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Klappentext:


~Die Vergangenheit eint, die Zukunft entzweit uns~

Die Welt Elowia steht am Abgrund und droht in einem weiteren Krieg zu versinken. Einzig und allein ein Dämonenmädchen mit einem Stein der Unwissenheit kann ihre Welt noch retten, aber der Preis für die Errettung Elowias ist hoch, denn das Juwel bringt nicht nur den erhofften Frieden, sondern auch viel Leid mit sich. Es bricht ein erbitterter Kampf zwischen den Dämonen, den Diamantanern und den Feen aus. Sie alle wollen das Schicksal zu ihren Gunsten wenden. So werden aus Freunden Feinde, aus Helden werden Mörder und aus Familien Konkurrenten. Aber das starke Band der Vergangenheit verbindet die Protagonisten zu einer untrennbaren Einheit, der sie nicht entkommen können. Getrieben von den Schatten ihrer Vergangenheit, erkennen sie, dass sie nicht so frei in ihren Entscheidungen sind, wie sie angenommen haben.

Die Lieder der Fangaren

 

Das Lied der Vergangenheit

 

Im Nichts existiert kein Hier und Jetzt.

Keine Zeit, kein Verfall und keine Vergangenheit.

Wo das Nichts regiert,

wird es keine Zukunft geben.

Nichts wird geboren, nichts wird sterben.

Elowias Herz weint,

Elowias Herz ist in Dunkelheit getaucht.

 

Das Lied der Gegenwart

 

So reiße die Mauern

deiner Überheblichkeit nieder.

Und siehe, was von Dir übriggeblieben ist.

Am Ende wirst du weinen,

um das was du verloren glaubst,

als hättest du nie gelebt, wird es dir sein.

Zu Asche zerfallen, verbrannt in der Nacht,

bleibt dir nur, den Staub zu lieben.

 

Das Lied der Zukunft

 

Ein Mädchen zwischen den Welten,

im Wandel der Steine,

aus Zorn gezeugt und in Wut geboren,

wird aus dem Schatten des Blutes treten.

Seine Kraft unberechenbar,

wird es der Völker Segen oder Untergang sein.

Der dunkle Prinz wird im schwarzen Feuer verbrennen.

Alles wird sterben, um neu zu sein.

Schattenjuwel: Das Herz von Elowia

Prolog – Wunden

Ein paar Sonnenjahre zuvor:

 

Die Finger des Dämons folgten der verschnörkelten Schrift eines uralten Buches, als er den letzten Absatz vorlas.

»Vor vielen Sonnenjahren gab es einst ein mächtiges Juwel, welches man das Herz von Elowia nannte. Es bewahrte die Träume aller Lebewesen auf und beschützte sie. Doch eines Tages zerbrach das Juwel in Abertausende Splitter und mit ihm zerfiel das Licht der Hoffnung. Die Allianz der Dimensionen löste sich auf und Elowia stürzte in ein Zeitalter der Dunkelheit, des Krieges und der maßlosen Gier. Angetrieben von den Menschen, denen durch die Juwelensplitter zu unglaublicher Macht verholfen wurde, entstanden ein neues Volk und eine neue Weltordnung.

Von nun an herrschten die Diamantaner.«

Dorn schlug das Buch geräuschvoll zu. Stille hatte sich über den Raum gelegt und nur das andächtige Raunen seiner kleinen Tochter war zu hören.

»Ist das wahr, Papa? Sind die Diamantaner aus den Splittern eines Juwels entstanden?«

Der Dämonenfürst lächelte matt und legte seine Hand auf den Lockenkopf seiner Tochter. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es ist nur eine Legende, mein Schatz.«

»Was ist eine Legende?«

Dorn schmunzelte. »So etwas wie ein Märchen.«

»Mama hat immer gesagt, Märchen sind nur Geschichten.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie die Frage stellte, die Dorn so sehr fürchtete: »Du Papa, wann kommt die Mama endlich wieder zu uns heim?«

Dorn senkte seinen Kopf, unfähig ihr eine Antwort zu geben, murmelte er nur: »Du solltest jetzt schlafen, mein Schatz.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, verließ er fluchtartig das Zimmer und stürmte auf den dunklen Gang hinaus. Er lehnte sich gegen die Steinmauer und atmete langsam ein und aus.

  »Sie hat wieder nach Hereket gefragt, nicht wahr?«

Dorn zuckte erschrocken zusammen und wandte seinen Kopf. Neben ihm im dunklen Gang stand sein Bruder Feldar. Peinlich berührt, richtete sich Dorn rasch auf und nickte flüchtig. »Ja, hat sie.«

Feldar seufzte tief auf und in seinem Tonfall schwang eine bittere Anklage mit. »Es verschwinden immer mehr Dämonenfrauen, die nicht mehr zurückkehren. Es ist an der Zeit, etwas zu unternehmen, oder wie lange möchtest du noch mit ansehen, wie unserem Volk Unrecht geschieht?«

»Ich tue, was ich kann«, sagte Dorn leise.

»Dann tust du eben nicht genug, Bruder«, fauchte Feldar. »Gib mir endlich den Marschbefehl, damit ich mit meinen Kriegern in das Reich der Diamantaner vorrücken kann.«

Dorn konnte den Zorn seines Bruders nachvollziehen, er selbst wäre am liebsten sofort in die Schlacht gezogen, aber die Gelegenheit eines Angriffs hatte sich noch nicht ergeben.

»Hab etwas Geduld, Feldar. Wir wissen noch nicht, wie wir ihre Steine besiegen können, ohne eine große Anzahl unserer Männer zu verlieren. Gib den Spähern etwas Zeit, das herauszufinden.«

»Zeit?« Feldars Mundwinkel neigten sich seiner Kinnspitze zu, während seine Augenbrauen nach oben schnellten. »Du willst diesen steintragenden Bastarden noch mehr Zeit geben? Man könnte beinahe meinen, du wärst einer von ihnen. Nein, mein Bruder, meine Geduld ist erschöpft. Wenn du den Befehl zum Angriff nicht gibst, werde ich es tun.«

Die Respektlosigkeit, mit der Feldar zu ihm sprach, ließ Dorn auffahren. Mit entblößten Reißzähnen kam er drohend auf seinen Bruder zu und legte seine Pranke um dessen Hals: »Denk daran, wo dein Platz ist. Du bist zwar mein Bruder, aber immer noch der Kriegsherr des Fürsten und der bin ich. Ich entscheide daher, wann ich dich und deine Truppen aussenden werde. Hältst du dich nicht daran, werde ich dich des Hochverrats anklagen. Wegen dir und deiner Ungeduld werden keine Männer sterben. Haben wir uns verstanden?«

Auf Feldars Gesicht spiegelte sich eine Palette von Gefühlen wieder und keine davon gefiel Dorn. Sein Bruder fletschte nun ebenfalls die Zähne, riss Dorns Hand von seiner Kehle und raunte verächtlich: »Ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen, bist du es auch, Bruder?« Dann drängte er sich an dem Dämonenfürsten vorbei und verschwand ohne ein weiteres Wort.

Dorn sah ihm verdrießlich nach und hoffte, sein Hitzkopf von Bruder würde ihm nicht noch mehr Kopfschmerzen bereiten, als er es jetzt schon tat. Mit einem unguten Gefühl begab er sich in seine Räume, und als er die Tür öffnete, stieg ihm ein wohlbekannter Duft in die Nase.

»Alrruna?«, fragte er unterkühlt und doch strafte ihn sein Körper der Lüge. Er war froh, die Fee zu sehen.

Sie hatte ihre Beine lasziv übereinandergeschlagen, gerade so, dass ihr Rock mehr freigab, als dass er verbarg, und lächelte ihn an. Ihr Anblick reizte ihn ein jedes Mal aufs Neue. So sehr er sich auch schwor, ihr widerstehen zu wollen, erlag er ihr immer wieder. Sie war eine Verführungskünstlerin und nutze seine Einsamkeit und seine Männlichkeit gnadenlos aus.

»Dorn, mein Liebster«, hauchte sie und drippelte ihm entgegen. Jeder Schritt eine kalkulierte Bewegung, ihn zu umgarnen.

Mit großer Mühe rang Dorn das Pochen seiner Lenden nieder und presste kaum beherrscht hervor: »Es ist erst früher Abend. Man könnte dich sehen. Du musst wieder verschwinden.«

Doch statt auf seine Worte zu hören, begann sie ihn langsam auszuziehen und sparte dabei nicht mit ihren federleichten Küssen.

»Hör auf«, wehrte sich Dorn nur halbherzig und bemerkte, wie er sich dabei selbst seiner Hose entledigte.

Sie lächelte ihn nur an. »Darf ich dich was fragen, Dorn?«

Er wischte sich über seine Stirn und sah sie skeptisch an. »Was denn?«

Sie spitze ihren Kirschmund. »Begehrst du mich?«

Auf seinem Gesicht erschien ein spöttischer Ausdruck. »Das ist deine Frage?« Er schüttelte sein Haupt. »Was möchtest du wirklich wissen, Alrruna?«

Er war vielleicht ein Liebestrottel, der ihrem Zauber nicht widerstehen konnte, aber er war sicherlich nicht dumm. Eine Feenkönigin wusste, dass sie begehrt wurde, dafür brauchte sie keine Bekräftigung. Wie um seine Vermutung zu bestätigen, schenkte sie ihm ein dünnes Lächeln.

»Ich werde die Frage anders formulieren: Wie sehr begehrst du mich, Fürst? Was wärst du bereit, für mich zu tun?«

Dorn verzog gehässig seinen Mund. »Was ich bereit wäre, für dich zu tun? Was möchtest du denn?«

Sie spielte mit ihren seidigen Locken und zwirbelte die Haarsträhne zwischen ihren filigranen Fingern hin und her. Dorn musste wie hypnotisch auf ihre schmalen Hände schauen, wie sie das Haar bearbeiteten.

»Ich muss dir etwas erzählen, Dorn. Etwas sehr Wichtiges, das …«

Ein lautes Poltern an der Tür unterbrach sie. Dorn wuchtete seinen Körper hastig herum. Sollte jemand unerlaubt eintreten und die Fee in seinem Schlafgemach entdecken, würde es einen handfesten Skandal in seinem Reich geben. Der Fürst der Dämonen im Bett mit einer Fee, wo doch noch dazu seine geliebte Frau seit vielen Monden als verschollen galt. Er konnte sich gut vorstellen, dass man bald daran zweifeln würde, ob Hereket wirklich ohne sein Zutun verschwunden war. Er schob die Fee kurzerhand hinter die Tür, bevor er sie öffnete. Als diese aufschwang, stand sein Bruder vor ihm, welcher ihn aufgrund seiner Nacktheit interessiert musterte. »Störe ich?«, wollte er wissen und versuchte, einzutreten.

  »Nein«, sagte Dorn mit belegter Stimme und stellte sich gleichzeitig in den Türrahmen, sodass Feldar nicht hinein konnte.

»Soso«, säuselte Feldar sarkastisch und sog geräuschvoll die Luft ein. »Trägst du ein neues Parfum? Gefällt dir der Duft Rußfeuer nicht mehr?« Er schnupperte. »Du bevorzugst jetzt wohl mehr eine femininere Note, Rosenblüte, nicht wahr?«

Dorn seufzte ärgerlich auf und trat vor die Tür, wobei er geflissentlich darauf achtete, dass Feldar nicht hineinschauen konnte. »Was gibt’s?«, brummte er und seine Augen glühten in einem satten Rot.

Feldar lehnte sich zurück, die kampferprobten Arme vor seiner breiten Brust verschränkt. »Meine Männer haben Hereket gefunden.«

»Hereket?«, entfuhr es Dorn und er spürte, wie seine Knie weich wurden, als er die nächste Frage stellte: »Ist sie am Leben?«

»Mehr oder weniger. Aber sie ist übel zugerichtet.« Feldar machte eine lange Pause, dann raunte er sehr leise. »Und noch etwas … «

Er beugte sich zu Dorns Ohr und flüsterte ihm etwas zu, was Dorn kalkweiß werden ließ. Der Dämon musste sich an die kühle Mauer lehnen, um nicht zu stürzen. Ein nicht zu definierendes Gefühl schien ihn verschlingen zu wollen, wie betäubt griff er nach Feldars Arm. »Holt die besten Heiler, spart an nichts …«

Feldar nickte. »Was ist mit … du weißt schon? Was sollen wir damit tun?«

Dorn runzelte die Stirn, als würde er nicht begreifen, was Feldar meinen könnte, doch dann antwortete er leise: »Nichts. Nichts werdet ihr tun.« Feldar wollte Einspruch erheben, aber Dorn winkte energisch ab und wies seinen Heerführer in die Schranken. »Geh jetzt. Mach, was ich dir aufgetragen habe!« Doch gerade, als sich Feldar abwenden wollte, fügte er hinzu: »Lass die Totenflieger frei. Sie sollen für das, was sie Hereket angetan haben, büßen.«

  Feldar konnte sich ein triumphierendes Schmunzeln nicht verkneifen. »Wie Ihr wünscht, Fürst.«

Dorn ging wie in Trance zurück in sein Zimmer, an der wartenden Fee vorbei und ließ sich auf den Sessel fallen. Die Bluthunde, die neben dem Feuer geschlafen hatten, hoben ihre dornigen Köpfe und knurrten. Eine seltsame Stille hatte sich über das Zimmer gelegt, selbst das Feuer schien leiser zu knistern als zuvor.

»Alrruna, geh. Was zwischen uns war, wird nicht mehr sein. Die rechtmäßige Herrin ist wieder zurückgekehrt.«

Alrruna schien für einen kurzen Augenblick wie versteinert, doch dann legte sich die Maske der Teilnahmslosigkeit auf ihr Antlitz. »Worüber ich mit dir noch sprechen wollte, Dorn, ist …«

»Hast du nicht gehört?«, fuhr er sie an und Feuer loderte aus seinen Fingerspitzen, als er auf die Geheimtür deutete. »Verschwinde!«

Etwas veränderte sich in Alrrunas Gesicht. Wo gerade noch so eine Art von Zuneigung gewesen war, war jetzt nur noch blanker Hass zu erkennen. Aber Dorn bemerkte diese gefährliche Veränderung nicht. Er spürte nicht die plötzliche Kühle, die sich über den Raum gelegt hatte. Er zuckte nur leicht zusammen, als die Fee an ihm vorbeiging und die Geheimtür hinter sich zuknallen ließ.

Erst als er sich alleine wähnte, schrie er seine Angst und seinen Zorn hinaus. Sein Gebrüll verfing sich als dunkles Echo in dem alten Gemäuer und tief in seinem Herzen spürte er den bitteren Beigeschmack seiner Lust, die er empfunden hatte, als er von dem zarten Körper der Fee gekostet, während seine Frau gelitten hatte. Man hatte sie gefunden, verletzt und verwirrt. Jetzt war er an der Reihe, die zu verletzen und zu verwirren, die ihr das angetan hatten.

Er fröstelte, er hatte das Gefühl, als würde sich ein dunkler Schleier über die Burg legen und alles in eine undurchdringliche Schwärze hüllen. Irgendwas Bedrohliches kam auf ihn zu – nur was? Woher kam die dunkle Vorahnung, die ihn beschlich, jetzt wo alles wieder gut werden würde? Jetzt wo Hereket wieder ihren Platz als Königin einnahm?

Er rieb sich über die Arme und versuchte, die Eiseskälte und das unbestimmte Wispern der Burg zu vertreiben, welches von Unheil und Tod kündete. Aber das Flüstern riss nicht ab, im Gegenteil, es wurde immer lauter. Unheil, Unheil kommt. Nachtschwarz. Es kommt. Es kommt. Sie trägt es in sich. Das Unheil. Mischblut. Kindsmord. Leid. Nachtschwarz. Sie bringt es in deine Familie.

»Ruhe!«, brüllte Dorn ins Nichts hinein und die Stimmen verstummten beleidigt. »Verdammte Fledermäuse«, murmelte er aufgebracht und verließ das Zimmer, um seine Frau zu empfangen.

 

Mischblut

Lilith versuchte, eine angenehme Position auf dem verdreckten Boden ihres Gefängnisses zu finden. Ihr Geburtsjuwel war vom Staub des Bodens grau geworden und sein mattes Leuchten erinnerte sie an ihre eigene Sterblichkeit. Es musste sehr viel Zeit vergangen sein, seit sie hier im Schmutz gelegen hatte und ihres Schicksals harrte. Niemand würde kommen und sie retten, denn sie war eine Unfreie, noch dazu ein Mischblut. Halb Dämonin, halb Diamantanerin, eine Kreatur, die nicht existieren durfte.

Schritte, die sich ihr näherten, ließen sie herumfahren. Sie hörte das metallische Klappern von Stiefeln, die eindeutig einem Krieger gehören mussten, nur die trugen die metallbeschlagenen Absätze. Angst kroch in ihr hoch, denn Sucher sollten in der Gegend sein und nach Rebellen Ausschau halten und es war gut möglich, dass der eine oder andere von ihnen auch einen Blick in die Sklavenkerker warf.

  Hastig drückte sie ihren ausgemergelten Körper in die schützende Dunkelheit, verbarg das Glitzern ihres Juwels mit ihrer Hand, senkte ihren Kopf und wartete darauf, dass der Krieger an ihr vorübergehen würde, wie es schon so oft geschehen war. Doch dieses Mal war das Glück nicht auf ihrer Seite, denn die Stiefel und der dazugehörige Mann blieben ausgerechnet vor ihr stehen. Ein wenig fassungslos starrte sie auf das abgenutzte Leder der Schuhe, die sich nicht mehr fortbewegen wollten.

»Sieh mich an, Mädchen«, befahl eine raue Stimme über ihr und Liliths letzte Hoffnung schwand dahin. Trotz seines harten Befehlstons reagierte sie nicht, sondern blieb regungslos vor ihm sitzen.

»Willst wohl nicht, was?«, erklang es launisch und zwei Knie erschienen in ihrem Blickfeld, als sich der Mann in die Hocke sinken ließ und ihr Haar befühlte. »Du hast eine außergewöhnliche Haarfarbe. Schwarzviolett ist eher der Ton der Dämonen oder der Feen, aber du trägst einen Stein. Lass mich doch mal deine Augen sehen.«

Schnell schloss sie ihre Lider. Sie wollte ihm nicht ihre goldgelben Pupillen zeigen, die ihre dämonische Herkunft verrieten.

»Möchtest du mich nicht ansehen?«, wollte er wissen und sie hörte ein kratzendes Geräusch. Behutsam blinzelte sie unter halbgeschlossenen Lidern hervor und sah, wie er ihr einen Wasserkrug herüberschob. Sie hatte schrecklichen Durst, denn ihre Kehle war von dem langen Wassermangel ausgedörrt und schon wund geworden. Mit zusammengepressten Lidern tastete sie nach dem Griff des Tongefäßes und zog es zu sich heran. Hastig begann sie, das kühle Wasser herauszuschlürfen, bevor es sich der Mann anders überlegen konnte.

»Willst du mir meine Freundlichkeit nicht mit einem kleinen Blick danken?«

Sofort, obwohl ihr Durst noch lange nicht gestillt war, hörte sie auf zu trinken und ließ den Krug wieder los.

Er atmete geräuschvoll ein und stellte das Gefäß außerhalb ihrer Reichweite ab. »Nicht jeder ist so geduldig, wie ich es bin. Wenn du hier überleben möchtest, solltest du etwas mehr Respekt zeigen.«

Sie sah durch die Schlitze ihrer Lider, wie er seine vernarbte Hand nach ihrem Juwel ausstreckte. Kurz bevor seine Fingerspitzen es erreichen konnten, wich sie hastig zurück, rutschte mit den Händen auf dem glitschigen Stroh aus, verlor den Halt und kippte mit ihrem Oberkörper nach hinten. Dabei riss sie aus Reflex erschrocken ihre Augen auf. Interessiert beugte sich der Mann vor und studierte ihre goldgelbe Iris genau.

»Deine Augen. Du bist wirklich ein Mischblut«, murmelte er in einem seltsamen Tonfall.

Lilith biss sich auf ihre Unterlippe, drehte ihren Kopf rasch zur Seite und starrte auf die schimmlige Kerkerwand. Mischblut, dachte sie bitter, ja sie war ein verdammtes Mischblut.

Wortlos schob er ihr den Wasserkrug wieder hin, dann stand er auf und ging. Als Lilith ihm vorsichtig hinterherblinzelte, konnte sie eine weitere Gestalt in der Dunkelheit erkennen. Eine Frau. Eine wunderschöne Frau mit einem blutroten Diamanten. Aber Liliths Blick blieb an dem Rücken des Mannes hängen. Etwas stimmte nicht mit ihm, aber sie konnte sich nicht erklären, was es war. Irgendwas fehlte oder irgendwas war falsch an ihm, aber so schnell, wie der Gedanke gekommen war, entglitt er ihr auch wieder. Zurück blieb nur das mulmige Gefühl, dem Tode knapp entronnen zu sein.

 

Das Opfer

Alrruna raffte ihr bodenlanges Kleid hoch, welches in der sanften Brise des Südwindes wogte und ihren schlanken Körper umschmeichelte. Sie eilte die steinernen Stufen hinab, die vom Wind verwittert und von weichem Gras überwuchert wurden. Unter ihren schmalen Füßen kitzelten die Grashalme, doch was sie früher erfreut hatte, nahm sie heute kaum wahr. Sie nahm immer mehrere Stufen gleichzeitig und eilte auf die dunkle Gestalt zu, die regungslos am Ende der Treppe auf sie wartete.

Außer Atem kam sie unten an und streckte ihre Hand zur Begrüßung aus. Aber als der Dämon keine Anstalten machte, ihre dargebotene Hand zu ergreifen, ließ sie sie schnell wieder sinken.

Viel Zeit war seit ihrer letzten Begegnung vergangen.

»Dorn. Es freut mich, dass du meiner Einladung gefolgt bist. Ich hatte schon befürchtet, du würdest nicht kommen.«

»Deine Sorge war nicht ganz unbegründet, Fee. Ich weiß nicht, worüber wir noch sprechen sollten.«

Der milde Ausdruck der Fee verschwand. »Dorn, bitte«, ihre Stimme hatte bedrohlich liebenswürdig geklungen. »Wir müssen über das reden, was damals passiert ist.«

Als sie in sein grimmiges Gesicht sah, verbesserte sie sich: »Nicht was zwischen uns passiert ist. Ich meine, was mit Hereket passiert ist …«

Dorn hob seinen Kopf und blickte auf die schlanke Frau hinunter, die er um drei Kopflängen überragte. Er beschattete seine Augen, um sie besser sehen zu können, doch es gelang ihm nicht so recht, gegen das gleißende Licht anzukämpfen.

Sie lächelte ihn entschuldigend an. »Verzeih Dorn, ich hatte vergessen, wie sehr dir das Licht unserer Welt zu schaffen macht. Komm, lass uns in meine Gemächer gehen, dort ist es angenehm dunkel.«

Dorn ließ die Hand sinken. Dankbar nahm er ihr Angebot an, denn seine Augen fingen tatsächlich schon an, zu tränen. Sie schritt leichtfüßig die Treppen hinauf, hin zu dem kleinen Haus, welches auf der grünen Klippe erbaut worden war.

Dorn folgte ihr mit andächtigen Schritten und seine schwarze Rüstung klapperte melodisch im Takt. Als sie endlich die endlosen Stufen hinter sich gebracht hatten, standen sie vor einem schlichten Haus.

Aber Dorn ließ sich von der unscheinbaren Fassade des Gebäudes nicht täuschen. Er trat mit der Fee zusammen durch eine schlichte Holztür und gelangte so in ein kleines Biotop. Der ganze Raum war angefüllt mit bunten Blumen, Girlanden, zwitschernden Vögeln und filigranen Silberbrunnen. Alrruna deutete auf einen geflochtenen Korbstuhl, der inmitten von farbenprächtigen Büschen stand. Er setzte sich auf den Stuhl, während Alrruna ihm gegenüber auf einem Diwan Platz nahm. Dabei war wie zufällig der Träger ihres Kleids von ihrer Schulter gerutscht und gab den Anblick auf den Ansatz einer weißen, festen Brust frei.

Amüsiert über seine lüsternen Blicke ließ sie den Träger noch weiter hinuntergleiten und sah ihn dabei mit zuckersüßer Unschuld an.

Dorn ballte seine Hände zusammen und riss sich von ihrem verführerischen Anblick los. »Was möchtest du besprechen, Alrruna?«

Sie klimperte mit ihren langen Wimpern. »Sogar außerhalb des Betts hast du es immer eilig«, schalt sie ihn vergnügt und legte ihre Hand auf ihren Schoß.

Dorn machte eine abfällige Geste. »Sag mir endlich, was du willst.«

Sie sah ihn ein wenig betroffen an, so als hätte sie seine Zurückweisung nicht erwartet. »Ich habe geschwiegen, als du die Totenflieger freigelassen hast, und ich habe mich nicht in die Belange deiner Familie eingemischt, obwohl du einen schrecklichen Fehler begangen hast, als du es hast einsperren lassen. Aber jetzt ist mir zu Ohren gekommen, dass die Dämonen einen Krieg gegen die Diamantaner planen.«

»Es?«, wiederholte Dorn langsam.

»Sie«, verbesserte sich Alrruna und ging dabei ohne ein weiteres Wort der Entschuldigung zu ihrem Anliegen über. »Du darfst keinen Krieg führen. Es ist sehr wichtig.«

  »Für wen ist es wichtig, meine Liebe? Für dein Reich, für das Reich der Diamantaner oder für mein Reich?«

»Hör mir zu«, beschwor sie ihn. »Wenn du die Diamantaner aus Rache angreifst, werden sie sich gegen uns verbünden. Jetzt ist ihr eigenes Volk uneins und zerstritten. Sie vernichten sich gegenseitig, immer darauf bedacht, die Macht ihrer Steine zu mehren. Aber ein Krieg könnte sie wieder vereinen und die Prophezeiung wäre in großer Gefahr.«

»Du glaubst an die Prophezeiung? Ich hätte nicht gedacht, dass du noch an Märchen glaubst«, höhnte Dorn, aber Alrruna schenkte seiner spöttischen Bemerkung keine Beachtung, sondern fuhr unbeirrt fort: »Du darfst um Elowias Willen keinen Krieg führen.«

Dorn schüttelte widerstrebend seinen Kopf. »Ich glaube nicht an die Prophezeiung. Ich vertraue nur meinen Männern, die den Diamantanern bald das Leben zur Hölle machen werden. Mein Volk will nicht länger mit ansehen, wie die Steine unsere Welt mit ihrem Streben nach Blut und Leid vergiften. Eher sterbe ich dabei, als dies weiter zuzulassen.«

»Dorn. Sei doch vernünftig. Ich habe gesehen, wie wir Elowia retten können und dabei kaum Opfer bringen müssen.«

Dorn beugte sich so weit vor, dass die Rüstung unter dem Gewicht seines Brustkorbs knirschte. »Von welchen Opfern sprichst du, Fee?«

Alrruna rutschte sichtlich unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Einzelne Rosenblätter lösten sich von dem Strauch neben ihr und fielen auf den Holzdielenboden.

»Ich habe die Unschuld meiner Tochter geopfert, indem ich sie in das Reich der Diamantaner geschickt habe, wo sie jetzt als Sklavin einem Krieger dienen muss, der eine wichtige Rolle in der Prophezeiung spielen wird.«

Dorn zog überrascht die Luft ein, bevor er seine Augenbrauen hob und abwartete, was die Fee noch zu sagen hatte, und irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass es seine Familie betreffen würde.

Alrruna ließ ihn nicht lange warten und bestätigte seine bittere Annahme sogleich. »Ich erwarte von dir dasselbe. Du musst Herekets Tochter opfern, damit Elowia leben kann.«

Dorn sprang auf, die scharfen Reißzähne bedrohlich über die Lippen geschoben, brüllte er: »Was fällt dir ein, so etwas zu verlangen, ja so etwas Ungeheuerliches überhaupt zu erwähnen?«

Feuer loderte aus seinen Händen und der weiße Dielenboden fing an zu brennen. Die Blumen in Dorns unmittelbarer Nähe verkohlten und das umliegende Gras verwelkte unter der enormen Hitze.

Die Feenkönigin richtete sich auf, warf ihren Kopf in den Nacken und schnippte mit ihren Fingern. Prasselnder Regen ergoss sich über Dorn und die verglühenden Gräser, bis auch der letzte Funken erloschen war. Übellaunig inspizierte Alrruna den großen Brandfleck auf ihrem Boden, bevor sie Dorn einen strafenden Blick zuwarf. »Was soll das, Dorn? Seit wann hegst du Gefühle für dieses Kind? Du sperrst sie ein, du hältst sie wie ein Tier gefangen und jetzt tust du so, als ob dir etwas an ihr liegen würde? Überlass sie mir und du bist endlich von dem Schatten der Vergangenheit befreit.«

Das Schweigen, das eintrat, wurde nur vom erzürnten Schnaufen des Dämons unterbrochen. Er rang nach Worten. Endlich fand er sie. In einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, wie ernst es ihm war, flüsterte er heiser: »Du wirst unsere Tochter nicht bekommen und solltest du es wagen, meine Familie in diesen Unsinn mit reinzuziehen, werde ich dir einen Besuch abstatten, der äußerst unangenehm sein wird. Ich hoffe, du hast mich verstanden.«

Alrruna verneigte sich kühl und deutete auf die Tür: »Ich habe es verstanden. Du willst lieber ein wahnsinniges, krankes Kind behalten, als Elowia zu retten.«

  Dorn hatte keine Lust mehr, sich länger ihren Unsinn anzuhören und stapfte, ihrer Geste folgend, zur Tür. Doch kurz davor drehte er sich noch einmal um und fixierte die blauen, unergründlichen Augen der Fee. »Auch wenn du es nicht glauben magst und viele Tatsachen dagegen sprechen, ich liebe sie.«

Alrrunas Mundwinkel zuckten und ihre Stimme triefte nur so vor Hohn. »Natürlich.«

Resigniert wandte sich der Dämonenfürst ab, ging durch die Tür hinaus und zu seinem Totenflieger hin, der auf der Klippe gelandet war, nachdem er seinen Herren erspäht hatte.

Dorn hörte, wie hinter ihm die Tür wieder aufflog und kurz darauf eine gehässige Stimme, die ihn geradezu herausfordern wollte, rief: »Und du nennst dich Fürst der Dämonen. Wäre der Titel Fürst und Beschützer der Diamantaner nicht angebrachter?«

Ihr Ziel, ihn zu provozieren, war ihr ein weiteres Mal erfolgreich gelungen und so rannte Dorn trotz seiner schweren Rüstung mit ausgreifenden Schritten auf die Fee zu. Er umfasste ihre weichen Oberarme und drückte ihren schmalen Körper gegen die Holztür. Der Wind in der Bucht fing an zu heulen und Regen durchtränkte ihr blaues Gewand und seine Kleidung.

Er atmete ihren warmen Duft nach Frühlingswiesen ein und fühlte ihr pulsierendes Herz in ihrer Brust, als er seinen Körper gegen den ihren drückte. Wie eine zerbrechliche Schönheit schmiegte sich ihr biegsamer Körper an seinen unnachgiebigen Leib.

Ihre Augen waren voller ungestümer Leidenschaft, genährt von Zorn, nicht von Liebe. Für einen Moment versank er in ihrem hitzigen Antlitz, bevor er mühsam seinen Griff löste und benommen einen Schritt zurücktrat.

»Gut, ich gebe dir etwas Zeit. Aber egal was kommt, ich werde keinen der Meinen opfern.«

Sie blinzelte ihn aus leidenschaftlichen Augen an und ihre Hände drückten sich gegen seine Lenden. »Du kannst sie nicht retten. Niemals«, hauchte sie. »Dein Unglück fing an, als Hereket verschwand, und wird erst wieder mit dem Tod des Kindes enden. So habe ich es gesehen und so wird es passieren, Dorn.«

Der Dämon packte grob ihre Hände und drückte so lange zu, bis er ihrem Mund einen Schmerzenslaut entlockte. »Ein paar Tage, mehr nicht«, grollte er, dann riss er sich mühsam von ihrem schönen, wenn auch gefährlichen Antlitz los.

Wortlos stapfte er zu dem Totenflieger und schwang sich auf dessen Rücken.

»Komm zurück«, befahl Alrruna ungehalten.

Dorn lächelte barsch. Sie war es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden, und er war es nicht gewohnt, auf Befehle zu hören.

Ein erneuter Regenschauer ging über ihn nieder, als er davonflog und Alrruna alleine vor ihrem Haus zurückließ. »Verfluchte Fee«, murmelte er und versuchte, den Regen aus seinen Augen zu blinzeln. Er hasste Wasser und das hatte sie schamlos ausgenutzt. Er versuchte, es von seinem Körper zu schütteln, und trieb sein Tier zur Eile an, was dieses mit einem launischen Fauchen quittierte.

Als er endlich wieder in seinem Reich war und die Sonne nur noch einen Bruchteil so hell schien wie im Reich der Feen, sank er in sich zusammen und überließ seinem Tier die Führung. Er schloss seine schmerzenden Augen und grübelte über sein Problem nach, doch ihm fiel keine passable Lösung sein.

Der Totenflieger setzte zur Landung an und sie trieben auf das düstere Gebirge mit den zahlreichen Vulkanen zu, dass Dorn sein eigen nannte.

Hereket erwartete ihn schon sehnsüchtig. Er war kaum von seinem Totenflieger gestiegen, da eilte sie ihm schon entgegen, schob sich unter dem gewaltigen Kiefer des Tieres hindurch und lief zu Dorn hin. Erwartungsvoll und mit unverhohlener Neugierde fragte sie direkt und ohne Umschweife: »Und was wollte die Fee?«

»Danke Schatz, ja, ich hatte einen guten Flug«, murrte er verdrießlich, bevor er sich ihrer Frage widmete. »Nichts. Sie hat nichts gesagt«, log er.

  Goldgelbe Augen musterten ihn zweifelnd. »Sie muss doch irgendwas gewollt haben?«

»Nein, nichts Besonders«, wiederholte Dorn unwirsch und trottete schweren Schrittes an ihr vorbei. Ihre Hand legte sich behutsam auf seinen Arm und hielt ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Du willst mir sagen, die Königin der Feen lädt dich einfach so ein?«

Dorn befreite sich grob aus ihrer Umklammerung und stapfte unbeirrt weiter. »Ja, so ähnlich war es.«

»Dorn«, sagte sie eindringlich. Etwas in ihrer Stimme veranlasste ihn, stehen zu bleiben und sich umzudrehen. »Verschweigst du mir etwas?«

Dorn schloss kurz die Augen und trat dann auf seine Frau zu, zog sie an sich heran und atmete ihren rauchigen, schweren Duft ein.

»Nein, mein Liebling. Es ging nur um Krieg. Alles, was dein Herz und deine Seele nicht belasten sollte.«

Er küsste ihr weiches Haar, dann drehte er sich um und eilte davon. Er wollte nicht länger in ihre zweifelnden Augen schauen müssen.

 

Die gefallene Wächterin

Beinahe im selben Moment, nur in einem anderen Reich, trat eine wendige Schönheit aus dem Schatten hervor, in dem sie sich verborgen gehalten hatte.

»Du hast die Kontrolle über ihn verloren, Königin. Wirst du alt, oder ist er nur immun gegen deine Verführungskünste geworden?«

Die Fee drehte sich betont langsam zu der weiblichen Silhouette um. »Mach dir keine Gedanken um ihn, er wird schon tun, was ich will, so wie er es immer getan hat.«

Fanjolia zeigte ein unverhohlenes Grinsen, in dem kein Funken Wärme lag, und drückte ihr Kreuz durch. »Warum willst du das Kind des Dämons haben?«

Die Fee verfiel für einen Moment in ein bedeutungsvolles Schweigen, besah sich das Drachenbaby zu Fanjolias Füßen genauer und fragte schließlich: »Kann uns der Spiegel sehen?«

Fanjolia schüttelte ihren Kopf und breitete ihre Flügel aus, sodass sie im Sonnenlicht atemberaubend glänzten. »Nein, solange der Drache bei uns ist, ist die Macht des Spiegels begrenzt. Niemand kann uns jetzt hören oder sehen, also kannst du frei sprechen.«

Alrruna beäugte das schuppige Wesen kritisch, entschied sich dann aber, den Worten der Fangarin zu vertrauen. »Seine Tochter besitzt etwas, was uns helfen könnte, Elowia zu retten. Noch dämmert sie vor sich hin, aber wenn sie erwacht, müssen wir ihre Kräfte zu nutzen wissen. Bis jetzt ist noch nicht entschieden, welches der Mädchen Elowia retten wird.«

Die Fangarin lächelte geheimnisvoll. »Gut. Ich werde die Libelle ins Reich der Dämonen schicken, sobald sich dort etwas ändert, wird sie uns bescheid geben, Fee. Aber was ist mit diesem anderen Balg, von dem du geredet hast? Was tun wir damit?«

»Darum wird sich meine Tochter kümmern. Sie wird dafür sorgen, dass dem Mädchen solange nichts geschieht, bis wir es gebrauchen können.«

Die Fangarin lachte und breitete ihre Flügel aus. »Ich muss zurück zu meinem Vater, bevor er mich noch vermisst. Du weißt doch, was er von euch Feen hält.« Sie lachte noch lauter und noch kaltherziger. »Und wie recht er doch damit hat, euch nicht zu vertrauen.«

 

Der Steinlose

Gerade als Lilith sich endlich wieder entspannen wollte, sah sie, wie sich der Mann erneut herumdrehte und wieder auf sie zukam. Dieses Mal in Begleitung der Frau mit dem roten Diamanten. Erst als diese sich auf die Knie sinken ließ, erkannte Lilith die spitzen Ohren. Ihr gegenüber saß eine Fee.

»Was denkst du?«, meinte der Mann.

Die Frau griff nach Liliths Hand und zog sie zu sich heran. Sofort konnte Lilith die warme Kraft ihres Heilsteins wahrnehmen und ein Gefühl der Scham überkam sie. Sie selbst trug nur einen nutzlosen Stein der Unwissenheit. Einen Diamanten, der seinen Weg noch nicht gewählt hatte. Auch wenn es eine Besonderheit war, als Mischblut überhaupt einen Stein zu tragen, empfand sie nicht viel Freude darüber. Das Juwel hielt sie zwischen zwei Welten gefangen, so war sie weder eine Dämonin noch eine Diamantanerin.

Die flinken Hände der Heilerin drehten Liliths Handflächen nach oben und ehe Lilith es hätte verhindern können, wischte sie mit einem feuchten Tuch den Dreck herunter. Lilith ließ den Kopf hängen. Jetzt war alles vorbei.

»Sie trägt das Zeichen. Sie ist eine Rev, eine Revolutionärin«, flüsterte die Frau und ließ Liliths Hand achtlos fallen. Lilith kam es so vor, als würde die Luft im Raum noch zäher und stickiger werden. Jeder Atemzug brannte in ihren Lungen. Ihre Gedanken rasten, bis jetzt war sie nur eine Unfreie gewesen, aber nun, da ihr Zeichen erkannt worden war, würde man sie den Suchern ausliefern. Man würde sie foltern und anschließend töten lassen.

»Lass mich mal sehen«, forderte der Mann die Fee auf und beugte sich nun ebenfalls über Liliths Hand. Er betrachtete die charakteristische Narbe lange, bevor er raunte: »Wer hat die Narbe gesehen? Ian etwa? Oder jemand der anderen Gefangenen?«

Lilith schwieg.

»Antworte mir«, herrschte er sie an.

»Niemand. Es ist doch nur eine gewöhnliche Narbe.«

»So? Eine gewöhnliche Narbe, hm?« Er machte sich nicht die Mühe, den Argwohn in seiner Stimme zu überspielen.

»Wie heißt du, Mädchen?«

  »Lilith«, hauchte sie erschöpft.

»Lilith«, wiederholte er in einem eigenartigen Tonfall, dann wurde er still. Erst als sich die Frau neben ihm unbeholfen räusperte, rührte er sich wieder. Entschlossen griff er in seine Manteltasche und holte ein Samtsäckchen hervor. »Ian. Ich habe etwas gefunden, was ich dir gerne abkaufen würde.«

Lilith starrte auf das Schwert, was er um seine Hüften trug. Ihr Juwel fiepte leise, während sie, ihren Blick immer noch auf die Schwertscheide geheftet, fragte: »Was wollt Ihr von mir? Seid Ihr ein Wari oder ein Sucher und tötet mich nun?«

Die Antwort kam schneller, als Lilith es erwartet hatte.

»Zu deiner ersten Frage, vielleicht bin ich ein Wari, aber bis jetzt habe ich noch kein Interesse daran, dich an die Sucher zu verkaufen. Zu deiner zweiten Frage, nein, ich werde dich nicht töten, es sei denn, du versuchst, zu fliehen oder mich mit deinem Juwel anzugreifen.«

Sein abschätzender Blick blieb an ihrem Stein kleben. »Ich bezweifle jedoch, dass du dazu fähig bist. Dein Diamant ist genauso fahl wie deine Haut. Gesund sieht anders aus.«

»Mein Diamant?«, flüsterte Lilith, und so als würde sich ein Schleier vor ihren Augen lüften, erkannte sie plötzlich, was sie an diesem Mann so beunruhigt hatte: Sie konnte keinen Diamanten bei ihm sehen, nein schlimmer, sie konnte nicht einmal die Aura eines Juwels bei ihm spüren. Da war nichts, rein gar nichts. Er war aura- und steinlos. Er wirkte unnatürlich fremd auf sie. Wie ein halbes, unvollkommenes Wesen. Es war einfach unmöglich, es gab niemanden aus dem Diamantenvolk, der keinen Stein trug. Lilith schluckte und rutschte ein Stück von diesem … Ding … weg.

Der gerufene Sklavenhändler baute sich vor Lilith auf und sein Gesicht verdunkelte sich, als er schroff fragte: »Dieses Biest willst du haben? Die ist nicht verkäuflich.«

  Der Mann sah die Gefangene überrascht an und hob fragend seine Schultern. »Wieso nicht, Ian? Warum willst du dieses Mädchen behalten?«

»Weil ich noch eine persönliche Rechnung mit ihr zu begleichen habe.«

Lilith senkte hastig den Kopf, als Ian das Ende seiner Peitsche in ihre Schulter bohrte. »Das Miststück bleibt hier bei mir.«

Zu ihrer Überraschung hörte Lilith den seltsamen Mann ohne Stein lachen. »Ah. Sie hat sich also gewehrt? Wie ich es mir gedacht habe, sie ist nicht so unscheinbar, wie sie aussieht.«

Ian spuckte auf den Boden. »Sie ist ein Luder, was nichts Besseres verdient hat, als hier zu sterben. Ich möchte sie leiden sehen.«

Der andere Mann seufzte auf. »Na gut, alles ist eine Frage des Preises, also wie viel willst du haben?«

Lilith konnte sich nicht mehr zurückhalten und schielte verstohlen hinauf. Sie konnte Ians schmieriges Gesicht erkennen und wie es in seinen Augen gierig aufblitzte, als er einen satten Gewinn witterte.

»Zehn Goldmünzen.«

»Zehn?« Der Krieger lachte humorlos auf. »So viel ist sie nicht wert, du Betrüger.«

»Zehn«, beharrte der Sklavenhändler weiterhin und leckte sich über seine wulstigen Lippen.

»Ich gebe dir zwei Goldmünzen und das ist immer noch viel zu viel.«

»Fünf Goldmünzen, sonst behalte ich sie, Barrn.«

»Barrn«, schoss es Lilith durch den Kopf.

An irgendwas erinnerte sie der Name, aber er blieb - wie ihre Vergangenheit - hinter einem dichten Nebel, den sie nicht durchdringen konnte. Die wenigen Fragmente ihrer Erinnerung handelten alle von der Ermordung ihrer Eltern durch die Sucher. Sie wäre damals wohl selbst getötet worden, wenn nicht ein Krieger sie von dem Geschehen fortgerissen, ihr einen Dolch in die Hände gedrückt und ihr zur Flucht verholfen hätte, bevor er wieder im Tumult verschwunden war. Allein gelassen und auf sich selbst gestellt, war sie tagelang umhergeirrt und hatte versucht, Unterschlupf in den umliegenden Dörfern zu finden, aber niemand hatte einem Rebellenmädchen helfen wollen, zu groß war die Angst vor der Vergeltung der Sucher gewesen. Schließlich hatte sie sich den Unfreien Elowias angeschlossen, bis diese – zusammen mit ihr - von den Sklavenhändlern überfallen und verschleppt worden waren.

Einzig und allein der Dolch des Kriegers war ihr von dieser Zeit geblieben. Es war ein magischer Dolch, der für jeden unsichtbar blieb, solange er nicht mit Blut in Berührung kam.

Sie hörte Barrns Stimme, die sie aus ihrer Gedankenwelt riss.

»Ian, Ian, Ian …«, tadelte er. »Du weißt, für wen ich arbeite, oder?«

Der Sklavenhändler schien unruhiger zu werden, nahm aber schließlich in Anbetracht des erwarteten Gewinns seinen Mut zusammen und erwiderte schroff: »Vier Goldmünzen. Sie ist gesund und kann dir noch gutes Geld einbringen.«

»Gesund nennst du das? Schau sie dir an, sie ist über und über mit Blut verschmiert. Ihre Augen glühen vor Fieber, und wie es aussieht, ist sie nicht mehr arbeitsfähig. Ohne Heiler wird sie nicht mehr lange leben. Du bist und bleibst ein Betrüger.«

»Was willst du dann von ihr?«, brummte Ian.

Der Wari lächelte verhalten. »Sagen wir es so: Sie hat einen ideellen Wert für mich.«

Ian wollte zu einer scharfen Antwort ansetzen, besann sicher aber eines Besseren und zuckte desinteressiert mit seinen Schultern. »Drei Goldmünzen. Für weniger bekommst du sie nicht.«

Barrn musterte Lilith noch einmal von oben bis unten, dann sagte er: »Ich habe mein Angebot schon gemacht. Das lautete zwei Goldmünzen. Nimm es an oder … « Die Drohung blieb unausgesprochen, aber das Gesicht des Sklavenhändlers schien für einen Moment zu entgleisen. Blass um die Nasenspitze herum geworden, stimmte er dem Handel zu. »Zwei Goldmünzen und sie gehört dir. Aber ich hoffe, sie stirbt früher, als du denkst.«

  Barrns Lächeln war eisig. »Früher als bei dir? Wohl kaum. Behandle deine Sklaven besser, dann kriegst du auch mehr Geld, du Narr.«

Ian winkte ab und schloss die Eisenkette auf, die man um Liliths Bein gelegt hatte. Kaum war die Kette entfernt, erhob sich das Mädchen mühsam. Ihre Glieder schmerzten von der unnatürlichen Haltung, die ihr durch die Fesseln aufgezwungen worden war, und ihr Stein, der nur noch schwach leuchtete, zog die restliche Energie ihres Körpers aus ihr heraus. Aber sie nahm keine Notiz davon, sondern sah sich Hilfe suchend im Kerker um.

»Dana …«, stammelte sie und blinzelte in die Dunkelheit des Kerkers hinein. Aber nirgends war die Unfreie zu sehen. »Wo ist sie? Sie kann nicht hier bleiben. Sie muss mit.«

Barrns Mine verfinsterte sich für einen kurzen Augenblick, dann seufzte er. »Ich brauche nur dich.«

Lilith ballte ihre Hände zusammen. Wieso besaß sie einen solchen nutzlosen Stein, der weder ihr noch ihren Freunden helfen konnte? Sie hasste ihn, wie er dümmlich glitzernd vor ihr lag und seinen Weg einfach nicht wählen wollte.

Und je mehr sie sich in ihrem Zorn verlor, desto heller wurde plötzlich das Strahlen ihres Steins. Ein weißer Lichtstreifen durchbrach die Schmutzkruste ihres Juwels und tauchte den Raum in ein gleißendes Licht.

Selbst Barrn musste inzwischen seine Hände heben, um nicht geblendet zu werden. Seine Augen tränten, als er gegen das Licht anblinzelte und nach ihrem Arm tastete. »Hör sofort damit auf. Du verschwendest deine Energie an einen Stein, der dir sowieso nicht helfen kann. Es ist doch sinnlos, was du da tust.«

Seine Worte erzürnten Lilith noch mehr, und obwohl sie längst fühlen konnte, wie der Stein ihre letzten Energiereserven auffraß, legte sie noch mehr Kraft in sein Strahlen. Nun war der ganze Raum bis in den letzten Winkel hell erleuchtet.

  »Fayn«, hörte sie den Steinlosen sagen. »Greif ein, bevor ihr Juwel sie tötet.«

Zarte Arme legten sich plötzlich um Liliths Körper und rotes Licht floss von den Fingerspitzen der Fee direkt in ihr Juwel. Die Wut in Liliths Herzen wurde schwächer und mit dem Abklingen des Zorns ließ auch das Strahlen ihres Steins nach.

 Der Kopf der Fee lag schwer auf ihrer Schulter und Fayn schmiegte ihre Wange an Liliths Halsbeuge. »Dein Juwel ist nie dein Freund, sondern dein größter Feind, denk immer daran, wenn du ihm wieder deine Lebenskraft so unbedacht schenken willst.«

Überwältigt von ihren Gefühlen und der heilenden Kraft des roten Steins, sank Lilith in die Knie und weinte.

Rote Tautropfen perlten von Liliths Juwel, und als sie ihren Kopf senkte, konnte sie ihren eigenen Stein in einem blutroten Licht leuchten sehen. Irritiert rieb sie mit dem Zeigefinger über die Kanten ihres Juwels, doch plötzlich verschwand die Farbe wieder. Sie blinzelte, jetzt lag der Diamant wieder in seinem ursprünglichen Ton vor ihr. Keiner der Umstehenden schien die kurze Veränderung ihres Juwels bemerkt zu haben und so ließ sie ihn diskret unter ihrem Hemd verschwinden.

 Barrn nickte derweilen seinen Wachen zu und die Männer zerrten Lilith aus dem Gebäude zu einem großen Holzwagen hin, der von vier Kenjas gezogen wurde. Lilith genoss die kühle Brise der Abenddämmerung und füllte ihre Lungen mit der staubigen und doch so wohltuenden Luft. Sie wollte den Geruch von Tod und Leid aus ihrem Körper atmen.

Man ließ ihr eine kurze Verschnaufpause und zog sie dann zu dem Verschlag hin.

Sie stemmte sich gegen den Türrahmen, doch alles Zaudern half nichts, ihre Begleiter bugsierten sie völlig mühelos in den Wagen hinein. Sie schlug so heftig auf den harten Holzboden auf, dass sie sich die Knie aufschrammte und ihre Wunden heiß pulsierten. Sie rollte sich auf die Seite und konnte gerade noch ein kleines Stück vom Himmel erhaschen, bevor die Tür verriegelt und es dunkel in ihrem Gefängnis wurde. Sie rappelte sich so weit hoch, dass sie sich gegen die Wand lehnen konnte. Ein Ruck ging durch den Wagen und sie fuhren los.

Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und sie konnte einige Risse im Holz erkennen, durch die spärliches Mondlicht fiel, was ihr etwas Helligkeit spendete. Im ersten Moment überlegte sie, mit den Füßen gegen die Tür zu treten, verwarf den Gedanken aber wieder, da sie sich zu schwach fühlte. Das einzige Resultat würde wohl ein verstauchter Knöchel und ein hämisches Lachen des Waris sein – und sie hatte nicht vor, ihm eine solche Freude zu bereiten.

Die Stunden vergingen und die Kenjas des Wagens waren in einen gleichmäßigen Trab gefallen. Lilith fühlte sich immer elender und das Fieber dörrte ihren Körper aus, zusätzlich zog ihr Stein auch noch die letzten Kraftreserven aus ihrem Körper. Sie stöhnte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, die Verbindung zu ihrem Stein zu kappen, aber es gelang ihr nicht.

Als der Wagen anhielt und die Türe geöffnet wurde, war sie schon nicht mehr imstande, ihren Kopf zu heben.

Ein dunkler Schatten, den sie nach einem Augenblick als Barrn identifizierte, setzte sich neben sie.

»Wie geht es dir?«, fragte er ruhig.

Sie wusste, dass er eine Erwiderung von ihr erwartete, dennoch antwortete sie ihm nicht gleich, sondern sah ihn nur verständnislos an, während sie überlegte, ob er diese Frage wirklich ernst gemeint haben könnte.

Er hielt ihr einen Wasserschlauch an ihre Lippen. »Hättest du vorher auf mich gehört, würde es dir jetzt nicht so schlecht gehen. Aber du musstest ja unbedingt deinem Juwel deine letzten Kraftreserven schenken. Das hast du jetzt davon. Steine sind nun mal hinterhältige Wesen, die nur an ihr eigenes Wohl denken.« Er seufzte auf. »Aber jetzt ist es passiert und du kannst es nicht mehr ändern. Ach ja, und bevor ich es vor lauter Ärger über dein dummes Verhalten vergesse, ich heiße Barrn und ich habe dich gekauft.«

»Barrn«, krächzte sie und die Zunge lag ihr schwer im Mund. »Was willst du von mir?«

Statt gleich zu antworten, ließ er vorsichtig ein wenig Wasser in ihren Mund laufen. Sie hätte ihm am liebsten den Schlauch aus der Hand gerissen, so durstig war sie, aber selbst um ihre Hand zu heben, fühlte sie sich zu müde.

»Ich kann dir deine Frage nicht beantworten, weil ich es selber noch nicht weiß«, meinte er ernst. Sie glaubte es ihm sogar. Trotzdem schob sie den Wasserschlauch, ungeachtet ihres Durstes beiseite, um eine weitere Frage stellen zu können. »Aber es muss doch irgendeinen Grund geben?«

Das kostbare Nass lief neben ihren Mund, den Hals entlang und auf ihre Kleidung hinab. Der Wari wirkte abwesend, erst als die Hälfte des Wassers ihren Stoff durchweicht hatte, hob er den Schlauch hastig an.

»Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Du bist meine Ware, die ich gekauft habe, mehr nicht.«

Das war es also, dachte Lilith verbittert, sie war nichts weiter als ein Stück Vieh.

Sie fror trotz der angestauten Hitze im Wagen erbärmlich.

Barrn warf ihr eine verschlissene Decke hin. »Hier, das muss reichen.« Dann verließ er den Wagen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Sie hatte ihn verärgert, aber sie wusste nicht warum. Sie hörte das kratzende Geräusch des Riegels, als er die Türe von außen verschloss. Ermüdet und völlig erschöpft glitt Lilith in einen komatösen Schlaf.

Ferne Stimmen drangen nur vage zu ihrem Verstand vor und sie tat sich schwer, die genaue Bedeutung der Worte zu erfassen. Sie hörte eine Stimme, die ihr vertraut vorkam. »Wie geht es ihr? Sie schläft nun schon seit knapp zwei Tagen so. Kannst du ihr helfen?«

Eine knarzige und verdrießliche Stimme, die ihr völlig unbekannt war, antwortete: »Sie ist ein Mischblut, wie soll es einer Dämonin mit einem Stein schon gehen? Lasst sie sterben. Es ist eine unnütze Sklavin. Wozu wollt ihr sie haben?«

Eine vertrocknete Hand griff unter Liliths Kinn und ihr Kopf wurde nach allen Seiten gedreht. »Sie taugt doch für nichts.«

»Wenn ich dich etwas frage, erwarte ich eine präzise Antwort und nichts Anderes«, ertönte nun wieder Barrns Stimme.

Die Hände ließen von ihrem Kinn ab und zogen dafür grob ihre Augenlider auf, sodass Lilith empört über die Helligkeit aufstöhnte.

»Hm. Hm. Hm. Die Wunden sollten zu behandeln sein, aber gegen ihren Stein gibt es kein Heilmittel. Wie jeder Diamant strebt er nach Macht, aber ihr Körper wurde nicht für ein Juwel geschaffen. Sie wird daran zerbrechen.«

»Kümmere du dich um ihre Wunden. Ich werde mir Gedanken über ihren Stein machen, wenn es soweit ist«, entschied Barrn ungeduldig und Lilith hörte, wie der andere Mann daraufhin keifte: »Euer Vater wäre entsetzt, wenn er davon erfahren würde, was Ihr hier in mein Zelt geschleppt habt.«

Eine unangenehme Stille trat ein. Erst nach einer langen Pause ertönte Barrns gefährliche Stimme: »Willst du mir drohen, alter Mann?«

Angst erfüllte plötzlich den Raum. Lilith konnte die Furcht des Mannes förmlich schmecken.

»Nein, Herr. Nie würde ich Euch drohen wollen. Ich werde mich sofort um das Mischblut kümmern.«

  Wieder einmal hatte dieser Barrn, der keinen Diamanten trug, seine Umwelt in Angst und Schrecken versetzt. Lilith hörte, wie der Krieger aufstand. Seine Schritte knirschten über den Sand und die Zeltplane wurde zurückgeschlagen. Jetzt war sie alleine mit dem fremden Mann und sie stellte sich, nur durch ihre dichten Wimpern blinzelnd, weiterhin schlafend.

Ein Raunen durchbrach plötzlich die Stille und ließ sie aufhorchen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nur einzelne Satzfetzen verstehen. »Er … muss … es … erfahren … sage … Dämonenmädchen … Azra … geh … nun …«

Abrupt wurde das Flüstern unterbrochen und ein kleiner Tumult entstand im Zelt. Lilith hielt es nicht länger aus und versuchte, unter halb geöffneten Lidern die Szene zu erfassen, die sich ihr bot.

Barrn stand wieder im Zelt, sein Schwert hielt er gezogen in der rechten Hand, während er sich über den alten Mann beugte. Die Leichtigkeit, mit der er seine Waffe führte, verblüffte Lilith. Sie hatte seine schlanke Statur völlig unterschätzt, er mochte vielleicht steinlos sein, aber auf gar keinen Fall war er wehrlos. Die Spitze des Schwertes war auf den Brustkorb des Mannes gerichtet, der schützend seine Hände hob. Lilith erkannte sofort seine knorrige Stimme wieder, als er bettelte: »Herr. Ich musste es tun, niemand stellt sich gegen Euren Vater, auch ich nicht. Tut mir nichts.«

Der Wari schüttelte seinen Kopf, und wenn er je Mitleid mit dem Alten gehabt hatte, dann war es nun völlig verschwunden. »Wie konntest du es bloß wagen«, zischte er. »Mich zu hintergehen?«

Der Alte zitterte am ganzen Körper. »Herr«, blaffte er trotz seines schlotternden Körpers. »Euer Vater wird Euch finden, dafür habe ich gesorgt.«

Ein undefinierbarer Ausdruck legte sich auf das Gesicht des Waris. Es war eine Mischung aus Abscheu und ehrlicher Trauer, als er flüsterte: »Du hast mich verraten und mich hintergeht man nicht ungestraft.« Kaum hatte er das letzte Wort ausgesprochen, stach er erbarmungslos zu. Der Mann starb, bevor er überhaupt begreifen konnte, was ihm widerfahren war. Rotes Blut quoll aus der Wunde hervor, als Barrn sich angewidert abwandte und sein Schwert mit einem Ruck aus dem Körper seines Opfers riss.

Lilith starrte entsetzt auf den toten Mann, der regungslos in seinem Blut auf dem Boden lag. Sie war fassungslos über die Grausamkeit, aber auch über die Perfektion des Stichs. Barrn musste eine gute Kampfausbildung genossen haben, jedenfalls fehlte es ihm nicht an tödlicher Präzision, jedoch an Mitgefühl. Beides sprach dafür, dass er lange Zeit im Militär oder als Söldner gearbeitet haben musste.

Bevor Lilith weiter darüber nachdenken konnte, öffnete sich abermals die Zeltplane und ein zweiter Mann trat herein. Er hatte einen wild zappelnden Jungen im Schlepptau. Der Junge wand sich, schrie und brüllte. Seine kleinen Füße traten nach dem Schienbein des Erwachsenen, der den Attacken fluchend auswich. Lilith spürte sofort die Aura zweier Diamanten, die eine war warm, weich und von einem violetten Licht, die andere stürmisch, heftig und versprühte ein gräuliches Funkeln. Gegensätzlicher konnten zwei Auren nicht sein.

»Skat«, rief Barrn erleichtert aus. »Ich dachte schon, du kommst überhaupt nicht mehr wieder.«

Der angesprochene Mann verdrehte die Augen. »Diese kleine Ratte ist flinker, als man denken könnte.«

Der Mann namens Skat ließ den Jungen los. Doch dieser blieb nicht lange an seinem Platz, sondern nutzte die Unachtsamkeit des Mannes, um wieder die Flucht zu ergreifen. Behände und flink wuselte er in Richtung Ausgang.

Doch Barrn war eine Spur schneller, sprang nach vorne, griff nach dem Kragen des Ausreißers und hob ihn mühelos hoch. Wieder verlor der Junge den Boden unter den Füßen und versuchte, durch heftige Gegenwehr seinem Kontrahenten zu entkommen.

»Hör auf, du Dummkopf. Oder möchtest du so enden wie dieser närrische Greis hier?«, schalt ihn Barrn.

Augenblicklich wurde der Junge ruhig und hörte auf, sich zu wehren. Anscheinend hatte er vor lauter Aufregung den toten Mann im Zelt gar nicht wahrgenommen.

Mit morbider Neugierde und ohne Bedauern zu zeigen, fragte er: »Ist er tot?«

»Nein, er ruht sich nur etwas in seinem Blut aus. Natürlich ist er tot«, grollte Skat.

Barrn warf seinem Begleiter einen vielsagenden, aber auch beschwichtigenden Blick zu und rüttelte leicht an dem Kragen des Jungen. »Warst du sein Sklave?«

Der Junge nickte. Immer noch in der Luft baumelnd verdrehte er seine Augen, um in Barrns Gesicht sehen zu können. »Ihr habt ihn getötet, nicht?«

Barrn seufzte. »Ja, das hab ich.«

Und zur Überraschung aller raunte der Junge mit brüchiger Stimme: »Sehr gut.«

Barrn sah den Kleinen verwirrt an, der wortlos seine Ärmel hochschob und den Blick auf große, rötliche Narben freigab. Verständnis und Anteilnahme spiegelten sich in Barrns Gesichtszügen wider, trotzdem schüttelte er den Jungen ein weiteres Mal in der Luft hin und her. »Hör mir genau zu, ja? Wenn du weiterhin am Leben bleiben willst, tust du nicht, was dir der Greis aufgetragen hat. Geht das in dein kleines Köpfchen hinein?«

Der Junge schürzte gekränkt seine Lippen. »Ja. Ich bin nicht dumm.«

Barrn zögerte, doch dann ließ er, zu Liliths Erleichterung, die schon das Schlimmste befürchtet hatte, den Jungen los.

»Verschwinde«, befahl er genervt. »Und falls du dein Versprechen nicht einhalten solltest, werde ich dir eigenhändig dein Genick brechen.«

Der Junge zog ein beleidigtes Gesicht und machte keine Anstalten, zu gehen.

»Was ist denn noch?«, wollte Barrn sichtlich gereizt wissen.

»Man wird glauben, ich hätte meinen Herrn getötet. Nehmt mich mit.«

  Barrn war sprachlos. Der Junge wiederholte seine Worte. »Nehmt mich mit, ich will bei Euch bleiben. Bitte.«

Skat klopfte sich amüsiert auf seine Schenkel. »Wer hätte gedacht, dass dich, abgesehen von meiner Wenigkeit, noch jemand sympathisch finden könnte und dir Gesellschaft leisten möchte.«

Barrn überhörte die Spitze seines Dieners geflissentlich und sagte zu dem Jungen: »Nein. Das geht nicht.«

»Wieso nicht?«, fragte dieser in einem dreisten Ton und der Schalk sprach aus seinen dunklen Augen. Noch bevor Barrn irgendwelche Einwände hervorbringen konnte, hatte der Junge sich flink abgewandt und begonnen, die wichtigsten Habseligkeiten des Toten in sein zerschlissenes Bündel zu packen. Der Sklavenhändler zog stirnrunzelnd die Augenbrauen zusammen. »Was machst du da?«

»Ich packe das nötige Heilmittel ein.« Mit einem Kopfnicken zu Lilith fuhr er fort: »Soweit ich weiß, braucht Ihr einen Heiler. Ich bin ganz gut in solchen Dingen und außerdem besitze ich einen Heilstein, der Euch nützlich sein könnte.« Er reckte abwartend sein Kinn nach vorne und sein Juwel blinkte, wie um die Worte seines Trägers zu unterstreichen, violett auf.

»Na gut, du darfst mitkommen«, gab Barrn sich geschlagen.

Skats Finger trommelten ungehalten auf den Schwertknauf seiner Waffe. »Was? Du willst diesen größenwahnsinnigen und renitenten Jungen mitnehmen. Haben wir denn nicht schon genug Schwierigkeiten?«

Barrn grinste Skat unverhohlen an. »Auf einen Größenwahnsinnigen mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.«

Skats Mundwinkel beschrieben eine steile Gerade nach unten. »Wie meinst du das?«

Barrn winkte ab. »Schon gut, Skat. Bring lieber das Mädchen und den Jungen in den Wagen.«

Der Diener stieß ein eingeschnapptes Schnauben aus, während er dafür aufhörte, das Metall seines Schwertgriffs mit den Fingern zu bearbeiten.

Lilith überlegte einen kurzen Moment, jetzt wo die Männer abgelenkt waren, ob sie aufspringen und davonlaufen sollte, aber die Rücksichtslosigkeit, mit der Barrn gegen den Greis vorgegangen war, hielt sie davon ab.

So blieb sie regungslos liegen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als der Mann mit dem grauen Juwel auf sie zutrat. Der steintragende Krieger war ihr unheimlich, denn die dunkle Farbe seines Steins zeugte von viel vergossenem Blut und die schwarzen Nuancen verrieten jedem, dass sein Juwel kurz vor einer höheren Stufe stand. Und obwohl sein Diamant so mächtig war, konnte Lilith keinerlei Ermüdungserscheinungen bei dem Krieger erkennen. Nichts deutete darauf hin, dass sein Körper oder sein Geist an der Kraft des Juwels zerbrechen könnte. Gerade diese Leichtigkeit, mit der der Diener seine funkelnde Waffe trug, beunruhigte Lilith.

Sämtliche Nackenhaare stellten sich ihr auf, als seine Hände nach ihrem Körper griffen. Ohne darüber nachzudenken, schlug sie ihre Augen auf und hastete ein Stück zurück. Verwundert sah er sie an. »Wohl doch wach, was?«

Er wollte sie hochziehen, doch Lilith hob abwehrend ihre Hände und ließ keinen Zweifel daran, was sie von ihm hielt. »Bleib, wo du bist, du Monster. Ich kann alleine aufstehen. Vielen Dank.«

  Der Krieger trat mit stoischer Gelassenheit zurück und nickte ihr bereitwillig zu, es selber zu versuchen.

Unter seinem wissenden Blick, was gleich passieren würde, raffte sie ihren Körper hoch, wankte und verlor schließlich das Gleichgewicht. Mit einem Schrei und einem ungelenken Versuch, sich an der Zeltwand festzuhalten, platschte sie ungebremst auf den Boden. Er lachte schadenfroh auf, als sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ihr Kinn rieb.

»Hast du deine Lektion gelernt und darf dir nun das Monster aufhelfen?«

Bevor sie seine Hilfe verneinen konnte, hievte er sie hoch und die Kraft seines Juwels durchflutete ihren Körper wie eiskaltes Wasser. Ein gräulicher Schimmer legte sich über die Oberfläche ihres Juwels und ein undefinierbares Gefühl von Hass, Trauer und Wut überfiel sie. Erschrocken wandte sie sich in seinen Armen. »Lass mich, ich kann alleine stehen«, rief sie, hastig darum bemüht, genug Abstand zwischen sich und den Krieger zu bringen. Der Diener zuckte nur genervt mit den Schultern, drehte sich zu Barrn und schnitt eine eindeutige Grimasse.

Barrn nahm derweilen dem Jungen sein Bündel ab, warf es sich über die Schulter und ging an Skat vorbei. »Wenn du genug geflirtet hast, dann bring sie endlich in den Wagen zurück.«

Skat machte einen entrüsteten Gesichtsausdruck und verzog schmollend seinen Mund. »Bitte, ich hab auch Geschmack, sie ist nicht mein Typ.«

Barrn grinste. »Ich weiß, deswegen mache ich mir auch keine Sorgen.«

Der Diener rümpfte seine Nase und sein Blick blieb an dem toten Körper des Greises hängen. »Barrn, wir sollten möglichst schnell von hier verschwinden. Sein Tod wird nicht lange unbemerkt bleiben und wir brauchen jeden Vorsprung, den wir nur bekommen können. Er wird uns seine Truppen, womöglich noch die Sucher, auf den Hals hetzen.«

  Voller Unmut stieß Barrn die Plane auf und seine Stimme klang kalt und verächtlich. »Nicht nur womöglich, sondern ganz sicher.«

Lilith war dem Gespräch zwischen den beiden Männern aufmerksam gefolgt, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.

Der Diener hielt sie immer noch fest und wollte sie weiter hinter sich herschleifen, doch Lilith sträubte sich. »Lass mich los. Sofort.«

Sie wollte keinen Augenblick länger in seiner Nähe bleiben, denn sie fühlte, wie sich in ihrem Stein etwas regte, was sehr lange in ihr geschlummert hatte und nun bereit war, zu erwachen. Und es war hungrig, so hungrig, dass die dunkelgraue Macht des Kriegers zu verlockend nach ihr rief.

Sie riss sich mit einem kurzen Ruck los und bezahlte mit roten Striemen auf ihrer Haut, da Skat natürlich nicht gewillt gewesen war, sie einfach loszulassen.

Seine Brauen wölbten sich nach oben. »Oho. Du kleine Kratzbürste, was soll das?«

Lilith sagte das Erstbeste, was ihr einfiel und irgendwie auch der Wahrheit entsprach: »Es ist wegen deines Juwels. Ich will nichts mit Leuten zu tun haben, die ihre Macht mit Blut bezahlt haben.«

Barrn, der sie aufmerksam beobachtet hatte, schob Skat zur Seite und baute sich schmunzelnd vor ihr auf. »Dann wirst du ja gerne mit mir vorlieb nehmen, oder? Ich hab schließlich keinen Kampfstein, besser gesagt«, fügte er mit einem diabolischen Grinsen hinzu, »ich habe überhaupt keinen Stein. Ich hoffe, dieser Umstand beunruhigt dich weniger als Skats Diamant?«

Nein, eigentlich nicht, dachte Lilith. Seine Steinlosigkeit verunsicherte sie mehr als das graue Juwel, aber da sie nicht vorhatte, ihm einen weiteren Anlass zur Heiterkeit zu bieten, stieß sie nur ein Knurren aus, was weder als Zustimmung noch als Ablehnung gedeutet werden konnte.

Belustigt über ihr Verhalten, nahm er sie kurzerhand am Arm und führte sie lächelnd zum Wagen, wo auch schon der kleine Junge saß. Er half erst dem Sklaven und dann ihr hinein, bevor er die Tür verriegelte und sie mit dem Jungen allein ließ.

Der kleine Diamantaner betrachtete sie neugierig, und wie Lilith fand, ziemlich unverhohlen. »Bist du eine Rev?«

Sie antwortete dem Jungen mit der gleichen Lüge, die sie Barrn und allen anderen Diamantanern immer erzählt hatte: »Nein. Es ist nur eine gewöhnliche Narbe.«

  Er grapschte nach ihrer Hand und beugte sein Gesicht nah an ihre Handfläche. »Sieht gar nicht wie eine Narbe aus. Eher wie das Brandmal der Rev«, bohrte er weiter und Lilith begann sich ernsthaft zu fragen, wie sie sich erholen sollte, wenn ihr keine Ruhe vergönnt war.

Ohne Umschweife und ohne Luft zu holen – wie Lilith zynisch bemerkte – fragte der kleine Junge weiter: »Deine Augen sind goldgelb? Ist das nicht die Farbe der Dämonen? Aber du trägst doch einen Stein …?«

Gerade als Lilith zu einer genervten und weniger freundlichen Antwort ansetzten wollte, wurde die Wagentür geöffnet und Barrn steckte seinen Kopf herein. »Hey Junge, ich habe dich nicht als Unterhalter für meine Sklavin mitgenommen, du sollst die Medizin vorbereiten.«

Neben Barrn erschien eine sehr dünne, blasse Gestalt. Es war eine junge Frau. Sie hatte große, melancholische, himmelblaue Augen und ihr schwarzes Haar fiel ihr, in dichten Locken, über die Schultern.

Lilith erkannte die Frau sofort wieder. Es war die Fee, die mit Barrn zusammen in dem Kerker gewesen war.

Der Krieger zeigte auf Lilith und ihre Wunden. »Ich weiß, dass es dich immer sehr erschöpft, aber ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht nötig wäre. Kannst du ihre Wunden versorgen? Und pass auf ihren Diamanten auf, ich traue ihm nicht, auch wenn es nur ein Stein der Unwissenheit ist.«

  Lilith blieb der Mund offen stehen, zum ersten Mal registrierte sie, dass es eine Fee war, die diesen roten Heilstein besaß. Es gab immer wieder Fälle, dass Feen mit Juwelen geboren wurden, aber es war äußerst selten. Und was meinte Barrn damit, als er sagte, die Fee solle auf ihren Stein aufpassen? Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er mehr über sie wusste als sie über sich selbst.

 

Der Kummer der Fürstin

Hereket seufzte tief auf. Die Albträume der vergangenen Sonnenjahre ließen sich nicht einfach abstreifen, sondern klebten an ihr wie Pech. Ihre Hände zitterten, als sie den Türknauf mit ihren schlanken Fingern umschloss. Gerade als sie eintreten wollte, ertönte eine kühle Stimme hinter ihr. »Was tust du hier, Herrin?«

»Feldar?«, rief sie überrascht und taumelte erschrocken zurück.

Die Augen des Dämons verengten sich. »Verschwinde von hier, du hast hier nichts zu suchen.«

»Bist du also der neue Wächter, der sie bewachen soll? Hat dich etwa mein Mann damit beauftragt?«

Ein hämisches Grinsen entstellte das Gesicht des Kriegsherrn. »Meinst du, Dorn würde mich mit einer so undankbaren Aufgabe betrauen? Er weiß genau wie du, dass ich dieses Kind verabscheue.«

Herekets Lippen bebten und ihr Kinn zuckte, während sie versuchte, die Contenance zu bewahren. »Dann steh mir nicht im Weg rum und lass mich durch. Ich will zu meiner … « Sie brachte das Wort Tochter einfach nicht über ihre Lippen.

»Ja?«, hakte Feldar liebenswürdig nach. »Zu wem möchtest du, mein Liebling?«

Hereket senkte ihren Kopf und starrte auf ihre blassen Hände hinab. Sie blieb stumm. Dafür legte Feldar auffordernd seine Hand auf den Türgriff und sah die Dämonin sehr lange an, bevor er flüsterte: »Ich werde das Kind weiterhin hier dulden, aber ich will, dass du mich dafür belohnst, dass ihm kein … Unglück … widerfährt.«

Hereket richtete ihre Augen geradeaus. »Was möchtest du dafür haben, Kriegsherr?«

Seine Lippen näherten sich den ihren, doch kurz bevor sich ihre Münder treffen konnten, glitt er an ihrem Gesicht vorbei und zu ihrem Ohr hin. Heiser raunte er hinein: »Früher hättest du mich mit deinem Körper bezahlen können, aber das Schicksal hat dich gezähmt, hat dich verletzlich und weich gemacht. Von deiner begehrenswerten Wildheit ist nicht mehr viel übrig geblieben, daher wähle ich ein anderes Zahlungsmittel.«

  Er legte seine Fingerspitzen übereinander und seine Fingernägel leuchteten im Fackelschein matt auf. »Also was kannst du mir außer deinem Körper anbieten?«

Die Dämonin wusste, dass sie Feldar ein Angebot machen musste, dass er nicht ablehnen konnte, wenn sie ihr Kind in Sicherheit wissen wollte. Daher warf sie jegliches Ehrgefühl über Bord und sprach den Satz aus, der ihr Herz brechen, aber ihr Kind retten würde: »Falls Dorn im Krieg fällt, werde ich einen neuen Gemahlen wählen, der dann der neue Fürst sein wird.«

Sie machte eine kurze Pause. »Einen starken Kriegsherrn vielleicht?«

Feldar trat einen Schritt zurück und schien im diffusen Fackelschein sehr blass. »Er ist mein Bruder«, raunte er.

»Ja, und mein Ehemann«, antwortete sie ihm kühl.

Die Fledermäuse an der Wand quietschten auf und ein aufgeregtes Gemurmel erfüllte den Raum. »Der Fürst fällt, der Fürst fällt. Feldar ruft man aus, den Verräter.«

»Diese Biester …«, knurrte der Dämon und schleuderte einen Feuerball auf die Tiere, die aufstoben und als schwarze Wolke durch den Raum wirbelten. »Sollte mal jemand zu Grillfleisch verarbeiten!«

Hereket schenkte den Tieren nur ein müdes Achselzucken. »Keiner hört mehr auf sie. Die Dämonen sind taub gegenüber dem Geflüster der Fledermäuse geworden.«

»Elendiges Pack«, stieß Feldar angewidert aus, aber Hereket schüttelte ihr weiches Haar. »Es sind die Kinder des Spiegels.«

 

Die Fee

Lilith blieb die Luft weg, als sie Fayn genauer betrachtete. Sie wirkte noch geheimnisvoller als zuvor im Keller. Sie strahlte eine blutrote, heiße und kräftige Aura aus. Um ihren Hals baumelte ein blutroter Diamant, der in der Sonne pulsierend glühte. Diese unbändige Kraft bildete einen starken Kontrast zu ihrer zerbrechlichen und zarten Gestalt. Lilith fragte sich, wie ihr filigraner Körper einen so mächtigen Stein beherbergen konnte, ohne daran zugrunde zu gehen. Sie hatte schon weitaus kräftigere Männer an den Auswirkungen schwächerer Diamanten sterben sehen.

Lilith war so gebannt von der feenhaften Gestalt, dass sie erst viel später registrierte, wie die Frau ihr die schmale Hand entgegenstreckte. Stattdessen ergriff der Junge die dargebotene Hand und half der zarten Frau hinein.

Barrn sah den Jungen dankbar an und zu Fayn gewandt sagte er: »Rufe mich, falls es Probleme gibt.« Und mit einem letzten Blick auf Lilith fügte er hinzu. »Aber du wirst ihr doch keine Schwierigkeiten machen, oder?«

Lilith schüttelte den Kopf. »Jetzt noch nicht. Ich bin noch zu schwach.«

Barrns Gesicht umwölkte sich und Lilith wusste, diese Antwort hatte er nicht hören wollen. Doch anstatt sie mit Worten zurechtzuweisen, schob er nur seine Hände unter den Mantel und ließ sein Schwert aufblitzen und Lilith verstand diese stille Mahnung nur zu gut. Dann drehte er sich um und ließ sie mit der Fee und dem Jungen im Wagen zurück.

Lilith sah zu den beiden hin. Für einen kurzen Moment war sie versucht, die Flucht zu ergreifen. Aber sie verwarf den irrsinnigen Gedanken wieder, denn in ihrem jetzigen Zustand würde sie nicht einmal aus dem Wagen kriechen können. Eine nicht gerade erfolgsversprechende Flucht, wie sie sich selbst eingestehen musste. Also sah sie mit gemischten Gefühlen zu, wie der Junge zusammen mit der Fee einen Heiltrank mixte, während sie sich auszog.

»Ich hoffe, du weißt, was du tust?«, fragte sie.

Der Junge grinste sie breit an. »Ich habe oft genug zugeschaut.«

»Zugeschaut? Das kann ja was werden«, stöhnte sie auf. »Du wirst mich eher mit deiner Giftmischung umbringen als heilen.«

  Fayn saß währenddessen schweigend neben ihnen und beobachtete die Bemühungen des Jungen, ein Heilmittel herzustellen, mit der Geduld einer fürsorglichen Mutter.

Der Junge hielt ihr schließlich die Schale erwartungsvoll hin und Lilith nippte vorsichtig an dem Gebräu. Es schmeckte bitter, aber nicht ganz so schlecht, wie sie vermutet hatte. Sie merkte, wie mit jedem Schluck, den sie tat, die Brust des Jungen immer mehr vor Stolz anschwoll. Innerlich musste sie über den kleinen Heiler schmunzeln. Als sie fertig war, nahm ihr Fayn die Schüssel aus der Hand und bedeutete ihr, sich still zu verhalten.

»Schirme deinen Diamanten ab«, befahl sie, während sie mit routinierten Handgriffen Liliths Wunden befühlte. Lilith nickte verständnislos. Sie hatte keine Ahnung, was die Fee damit gemeint hatte.

Die Frau beugte sich über sie und begutachtete ausführlich und mit peinlicher Genauigkeit jede einzelne Wunde, war sie auch noch so klein. Rotes Licht glomm auf und waberte von ihrem Diamanten auf die verletzten Stellen an Liliths Körper. Kaum berührten sie die ersten rötlichen Lichtfunken, spürte Lilith ein tiefes Vibrieren in ihrem Körper. Etwas riss an ihrer Seele und wütete in ihrem Geist. Etwas sehr Dunkles, Mächtiges, einer Bestie gleich, die, der roten Kraft des Heilsteins erlegen, töten und vernichten wollte. Erschrocken und ohne böse Absicht schubste sie die Fee aus ihrer Reichweite. Überrascht von der heftigen Gegenwehr flog die Fee ungebremst gegen die Wagenwand und blieb dort liegen. Für einen Moment herrschte angespannte Stille, doch dann rappelte sich die Fee wortlos wieder auf und setzte sich neben Lilith, als sei das alles nicht passiert. Lilith murmelte eine kurze Entschuldigung. Sie hatte der Fee nicht wehtun wollen, aber das Gefühl, welches sie überwältigt hatte, hatte sie zutiefst erschreckt.

Fayn winkte beschwichtigend ab. »Schon gut. Mir ist nichts geschehen, aber du musst jetzt deinen Diamanten abschirmen, denn ich kann sein Verlangen nach Macht fühlen.« Die Fee verbesserte sich. »Besser gesagt, seine Gier.«

Lilith nickte beklommen, dann sah sie die Fee verlegen an. »Wie geht das? Das mit dem Abschirmen?«

Fayn und der Junge sahen sie fassungslos an und wie aus einem Munde fragten sie verblüfft: »Du weißt nicht, wie du dein Juwel abschirmst?«

Lilith kaute verlegen auf ihrer Unterlippe herum, bis sie zerknirscht zugab: »Nein.«

»Bei den sieben Schwertern …«, stieß Fayn hervor. »Dein Stein ist eine Waffe, die musst du doch beherrschen können?«

»Aber es ist doch nur ein Stein der Unwissenheit. Was kann so ein Stein schon anrichten?«

Eine männliche Stimme ertönte aus dem Hintergrund. »Auch ein Stein der Unwissenheit kann seinen Weg noch wählen.«

Alle fuhren erschrocken herum, Fayn eingeschlossen. Der Wari lehnte sich gegen den Wagen und Lilith fragte sich, wie lange er schon da gestanden und sie beobachtet hatte. Augenblicklich wurde sie sich ihrer Nacktheit bewusst, sah beschämt zu Boden und versuchte, mit den Händen ihre Blößen zu bedecken.

Mit einem einzigen, eleganten Sprung war er auf das Wagendeck gelangt und packte Lilith unsanft am Oberarm. »Und was tust du dann? Lässt du dich von deinem Juwel beherrschen, wie es so viele Diamantaner tun? Oder willst du ihm Einhalt gebieten können?«

Lilith starrte ihn verwirrt an, und als er ihren Arm nicht losließ, antwortete sie ihm: »Ja, das möchte ich.«

Jetzt endlich ließ er sie los.

Härte schwang in seinen Worten mit. »Gut. Dann lerne es. Meine Dienerin wird dir dabei helfen, aber ich möchte nicht, dass du sie noch einmal in Gefahr bringst.«

Lilith verstand ihn nicht. Sie begriff sein Verhalten, was er ihr gegenüber an den Tag legte, einfach nicht. Einerseits war er bereit, sie jederzeit zu töten, anderseits ließ er ihre Wunden versorgen. Sie biss die Zähne so heftig zusammen, dass ihre Kiefer schmerzten. Sie wusste, dass es nur eine Antwort auf ihre Fragen geben konnte: Er musste ein Wari sein, ein Sucher-Gehilfe, der Rebellen aufspürte, gegebenenfalls freikaufte, um sie dann bei den Suchern abzuliefern, die viel Geld für lebende Rebellen ausgaben, wenn man aus ihnen noch Informationen herauspressen konnte.

Ihre Wangen röteten sich, als sie ihn trotzig ansah. »Wozu soll ich es lernen? Du wirst mich doch so oder so töten. Du bist doch ein Wari, nicht wahr?«

Barrn warf seinen Umhang zurück und sein Gesicht spiegelte eine Palette zahlreicher Gefühle wider. »Jeder hat nun mal seine Pflichten zu erfüllen.«

»Und deine ist es, mich zu töten?«

»Bis jetzt lebst du noch, oder?«, war seine zynische Gegenfrage. »Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dich getötet zu haben.«

Lilith hatte ihren Mund schon geöffnet, um etwas zu entgegnen, als sich dieser mit einer bitteren Flüssigkeit füllte. Angewidert und ziemlich erschrocken spuckte sie das Wasser wieder aus.

»Jetzt hast du die ganze Medizin auf dem Boden verteilt«, nörgelte der kleine, selbsternannte Heiler. Seine flinken Hände fischten nach der Schale, die Lilith vor Schreck weggestoßen hatte. Er hob das flache Gefäß auf. »Etwas ist noch drin. Du solltest es jetzt austrinken.«

Lilith hatte langsam das Gefühl, dass sich alle gegen sie verschworen hatten. Hatte sie denn gar keine Freunde: nicht einmal unter den Sklaven?

Der Junge hielt ihr das Gefäß mit einer auffordernden Geste hin, und als sie ihren Blick von der ekelhaften Masse losreißen konnte, war Barrn verschwunden.

Sie ärgerte sich, denn sie hätte ihm gern ihre Meinung gesagt, aber der dumme Junge war ihr dazwischen gekommen.

Lilith sah, wie Fayn dem Jungen verstohlen zulächelte. Es verletzte Lilith, das zu sehen, aber sie musste zugeben, dass die Taktik des Jungen aufgegangen war. Unwirsch drehte sie sich zu dem Sklaven um. »Du kleine Ratte … du …«, sie stockte. »Ähm, wie heißt du überhaupt?«

Der Junge griff nach ihrem Handgelenk und schien prüfend ihren Puls zu messen, bevor er ihr antwortete. »Ich war schon beleidigt und dachte, du würdest mich gar nicht mehr nach meinem Namen fragen. Ich heiße Harukan Asmir Padpar. Und du bist eine Idiotin.«

»Idiotin?«, wiederholte Lilith.

Der Junge nickte eifrig, so als hätte sie ihn gerade in seiner Annahme bestätigt.

Lilith wollte sich auf den kleinen Sklaven stürzen, aber Fayn hielt sie kichernd zurück. »Komm, Kriegerin, spar dir deine Kräfte auf und benutze sie, um deinen Stein zu beherrschen.«

»Wie geht das denn nun?«, fragte Lilith patzig, immer noch von Harukans Worte gekränkt.

»Ein Juwel braucht Blut und Leid, um stark zu werden, wenn du es kontrollieren willst, fülle deine Gedanken mit schönen Erinnerungen und Gefühlen, dann nimmst du ihm etwas von seiner Macht.«

  Schöne Erinnerungen, dachte Lilith bitter, waren in ihrem Leben wirklich Mangelware. Trotzdem versuchte sie es und plötzlich ließ das Zerren und Ziehen in ihrem Inneren nach.

Die Fee lächelte ihr aufmunternd zu und startete einen weiteren Heilungsversuch. Dieses Mal funktionierte es.

Erstaunt betrachtete Lilith, wie ihre Wundränder von dem ungesunden bläulichen Violett zu einem zarten Rosa wechselten.

Sie bemerkte, wie sie dabei müde wurde. Die Heilung kostete sie viel Kraft. Schläfrig streckte sie ihre Glieder aus und betrachtete fasziniert, wie sich eine sehr große Wunde an ihrer Hand langsam verschloss.

Die Augen fielen ihr zu und sie sah gerade noch, wie Fayn eine Decke über ihren Körper ausbreitete. Als sie ihre Augen aufschlug, war das Erste, was sie sah, der Rücken des Jungen, der neben ihr eingerollt schlief. Er lag ganz friedlich da und sein Brustkorb hob und senkte sich im Takt seiner regelmäßigen Atemzüge. Er drehte sich um und blinzelte sie verschlafen aus braunen Augen an. Sie lächelte ihn an und er lächelte zurück, aber plötzlich wurde Liliths Umgebung dunkel und das Bild des glücklichen Jungen verschwand. Dafür sah sie einen kleinen Jungen, Harukan sehr ähnlich, halbtot auf dem Boden liegen. Seine Haut war leichenblass und rotes Blut quoll aus seinem Mund hervor. Er röchelte.

Lilith prallte zurück, kreischte auf und die Vision verschwand. Sie keuchte und vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass sie wieder in dem Wagen und Harukan noch am Leben war.

»Was ist los?«, wollte der Junge wissen und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Du hast doch nicht vor, mit deinem Diamanten den Wagen niederzubrennen, oder?«

Er grinste sie von einem Ohr zum anderen frech an.

»Nein«, sagte Lilith matt, während sie zeitgleich beschloss, dem Jungen nichts von ihrer Halluzination zu erzählen, die sie gerade gehabt hatte.

»So? Bist du dir da sicher? Ich würde es gerne vorher wissen, damit ich hier noch rechtzeitig rauskomme, bevor du alles in Schutt und Asche legst.«

Lilith fragte sich, wie sie für diesen unverschämten Kerl gerade Sympathie empfunden haben konnte. Sie holte aus und versetzte dem Jungen einen Schlag vor den Brustkorb.

»Hey«, schrie er empört auf und rieb sich beleidigt über die getroffene Stelle. »Was kann ich dafür, wenn du zu doof bist, deinen Stein zu kontrollieren?«

Lilith war kurz davor, sich auf Harukan zu werfen und ihm seine Frechheit aus dem Körper zu prügeln, doch sie zwang sich zu einem Lächeln und fragte bedrohlich liebenswürdig: »Wie lange möchtest du noch leben, mein kleiner Freund? Falls es noch ein paar Jahre sein sollen, würde ich dir zu mehr Respekt gegenüber der Idiotin raten.«

Dem jungen Sklaven war die Drohung hinter ihren gescherzten Worten nicht entgangen. Ein wenig beleidigt setzte er sich neben sie, verzichtete aber auf weitere, spitze Kommentare.

»Danke«, kommentierte Lilith sein Verhalten.

Die Wagentüre wurde geöffnet und Barrn stand vor dem Eingang. »Ich störe nur ungern eure Konversation, aber wenn ihr Hunger habt, kommt raus und setzt euch ans Lagerfeuer.«

Als sie den ersten Schritt nach draußen in die kühle Nachtluft machte, wurde ihr bewusst, wie sinnlos eine Flucht zu diesem Zeitpunkt gewesen wäre. Sie war kaum imstande, einen Schritt vor den anderen zu setzten und das, obwohl die Fee die meisten ihrer Wunden versorgt hatte.

Der Sklavenhändler führte sie zu einem Feuer, das in der Mitte des Lagers entfacht worden war, und bedeutete ihr mit einer einladenden Geste, sich zu setzen. Zum ersten Mal hatte sie die Gelegenheit, sich die Männer, die Barrn begleiteten, genauer anzusehen. Die meisten Krieger wirkten wie Söldner. Ihre Kleidung war schlicht und schmucklos. Die Gesichter von den vielen Kämpfen zerfurcht. Nur ein Krieger unterschied sich von den anderen Halunken, die um das Lagerfeuer lungerten. Sein Gesicht lag verborgen hinter einer großen Kapuze. Seine Erscheinung wirkte nicht so heruntergekommen, aber auch nicht weniger gefährlich. Er saß still, ein wenig abseits von den anderen Kriegern und aß ein Stück Brot. Sie versuchte, vorsichtig seine Aura zu ertasten, doch da hob er seinen Kopf und die Kapuze gab den Anblick auf zwei eisblaue Augen frei, die sie direkt anstarrten. Erschrocken und irgendwie ertappt wandte sich Lilith hastig ab.

Fayn setzte sich neben Lilith und reichte ihr ebenfalls ein Stück Brot sowie einen Teller mit weiterem Essen darauf.

Lilith nutze die Gelegenheit und fragte sie: »Wer ist der Mann dort hinten?«

Fayn war ihrer unauffälligen Geste gefolgt und flüsterte leise: »Das ist Azra.«

»Er macht mir mehr Angst als Barrn«, murmelte Lilith nachdenklich.

»Er macht jedem Angst«, antwortete die Fee nüchtern und stellte den Teller neben Lilith ab. »Er spricht nicht sehr viel und ist lieber allein, aber er erfüllt seine Pflichten und Aufgaben gewissenhaft, daher hat niemand etwas dagegen, wenn er mit uns reist.«

»Trägt er einen Krieger oder einen Heilstein?«, wollte Lilith wissen und kniff ihre Augen zusammen, um die dunkle Gestalt am Rande der Feuerstelle besser erkennen zu können.

»Er trägt ein graues Juwel.«

»Also ein Krieger«, schlussfolgerte Lilith und verzog ihren Mund. Irgendwie hatte sie damit gerechnet.

»Seine Aura«, begann Lilith zögerlich, denn sie scheute, es auszusprechen, »ist dunkler als die von allen hier.«

Die Fee zuckte gelassen mit ihren Schultern. »Wie ich schon sagte, er ist ein Krieger, aber warum interessierst du dich für ihn?«

 »Ich weiß es nicht«, gab Lilith kleinlaut zu und Fayn seufzte auf und hielt ihr den Teller knapp unter die Nase. »Dann mache dir keine unnötigen Gedanken und iss lieber. Ich kann mir denken, dass du sehr hungrig bist.«

Lilith runzelte ihre Stirn und schielte ein letztes Mal zu dem unheimlichen Mann, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Tablett richtete. Azra - der Name war schon mal in ihrer Gegenwart gefallen. Der alte Mann und ehemalige Herr von Harukan hatte ihn erwähnt. War Azra ein Verräter? Sie schüttelte sich. Und wenn schon, dachte sie, das ging sie alles nichts an. Sollten sie sich doch gegenseitig das Leben schwer machen.

Bei dem Anblick des Essens knurrte Liliths Magen und ihr wurde bewusst, wie lange sie schon nichts mehr gegessen hatte.

Bevor sie jedoch den Teller in den Händen halten konnte, patschte schon eine kleine Hand darauf und riss sich das größte Stück herunter. Harukan stopfte das Fleisch so schnell in seinen Mund, dass sogar Lilith, trotz ihres Ärgers, schmunzeln musste.

Fayn hob tadelnd den Zeigefinger und reichte dem Jungen ebenfalls einen Teller, den er in einem Tempo leer fraß, dass Lilith gar nicht mehr aus dem Staunen herauskam. Sie fragte sich, wie so viel Essen in so kurzer Zeit in diesen kleinen Körper passen konnte.

Als Harukan seinen leeren Teller bittend Fayn entgegenstreckte, erntete er nur ein heftiges Kopfschütteln.

Lilith kaute vorsichtig auf dem heißen Fleisch herum und versuchte, den gierigen Blick von Harukan schlichtweg zu ignorieren. Als sie fertig war, stellte sie den leeren Teller in den Wüstensand. Harukan inspizierten ihn enttäuscht.

Barrn winkte Lilith zu, und als sie keine Anstalten machte, seiner Aufforderung nachzukommen, stand er auf und ging zu ihr. Mit einem missmutigen Aufstöhnen ließ er sich neben ihr nieder: »Du gehörst wohl nicht zu den Personen, die dankbar sind, wenn man sie aus den Fängen eines Sklavenhändlers befreit, oder? Ein wenig mehr Entgegenkommen wäre schön, schließlich ist Ian kein Mann, der verzeiht. Er hätte dich eiskalt sterben lassen.«

Lilith machte eine hilflose Gebärde. »Ich lasse mich nun mal nicht gerne gefangen nehmen. Auch von dir nicht, egal was du für mich getan hast.«

Barrn lächelte verhalten.

»Du hast viel Mut, Dämonenkind.«

Er stupste ihren Arm an und zog interessiert seine Augenbrauen hoch. »Sag mir, was hast du getan, dass er dich so sehr gehasst hat? Hat es etwas mit deinem Stein zu tun?«

»Nein. Ich hab ihn gebissen.«

Barrn lachte laut und herzhaft auf.

Lilith sah in der guten Laune des Waris die Gelegenheit, ein paar Informationen zu bekommen, und wollte das Gespräch auf eine Frage lenken, die sie schon seit geraumer Zeit beschäftigte. »Wer bist du und wohin reisen wir?«

Schlagartig gefror sein Lächeln und seine gute Stimmung erstarb, als er sie wütend anherrschte: »Das geht dich nichts an. Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.«

Doch sie wollte sich nicht schon wieder mit einer leeren Antwort abspeisen lassen. »Warum hast du mich gekauft? Was willst du von mir?«

Er war wütend aufgesprungen, seine Hand umklammerte den Schwertknauf, es war mehr eine unbedachte Geste als eine Drohung, doch Lilith spannte jeden Muskel an, um notfalls bereit zu sein, gegen ihn zu kämpfen. Sie malte sich nicht viele Chancen aus, aber kampflos würde sie seinem plötzlich entflammten Zorn nicht entgegentreten.

Fayn sprang ebenfalls auf und drückte mit sanfter Gewalt Barrns Schwerthand nieder. Das Mondlicht spiegelte sich in ihrem Haar und ihr Stein glühte rosarot. »Barrn, man redet immer noch mit der Zunge und nicht mit dem Schwert.« Wie in Trance blickte er etwas verwundert auf seine Hand und zog sie eilig vom Knauf zurück. Die Fee setzte sich wieder und lächelte Lilith aufmunternd zu.

Der Wari, dessen Wut anscheinend nach dem Eingreifen der Fee wieder verraucht war, zog seinen Mantel über die Schwertscheide. »Weil du eine Rev bist, darum habe ich dich gekauft. Das ist die simple Antwort auf deine Frage.«

»Ich bin keine Rev«, fuhr Lilith ihn an, wobei ihre Stimme so unsicher geklungen hatte, dass sie sich nicht einmal selbst diese Lüge abgekauft hätte.

Barrn verdrehte die Augen. »Wieso leugnest du, was jeder hier weiß? Deine Narbe verrät dich als Revolutionärin.«

»Also wirst du mich an die Sucher verkaufen?«

»Vielleicht.«

»Das ist keine eindeutige Antwort«, fauchte sie, doch sein düsteres Gesicht brachte sie auf der Stelle zum Schweigen.

Auf einmal vernahm Lilith schlurfende Schritte und auch Barrn und seine Männer starrten angestrengt in die Dunkelheit. Alle wirkten sehr angespannt und die meisten Hände umschlossen ihre Waffen. Auch Barrns Hand war zu seinem Schwert geglitten und er machte eine befehlende Geste zu Skat hin. Der Diener stand wortlos auf und verschmolz mit der Dunkelheit. Wenig später kam er kopfschüttelnd zurück. »Ich habe nichts Verdächtiges finden können.«

Barrn entspannte sich etwas, ließ aber sein Schwert immer noch nicht los. Ein spitzer Schrei durchbrach die Stille. Barrn sprang auf. »Fayn«, brüllte er aufgebracht und lief zu der Gestalt, die am Boden lag. Lilith folgte ihm in einigem Abstand. Was sie sah, machte ihr Angst. Fayn lag auf dem Boden, den Kopf in beide Hände gestützt und stöhnte. Barrn beugte sich über sie und drehte sie auf den Rücken. Lilith prallte zurück. Auf Fayns Stirn war ein leuchtendes Auge erschienen, das genau sie fixierte. Der Wari wandte sich mit gefasster Miene an Lilith: »Geh zurück in den Wagen und bleib dort mit Harukan, bis ich dich rufen lasse. Wenn du versuchst zu fliehen, werde ich dich wiederfinden und dann wirst du mich kennenlernen, hast du mich verstanden?«

Lilith nickte beklommen, konnte ihren Blick aber nicht von Fayn und diesem Auge losreißen, welches sie immer noch anglubschte.

»Geh jetzt«, schrie Barrn sie wütend an, als sie immer noch regungslos und wie hypnotisiert da stand.

Mühsam riss sie sich von dem gespenstischen Schauspiel los. Sie musste nicht lange nach Harukan suchen, denn er stand genau neben ihr. Der Junge klammerte sich an ihre Hand und schluchzte: »Stirbt sie? Sie darf nicht sterben.«

Lilith, die ganz vergessen hatte, wie jung Harukan war, beugte sich zu ihm herunter und schlang ihre Arme um seinen zitternden Körper. Er drückte sich ganz fest an sie und Lilith konnte seinen Heilstein fühlen. Ihr Diamant fing in der Gegenwart des anderen Juwels an, zu glitzern und zu säuseln. Da lag der violette Heilstein vor ihr, schutzlos, hilflos … leicht zu überwältigen …

Lilith löste rasch die Umarmung und versuchte, die bitterbösen Gedanken, die sie gerade gehegt hatte, zu verdrängen. Harukan war ihr Freund. Sie nahm ihn bei der Hand und sie gingen gemeinsam zum Wagen zurück. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis Barrn zu ihnen kam.

Mit spröder Stimme forderte er sie freundlich auf: »Es ist wieder alles in Ordnung. Kommt mit, am Lagerfeuer ist es wärmer.«

»Geht es Fayn gut?«, wollte Harukan aufgebracht wissen und seine Stimme überschlug sich vor Aufregung.

 Der Sklavenhändler bedachte Harukan mit einem warmherzigen Blick. »Ja, ihr geht es gut. Aber ihr Stein ist sehr mächtig und manchmal fehlt es Fayn einfach an Kraft, gegen ihn ankämpfen zu können. Die Heilung von Liliths Wunden muss sie erschöpft haben. Du musst wissen, kleiner Diamantaner, dass nur wenige Feen überhaupt einen Stein besitzen und wenn können sie ihn kaum bezwingen.«

Lilith hielt das nicht für die ganze Wahrheit, was Fayns Zustand betraf, schließlich erklärte es nicht, was gerade passiert war, aber wenn Barrn es ihnen nicht erzählen wollte, würde er es auch nicht auf ihr Nachfragen hin tun.

So stapften sie schweigend durch den Sand zum Feuer hin. Fayn saß in eine Decke gehüllt. Sie wirkte blass, erschöpft und ihr Haar hing ihr wirr vom Kopf. Harukan stürmte auf sie zu, und wenn Skat ihn nicht aufgehalten hätte, hätte er sie wohl umgerannt.

»Fayn«, rief er völlig aufgelöst und umarmte sie. »Ich hatte solche Angst um dich.«

Lilith runzelte die Stirn, sie konnte nicht verstehen, was die beiden so verband. Trotzdem überkam sie ein neidisches Gefühl, dass Harukan jemanden gefunden hatte, dem er vertrauen konnte.

Sie setzte sich neben Barrn in den Sand, knapp neben die Glut des Lagerfeuers und drehte ihr Gesicht der Wärme entgegen.

Unvermittelt, aus einer Laune heraus, fragte sie ihn: »Können Steine andere Steine töten?«

Perplex hob Barrn seine Augenbrauen. »Wie kommst du auf eine solche Frage?«

Lilith zuckte mit den Schultern. Der Krieger fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. »Ein Kriegerdiamant braucht Blut, ein Heilstein braucht Wunden, um zu wachsen. Kein Stein braucht einen anderen Stein, um zu gedeihen«

  Lilith zeichnete mit dem Zeigfinger kleine Kreise in den Sand. »Hmm. Also begehren Steine keine anderen Steine?«

Barrn wischte mit seiner Hand ihre Sandkreise fort. »Nein, soweit ich weiß nicht. Warum hast du mich das gefragt?«, wollte er beunruhigt wissen. »Hat es etwas mit deinem Juwel zu tun?«

Lilith schüttelte hastig den Kopf und Barrn atmete geräuschvoll aus. »Ich denke, wir sollten uns jetzt alle schlafen legen. Es war ein anstrengender Tag. Sammle den kleinen Quälgeist ein und geh zum Wagen.«

Sie stand unbeholfen auf, so steif war sie trotz des Feuers gefroren. Sie schüttelte ihre Glieder aus, streckte sich noch einmal und begab sich dann zu Harukan, der sich an die Fee gekuschelt hatte. Ein schmerzlicher Stich ging durch Liliths Herz und sie fühlte sich plötzlich sehr einsam, als sie die beiden in einer so vertrauten Haltung vorfand. Sie zögerte kurz, bevor sie Harukan auf die Schulter tippte. »Wir sollen in den Wagen zurückgehen, los komm.«

Der Junge zuckte mit den Schultern, warf Fayn eine neckische Kusshand zu, was die Fee mit einem Kichern quittierte, und folgte Lilith zum Wagen.

Sie legte sich sofort auf den Boden, rollte sich in die löchrige Decke und wandte Harukan den Rücken zu. Doch er zupfte an ihren Haaren und seine helle Stimme ertönte über ihrem Kopf: »Du? Schläfst du schon?«

»Wie denn? Du lässt mich ja nicht schlafen. Hast du das bei deinem früheren Herren auch gemacht?«

Ein unangenehmes Schweigen trat ein, was Lilith dazu veranlasste, sich umzudrehen und nach Harukan zu sehen.

Der spöttische Ausdruck, der sich sonst in seine Augen eingenistet hatte, war vollkommen verschwunden und sein Gesicht wirkte ernst und verschlossen.

»Es tut mir leid. Er war wohl nicht sehr gut zu dir?«

Der Junge rettete sich in ein unbeholfenes Lächeln. »Ach. Es war nicht so schlimm.«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Magst du darüber reden?«

Der Junge strich sich über seine Haare, dann drehte er Lilith den Rücken zu und murmelte: »Lass uns schlafen. Ich bin müde.«

Lilith fühlte den Schmerz, der von dem Jungen ausging, aber sie war klug genug, nicht weiter nachzufragen.

Sie hatte das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, so müde war sie, als eine Hand sie wachrüttelte.

Sie stieß nach der Hand und versuchte, sie wie ein lästiges Insekt zu verscheuchen. Für einen Moment setzte das Rütteln aus, dafür erscholl ein leises Lachen. »Hey Mädchen, steh auf.«

Mit einem Schlag war Lilith wach und von der männlichen Stimme verwirrt, starrte sie in zwei braune Augen, die sie amüsiert musterten.

  Sie brauchte einige Zeit, um zu begreifen, wo sie war und wer dieser Mann vor ihr war.

Doch die Erinnerung kehrte schneller zurück, als ihr es lieb war und sie bereute es schon, die Augen aufgemacht zu haben. »Barrn?«

Er reichte ihr die Hand. »Komm mit«, forderte er sie auf und sie warf die Decke weg und folgte ihm aus dem Wagen.

Sie waren noch nicht weiter gereist. Die Sonne begann gerade erst aufzugehen und tauchte alles in ein gleißendes Licht. Lilith schätze, dass sie wohl einige Zeit geschlafen haben mochte, trotzdem fühlte sie sich unglaublich müde.

Zu ihrer Überraschung hielt er ihr plötzlich ein kleines Schwert unter die Nase.

»Was …?«, stotterte Lilith, die im ersten Moment befürchtet hatte, Barrn würde sie nun doch töten.

Der Krieger hob beschwichtigend seine Hände. »Es ist immer nützlich, in der Wüste eine Waffe zu haben. Möchtest du es haben?«

  »Ja natürlich will sie es haben, nämlich um dir den Hals durchzuschneiden«, sagte eine missbilligende Stimme hinter Lilith.

Sie drehte sich um und schaute direkt in das erboste Gesicht von Skat.

»Ist das nicht sehr einfältig, diesem Gör eine Waffe anzuvertrauen?«, knurrte er weiter und stemmte seine Hände in die Hüfte.

Barrn warf das Schwert Skat zu. Dieser reagierte geistesgegenwärtig und fing es geschickt auf. Der Diener runzelte die Stirn und sah verständnislos auf das Schwert in seinen Händen nieder. »Ja?«

Barrn deutete mit unbewegter Miene auf das Schwert und dann auf Lilith. »Du bist ein ausgezeichneter Kämpfer, du wirst sie unterrichten.«

Skat wurde bleich und man sah ihm an, wie er seinen Zorn hinunterschlucken musste. »Was

Barrn nickte nur wieder und Skats Stimmung nahm weiter rapide ab. »Warum so umständlich?«, wollte er verdrießlich wissen. »Wenn du unbedingt sterben willst, kann ich dich auch umbringen, dafür müssen wir ihr keine Waffe und keinen Unterricht geben.«

»Skat«, schimpfte Barrn. »Du bist unmöglich.«

»Ist doch wahr«, maulte der Krieger. »Sie wird es nur nutzen, um uns zu verletzten. Ich sehe keinen Grund, warum wir ihr Kampfunterricht geben sollte. Außerdem …«, er verzog seine Mundwinkel belustigt nach oben. »Sieht sie mir aus wie ein Trampel. Da wird alle Mühe umsonst sein.«

Barrn seufzte auf und rieb sich über seinen Nasenrücken, dann schüttelte er den Kopf. »Wir brauchen jeden, der ein Schwert führen kann, falls Wüstenräuber angreifen sollten. Du weißt, was Fayn gesagt hat, oder?«

Skat schnaubte ärgerlich. »Fayn ist eine Hexe, wer weiß, ob sie die Wahrheit sagt. Ich vertraue ihr nicht.« Seine Augen glitten unschlüssig zwischen dem Schwert und Lilith hin und her, als wäre er nicht sicher, was er jetzt tun sollte. Barrn trat einen Schritt auf Skat zu. »Fayn hat uns nie belogen und jetzt tu, was ich dir sage.«

»Aber ...«, setzte Skat noch einmal an, doch die hochgezogenen Augenbrauen seines Herrn ließen ihn verstummen und er nickte nur ergeben. »Wie du wünschst.«

»Danke Skat«, sagte Barrn und ließ eine ratlose Lilith und einen wütenden Skat zurück.

Aber sie blieben nicht lange alleine, denn Harukan, der die Szene aus sicherer Entfernung beobachtete hatte, kam nun aufgeregt herangetrippelt. »Skat. Bringst du mir auch etwas bei?«

Skat sah auf den kleinen Jungen hinab, der erwartungsvoll zu ihm aufblickte, dann drehte er mit einer blitzschnellen Bewegung das Schwert und ließ die stumpfe Breitseite auf Harukans Rippen niedersausen.

Der Junge keuchte auf, umschlang mit beiden Armen seinen Oberkörper und sank nach Atem ringend auf die Knie. Skat baute sich über dem Getroffenen auf. »Erste Lektion, lass nie die Waffe deines Gegners aus den Augen. Es könnte deinen Tod bedeuten.«

Harukan wischte sich schnell über die Augen, dann richtete er sich wieder mühsam auf und zog sein braunes, altes Hemd hoch. Die Kante des Schwertes hatte einen roten Streifen hinterlassen, der sich an einigen Stellen schon blau verfärbte.

»Hätte ich mit der scharfen Seite zugeschlagen, hätte ich deinen Lungenflügel fein säuberlich durchtrennt. Hübsch, nicht? Und ich hätte nicht einmal meinen Stein gebraucht.«

In den Augen des Jungen blitze es kampflustig auf und seine Finger krallten sich in seine Handfläche, sodass die Knöchel weiß hervortraten.

Skat entging dieser Umstand nicht, und als sich der Junge mit einem Schrei auf ihn werfen wollte, machte er einen behänden Sprung zur Seite, riss aber gleichzeitig die Scheide seines Schwertes hoch. Harukan durch seinen eigenen Schwung unfähig zu bremsen, prallte mit voller Wucht gegen das harte Metall. Schluchzend hielt er sich die Nase, drehte sich um und rannte davon.

Skat sah ihm lange nach, dann drehte er sich mit einem Ruck wieder Lilith zu, warf ihr das kleine Schwert hin und zog sein eigenes aus der Scheide. »Jetzt zu dir. Aus Rücksicht auf Barrn und nicht aus Mitgefühl dir gegenüber werde ich nicht die Kraft meines Steines nutzen. Du dagegen bist frei, deinen Stein, wie es dir beliebt, zu verwenden. Aber ich denke, dein Stein wird genauso nutzlos sein wie du.«

Lilith versuchte, ihr Zittern zu verbergen, als sie nach dem Schwert im Sand griff. Ihr war alles andere als wohl zumute, denn sie hatte kein Bedürfnis, so wie der arme Harukan zu enden.

»Du siehst es aber nicht zufällig als Chance, um mich loszuwerden, oder?« fragte sie ihn argwöhnisch.

Skat rümpfte die Nase und verzog beleidigt seinen Mund. »Das würde mir Barrn sehr übel nehmen. Schließlich hat er viel Geld für dich bezahlt. Eigentlich zu viel Geld. Aber er hat es sich in den Kopf gesetzt, dich dorthin zu bringen.« Skat zuckte mit den Schultern. »Und ich frage nicht mehr nach seinen Beweggründen. Das habe ich schon vor langer Zeit aufgegeben.«

»Wohin bringen?« Lilith war hellhörig geworden, wenn sie schon von Barrn nichts erfuhr, vielleicht dann von seinem Diener.

Statt einer Antwort machte der Mann einen Ausfallschritt nach vorne und die Spitze seines Schwertes riss einen blutigen Kratzer in Liliths Oberarm.

»Hast du denn vorher nicht aufgepasst? Lasse nie das Schwert deines Gegenübers aus den Augen«, schrie Skat sie an und vollführte eine weitere schwungvolle Bewegung. Die flache Seite des Schwertes traf sie am Oberschenkel und ihr Bein knickte unter dem ungewohnten Druck weg. Sie fiel rücklings wie ein hilfloser Käfer in den heißen Sand. Bevor sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, war Skat schon bei ihr und rammte ihr seinen Schwertknauf in den Magen.

Lilith stöhnte auf. Ihr wurde unglaublich schlecht und sie rang gequält nach Atem. Ihr kam es vor, als würde ein Riese auf ihrer Brust sitzen und ihr alle Luft aus den Lungen quetschen.

Etwas Kühles, Spitzes bohrte sich unter ihr Kinn und zwang sie, den Kopf zu heben. Skat hatte seine Schwertspitze unter Liliths Kinn geschoben und seine Stimme klang kalt, als er sagte: »Schach matt. Du hast dein Leben verloren.«

Er entfernte sich ein paar Schritte und ließ ihr Zeit, sich wieder zu erheben. Dann nickte er ihr zu, stellte sich breitbeinig vor ihr auf und richtete sein Schwert auf sie. »Benutze deinen Stein, du Esel. Versuch es wenigstens«, brüllte er sie an.

Sie probierte es, doch ihr Diamant glühte nur widerwillig auf. Sie riss mit aller Kraft ihr Schwert hoch und fing den Hieb von Skat nur mit Müh und Not ab.

Ihr kam es so vor, als würde ihre Waffe Tonnen wiegen, und Skat verstärkte seinen Druck auf ihr

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Tajell Robin Black
Bildmaterialien: Tajell Robin Black
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2012
ISBN: 978-3-86479-294-6

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