte sie aus grellen Augen lüstern und zugleich neugierig an.
Als der Schatten erneut vor ihrem Gesicht auftauchte, konnte sie in dem Wesen menschliche Züge erkennen. Es sah aus wie ein Mensch, nur viel bleicher, mit hohlen Augen und wildem Haar.
Ein gelbes Leuchten ging von seinen starren Pupillen aus.
Zähne schnappten nach ihr, gruben sich in ihre Kleidung und sie wurde fortgerissen.
Sie wurde durch das dunkle Wasser gezogen, verlor kurzzeitig das Bewusstsein, kam wieder zu sich und holte zum ersten Mal pure, reine Luft.
Kraftlos drehte sie ihren Kopf, der im feuchten Sand lag und sah auf dem Mann hin, der auf einem Felsen saß und sie argwöhnisch beobachtete.
Hustend richtete sie sich auf, spuckte Wasser und übergab sich.
Peinlich berührt, hob sie ihren Kopf und strich sich das klatschnasse Haar aus der Stirn.
»Du hast mich gerettet«, brachte sie zäh über ihre Lippen, die immer noch vor Kälte zitterten.
Er antwortete nicht, sondern starrte nur weiter regungslos auf sie hinab. Er wirkte wie eine Statue aus Stein gehauen.
»Wie heißt du?«, versuchte sie erneut eine Konversation mit ihrem Retter herzustellen, aber er schüttelte sich nur und bleckte seine Zähne.
Als sie verdutzt aufstehen und zu ihm gehen wollte, sprang er knurrend auf und drückte sich in den Schatten des Felsens.
»Hab keine Angst«, murmelte sie und näherte sich ihm.
Sie war selbst über ihren Mut überrascht, denn der Mann wirkte alles andere als freundlich. Aus seinem kantigen Gesicht stachen die goldgelben Augen beinahe unangenehm hervor, das schwarze, nasse Haar hing wirr von seinem Schädel und seine blasse Haut schimmerte gespenstisch im Mondlicht, aber am unheimlichsten waren seine Reißzähne.
Sie blieb zögernd stehen als er einen grollenden, warnend Ton ausstieß und seine Oberlippe hob, sodass man die zwei Fangzähne nun deutliche erkennen konnte.
»Was bist du?«, wisperte Elisabeth und die Brandung des Meeres übertönte ihr zartes Aufschreien, als sich die Kreatur auf sie stürzte und zu Boden riss.
Der heiße Atem des Mannes brannte auf ihrer Haut und sein Mund senkte sich zu ihrem hinab.
Die Begegnung
Gespenstisch ruhig lag der See mit seinem schwarz glitzernden Oberfläche vor mir. Enttäuscht über ihre Abwesenheit ließ ich mich auf einem glitschigen Felsen nieder und starrte auf die betörend schöne und gefährliche Brandung des Wassers. Irgendwo in diesen Wellen schwamm meine Göttin, meine düstere, immer hungrige Königin.
Müde, mit steifen Glieder und salzverkrusteter Haut, erhob ich mich wieder. Wütend bugsierte ich meine Hand in mein Blickfeld, um auf meine Armbanduhr zu sehen. Es war jetzt zwei Uhr zehn. Der Mond stand beinahe senkrecht über dem dunkelschwarzen Meer. Sie würde nicht kommen, wieder einmal ließ sie mich in dieser trostlosen Welt alleine zurück. Verwehrte mir ihre Anwesenheit. Frustriert blickte ich auf die kleine, menschenleere Sandbucht, die inmitten der schroffen Felsen wie ein Eiland des Friedens zwischen all den schäumenden Wellen lag.
Warum kam sie nicht? Wohin war sie verschwunden? Hatte sie mich vergessen? Mich, ihr dunkles, gefährlich schönes Geschöpf, welches sie an einem Novembertag wie diesem erschuf?
Ich wollte schreien, toben, verzweifeln, doch ich drehte nur dem Wasser meinen Rücken zu und ging den sandigen Trampelpfad hinauf. Fort von dem tosenden Meer und hinauf zu den Dünen mit ihren zerzausten Gräser. Der salzige Wind peitschte über mein Haupt und mein schwarzes Haar wirbelte durch die Luft, als würde es tanzen wollen.
Früher hätte ich gelacht und wäre über die Dünen gesprungen, hätte meine übermenschlichen Kräfte genossen und wäre in das rabenschwarze Wasser getaucht, aber jetzt spürte ich nur Leere. Unbändige Leere und Einsamkeit.
Albträume, absurde Bilder suchten mich seit Tagen heim und doch fand ich keine Erklärung für meine Verwirrtheit. Wie ein bitterböses Omen lag eine unnatürliche Schwere auf meinen Gliedern, selbst die Lust am Töten war mir vergangen. Alles, was mich früher erfreute, schien nun eine Last.
Ich erklomm die letzten Meter und meine Schritte führten mich zu dem Mann, der dort ganz alleine an der Klippe stand und mich mit verzehrtem Gesichtsausdruck musterte. Er erinnerte mich an einen Mann, der durch sein kultiviertes Auftreten seine wahre Herkunft verschleiern wollte. Die Krawatte war zu eng, der Hemdkragen zu weit und selbst die graue Anzugshose wirkte bei ihm wie ein plumpes Stück Stoff. Alles an ihm schien grau, unpassend und unordentlich.
Ich wandte meinen Blick von seiner Kleidung ab und sah in seine gebrochenen Augen. Entgeistert starrte er mich an.
Hielt er mich für einen Geist? Wahrscheinlich beunruhigte ihn das Glühen meiner goldgelben Augen, meine blasse Haut und das wilde, schwarze Haar, welches mein Gesicht umrahmte. Ich musste für ihn wie ein gefährlicher Teufel wirken.
Die arme Kreatur näherte sich mir mit langsamen Schritten. Sein Körper taumelte im Wind und das Salzwasser ließ seine Augen tränen. Sein Gesicht wirkte noch fahler, als er näher kam, und seine Lippen zitterten.
Ich konzentrierte mich auf seinen zerbrechlichen, menschlichen Geist, der wie Zuckerguss in der Sonne zu zerschmelzen drohte. Ich wob Bilder, die ihn lockten, riefen und ihm die Prächtigkeit des Paradieses vor Augen riefen.
Wie hypnotisiert bewegte er sich vorwärts. Quälend langsam näherte er sich dem Abgrund der Klippe.
Ich lächelte ihn auffordernd zu, legte meine Fingerspitzen auf seine bebende Brust und fühlte das Leben in seine Brust. Er hatte Angst. Angst vor dem Tod, der in meiner dämonischen Gestalt vor ihm stand und ihn zum Abgrund trieb.
Ich streckte meinen Arm aus und deutete auf die Wellen, die an den spitzen Felsen zerschellten. Irgendwo in weiter Ferne hörte ich ein leises Kichern.
Ich horchte auf, nun war es mein Herz, welches aufgeregt in meiner Brust schlug. War es meine Königin? War sie nun doch gekommen, um mein Opfer entgegenzunehmen und mich in die Gnade ihrer Liebe kommen zu lassen?
Aber das Lachen verklang mit dem Rauschen der Wellen und hinterließ nichts weiter als das Pfeifen des Sturms. Ich biss mir auf meine Lippen und senkte meinen Kopf hinab. Leere. Ich hatte plötzlich solche Schmerzen, dass ich kaum noch aufrecht stehen konnte. Übelkeit überfiel meinen Körper. Die geschenkten Kräfte des Meeres ließen nach und meine Beine zitterten. Nicht mehr lange und mein Körper würde beginnen, sich aufzulösen und zu einer widerwärtigen Pfütze verkommen. Nichts würde von mir übrigbleiben als dreckiges, schmutziges Wasser. Meine Seele mitsamt meinen sterblichen Überresten fortgespült, soweit sie überhaupt noch existierte.
Ich musste mich zusammenreißen, es blieb keine Zeit um meine verlorene Göttin zu trauern.
Ich zwang meine dämonischen Kräfte, sich zu bündeln und bleckte meine Zähne. Knirschend erhob ich mich und brachte mich in eine aufrechte Position zurück.
Der Mann starrte mich immer noch aus trüben Augen an. Ganz langsam drehte er seinen Körper der Klippe zu. Sein rechter Fuß ragte schon über den Abgrund, jetzt verblieben ihm nur noch wenige Sekunden seines erbärmlichen Lebens. Schuld und Zweifel würden am Abgrund des Meeres verwesen.
„Papa, nicht!“
Erschrocken drehte ich mich um.
Da stand sie. Das Ebenbild meiner Göttin, nur viel menschlicher, weicher. Ihr Gesicht im Mondlicht von einem matten Glanz umgeben, das helle Haar mit einem Reifen gebändigt und den schwarzen Mantel dicht um ihren Körper geschmiegt.
Ihre braunen Augen sahen durch mich hindurch und direkt zu der grauen Gestalt am Abgrund hin.
Flehentliche rief sie erneut, mit der Süße des Schmerzes angefüllt: „Papa, tu es nicht.“
Benommen von ihrer Schönheit und der zarten Stimmen, in der so viel Schmerz lag, vergaß ich sogar für einen Moment mein Opfer – ihren Vater.
Sie rannte los, der Mantel flatterte im Wind, ihr Haar wehte und ihre Hände waren bittend ausgestreckt.
Sie sah für mich in dem Moment aus, wie das Ebenbild einer Göttin. Ihr Mund öffnete sich und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er gesprungen war, denn ihre Augen verrieten es mir. Ein erstickter Schrei drang aus ihrer Kehle, wie das Wimmern eines kleinen Kindes. Ich betrachtete sie, wie sie neben mir stand und in die Dunkelheit starrte, da wo gerade noch ihr Vater gestanden hatte.
Ich fuhr mit meinen Fingern durch ihr Haar und atmete den schweren Duft ihres Körpers ein. Sie roch anders als meine dunkle Schönheit, die mich verlassen hatte. Selkies haftete der Duft des Wassers an, sie dagegen roch nach Blumen. Nach Rosen. Ich taufte sie daher, Rose.
Meine, kleine, verzweifelte Rose.
Tränen quollen aus ihren Augen hervor und benetzen ihre Wangen. Mit bebenden Händen riss sie sich den Mantel vom Leib.
Unter dem dichten Wollmantel verbarg sich ein kleiner, fester Körper. Sie trug ein hellgelbes Strickkleid und eine weiße Strumpfhose. Sie war wie eine Blume, die versuchte dem grauen, stürmischen Wetter zu trotzen. Der Mantel fiel auf den nassen Boden. Wie unachtsam von ihr, sie würde sich noch erkälten.
Und dann sprang sie.
Erschrocken wirbelte ich herum. Ich hechtete ihrem Körper hinterher, der wie ein Stein lautlos zu fallen schien. Das gelbe Kleid, im Mondlicht nicht mehr als ein fahles Leuchten, immer in meinem Blick, jagte ich ihr hinterher.
Es war keine bewusste Entscheidung von mir gewesen, denn ein Dämon kennt kein Gnade und schon gar kein Mitleid mit den Menschen, aber irgendwas in mir konnte sie nicht sterben lassen. Ich wollte nicht, dass ihr Körper von den Selkies im Wasser zerrissen, missbraucht und gefressen wird.
Ich streckte meinen Arm aus, beinahe konnte ich ihren Körper berühren, nur noch ein kleines Stück trennte sie von meinen Händen.
Ich reckte und streckte mich. Rose, sollte nicht ihre Seele verlieren.
Endlich! Ich fühlte den Stoff an meinen Fingerspitzen und meine Hand krallte sich in ihre Kleidung hinein. Ich zog ihren Leid dicht an meinen Körper heran und beugte mich schützend über sie. Mit beiden Händen drückte ich ihren Kopf gegen meine Brust und wappnete mich auf den Schmerz, der nun kommen würde. Auch wenn mein Körper unsterblich war, gefühllos war er nicht.
Wir fielen der Dunkelheit des Wasser entgegen und ich bemerkte das Rauschen des Wassers, als wir zusammen in die Fluten stürzten.
Die spitzen Kanten der Felsen schnitten in mein Fleisch, zerfetzten es und zertrümmerten meinen Brustkorb. Der Schmerz nahm mir das Bewusstsein. Wasser umspülte meinen gebrochenen Körper, aber sie lag zusammengerollt auf meiner Brust, scheinbar unverletzt. Mein Körper hatte sie vor dem sicheren Tod bewahrt.
Erleichtert lauschte ich auf ihre Atemzüge, während ich sie beschützend festhielt, aber auch meiner Unsterblichkeit waren Grenzen gesetzt und spürte, wie meine Sinne schwanden. Die Kälte des Wassers kroch über mich hinweg.
Ich sah, wie nun auch das Wasser an ihrem Körper zog und ihn davon schwemmen wollte.
Ich musste die drohende Ohnmacht besiegen. Ich atmete aus. Ich atmete ein. Endlich lüftete sich der Schleier über meinen Augen und mit rudernden Armbewegung kam ich zurück an die Oberfläche.
In meinen Armen hing der leblose Körper meiner Rose. Aber sie atmete noch. Ich konnte die mühsamen Bewegungen ihres Brustkorps unter der nassen Wolle sehen.
Salzwasser schwappte über ihren Kopf hinweg und ihr Haar bedeckte ihr Gesicht. Oh, bitte lieber Gott, falls es dich gibt, lass sie nicht sterben.
Ich wusste nicht, warum ich gerade zu Gott betete, denn falls es ihn gab, hatte er mich vergessen. Hatte mich die Jahrhunderte allein im kalten Wasser zurückgelassen.
Aber jetzt hatte er mir ein Geschenk gemacht, da war ich sicher, er hatte diese Frau zu mir geschickt, um mein hartes Herz zu erwärmen.
Vielleicht war das seine Art der Widergutmachung?
Ich hievte ihren Körper auf die kleine Sandbank, während die Wellen gierig an ihren Füßen leckten. Das Wasser wollte sein Opfer zurückhaben, was ich ihm wieder entrissen hatte.
»Weg mit dir!«, schrie ich das Wasser an.
Ein beleidigtes Rauschen erscholl und die Gischt spritze noch höher als sonst. Um mich herum türmten sich die Wellen auf und da war sie plötzlich: Die wispernde, verzaubernde Stimme meiner Herrin: »Kelpie, mein geliebter Wasserdämon. Sie gehört mir.«
Eine Welle traf mich hart am Rücken und schleuderte mich von meiner Rose fort.
Ich wälzte mich im Sand herum, erhaschte für einen kurzen Augenblick eine weiße Hand mit grünen Fingernägeln, die nach dem Bein der jungen Frau griff.
Mit einem lauten Schrei rappelte ich mich auf und rannte zu dem bewusstlosen Mädchen, was dort so hilflos und schutzlos lag.
»Kelpie!« Die Stimme meiner Herrin hatte einen frostigen Klang angenommen und kleine Eiskristalle bildeten sich auf der weißen Gischt. Als mich die Welle abermals traf, rissen die scharfen, feinen Kristalle blutendende Wunden in meine Haut.
Aber ich ignorierte den Schmerz und kämpfte mich durch das Wasser und zu dem Mädchen hin, welches von der weißen Hand immer tiefer in die Fluten gezogen wurde.
»Sie gehört mir, nicht dir, Kelpie«, kreischte es über das Tosen hinweg.
Was für eine Wut, was für ein Hass. Selten hatte ich meine Göttin so erzürnt erlebt.
Ich blickte auf das menschliche Elend, was blass und regungslos vor mir in den Fluten trieb. Was war an dieser Frau so besonders?
Eiskaltes Salzwasser zischte durch meine Beine und ein undurchdringlicher Nebel aus Gischt und Meerwasser legte sich über das kleine Eiland.
Ich blinzelte und wischte die brennende Feuchtigkeit von meiner Haut und aus meinem Gesicht.
Eine schlanke, von Algen bedeckte Silhouette trat aus dem Wasser hervor. Die meerblauen Augen angefüllt mit bitteren Tränen, die im Mondlicht azurblau schimmerten, musterten mich anklagen. »Mein geliebter Kelpie, warum widersetzt du dich deiner Königin? Liebst du mich denn nicht mehr?« Ihre Füße verließen den feuchten, nassen Friedhof, in dem schon so viele Menschen ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten, und sie dribbelte zu mir hinüber. Achtlos, beinahe angeekelt, stieg sie über das Menschenwesen hinweg.
Sie spitze ihre Lippen zu einem Kussmund, verführerisch zartrosa schimmerte ihre Haut. Ich schluckte mühsam. Wie lange hatte ich nun schon auf diesen Tag gewartet? Wie eine Ewigkeit war es mir vorgekommen und nun stand sie wieder vor mir. Und doch war ihr Kuss lustlos, falsch. Es fehlte die Innigkeit und die Gier.
Ihre Lippen fühlten sich wie raues, zerrissenes Papier an. Trocken, geschmacklos und spröde.
Ich drückte ihren Körper weg. Ihre kugelrunden Augen blitzen mich erzürnt an.
»Du hast mich allein gelassen. Ich habe jede Nacht auf dich gewartet, wo warst du?«, flüsterte ich heiser. Meine Kehle schmerzte. Ich hatte sie nicht fragen wollen, warum sie mich verlassen hatte, nachdem sie mich in einen Dämon verwandelt hatte. Ich wollte ihr nicht die Genugtuung meines Seelenschmerzes geben, aber die Worte waren wie ein Sturzbach aus mir herausgebrochen.
Wie eine Trophäe ihrer erfolgreichen Jagd begutachte sie mich und wisperte, ohne auf meine Frage einzugehen: »Du siehst wunderschön aus, mein tödlicher Freund.«
Wieder legten sich ihre kalten Finger um meinen Unterarm und sie versuchte mich erneut, zu sich heranzuziehen, aber ich blieb stur stehen. Wäre sie nur etwas früher gekommen, ich hätte mich ihr mit Haut und Haaren hingegeben.
»Mein Dämon, mein süßer Dämon«, säuselte sie unbeirrt meines Widerstands. »Komm zu mir, komm in meine Arme. Nie wieder werde ich dich allein lassen.«
Sie konnte lügen, ohne zu erröten. Das kaltherzige Glitzern ihrer Augen, so kühl wie Eiswasser, verrieten ihren Unmut, den sie hinter ihrem honigsüßen Lächeln verbarg. Sie wollte nicht mich, meinen Körper oder meine Zuneigung. Nein, sie wollte das Mädchen.
Schwermütig drehte ich ihr meinen Rücken zu, beugte mich zu dem Mädchen hinab, hob es in meine Arme und sprang die Klippen hinauf. Unter mir tobte ein Sturm aus Wasser und ein fauchendes, undefinierbares Geheul erhob sich.
Meine Königin stand am Rande des Sandes und hatte ihren Kopf in den Nacken gelegt und schrie ihren Zorn hinaus.
Ich wusste, dass sie mir nicht folgen konnte, denn ihr Körper und ihre Unsterblichkeit war an das Wasser gebunden.
»Komm zurück!«, brüllte sie und die Wellen schlugen mit solch einer Wucht gegen den Felsen, dass der Boden unter meinen Füßen vibrierte.
Ich warf einen letzten Blick auf die vollkommende Schönheit ihres Körpers und legte dann vorsichtig das menschliche Wesen in den Sand. Bevor die Heilung meines Körpers ihren Tribut forderte und ich ohnmächtig wurde.
»Hallo?«
Undeutliche Worte drangen zu meinem Geist vor.
»Hallo?«
Eine Hand schob sich unter meinen Nacken und jemand hob meinen Kopf an.
Benommen drehte ich meinen schmerzenden Nacken und versuchte, meine Umgebung scharf zu stellen.
Wie ein Blitz durchzuckte mich der Schmerz. Stöhnenden richtete ich mich auf, gerade soweit, dass ich beinahe saß, aber meinen Oberkörper noch nicht komplett aufrichten musste. Noch immer quälten mich die verheilenden Rippen.
Mein Blick fiel auf eine kleine Hand, die in meiner großen Handfläche unglaublich verloren wirkte.
Verwirrt folgte ich dem Verlauf des Armes, hin zu der Schulter und zu dem Gesicht, zu dem die Hand gehörte.
Das Atmen fiel mir schwer. Zwei rehbraune Augen, gerötet von den Tränen und dem Salzwasser, sahen mich besorgt an.
Ich durfte ihr nicht antworten, ich durfte nicht in ihren warmen Augen versinken, es war falsch und dennoch tat ich es, und zerriss somit das letzte Band, was zwischen dem Reich der Dämonen und der Menschen lag.
Ich konnte es nicht glauben, warum konnte sie mich sehen und sogar anfassen. Nur meine Opfern konnten einen kurzen Blick auf mich erhaschen, wenn sie in die andere Welt hinübergingen, aber sie lebte, sie war nicht mein Opfer und sie konnte mich sogar berühren.
Ein wohliger Schauer ging durch meinen Körper und ich genoss die Zartheit ihrer Hände, die mich aufrecht hielten.
»Mir geht es gut«, log ich und meine Stimme hatte sich brüchig und fremd angehört. Nie zuvor hatte ich mit meiner menschlichen Stimme gesprochen. Sie war nach den Jahrhunderten des dämonischen Daseins eingerostet und quietschte fürchterlich.
Aber sie sah über diese Peinlichkeit hinweg und ließ sich nichts anmerken. Ich hatte befürchtet, dass sie mich auslachen würde, aber in ihrem Ausdruck lag nur pure Sorge.
Sie hustete qualvoll. Hatte sie sich verletzt?
Besorgt richtete ich mich nun vollends auf und wischte ihr die klebrigen Haarsträhnen aus ihrem Gesicht.
Beklommen fuhr ich mit den Fingern die tiefe Schramme nach, die sich von ihrer Wange bis hin zu ihrer Kinnspitze zog. Sie ließ es geschehen und bettete ihr Gesicht in meine Handfläche.
»Du … bist ... verletzt.« Mehr brachte ich nicht heraus. Ich war überwältigt von der Tatsache, dass mich endlich jemand erkannte und nicht durch mich hindurchblickte als wäre ich Luft.
Aber die Freude währte nicht lange, denn eine ungeahnte Traurigkeit überkam mich. Ich war ein Monster, ein Kelpie, ein Wasserdämon, der Menschen in das Wasser lockte, um sein eigenes Leben und seine Unsterblichkeit zu verlängern. Ich opferte die armen Seelen meiner Königin.
Mitfühlend legte sie ihre Hand auf meine Stirn. Fast kam es mir so vor, als könnte sie die Zweifel in meinen Augen lesen.
»Du hast mich gerettet«, hauchte sie und ihre Stimme vibrierte leicht.
Gerettet? Was für ein unschuldiges Mädchen sie doch war. Ich hatte sie nicht gerettet, ich hatte sie verdammt.
Von nun an würde uns ein unsichtbares Band aneinander fesseln und uns einschnüren.
Ich sah zu dem trüben Morgenhimmel hinauf. Die letzten Sterne verblassten zwischen den grauen Wolkenfetzen und vereinzelte Sonnenstrahlen brachen sich am Horizont. Ich müsste bald eine Entscheidung treffen, die ihr Leben betraf. Ein Mensch, der von einem Kelpie berührt worden war, dem blieben nicht mehr viele Tage. Sorgenvoll musterte ich ihr Gesicht, ob sich schon Spuren unserer Begegnung abzeichneten, aber ihre braunen Augen lagen dunkel und glänzend vor mir. Ich konnte nicht den Hauch eines verräterischen Goldtons erkennen.
»Ich habe niemanden gerettet.«
Oh, wie hart die Worte über meine Lippen gekommen waren und wie verletzt sie plötzlich aussah. Sie wich kaum merklich zurück, als ich aufstand. Wie ein nasser Straßenhund, verlassen und wehrlos saß sie vor mir. Die Knie an ihren bibbernden Leib gedrückt, die Arme um ihren Körper geschlungen.
Konnte ich wirklich so herzlos sein und sie in der Kälte, bei dem nassen Grab ihres Vaters zurücklassen.
Plötzlich wurde ihr Ausdruck entschlossen, beinahe hart und sie nickte: »Ich habe auch niemanden gerettet. Ich bin nutzlos, schwach und eine schlechte Tochter.«
Wie ehrlich und ruhig sie aussah. Sie meinte es so, wie sie es gesagt hatte. Sie gab sich die Schuld an dem Tod ihres Vaters. Meine Rose verwelkte vor meinen Augen. Der Kopf hing ihr auf die Brust, die Körperhaltung erschlaffte. Wohin war meine Kriegerin verschwunden, die sich mutig den Mantel heruntergerissen und ihrem Vater hinterher gesprungen war.
Hatte sie grausame und dunkle Umarmung des Meeres genauso schnell gebrochen wie mich?
Ich konnte nicht anders und legte meine Hand auf ihren Kopf. Das nasse Haar war kalt und fühlte sich unwirklich an. Wie die Algen auf dem Grund des Meeres.
Bei der Berührung ihrer Haut, überflutet mich Bilder, die mich erschrocken aufstöhnen ließen. Ich sah ihren Körper, wie er zerfiel und das schöne Antlitz im Meer verweste.
»Ich muss gehen«, flüsterte ich hastig in die Dunkelheit hinein und hoffte auf eine Reaktion von ihr, die mir erlaubte zu bleiben, aber sie blieb stumm.
Ich nahm die Hand von ihrem Haar, verweilte einen kurzen, unsinnigen Augenblick noch neben ihr, bevor ich mich davon schlich.
Ich ließ sie wirklich alleine, überließ sie ihrem nahenden Tod. Ich würde ihr nicht in den letzten Tagen beistehen, wo sie mich brauchen würde, was war ich nur für ein feiger Hund.
Wie in Trance lief ich den sandigen Pfad an den Klippen entlang, bis ich zu der kleinen Böschung kam, die sanft abfiel. Benommen vom Kummer ließ ich mich auf die Knie fallen. Warum sehnte ich mich plötzlich nach der Nähe eines Menschen?
Ein leises Plätschern erscholl und erregte meine Aufmerksamkeit. Kurz hatte ich angenommen, dass Selkie zurückgekehrt sei, aber es war nur eine kleine Wassernixe, die sich vergnügt von den Wellen treiben ließ. Als sie mich entdeckte, winkte sie mir lächelnd zu, wohl wissend, wie verführerisch sie dabei wirkte, als sie ihren nackten Oberkörper aus dem Wasser reckte.
Mit fließenden Bewegungen schwamm sie zu meinem privaten Trauerplatz.
Ihr kleines Näschen zuckte, als sie nachdenklich fragte: »Kelpie? Was ist los? Hast du niemanden ins Wasser locken können? Soll ich dir helfen?«
Sie ließ sich mit der Welle vor meine Füße schwemmen und stützte ihre Ellenbogen in den matschigen Sand ab. Jetzt sah sie aus wie eine merkwürdig menschliche Robbe. Ihr Fischschwanz, der immer noch ins Wasser ragte, schlug aufgeregt hin und her, als sie auf eine Antwort wartete.
»Nein, ich habe schon eine Seele ins Wasser getrieben. Einen gebrochenen Mann, vor ein paar Minuten erst. Du musst mir also nicht deine Hilfe anbieten, Silberfisch.«
Pikiert sah sie mich an. Sie hasste den Kosenamen, den ich ihr einst vor vielen Jahrzenten gab. Trotzdem klang ihre Stimme mitfühlend, als sie weiter fragte: »Warum bist du dann so traurig? Hat es dir keine Freude gemacht, ihn ertrinken zu sehen? Ging es vielleicht zu schnell?«
Sie schob ihren Körper weiter auf die Sandbank hinauf und plapperte weiter: »Mein letztes Opfer ist schon nach einigen Sekunden an einem Herzinfarkt gestorben. So etwas Blödes! Da kommt dieser Tattergreis zu mir ins Meer und stirbt, bevor er ertrinken kann. Kannst du dir das vorstellen? Unnützer, dämlicher, wertloser alter Mann.«
Sie schnaufte aufgeregt.
Ich musste trotz meiner Schwermütigkeit schmunzeln. Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie der arme Trottel ihren weiblichen Reizen erlegen und ihr ins Meer gefolgt war. Dabei musste seine Geilheit sein Lebenslicht ausgelöscht haben, bevor die Nixe es tun konnte.
»Mein armes Silberfischlein«, tröstete ich die Nixe und konnte mir ein schelmisches Zwinkern nicht verkneifen.
Auf einmal runzelte sich ihre makellos glatte Stirn und sie hob schnuppernd ihren Kopf. Entsetzt wich sie von mir zurück. »Du riechst nach Mensch. Nach lebendem Mensch. Hast du etwa dein Opfer berührt?«
Verwirrt runzelte ich nun ebenfalls mein Gesicht und hob die Handflächen zu meiner Nase. Tatsächlich erfüllte mich ein blumiger Duft, als ich die Luft einsog. Sofort sah ich wieder das traurige Gesicht meiner kleinen Rose vor mir.
Silberfischs eh schon sehr bleiches Gesicht wurde noch eine Spur blasser. Sie schüttelte ihr nasses Haar hin und her: Oh, Kelpie, bitte sag mir nicht, dass du einen Bund eingegangen bist. Bitte, bitte, bitte … «
»Doch«, gab ich leise zur Antwort und dachte an Rose zurück.
»Du dummer, dummer Dämon«, erwiderte sie mir und jegliches Mitgefühl war aus ihren Augen gewichen. »Weißt du, was du damit getan hast?«
Es ärgerte mich, wie sie mit mir sprach, aber gleichzeitig beunruhigte es mich auch. Selten hatte ich die Nixe so aufgebracht gesehen wie jetzt. Ihr Fischschwanz teilte das Wasser und ihr schmaler Körper zuckte.
»Ja, sie wird sterben, sei denn … «
Sie unterbrach mich ungehalten und zischte: »Wenn es nur das wäre, aber du hast Meduris, die Nacht des Blutes, heraufbeschworen, du verdammter Narr.«
Sie rollte unheilvoll mit ihren Augen und ließ sich langsam wieder in das Wasser gleiten.
»Warte«, rief ich ihr hinterher. »Was meinst du damit?«
Die Nixe schüttelte ihren Kopf und ihr rotes Haar klatschte auf ihre Schultern. Sie wirkte wie die Fantasie eines Künstlers. Zart und doch robust, schön und gleichzeitig abartig fremd.
„Was hat Meduris zu bedeuten?“, schrie ich ihr hinterher, aber die Nixe verschwand ohne ein weiteres Wort in den Wellen.
„Meduris“, wiederholte ich ihre Worte. Inzwischen war aus dem dunklen Nachtgrau das trübe Hellgrau eines verengten Herbsttages geworden und ich beschloss, mich erst einmal auszuruhen und zurückzuziehen. Völlig konfus lief ich durch die Dünen und zu dem kleinen Wäldchen, was neben den Klippen angrenzte. Die alten Bäume bogen sich im Wind und das Herbstlaub flatterte durch die Luft. Die kahlen und blanken Äste wirkten im schummrigen Morgenlicht trist und nur der kleine See inmitten dieser farblosen Einöde funkelte mystisch im Nebel.
Meine Heimat, mein Refugium der Ruhe und Entspannung.
Ohne zu zögern, sprang ich hinein und ließ mich auf den Grund des Sees fallen. Im Schlamm des Bodens angekommen, verschränkte ich die Arme hinter meinem Nacken und starrte so lange zu der bewegten Wasseroberfläche hinauf, bis mich die Kälte wieder nach Oben zwang. Ich schleppte mich zum Ufer und ließ mich auf den schlammigen Boden gleiten. Die Sterne verblassten in der heller werdenden Wintersonne und ich schlief ein.
Ich träumte abscheuliche Dinge. Ich träumte von einem Monster. Das Tier oder Wesen hatte mir seinen Rücken zugewandt, dennoch konnte ich das Schmatzen seiner Kiefer hören. Rechts und links aus seinem gefräßigen Maul ragten zwei menschliche Füße und zwei Arme. Langsam ging ich auf die dunkle Gestalt zu, und gerade als ich meine Hand nach seinem pelzigen Rücken ausstrecken und es zu mir herumdrehen wollte, löste es sich auf. Ein Kopf rollte aus dem Nichts zu meinen Füßen hin. Verflossene, zerquetsche vom Speichel des Monsters bedeckte Augen starrten mich ausdruckslos an. Ich fuhr zurück. Es waren die Augen meiner geliebten Lilie.
Erschrocken wachte ich auf. Eine feine Frostschicht hatte sich über den See gelegt und verlieh dem Wasser eine angenehme Stille. Kein Frosch quakte, kein Wasser plätscherte. Es war als wäre nicht nur der See, sondern auch die Zeit eingefroren.
Genau wie die Oberfläche dieses Sees fühlte sich mein Herz an. Bedeckt von einer Schicht aus Kälte und Frost, verdammt zur Unbeweglichkeit.
Wann hatte ich zuletzt Freude, Liebe oder Wärme verspürt? Nie?
Doch, aber es war zu lange her, als dass ich mich an den Geschmack von Glück und Geborgenheit erinnern konnte. Als ich noch dazu fähig gewesen war, zu weinen und zu lachen, war ich ein Schiffsjunge auf einem christlichen Flottenschiff gewesen. Voller Hoffnung auf ein besseres, wenig ärmlicheres Leben, hatte ich auf einem Kriegsschiff angeheuert.
Aber dann war Selkie gekommen und hatte alle Gefühle ausgelöscht. Für immer. Bis jetzt. Plötzlich konnte ich wieder erahnen, was es hieß zu lieben, zu leben und auch zu leiden. Meine kleine Lilie hatte den Schlüssel zu meinem Herzen gefunden.
Beunruhigt von der Tatsache, dass ich nach knapp 500 Jahren wieder zu menschlichen Gefühlsregungen imstande war und sie auch noch genießen konnte, sprang ich auf die fragile Eisschicht, durchbrach sie und landete im eiskalten Wasser, welches meine hitzigen Gefühle abkühlte. Erst als ich mich kaum noch bewegen konnte, schwamm ich zum Ufer und trat auf die Lichtung hinaus.
Mit meinen empfindlichen Sinnen tastete ich nach den wunden Seelen, die mich in ihrer dunkelsten Stunde riefen. Wie Motten zum Licht flogen sie zu mir und verbrannten genauso elendiglich.
Ich legte meinen Kopf auf die Seite. Ich hörte das Schluchzen einer Mutter, die an ihren Kindern verzweifelte. Allein gelassen von den verschiedenen Vätern ihrer Kinder, ohne Familie und Hilfe, dem Alkohol verfallen, schrie ihr Herz nach Ruhe. Sanft wob ich die flüsternden Worte des Unheils und schickte sie mit dem Wind zu dem Geist der Frau. Die menschliche Rasse war von fragiler Gesundheit, dem Tod immer näher als dem Leben. Eingeschüchtert, verängstigt, mutlos schlichen sie geduckt durch die Gassen, die Schultern nach unten gedrückt von der Last der Schuld.
Der menschliche Geist ist immer angefüllt mit Reue und Scham. Getrieben von den ethischen Normen und eingezwängt im engen Korsett der Gesellschaft, stellen sie sich immer die Frage nach der Sünde. Sie essen Schokolade, wo sie doch Diät halten wollten, sie schlafen mit der Frau des besten Freundes, belügen ihre Eltern, suchen im Internet nach Sexpartnern, die ihre Fantasien befriedigen können. Und anstatt es zu genießen, was sie tun und nicht lassen können, beladen sie ihr Gewissen mit Schuldgefühlen. Wozu dann all diese Schuld, wenn sie doch keinen Zweck erfüllt, warum sich über die Taten grämen als sie auszukosten. So ist alles, was der Mensch tut, selbst die Reue nichts als Heuchelei.
Es belustigte mich, wie sie ihre Seelen vergifteten und ihnen den Geschmack verliehen, den ich so sehr an ihnen schätze. Honigsüß. Lecker. Triefend.
Ich lehnte mich zurück und hörte das schaurige Echo ihres Schluchzens. Die Barrieren der Beherrschtheit brachen und das ganze angesammelte Unheil ihres verkorksten Lebens strömte aus ihr heraus. Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie sie mit zittrigen Händen eine Abschiedsnotiz hinterließ, sich in den Wagen setzte und zur Klippe fuhr. Entschlossen zu springen, ihrem Leid und ihrem Leben ein Ende zu setzten.
Ich lächelte versonnen, als ich mich nun ebenfalls zu dem dunklen Ort meiner Seele begab. Ein neues Opfer. Ein neues Leben für mich. Und ich würde jeden einzelnen Tropfen ihrer Lebenskraft in mir aufnehmen und dann meine kleine Rose suchen. Irgendwo dort draußen wartete ihre Liebe darauf, mich zu umfangen. Ich musste nur zu ihr eilen.
Knirschende Schritte im Sand ertönten leise in meinen Ohren. Der Mond war von schweren Regenwolken bedeckt und feiner Nieselregen ließ den Sand schlammig werden.
Mein Herz frohlockte. War es sonst schwer und düster, jauchzte es nun in meiner Brust.
Ich drehte meinen sehnigen Körper der kranken Seele entgegen, aber vor mir stand nicht die Frau, die ich erwartet hatte.
Erschrocken fuhr ich zusammen, als ich nicht das verbitterte Gesicht meines Opfers, sondern in das von Rose sah.
Verdammt, was macht sie hier mitten in der Nacht? Gleich würde mein Opfer auftauchen und sich die Klippe hinabstürzten und was würde sie dann denken? Würde sie den Zusammenhang zwischen den Selbstmorden und mir herstellen können? Würde sie sehen, was für ein Tier ich war?
Schockiert darüber, sie könnte mein wahres Wesen erkennen, starrte ich sie nur wortlos an.
Das zarte Lächeln, was ihrem Gesicht einen entzückenden Glanz verlieh, erleuchtete die mondlose Nacht.
„Ich …“, begann sie, ob meines Schweigens, peinlich berührt und ihre Haut rötete sich.
Wie gebannt betrachtete ich mit meinen feinen Sinnen die Verfärbungen auf ihrer Haut.
Die hauchzarten Äderchen, für das menschliche Auge kaum sichtbar, füllten sich mit Blut und zauberten ihr einen sanften Rouge-Ton auf die Wangenknochen. Wie gerne hätte ich ihre Augen gesehen, aber sie hatte die Wollmütze tief in die Stirn gezogen, sodass mir nur der Anblick ihrer geröteten Wangen blieb.
„Ich habe mich gestern nicht bedankt. Jedenfalls nicht richtig.“
„Hmm. Ja“, erwiderte ich leise.
Ich richtete meinen Blick auf das dunkle Wasser. „Wann ist die Beerdigung?“
Ich sah, wie ihre schmalen Schultern zuckten und ich hörte ihr unterdrücktes Wimmern. Am liebsten hätte ich mich selbst geohrfeigt. Man konnte schließlich nur jemanden beerdigen, dessen Leichnam man hatte. Ich kam mir wie ein großer Trottel vor. Und äußerst einfältig.
„Entschuldigung.“ Ich räusperte mich unbeholfen. „Das war wohl eine blöde Frage.“
Zu meinem Erstaunen schüttelte sie ihren Kopf und ihre Mütze rutschte noch weiter in ihr Gesicht hinein.
„Die Polizei kann keine Taucher nach ihm suchen lassen, die Brandung ist zu gefährlich. Es wird daher keine Beerdigung geben. Jedenfalls nicht in dem Sinn.“
„Das tut mir leid“, murmelte ich und ich meinte es auch so. Auch wenn ich ihren Vater in den Tod geschickt hatte, verspürte ich ehrliches Mitgefühl.
Ihr Hände glitten aus den Manteltaschen. Weiße, zarte Hände.
Sie streckte ihre Finger aus und berührte mich.
Wie elektrisiert ließ ich es geschehen.
Bei all den Nixen und der Selkie-Königin, wie sehr hatte mich danach gesehnt, aber ich wusste, dass es falsch war, denn ihre Berührung ließ die Grenze zwischen Dämonen- und Menschenreich verschwimmen.
Eher widerwillig zog ich meine Hand zurück und sie sah mich für einen Moment lang irritiert an, dann griff sie in ihren Mantel und angelte aus der Innentasche etwas heraus, was ich im ersten Moment für einen Papierblock hielt. Doch als sie ihre Hände ausstreckte und mir ein Geldbündel unter die Nase hielt, wurde ich wütend.
„Was soll das?“, herrschte ich sie an und ich fühlte einen unbändigen Zorn.
„Ich …“, stotterte sie. „Ich dachte … also … du hast mir doch das Leben gerettet … und Geld bedeutet mir nichts. Daher …“
Geld bedeutete ihr also nichts? Und dann wollte sie mich mit einem so wertlosen Gut bezahlen? Warum schenkte sie mir nicht ihre Liebe oder ihren Körper, irgendetwas, was ihr etwas wert war, und nicht dieses billige, wertlose Papierzeug.
„Behalte es“, knurrte ich erbost.
Verwirrung und Ratlosigkeit spiegelten sich in ihren weichen Zügen wieder. Ich genoss den Anblick ihrer wunden Seele. Ergötzte mich an ihrer Melancholie und erfreute mich an ihrer Verzweiflung.
Erschrocken prallte ich zurück. Hatten mich die Jahrhunderte als Dämon wirklich so verdorben, dass ich solche Empfindungen gegen sie hegen konnte?
Verbissen blinzelte ich.
„Behalte es. Ich brauche dein Geld nicht“, sagte ich noch einmal sanfter. Ich streckte meine Hand aus, ich wollte ihr die Mütze vom Kopf reißen, um endlich in ihre Rehkitzaugen sehen zu können, doch stattdessen tätschelte ich nur den Baumwollstoff, unter dem sich ihr Haar verbarg.
Ein Menschenmädchen und ein Wasserdämon. Was für ein ungeheuerlicher Gedanke. In meinen Träumen zog ich sie aus, legte sie nackt in den Sand, bedeckte ihren Körper mit Küssen und … riss sie mit in die feuchte Tiefe meines Sees.
Wieder blinzelte ich angestrengt.
500 Jahre waren vergangen und ich hatte verlernt, ein Mensch zu sein. Immer wieder überkam mich das unbändige Verlangen, sie zu ertränken und sie zu meiner Gefährtin zu machen.
Ich war ein Wasserdämon.
Und wie um meine stillschweigende Erkenntnis zu untermauern, erschien zu meinem Unglück die lebensmüde Frau, die ich mit süßen Versprechungen zur Klippe gelockt hatte.
Neben ihr ein dunkler Schatten. Ich fletschte die Zähne.
*Rahr*
Ein hämisches Lachen erscholl. Und ein Gedankenfaden bahnte sich den Weg zu mir zurück.
*Kelpie, sieh an. Ist das etwa dein Opfer?*
*Ja*, fauchte ich stumm zurück und verschränkte meine Arme, um meinen Anspruch zu unterstreichen.
Rose drehte sich um. Erstaunt betrachtete sie die Frau, die auf den Abgrund zusteuerte.
„Hier sterben viele Menschen“, flüsterte sie heiser und plötzlich griff sie doch nach meiner Hand. Mit dieser kleinen Geste erfüllte sie meine unstillbare Sehnsucht nach ihrer Wärme. Brachte sich dabei aber gleichzeitig in große Gefahr. Und bevor ich ihr meine Hand entreißen konnte, hörte ich schon Rahrs gefährlich interessierte Stimme in meinem Kopf.
*Was ist mit diesem Menschenwesen neben dir? Sie kann dich sehen?*
Der Schatten neben meinem Opfer löste sich auf und materialisierte sich wieder vor Rose, die wie gebannt auf die Frau starrte, die sich uns wankend näherte.
Sie sah die Gefahr nicht, die sich neben ihr aufgebaut hatte und sie beobachtete.
Neugierig streckte er seine blutbefleckten Hände nach ihr aus und wollte sie berühren. Ekel überkam mich bei dem Gedanken, dass seine Tod verseuchten Hände ihr die Unschuld nehmen könnten.
Unbeherrscht trat ich vor und offenbarte somit meine Zuneigung zu dem Menschenwesen, was sicherlich ein weiterer, schwerer Fehler war.
Rahrs Mundwinkel zuckten. Er stieß ein ohrenbetäubendes Lachen aus, was sich tief in meine Eingeweide fraß und mein Blut zum Kochen brachte.
Ich brummte warnend auf und ballte meine Hände zu Fäusten. Ich wollte diesem abscheulichen Kerl das Grinsen aus seinem Gesicht prügeln.
„Was ist mit dir?“, hörte ich die zaghafte Stimme des Menschenmädchens.
Sie konnte Rahr schließlich nicht sehen und musste annehmen, dass ich komplett den Verstand verloren hatte.
Rahr plusterte sich vor mir auf. *Ja, was ist mit dir?*, äffte er sie nach. Seine unmelodische Stimme war eine Beleidigung für ihre klare, reine Stimme.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie mich entgeistert musterte, während die verzweifelte Mutter weiter auf den Abhang zu hielt.
Ich sah, wie Rose mir einen letzten, beinahe abfälligen Blick zuwarf, bevor sie langsam auf die Frau zuging, die ihrem Leben ein Ende setzten wollte.
*Na, was machst du jetzt, mein Freund?*, fragte mich Rahr lächelnd. *Willst du für ein Menschenwesen etwa sterben?*
Sterben. Was für ein seltsames Wort. Konnte ich denn überhaupt sterben? War dieser seelenloser Körper überhaupt imstande zu verfaulen oder war ich für immer an dieses Dasein gekettet?
Ich hatte nie den Mut aufgebracht, herauszufinden, ob ich wirklich unsterblich war. Natürlich heilten meine Wunden augenblicklich und mein Körper überlebte auch Stürzte aus großen Höhen, unwirklichen Temperaturen und er kam auch ohne Sauerstoff aus.
Doch auch wenn mein Körper allen tödlichen Umständen trotze, war er trotzdem verwundbar. Ich brauchte Menschenopfer.
Aus Stolz, nicht aus dem Wunsch heraus, mein teuflisches Morden zu stoppen, hatte ich für zwei Monate keinen Menschen angerührt.
Ich wollte sehen, nein wissen, wie unverwundbar ich war und mich gleichzeitig an meiner Herrin rächen, die mir immer eingeschärft hatte, die Seelen zu fressen, die ich zu ihr ins Meer warf.
Die Erfahrung, schwächer und kränker zu werden sowie es die menschliche Spezies jeden Tag erlebt, wenn sie dem Tod entgegen geht, war grauenvoll. Ich hatte es nicht mehr lange ausgehalten und schließlich den Vater meiner kleinen Rose in den Tod getrieben. Wie wunderbar seine Seele, nach all der entbehrungsreichen Zeit, geschmeckt hatte. Honigsüß, angefüllt mit dem Kummer all jener Jahre.
Ich seufzte tief auf. Rahr betrachtete mich aufmerksam. Rahr und mich verband eine innige, wenn auch blutrünstige Freundschaft. Häufig versuchten wir, uns gegenseitig mit der Anzahl unserer Opfer zu übertreffen.
Aber neben der Mordlust, einte uns auch die tiefe Melancholie der Verlassenheit. Beide waren wir von unseren Herrinnen verstoßen worden. Die Gründe dafür waren sie uns schuldig geblieben.
*Ich bin mir nicht sicher, ob wir überhaupt sterben können, aber wenn dem so wäre, sie wäre es wert.*
Stille.
Seine Augenbrauen wölbten sich nach oben, verliehen ihm das Aussehen eines alten Lehrmeisters, der tadelnden den Zeigefinger zur Mahnung hob.
Tatsächlich war Rahr um einiges älter, genau gesagt, einige Jahrhunderte älter. Er kam aus einer Zeit, in der die Römer gerade den Hadrianswall errichtet hatten. Die Götter, die er anbetete, waren mir fremd und es erschien mir grotesk, zu einem Kriegsgott oder zu einer Liebesgöttin zu beten.
Obwohl er schon so lange tot war, hörte ich jede Nacht seine geflüsterten Gebete. Sah, wie er sich auf den Boden kniete und zu seinen unsichtbaren Freunden sprach, die ihn doch nicht erhörten. Sie hatten ihn genauso verlassen, wie das Leben seinen Körper.
Im Gegensatz zu ihm, hatte ich aufgehört, an etwas Göttliches zu glauben. Zu viele Menschen hatte ich getötet, als dass ich noch an eine gütige Kraft glauben konnte. Mein Glaube war zusammen mit mir und der christlichen Flotte in der griechischen Meerenge von Lepanto untergegangen.
Nicht Gott, den ich damals um Hilfe anflehte, rettete mich, sondern ein wunderschönes Wesen. Wie eine Göttin war sie aus der Tiefe des Meeres erschienen und hatte mich durch das Wasser getragen, während sich meine Lungen mit Salzwasser gefüllt hatten.
Von überall erklangen die verzweifelten Schreie der ertrinkenden Menschen und die gurgelnden Laute der Seeleute, die aufgehört hatten, gegen das kalte Wasser zu kämpfen und auf den Grund des Meeres hinabsanken.
An diesem kalten Oktobertag war ich ertrunken. Ertrunken in einem brodelnden Wasser aus Schiffsbrettern, osmanischen und christlichen Flaggen, Blut und Kanonenkugel. Gefangen zwischen den Leibern fremder Länder und den meiner eigenen Kameraden.
*Kein Mensch ist es wert zu sterben. Warum willst du sie retten? Die Zeit wird sie sich holen. Früher oder später wirst du den Kummer ertragen müssen, sie zu verlieren.*
Rahr hatte meine Gedanken an frühere Tage unterbrochen. Das dunkle Timbre seiner Stimme hallte in meinen Ohren wieder.
Ja, die Zeit würde sie zu sich holen und ich würde trauern, so wie ich um meine Königin getrauert hatte.
Dennoch irgendwas sagte mir, dass es kein Zufall gewesen war, dass ich sie getroffen hatte. Irgendwas an ihr war seltsam.
*Sie ist anders als andere Menschen. Sie hat mich gesehen. Verstehst du? Nach all den Menschen, die durch mich hindurchgesehen haben, ist sie die eine gewesen, die mir direkt in meine Augen geblickt und meine Hand ergriffen hat.*
Jetzt war Rahr an der Reihe tief zu seufzen. *Du bist ein unverbesserlicher Idiot.* Obwohl er mich beleidigte, nickte er dabei mit dem Kopf und zeigte auf seine Art und Weise, dass er mich verstand. Selbst für ihn musste es Sinn ergeben, den zu lieben, der einen unter vielen erkannte.
Plötzlich fiel es mir wieder ein, was die Nixe zu mir gesagt hatte. Rahr war so viele Jahrhunderte älter, vielleicht wusste er, was Silberfisch damit gemeint hatte. *Rahr, wer oder was ist Meduris?*
Rahr wollte etwas sagen, brach dann aber ab. Setzte erneut an und schwieg wieder.
Ich blickte in sein unverwechselbares, herbes Gesicht mit den grimmigen Zügen. Seine Kiefer mahlten, so als wolle sein Mund etwas sagen, aber seine Lippen nicht dazu fähig, es auszusprechen.
*Meduris*, begann er schließlich im Flüsterton zu sprechen. * Ist der erste Dämon, der auf die Erde kam.*
*Was weißt du über ihn?*, wollte ich begierig wissen und reckte mein Kinn nach vorne. Ich hatte ebenfalls geflüstert, obwohl uns Rose nicht hören konnte, da wir uns der alten dämonischen Sprache bedienten, die kein menschliches Ohr vernehmen konnte.
Ich blinzelte zu ihr herüber. Sie hatte die Arme um die Frau geschlungen, die weinend in ihrer Umarmung lag. Sie wirkten wie eine verschmolzene Einheit, dicht aneinander gedrängt, suchten sie gegenseitig Trost.
Es würde schwierig werden, ein neues Opfer für diese Nacht zu finden. Ich würde wohl hungrig zu Bett gehen müssen.
*Frag doch deine Königin nach Antworten.*
Rahrs schroffe Antwort irritiert mich. Er war kein Dämon, der ausgesprochen freundlich war, – ich bezweifelte das ein Dämon überhaupt nett sein konnte – aber zwischen uns herrschte trotzdem eher ein brüderliches statt ein feindliches Klima.
*Ich habe aber ich gefragt*
Rahrs verbranntes Gesicht verdüsterte sich. Ich hatte ihn nie gefragt, woher die Narben, die er überall am Körper trug, stammten. Jetzt wo er diese scheußliche Grimasse zog, traten sie rot-glänzend an Stirn und Wangen hervor.
*Ich kann dir da nicht weiter helfen. Ich weiß nicht mehr und will auch gar nicht mehr über diesen Dämon wissen.*
Er log. Er log mir direkt ins Gesicht. Es verletzte mich und stachelte gleichzeitig meine Neugierde an. Ich musste herausfinden, wer Meduris war und was Rose mit ihm zu tun hatte.
Rahr machte ein ungerührte Geste zur Klippe hin. *Dein Mädchen ist weg.*
Mein Kopf ruckte herum, ungläubig starrte ich auf den Fleck, an dem sie gerade noch zusammen mit der Frau gestanden hatte.
Mein Herz machte einen quälenden Sprung und blieb für eine Schrecksekunde stehen, bis ich die Stimme von Rose vernahm.
Sie war im Wald.
Erleichtert atmete ich auf, doch als ich meinen Kopf von den dunklen Blätterwerk abwandte, war Rahr verschwunden.
Nachdenklich schlenderte ich zu dem Wald hin und verbarg mich hinter einer großen Eiche. Im fahlen, gräulichen Licht konnte ich trotz meiner sehr guten Augen, nur ihre Umrisse erkennen. Sie stütze die trunkene Frau und begleitet sie zu ihrem Auto.
Ich runzelte die Stirn. Ich befürchtete schon, die Frau würde sich hinter das Steuer setzten, aber zu meiner Erleichterung nahm sie auf dem Beifahrersitz Platz.
Ich beschloss, trotz meines Hungers, ihnen zu folgen und diese Nacht keine Seele mehr in den Abgrund zu locken.
Das Auto setzte sich langsam in Bewegung, die Räder rollten über den durchnässten Boden zur Landstraße hin. Als das Laternenlicht durch die Frontscheibe fiel, konnte ich die verschmierten Augen meiner Rose erkennen. Der schwarze Kajal war verlaufen und hatte kleine schwarze Fäden über ihr blasses Gesicht gespannt.
Ich wusste nicht, ob ihre Tränen oder der Regen ihr das Schwarz von den Augen gewaschen hatten, aber die dunklen Flecken an ihrem zarten Hals stammten eindeutig nicht von ihrer Schminke.
Leise folgte ich dem Wagen. Obwohl er sehr schnell fuhr und ich mir schon Sorgen um die Sicherheit von Rose machte, konnte ich dem Wagen problemlos folgen. Wie ein unsichtbarer Schatten glitt ich über die asphaltierte Straße, immer den roten Rücklichtern des kleinen Polos hinter her.
Der Wagen bog in eine Seitenstraße. Verwundert schaute ich mich um. Die Häuser in der Gegend wirkten alt und verfallen, ziemlich unpassend für Rose. Mit einer eleganten Bewegung stieg sie aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür.
Irgendetwas in ihrem Antlitz hatte sich verändert. Sie wirkte plötzlich älter, viel älter. Die jugendliche Haut zeigte nun spröde Risse, die leuchtenden Augen glotzen aus dumpfen Höhlen hervor.
Als sie ihre Lippen zu einem Lächeln verzog, konnte ich kleine, spitze Zähne sehen, die ihr einen raubtierhaften Zug verliehen.
Selbst die Unschuld in ihrem Engelsgesicht verlor schlagartig seine Wirkung, als sie die betrunkene Frau grob aus dem Wagen und in eine dunkle Ecke zerrte.
Erschrocken fuhr ich zusammen. Ich hörte schmatzende Laute, die direkt aus dem Schatten der Häuserschluchten zu kommen schienen.
Behutsam tastete ich mich vor. Dieses Schmatzen hatte ich schon einmal gehört. Vor langer, langer Zeit.
Vergangenheit
Elisabeth schenkte sich ein weiters Glas Wein ein. Die Flüssigkeit leuchtete genauso perlweiß, wie ihre Zähne. Sie nippte am Weißweinglas und tat einen weiteren Zug. Der Alkohol rötete ihre Wangen, sie war aber noch weit davon entfernt, betrunken zu sein.
Ihre Stimme klang klar und fest, als sie mir ihre pudrig-weiche Hand zum Kuss reichte. Sie kicherte albern und ihr roter Mund zuckte.
Ich beugte mich vor und ergriff ihre dargebotene Hand. Sie roch nach den Zigarren, die sonst nur die Männer rauchten und an ihren Fingernägeln klebte Tabak.
Als sie bemerkte, wie ich die verräterischen Spuren auf ihrer Haut musterte, entzog sie mir ihr Hand mit einem energischen Ruck und sprang auf.
Der Stuhl, auf dem sie wie eine Herrscherin gethront hatte, quietschte über das glattpolierte Holz.
„Ich will reiten“, sagte sie mit einem befehlenden Ton und deutete auf den großen Torbogen, der hinaus und zu den Ställen führte.
Ich lächelte. „Sicher, meine Schöne.“
„Jean“, säuselte sie und schmiegte ihr Puppenköpfchen gegen mein Brust. „Ich will, dass du mit mir reitest.“
Erstaunt wich ich zurück. „Aber …“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich ungeduldig.
„Jetzt sofort. Zusammen mit dir.“
Sie war noch nie die Geduldigste gewesen. Ich schnaufte ärgerlich auf, doch dann nahm ich ihre Hand und wir gingen zusammen durch den Thorbogen. Sie warf mir einen verschmitzten Blick zu und ich versuchte, ihr naives Lächeln zu erwidern.
„Weißt du“, sann sie nach. „Wie lange du jetzt schon für meinen Vater arbeitest?“
Ich zuckte desinteressiert mit meinen Schultern. Ich hatte aufgehört die Tage, die Wochen und die Monate zu zählen. Für mich glich jeder Tag dem anderen. Ich stand auf, wusch mich, zog mich an und war das Schoßhündchen eines kleines Mädchens.
Sie beäugte mich immer noch von der Seite. Ich konnte ihre Blick förmlich auf mir spüren.
„Schon sehr lange, Jean.“
Mit welcher Beiläufigkeit sie diese Tatsache erwähnte, ließ mich erschaudern.
„Ach?“ Meine Stimme hatte leicht gezittert.
Sie nickte eifrig und ihre blonden Locken hüpften unter dem breitkrempigen Hut hervor. „Ja, Jean. Wann wurde ich geboren? Vor 17 Jahren, nicht wahr? Damals stellte dich mein Vater ein, damit du mich beschützt.“
„Ja“, gab ich zögerlich zu, denn ich ahnte worauf sie hinaus wollte und es behagte mir nicht.
Sie sah mir direkt in die Augen. „Ich bin kein Mädchen mehr, ich bin nun eine Frau.“
Ich schluckte mühsam den Kloß in meinem Hals hinunter und versuchte, eine strenge Mine auf mein Gesicht zu zaubern, die mehr aussagte als die Worte, die ich nun wählte: „Elisa, meine wunderschöne Elisa. Für mich wirst du immer beschützenswert bleiben. Nie werde ich aufhören, dich vor dem Unheil dieser Welt zu bewahren.“
Ihre Wangen leuchteten in einem tiefen Rose´. Blass, so wie es Mode war, streckte sie mir ihr rundes Gesicht entgegen.
„Vor dir auch?“, fragte sie keck.
„Ich muss dich auch vor mir beschützen“, wisperte ich und versank gleichzeitig in ihren wasserblauen Augen.
„Jean, ich vertraue dir. Niemals befürchte ich, von dir betrogen zu werden.“
„Vertraue mir nicht, meine Kleine“, wisperte ich und drehte meinen Kopf weg.
Dieses Mädchen brachte mich noch um den Verstand.
Wir gingen zu den Pferden und sie wählte – zu meinem Missfallen – eins der wildesten Tiere aus. Es ziemte sich nicht, dass Frauen ritten, aber ihr Vater war ein nachsichtiger Mann und seiner Tochter verfallen und so hatte er ihr auch diesen Wunsch gewährt. Trotzdem war es meine Pflicht, wie er eines Abends bedeutungsvoll bemerkt hatte, sie davor zu bewahren, zu stürzten und sich zu verletzten.
Daher war ich nicht sehr erfreut, als sie vergnügt auf den weißen Rappen deutete, der von den Stallburschen „Biest“ getauft worden war.
„Nein!“, beschied ich energisch und führte sie zu einem kleinen, alten Gaul, der schon fast blind war.
Empört stieß sie die Luft zwischen ihren Zähnen aus und stemmte ihre Hände in die Hüften. Sie war genauso wenig über meine Wahl begeistert wie ich über ihre.
„Niemals“, murrte sie. „Reit ich auf diesem Esel.“
Ich lächelte sie eisig an und tippte dem Tier auf den Rücken. „Entweder du reitest das Tier oder gar nicht. Du hast die Wahl.“
Unschlüssig wanderte ihr Blick zwischen mir und dem Tier hin und her. Schließlich musste sie zu der Überzeugung gekommen sein, dass ich nicht bluffte, denn sie machte ein Gesicht, als hätte sie in eine unreife Frucht gebissen und riss trotzig das Sattelzeug vom Haken.
„Dann nehme ich halt den alten Esel, aber wenn der Tod unter mir zusammenbricht, dann bist du schuld.“
Ich grinste. „Dieses Risiko nehme ich in Kauf, Süße.“
Ihre Blicke durchbohrten mich und sie pfefferte den Sattel auf das arme Tier, was erschrocken zusammenzuckte.
Mir tat der alte Gaul aufrichtig leid.
„Du bist so langweilig, Jean, weißt du das eigentlich?“
„Ja.“
Sie schnaubte und ihre Nasenflügel blähten sich auf. Sie war wirklich wütend ihren Willen nicht bekommen zu haben, denn sie war Widerspruch selten gewöhnt.
Niemand wagte es Elisabeth zu widersprechen, denn hinter der kindlichen Schönheit versteckte sich eine kaltherzige Seele.
Sie verprügelte ihre Angestellten, Diener und Leibeignen. Sie galt als jähzornig, impulsiv und sogar bösartig.
Ich hatte sie einmal dabei beobachtet, wie sie eine kleine streune Katze gequält hatte.
Ich musste mich wieder an das Gespräch erinnern, welches ich mit ihrem Vater geführt hatte, als sie gerade auf die Welt gekommen war und er mich heraufbeschworen hatte, sie zu beschützen. Man trachtete nach ihrem Leben, vielleicht hatte sie das hart werden lassen.
„Komm schon, du Langweiler“, rief sie und schwang sich auf das Pferd, dem sie ihre Stiefel in die Seiten trieb.
Das Tier bäumte sich auf und sie lachte fröhlich.
Ich seufzte. Sie schaffte es sogar, aus dem treuherzigen Pferd ein wildes Tier zu machen.
Sie beugte sich vor und schob den Riegel des Stalls beiseite und ich sah nur noch, wie sie im schnellen Galopp durch die Stallgasse ritt. Die Burschen sprangen gerade noch rechtzeitig zur Seite.
Hektisch schwang ich mich auf eine gefleckte Stute, ohne sie vorher zu satteln, denn dafür hatte mir Elisabeth keine Zeit mehr gelassen, und jagte dem verrückten Weib hinterher.
Ihr Haar flatterte im Wind und ich war erstaunt, was sie aus dem armen Tier alles herausholte. Jedenfalls jagten sie über die grünen Felder und ich hatte es schwer, ihnen zu folgen.
Ihr Juchzen hallte über die Landschaft und sie warf die Arme in die Höhe, was mir tiefe Sorgenfalten auf die Stirn trieb.
Warum war dieses Kind so verflixt leichtsinnig?
„Hör gefälligst auf, dich wie ein Irre zu benehmen!“, brüllte ich ihr zu, aber sie hob nur ihre Hände an die Ohren, zuckte mit den Schultern und tat, als könnte sie mich nicht hören.
Ich bleckte meine Zähne. Sie reizte mich bis aufs Blut und gleich würde sie den Dämon in mir zum Vorschein bringen.
„Elisa“, schrie ich und trieb nun mein eigenes Pferd unerbittlich an.
Sie reagierte immer noch nicht.
„Elisabeth!“
Tatsächlich, als sie ihren vollen Namen hörte, zügelte sie ihren Hengst und warf mir einen langen Blick über die Schulter hinweg zu.
Es blitzte in ihren klaren Augen auf und sie lächelte diebisch.
Es erfreute sie, mich so besorgt zu sehen. Dieses kleine Biest, dachte ich erbost und ritt langsam auf sie zu.
Doch gerade als ich mein Pferd knapp neben ihrs zum Stehen gebracht hatte, schnalzte sie mit ihrer Zunge und stieß ihre Hacken in die weichen Flanken ihres Tieres.
„Jetzt hast du eine gerechte Chance, mich einzufangen“, flötete sie und galoppierte erneut davon.
Sie hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, ich sprang von dem lahmen Tier und eilte ihr zu Fuß hinterher. Meine dämonischen Kräfte verliehen mir übermenschliche Fähigkeiten und die Umgebung flog nur so an mir vorbei.
Ich konnte schon das Schnaufen ihres Tieres hören und den Schweiß des Pferdes riechen.
Als ich auf gleicher Höhe mit dem Gaul lief, krallte ich meine Hände in die Mähne des Tieres und stemmte meine Füße in den Boden.
Grashalme und Erdbrocken flogen durch die Luft, das Pferd wieherte schmerzvoll auf, während Elisabeth kicherte.
Ich riss das Tier mit voller Wucht herum und endlich hielt es an.
„Komm runter“, knurrte ich. Doch sie blieb regungslos auf dem Rücken sitzen und lächelte mich nur unverhohlen an.
Ich packte ihre Taille und zog sie mit einem kräftigen Ruck herunter. Sie wehrte sich nicht, sondern schmiegte ihren Körper in meine Arme, mit denen ich sie umschlungen hielt.
„Aber, aber …“, hauchte sie. „Was, wenn dich jetzt ein Diener meines Vaters oder gar einer aus dem Landvolk gesehen hat?“
Ihre Fingerspitzen fuhren zu meinem Hemdkragen und lösten die Schnüre, die den Stoff zusammenhielten. Ihr Fingernagel kratze in meine blanke Haut und hinterließ einen blutenden Striemen, der sich sofort wieder schloss.
„Dann ist es deine Schuld, wenn ich ihn töten muss.“
Fasziniert strich sie über die Stelle, wo gerade eben noch eine hellrote Narbe zu sehen gewesen war.
„Ich könnte ihn doch für dich töten“, murmelte sie und küsste meinen Unterarm.
Ich erschauderte, als ihre seidigen Lippen sich leicht öffneten und sie an meiner Haut knabberte. „Lass mich sie töten, lass mich dein Geschöpf, deine Dienerin sein.“
Ich ließ sie abrupt los und sie fiel in das weiche Gras. Wut überzog ihr Puppengesicht und sie spuckte vor mir – einer Dame ungebührlich– aus.
„Elisabeth, du weißt nicht, was du da redest“, beschied ich, obwohl ich wusste, dass es ihr Ernst war.
Texte: Tajell Robin Black
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2012
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