Cover

*1*

 "Harry, bitte! Irgendwann bringe ich dich um, glaub's mir. Ja, ich bin morgen früh da und ja, ich weiß, ich bin die Beste, aber jetzt lass mich bitte in Ruhe, ich habe eh schon wenig Zeit!", schnauzte ich ins Telefon und legte genervt auf.

Irgendwann würde mich dieser Mann noch ins Verderben stürzen. Genervt legte ich mein Handy wieder auf den Nachttisch.  Es war zwei Uhr nachts, ich war in Berlin und sollte morgen früh, um 8 Uhr, für einen Termin in Stuttgart sein. Man brauchte für die Fahrt acht Stunden, mindestens, und ich hatte nur sechs. Ich weiß nicht, wie mein Chef sich das vorstellte, aber darüber hatte er sich wahrscheinlich noch nicht einmal Gedanken gemacht. Ganz zu meinem Ärgernis. Denn wenn ich eines hasste, waren es schlecht durchdachte Pläne und zu wenig Zeit. Ich war in den letzten Tagen geschäftlich in Berlin unterwegs gewesen. Einer meiner Klienten hatte gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen und ich musste deswegen einiges mit der Staatsanwaltschaft klären. Und als ob der Tag nicht schon nervenaufreibend genug gewesen wäre, sollte ich heute um 8 Uhr morgens, einen neuen Klienten, einen dicken Fisch, wie ihn Harry nannte, in Empfang nehmen, weil dieser ausdrücklich nach mir verlangt haben soll. Wieso wusste ich auch nicht.

  Ach, Harry. Harry, eigentlich Harald, war mein, etwas zu dicklicher und auch etwas zu kleiner, Chef, der einen ausgeprägten Sinn für Humor hatte und eine Leidenschaft für gutes Essen. Eigentlich war er nicht der Typ Mann, den man sich als Anwalt vorstellte, wenig redegewandt und nicht sehr überzeugend, doch wenn er vor Gericht stand, erkannte man ihn nicht wieder. Er war der beste Anwalt, den ich kannte und deswegen hatte ich mich nach meinem vollendeten Jura Studium auch für seine Kanzlei entschieden. Ich weiß, dass ich mich für seine Kanzlei entschied und nicht er sich für mich hörte sich komisch an, doch genauso war es gewesen. Denn als ich sein Büro betrat und mich vorgestellt hatte, kam eine für Vorstellungsgespräche typische Frage. Ich kann mich noch gut erinnern. Er saß in seinem Sessel, hinter ihm schien die Sonne durch die Fensterfront, und versuchte halbwegs sicher und selbstbewusst zu wirken. Er überkreuzte seine Hände und dann kam die Frage: „Warum haben sie sich denn genau bei uns beworben?“.

Und meine einfache Antwort war: „Ich habe mich nicht bei ihnen beworben, ich habe mich für sie entschieden.“

Sein Gesicht daraufhin war unbezahlbar und ich musste heute noch schmunzeln, wenn ich daran dachte. Aber etwas später hatte er mir erzählt, dass er mich genau wegen diesem Satz eingestellt hatte, denn in diesem Moment hatte ich seiner Meinung nach so vor Selbstsicherheit  gestrotzt, dass ich einem Analphabeten eine zwölf gliedrige Enzyklopädie hätte verkaufen können. Das meinte zumindest er.  Nun, ein Jahr später, genoss ich den Ruf eine der besten Anwältinnen in seiner Kanzlei zu sein und das hatte ich allein Harry zu verdanken. Er hatte mir in diesem Jahr alles gelehrt, was er wusste und somit gewann ich Fall für Fall, von Anfang an, oder ich verschaffte meinen Klienten eine Verurteilung weit unter dem vorhergesehenen Strafmaß. Und das machte mich stolz. Ich liebte meine Arbeit und lebte für sie. Das war wahrscheinlich auch einer der Gründe, oder der Grund überhaupt, warum ich im Moment keine feste Beziehung hatte. Denn zwei Dingen das gleiche Maß an Aufmerksamkeit zu schenken, war unmöglich und die Arbeit kam eben nie an zweiter Stelle.

 Ich hatte in Eile meine Koffer gepackt, denn eigentlich wollte ich frühestens um 11 Uhr losfahren. Doch durch Harrys nächtlicher Planänderung stand ich schon um drei Uhr nachts an der Rezeption, hatte meine Rechnung bezahlt, meine Koffer im Auto verstaut und bin mit den durchdrehenden Reifen meines Babys, einem 5er BMW, vom Kiesparkplatz gejagt. Zehn Minuten und drei rote, erfolgreich ignorierte, Ampeln später, fuhr ich endlich auf die Autobahn in Richtung Heimat. Gott sei Dank war die Autobahn frei. Ich ließ den Motor aufheulen, schaltete einen Gang höher und preschte in die Nacht davon. Für diese Aktion würde ich mich schon irgendwie rächen können, dachte ich mir schadenfroh und fing an zu grinsen.

  Vier Stunden später  und etliche Kilometer weiter, bremste ich erschöpft  ab und setzte den Blinker, um auf den, nur 500 Meter entfernten, kleinen Parkplatz, 25 km vor Nürnberg einzubiegen. Keine Tankstelle, keine Toiletten, das hieß auch keine störenden Menschen. Ich war ein Morgenmuffel und wenn mich jemand weckte, hatte ich grundsätzlich schlechte Laune. Ich war aber auch eine Workaholic und das hatte im Moment eben Vorrang. Langsam kam das Auto zum Stehen und ich parkte galant auf einem Parkplatz - da sollte doch mal jemand sagen, dass Frauen nicht parken könnten. Könnte aber auch daran liegen, dass kein anderes Auto weit und breit zu sehen war und ich somit genug Platz hatte, um mich nicht schief hinzustellen.  Ich schaltete den Motor aus, stieg aus dem Auto, bewegte meine Beine, die schon langsam einzuschlafen schienen, und schloss das Auto per Knopfdruck zu. Ich streckte mich einmal und ließ ein herzhaftes Gähnen aus meiner Brust erklingen. Abgespannt ließ ich meine Schultern hängen, ja auch Workaholics brauchten ihren Schlaf. Müde strich ich mir über die Augen und beschloss mir die Beine zu vertreten.

 Nachdem ich mich 15 Meter von meinem Auto entfernt hatte, geriet ich ins Stocken. Ich sah, wie sich zwei Schatten, etwa 30 Meter von mir entfernt, schemenhaft bewegten. Soweit ich erkennen konnte, waren es zwei Männer. Doch das hatte mich nicht zum Stehen bleiben gezwungen. Es war das, was sie taten. Sie trugen einen dritten Menschen, soweit ich erkennen konnte, eine Frau, die  sich nicht bewegte, an Armen und Beinen in Richtung Wald. Meine verdammten, weiter vererbten Gene, ließen mich den Männern folgen. Ich weiß bis heute trotzdem nicht, welche meiner Synapsen falsch geschalten hatte, sodass mein Gehirn nicht im geringsten die Gefahr dieser Situation erkannte oder mir den Tipp gab, sich wenigstens das Nummernschild einzuprägen. Ich glaube, das war einfach eine pure Instinkthandlung, denn anders könnte ich mir das Vergessen so wichtiger Dinge nicht erklären. Sie luden den leblosen Körper im Wald auf dem Boden ab. Ich war ihnen mit einem sicheren Abstand gefolgt und sie hatten mich nicht bemerkt. Konzentriert hielt ich meine Atmung flach und versteifte mich hinter einem Baum, der mir Schutz bot. Die Männer verließen nach ungefähr fünf weiteren Minuten den Wald und nachdem ich Autotüren zuschlagen hörte, wagte ich mich aus meinem Versteck, um nach der Frau zu sehen, ohne auf ein Aufheulen des Motors zu warten. Vielleicht konnte man ihr noch helfen. Schnellen Schrittes, nicht darauf achtend, wie laut ich war, ging ich zu der Frau und beugte mich über sie, um ihren Puls und ihre Atmung zu kontrollieren. Beides war nicht mehr vorhanden. Zitternd zog ich meine Hand von der Leiche weg. Das erste Mal in meinem Leben sah ich eine Leiche vor Ort. Tote Menschen auf Bildern zu sehen, war für mich nie ein Problem gewesen, doch eine Leiche zu sehen, deren Haut noch warm war, war zu viel des Guten. Zittrig strich ich mir meine blonden Haare aus dem Gesicht, um sie besser anschauen zu können. Als ich dies tat musste ich an mich halten, um mich nicht zu übergeben. Sie war übel zugerichtet, Blutergüsse an den Handgelenken und einige Prellungen im Gesicht. Ich wollte nicht wissen, was sie durchgemacht haben musste und ihre Geschichte sicherlich nicht selbst durchleben. Auch die aufgeplatzte Lippe und die unnatürlich gekrümmten Finger zeugten nicht von einem friedlichen ausscheiden. Doch noch schlechter wurde mir, als ich erkannte, wer da vor mir lag. Yvanna Legores. Das gesuchte Mädchen, welches nie gefunden wurde. Gerüchten nach wurde sie von einem gut organisiertem Mörder entführt, den niemand kannte, weil keines seiner Opfer je wieder sprechen konnte. Nachdem, was diese Mädchen erlebt hatten, konnten sie wahrscheinlich froh sein tot zu sein. Das hörte sich vielleicht herb an, doch niemand könnte sich je von den körperlichen Schäden erholen, ohne von den seelischen aufgefressen zu werden.

Sie war die Hauptfigur in meiner Abschlussarbeit gewesen. Ich stütze mich an dem Baum neben mir ab und übergab mich nur ganz knapp neben Yvannas Kopf. Angeekelt wischte ich mir mit dem Handrücken über den Mund. Es war Ewigkeiten her, dass sie entführt wurde. War sie wirklich die ganze Zeit gefangen gewesen? Erschrocken stellte ich fest, dass die Polizei sie noch hätte finden können, hätten sie nicht den Fall schon vor langer Zeit den Akten der ungelösten Fälle beigelegt.  Man hätte sie finden können, sie hätte leben können. Ein eiskalter Schauer lief mir den Rücken herunter.  Mir war so, als hätte ich sie schon Ewigkeiten gekannt und nicht heute zum ersten Mal im Leben gesehen. Mir zitterten die Knie und nur schwer konnte ich die Tränen unterdrücken, die sich ihren Weg in meine Augen bahnten.

 Plötzlich schlang sich ein muskulöser Arm um meinen Bauch und ein anderer um meinen Hals. Mit einer stählernen Härte und Kraft wurde mir die Luft aus den Lungen gepresst und ich spürte, wie mir schwindelig wurde. Erschrocken zappelte ich umher, wie ein Fisch an der der Angel, und versuchte mich aus den Armen des Mannes hinter mir zu befreien. Wie hatte ich ihn nicht kommen hören können? Erst jetzt viel mir der im Mondlicht schimmernde Schlüssel neben Yvanna auf. Ich versuchte nach ihm zu treten, doch es brachte nichts, er  hielt mich fest, als würde er mein Rumgezappele noch nicht einmal spüren.

"Das ist wirklich kein schöner Anblick", raunte er mir mit tiefer und kratziger Stimme ins Ohr. „Kein Wunder, dass du dich da übergibst. Komm, ich befreie dich von dem Anblick."

Und zehn, kaum merkliche Sekunden später, hielt er mir ein weißes Baumwolltuch vor Nase und Mund. Meine Sicht verschwamm und ich sackte in seinen Händen zusammen. Mein Gehirn verabschiedete sich Stück für Stück und ich konnte nichts dagegen tun.

Rohypnol, schoss es mir nur durch den Kopf, bevor ich vollkommen das Bewusstsein verlor.

*2*

Mit vor Schmerz pochendem Kopf öffnete ich langsam ein Stück weit die Augen. Verdutzt darüber, nicht vom hellen Licht des Tages geblendet zu werden, öffnete ich sie ganz und sah mich um. Und ich sah nichts. Es war stockfinster. Ich hob meine Hand vor mein Gesicht, doch ihre Umrisse konnte ich höchstens erahnen. Mein Schädel dröhnte und drohte zu zerplatzen. Langsam zog ich meine Beine eng an meinen Körper, um auf dem Teppich zu bleiben, den ich, rau und kratzig, unter mir spürte. 

 Meine Augen schlossen sich wie von selbst, doch an schlafen konnte ich noch nicht einmal denken. Zu Vieles schwirrte mir durch den Kopf.  So etwas wie: Ich komme zu spät ins Büro. Das war völlig neu für mich, denn eigentlich kam eine Alexandra Liffert nie zu spät. Denn Pünktlichkeit war für mich das A und O. Im Allgemeinen war ich immer ein sehr durchgeplanter Mensch. Das Zweite, an das ich dachte war, dass ich ab jetzt wahrscheinlich zu keinem Termin mehr zu spät kommen würde. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken und mein Atmen wurde hektisch, wenn ich daran dachte, was mit den ganzen Mädchen im Wald passiert war. Mit großem Interesse hatte ich auch nach meiner Doktorarbeit diesen Fall verfolgt und wenn ich jetzt daran dachte, selbst eines seiner Opfer zu sein, würde ich mich am liebsten auf der Stelle selbst umbringen, bevor mir etwas geschehen würde. Warum musste ich auch zu Yvannas Leiche hinlaufen? Meine verdammten Gene hatten mich mal wieder  in eine gefährliche Situation gebracht. Diese Gene hatte ich von meinem Vater, er war Polizist gewesen, als er noch lebte. Er musste immer jeder Spur nachgehen und keine Gefahr war im zu groß. Genau das wurde ihm dann auch zum Verhängnis. Er wurde ermordet. Sein Mörder wurde zwar gefasst, doch freigesprochen weil der Staatsanwalt einfach keinerlei Durchblick hatte. An dem Tag schwor ich mir Anwältin zu werden. Wir hatten erst nach einigen Tagen gemerkt, dass etwas nicht stimme. Klar war er öfters über Tage weggeblieben, doch nie so lange wie damals. Ob Mum wohl schon etwas komisch vorkam, weil ich sie noch nicht angerufen hatte? Hatte Harry schon die Polizei alarmiert, weil ich immer noch nicht angekommen war?

 Ein heißeres Schluchzen rann aus meiner Kehle, doch Tränen flossen nicht - nicht mehr. Wenn ich nur daran dachte, wie Mum alleine auf dem Sofa saß und verzweifelt versuchte mich auf dem Handy zu erreichen, schnürte es mir die Kehle zu. Angeekelt schluckte ich meine eigene Spucke herunter, sie schmeckte nach Erbrochenem und ungeputzten Zähnen. Meine Kehle war so trocken, als hätte ich seit Jahren nichts mehr getrunken. Ich hörte Stritte von irgendwo her und anschließend schloss sich eine Tür. Das Geräusch der aufkommenden Sohlen war nicht mehr weit von mir entfernt, es wurden lauter. Angst loderte in mir auf, Angst vor dem, was mit mir passieren würde und Angst vor der Person, die gerade die Tür öffnete. Grelles Licht fiel ins Zimmer und ich kniff die ohnehin schon geschlossenen Augen noch mehr zusammen, zu stark waren die Kopfschmerzen, die das Licht auslöste. Ich versuchte mich aufzurichten und in eine Ecke zu schleifen, doch ich konnte mich kaum bewegen. Das Rohypnol war noch in meinem Körper. Leise hörte ich den Mann im Türrahmen atmen. Meine Muskeln waren zum Zerreißen angespannt und mein Herz schlug dreifach so schnell, wie normalerweise. Nur ein leichtes Rascheln von Kleidung verriet mir, dass sich mir jemand näherte. Schritt für Schritt. Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt. Und die hatte er. Er wusste, dass ich keinen Ausweg hatte, ihm nicht entkommen konnte. Mit jedem Schritt den er näher kam verkrampfte ich mich mehr und jedes Aufkommen seiner Schuhe auf dem Boden ließ mich zusammen zucken. Noch nie in meinem Leben hatte ich solch eine Angst verspürt. Vor meinem Gesicht kamen die Füße zum Stehen und ich konnte schon beinahe spüren, wie er mich gierig anschaute. Langsam öffnete ich die Augen. Stück für Stück, um das einfallende Licht erträglicher zu machen. Den Kopfschmerz ignorierend, schaute ich zu ihm hoch, doch das Licht reichte nicht, um sein Gesicht sehen zu können. Es war, als würde das Licht sich nicht trauen, es zu erhellen, um die dunkle Aura nicht zu verscheuchen, die ölig und träge um ihn floss und ihn gänzlich einhüllte. Er war riesig. Er wäre sicherlich zwei Köpfe größer als ich gewesen, hätte ich gestanden. Meine Körper zitterte bereits wie Espenlaub. Vor lauter Panik vergaß ich sogar das Atmen. Ich hatte Angst vor dem, was er machen würde, denn dass er etwas vorhatte, war mir schon klar gewesen, als ich den ersten Laut von ihm vernommen hatte. Langsam kniete er sich zu mir herunter. Seine große, raue Hand legte sich hart um mein Kinn. Er schaute mir ins Gesicht und grinste dreckig. Schwungvoll stieß er mein Kinn zur Seite und meine langen, blonden Haare flogen mir ins Gesicht.

"Steh auf" flüsterte er in meine Richtung, seine Stimme war heißer und nur ein raues Kratzen. Doch auch, wenn diese Worte kaum ausgesprochen waren, schüchterten sie mich mehr ein, als alles, was ich jemals gehört hatte. Verzweifelt versuchte ich aufzustehen, doch es ging nicht. Meine Beine wollten mir nicht gehorchen.

"Steh auf, habe ich gesagt!", meinte er schon etwas lauter.

Ich befürchtete, dass er mich windelweich prügeln würde, wenn ich seinem Befehl nicht nachkam, also versuchte ich mich aufzurichten. Ich stützte die Hände auf den kalten Boden und steckte alle Kraft in meine Muskeln, die ich auftreiben konnte. Doch ich schaffte es nicht. Ich war noch zu betäubt.

 „Ich… Ich kann … nicht“, wisperte ich.

Es war anstrengend zu sprechen. Meine Stimmbänder fühlten sich an, als währen sie gehobelt worden und mein Mund war so trocken als würde ich große Mengen von Staub einatmen.

 Er schnaubte. Seine Hände verkanteten sich in meinen Haaren und er zog mich daran hoch. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich.

"Wenn ich sage steh auf, dann stehst du auf. Egal wie", flüsterte er mir ins Ohr.

Sein Atem ließ mich erzittern. Jedoch nicht vor Erregung, sondern vor Angst. Wenn nicht sogar vor Purer Panik. Eingeschüchtert nickte ich. Grob stieß er mich gegen die Wand und drückte sich gegen mich. Deutlich konnte ich seine Erregung an meiner Hüfte spüren. Mit seinen großen Händen führ er meine Kurven nach. Starr stand ich da und versuchte mich nicht zu wehren. Denn, wenn ich das tun würde, käme es nur noch schlimmer. Er war ein Triebtäter und Gegenwehr stachelte ihn nur noch mehr an. Er umfasste meine Brüste und drückte schmerzlich zu. Ich wimmerte auf. Er lachte.

"Das gefällt dir, nicht wahr?", raunte er, während er mit seinem Knie gewaltsam meine Beine auseinander schob.

Meine Hände hielt er mit einer Hand über meinen Kopf. Die andere ging auf Tuchfühlung. Ekel stieg in mir hoch, Verzweiflung und Wut. Noch nie hatte ich mich benutzen lassen. Nicht auf diese Weise. Doch er hatte wohl andere Pläne. Mit einem kräftigen Ruck zerriss er mein Oberteil. Das Geräusch ließ mich aufschrecken. Der BH folgte ebenso schnell. Vor Verzweiflung fing ich an zu weinen. Mir wurde übel und immer wieder musste ich würgen. Ich konnte seinen übelriechenden Atem auf meiner Haut spüren und er fühlte sich an wie Dreck, der mich bei jeder Berührung beschmutzte. Er konzentrierte sich  auf meinen Oberkörper. Er ließ sich alle Zeit der Welt. Denn er hatte Zeit und ich sollte leiden.

 Er neigte seinen Kopf zu meinen Brüsten herunter. Panisch fing ich an meinen Oberkörper hin und her zu bewegen um seinem dreckigen Mund auszuweichen, doch das erregte ihn nur noch mehr. Denn, dass seine Erregung wuchs, konnte ich spüren. Unsanft drehte er mich mit dem Gesicht zur Wand und presste es grob dagegen. Es tat weh. Ekelerregend leckte er den äußeren Teil meiner Ohrmuschel und sein unruhiger Atem peitsche gegen meine Haut. Ohne Vorwarnung stieß er mich zu Boden. Mein Gesicht knallte auf den kalten Beton und kleine Steine fraßen sich in meine Haut. Erbarmungslos zog er an meiner Hose. Ich versuchte mich zu wehren doch es half nichts. Er war so viel stärker als ich. Meine Tränen waren versiegt. So schnell sie gekommen waren, waren sie auch schon wieder weg.

Mir war kalt und ich zitterte am ganzen Körper. Völlig entblößt lag ich nun vor ihm. Rücksichtlos streckte er meine Arme nach hinten durch. Mein Gesicht verzog sich zu einer schmerzverzerrten Fratze, als er sich teils auf mich legte. Er entledigte sich seiner Hose und ich fing an zu schreien er möge aufhören. Ich wand mich unter ihm doch es brachte nichts. Ich versuchte ihn zu beißen, doch sein Fleisch war außerhalb meiner Reichweite. Schmerzhaft spreizte er wieder meine Beine bis zum Anschlag. Und versengte sich, ohne zu zögern, in mir. Ich schrie auf. Laut und grell. Das war der heftigste Schmerz, den ich je in einem Leben gefühlt hatte.

 Ungestüm bewegte er sich in mir und jede noch so kleine Bewegung schmerzte höllisch. Ich war nicht feucht, doch das schien ihn nicht zu stören. Unbeirrt stieß er immer und immer wieder kräftig zu. Ich wehrte mich, verkrampfte mich, doch es brachte rein gar nichts. Es führte nur dazu, dass es nur noch mehr wehtat. Tränen flossen mir wieder über die Wangen, und heißere Töne drangen über meine Lippen. Mit einem Stöhnen kam er in mir und zog sich wieder aus mir heraus. Er drehte mich auf den Bauch und beugte sich über mich. Hart umfasste er meinen Hintern und leckte über meinen Hals. Er wand sich von mir ab, zog sich die Hose wieder an und verließ den Raum schneller, als er ihn betreten hatte.

  Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, fingen die Tränen an, wie Sturzbäche über mein Gesicht zu laufen. Ein schmerzverzerrtes Schluchzen erfüllte den Raum und heftige Krämpfe schüttelten mich. Vorsichtig bewegte ich meine Arme und  versuchte mich aufzurichten, doch ich konnte nicht einmal Sitzen. Ein stechender Schmerz durchzuckte meinen Unterleib und ich legte mich wieder hin. Nur noch ein heißes, schmerzhaftes Pochen war zwischen meinen Beinen zu spüren. Ich fühlte mich benutzt und dreckig, doch am meisten leer. Ja, eine seltsame Leere nahm Besitz von mir und ich wusste, dass nichts mehr so werden würde, wie früher. Hatte ich noch vor ein paar Minuten gehofft, das alles zu überleben, hoffte ich jetzt so schnell wie möglich zu sterben. Sterben, um nichts mehr zu fühlen.

*3*

Mittlerweile hatte ich das Gefühl für die Zeit verloren. Eigentlich hatte ich jegliches Gefühl für irgendetwas verloren. Ich spürte nur noch den Schmerz und die Leere. Ich wusste nicht, wo ich war und wie lange schon, doch wusste ich, wie oft er mich schon vergewaltigt hatte. Siebzehn mal. Ich war sicherlich erst seit ein paar Tagen hier, doch ich kam mir vor, als  hätte ich seit Wochen nicht geduscht. Und so roch ich auch. Ich stank regelrecht. Ich ekelte mich vor mir selbst. Einige Male hatte ich versucht, mich zu wehren, vor allem nach dem ersten Mal, doch er hatte mich so heftig verprügelt, dass ich danach nicht einmal aufstehen konnte, wenn er es von  mir verlangte. Doch dann büßte ich nur noch mehr Schläge ein. Mein Gesicht war geschwollen und meine Haut übersät von Blutergüssen, da war ich mir sicher, selbst wenn ich sie nicht sehen konnte. Den Raum, der eher einem Rattenloch glich, bin ich immer wieder abgelaufen. Von der einen Wand zur anderen. Es befanden sich keine Möbelstücke, außer einem kleinen Teppich, im Zimmer und auch kein Lichtschalter. Der Boden war aus Beton. Der Teppich war feucht und roch nach altem, ranzigem Blut. Meinen gesamten Körper schmückten Schrammen. Meine Geschäfte musste ich in einer Zimmerecke erledigen, weswegen es hier noch höllischer stank. Essen oder Trinken bekam ich nur selten und wenn, dann waren es so kleine Portionen, dass ich sie innerhalb von 20 Sekunden verschlungen hatte. Das Urinieren war eine Qual und mein Bauch verkrampfte sich alle fünf Minuten zu einem schmerzhaften Klumpen. Und was ich da aß, wusste ich auch nicht. Es war weich, pelzig und roch komisch. Doch ich dachte lieber nicht darüber nach. Sonst würde es nur wieder raus kommen.

 Ermattet  und von Schmerzen gequält, lag ich auch jetzt wieder auf dem Boden. Er war gerade gegangen. Leise hörte ich Schritte der Tür näher kommen und die Leere, welche in mir bis zu diesem Zeitpunkt noch herrschte, wich der Angst.

 "Wunderschön", hörte ich ihn sagen. Er öffnete die Tür und Licht fiel ins Zimmer. Ich kniff die Augen zusammen und kämpfte gegen die Helligkeit an. Im Türrahmen stand er mit einem anderen Mann an seiner Seite.

 "Wenn du willst, kannst du sie ausprobieren und wenn sie dir gefällt, nimm sie mit", teilte er ihm mit, als wäre ich ein schäbiges  Stück Dreck und kein Mensch. Der Mann neben ihm schaute an meinem nackten Körper herab und nickte. Ich fühlte mich nackter und entblößter als jemals zu vor. Es reichte ihm nicht, mich selbst zu vergewaltigen, nein, er musste mich auch noch wie ein benutztes Spielzeug an seine Freunde weiterreichen. Ein großer Stein sackte in meinen Magen und meine um meinen Oberkörper geschlungenen Arme hörten nicht auf zu zittern.

 Nein, nicht noch einer, war mein einziger Gedanke, der Rest war wie weggefegt.

 Mein Entführer und Vergewaltiger schloss die Tür und der mir unbekannte Mann kam mit zielgerichteten Schritten auf mich zu. Ich lag auf dem Boden, zusammengekauert und verkrampft. Er kniete sich zu mir runter und schaute mir ins Gesicht. Sein warmer Atem streifte mein Ohr und lies mich erzittern. Er wollte mir über die Wange streichen, doch ich schreckte zurück.

  Er schüttelte den Kopf, stand auf und klopfte dreimal gegen die Tür. Mein Vergewaltiger öffnete sie von außen.

"Ich nehme sie", meinte der fremde Kerl und sie schlossen die Tür hinter sich.

 "Zieh ihr was an", hörte ich ihn noch sagen, bevor ihre Unterhaltung in einem Stimmengewirr endete. Er wollte mich hier raus hohlen. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Er brachte mich hier weg, schrie mein Verstand schon fast euphorisch. Aber wohin? Diese Frage hallte in meinem Kopf, wie ein Echo. Sie klang nach und nach und verstummte nicht. Vielleicht war das, wo er mich hinbringen würde, noch schlimmer, als diese Hölle hier?

 

 

*4*

Eine halbe Ewigkeit später kam mein Entführer wieder. Er forderte mich auf aufzustehen, ich schaffte es gerade so. Er kam auf mich zu und zog mich grob an der Hand aus dem Raum. Wir liefen einen langen Flur entlang, von dem ich aber nicht wirklich viel sah, da mich das Licht zu stark blendete. Ich hörte eine Tür aufgehen und unsanft stieß er mich in einen Raum. Ich hatte Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Zu wenig hatte ich in den letzten Tagen, oder vielleicht waren es auch Wochen, gegessen. Hinter sich schloss er die Tür und herrschte mich an, mich unter die Dusche zu stellen, selbst setzte er sich auf einen Stuhl mir gegenüber. Gierig fuhr er mit seinen kalten, brauen Augen über meinen Körper. Ich konnte schon fast körperlich spüren, wie er jeden Zentimeter meiner Haut in sein Gedächtnis aufnahm. Ekel stieg in mir hoch, während er sich mit seiner weißbelegten Zunge über die aufgeplatzten, spröden Lippen fuhr. Entschlossen kämpfte ich, gegen mein dringendes Bedürfnis mich umzudrehen, an. Denn lieber hatte ich ihn ihm Auge und sah was er tat, also ihm schutzlos meinen Rücken zuzuwenden. Langsam und vorsichtig ging ich rückwärts auf die Dusche zu. Die Luft roch nach tot und chlor. Wollte der andere Mann mich etwa doch nicht? Würde ich nun genauso enden wie Yvanna und meine Totenwäsche zu seiner Belustigung auch noch selber machen? Tränen der Verzweiflung traten mir in die Augen. Zermürbend war der Gedanke nicht zu wissen, wie es weiter geht, was mit mir passiert. Ein schweineähnliches Grunzen lies mich wieder in die Realität zurückkommen. Es sammelte sich Spucke in den Winkeln seiner Lippen. Mit vor Erregung tiefer Stimme befahl er mir, das Wasser aufzudrehen und sagte mir, dass ich mich selber streicheln solle. Deutlich konnte ich seine Erektion erkennen, die sich in seiner engen Jeans abzeichnete. Ungeduldig kratze er über seinen ungepflegten Bart, in welchem noch Krümel von Brot hangen. Als ich mit meinen Händen meine Brüste umfasste, ekelte ich mich vor mir selbst. Meinen geschundenen Körper selbst zu erkunden war eine Qual. Die herausstechenden Knochen unter den Handflächen zu spüren und zu merken, wie sehr mir dass alles auch körperlich zu gesetzt hatte, war zu viel des Guten. Wie Sturzbäche flossen mir die Tränen, vermischt mit dem modrig, trüben Wasser, das Gesicht herunter. Zufrieden grinsend, was seine gelben Zähne herausgucken lies, packte er seinen Schwanz heraus und holte sich einen runter. Nicht eine Sekunde hatte er den Blick von mir abgewandt. Nur schwer konnte ich seinen Blick ertragen. Einige Male hatte er die Tür offen gelassen, sodass ich sein Gesicht hatte sehen können. Die tiefen Falten auf der Stirn wenn er sich körperlich Anstrengte, die ungepflegten Nägel, welche gelb von den vielen Zigaretten war, nach welchen er immer roch, der kahl rasierte Schädel, auf dem der Schweiß wie ein Wasserfall lief, und die vielen Kratzer im Gesicht, wahrscheinlich Verewigungen seiner Opfer.  Als er kam, spritzte er auf den Boden. Bevor er ging, befahl er mir diese Schweinerei sauber zu machen, denn ich wäre ja schließlich dafür verantwortlich. Als er die Tür schloss,  atmete ich erleichtert aus. Jetzt wo er weg war, konnte ich die Dusche wenigstens etwas genießen.  Auch, wenn ich weder Shampoo, noch Duschgel hatte, war ich glücklich endlich wieder unter einer Dusche stehen zu können. Ich genoss das Wasser, wie es sanft meinen Körper hinunter lief, auch wenn es fürchterlich stank und wahrscheinlich mehr Schmutz auf meinen Körper auf- als abtrug. Denn das war die zarteste Berührung, die ich, seitdem ich entführt worden war, genossen hatte. Erschöpft wollte ich mich gegen die Fliesen fallen lassen, doch der Schimmel in den Fugen hielt mich davon ab. Nun konnte ich mich in Ruhe im Raum umsehen. Die schimmligen Fugen zogen sich durch den ganzen Raum und auf dem Boden lag hauchdünn Sand verteilt, welcher mich schon die ganze Zeit unangenehm in die Fußsohlen pikste. Die an der Tür hinterlassenen Kratzspuren ließen mir einen Schauer über den Rücken laufen, in einem von ihnen steckte ein abgerissener Fingernagel. In diesem Moment ging die Türklinge herunter und mein Entführer betrat den Raum. Er hatte Kleidungsstücke mitgebracht und forderte mich auf, aus der Dusche zu kommen. Erleichtert darüber, dass sich kein Messer in seiner Hand befand, und er mich somit auch nicht umbringen wollte,  folgte ich seiner Aufforderung.

 Er schmiss mir die Klamotten, die aus einem schwarzen BH, einem Tanga und Strapsen bestanden, vor die Füße. Hastig hob ich diese auf und zog mir Tanga und BH an. Schnell wischte ich mit einem Handtuch, das davor über der Handlehne des Stuhles lag, sein Sperma weg und hob die Strapsen auf. Langsam und mit zitternden Händen, rollte ich die Strümpfe nach oben und stand auf. Er wollte nach mir greifen, doch ich wich aus. Er holte aus und schlug mir ins Gesicht.  Augenblicklich fing meine Nase an zu bluten und mein Nacken knackte unheilvoll. Schmerz schoss in Kopf und Nase. Vorsorglich wollte ich das Bluten stoppen, doch er packte mich an den Handgelenken und unterband mein Vorhaben.

"Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht auszuweichen hast, wenn ich nach dir greife?!", fuhr er mich an.

Das hatte ich nicht vergessen. In den ersten Tagen, in welchen ich da war, hatte er mir deutlich und schmerzhaft klar gemacht, was passierte, wenn ich mich wehrte oder es gar wagte, ihm auszuweichen. Ich war mir sicher immer noch blaue Flecken von diesen Schlägen auf meiner Haut zu haben. Er wurde immer brutaler. Dieses Mal zog er mich nicht an meinen Armen hinter sich her, sondern direkt an den Haaren. Wir bogen in dem hässlich tapezierten Gang nach rechts und liefen auf eine Stahltür zu. Er stieß die Tür geräuschvoll auf und sofort schloss der eiserne Wind seine kalten Klauen um mich, denn es war Winter. Der Schnee knirschte unter seinen Sohlen, als er mich mit sich nach draußen zog, um mich mit Handschellen an die Tür zu ketten.

Wie ein elendig räudiger Köter, schoss es mir in den Kopf

"Je länger er braucht, umso schlechter für dich. Du bist verkauft, also nicht mehr mein Problem."

Mit dieser Äußerung ging er wieder in den Flur und knallte die Tür hinter sich zu. Der Schwung riss mich mit, kraftlos stolperte ich über meine eigenen Beine und fiel auf den Schnee, der den Boden unter mir bedeckte. Schmerzhaft fraßen sich die Handschellen in meine Handgelenke und feine Blutrinnsale zogen ihren Weg über meine Unterarme. Der Schnee stach wie Nadeln in meine Füße und die eiskalte Luft ließ meine Lungen schier erstarren. Was hatte ich getan, um so etwas zu verdienen?!

*5*

 

Von überall her kamen unheilvolle Geräusche. Ein Krähen ließ mich zusammen zucken.  Schwach versuchte ich mich aufzurichten, doch die Kälte lähmte mich und raubte mir das kleinste bisschen Energie, das ich noch im Körper hatte. Hektisch schaute ich mich um. Alle zehn Meter erhellten Laternen meine Umgebung, ließen die grauen alten Fabrikgebäude durch Schatten lebendig und unheilvoll wirken. Auf der anderen Straßenseite stand ein riesiges Parkhaus, doch es wirkte verlassen. Auch auf der großen breiten Straße war weit und breit kein Leben zusehen. Niemand, der mir hätte helfen können. Trotz der unheimlichen Atmosphäre setzte ich an, um nach Hilfe zu rufen, doch das Wort blieb mir im Halse stecken. Denn das Gesindel, welches sich freiwillig nachts hier um solch einer Uhrzeit und bei solchen Temperaturen rumtrieb, war sicherlich nicht besser, als meine Entführer. Das Rollen von Reifen und Arbeiten eines Automotors ließ mich hoffnungsvoll aufblicken. Es war eine Limousine, ganz in der Nähe.  Das Licht der  Straßenlaternen spiegelte sich in dem makellosen, schwarzen Lack. Sie wurde langsamer und blieb direkt vor mir zu stehen. Der Gedanke auf Rettung keimte in mir auf.

 

Doch als der Typ, der mich aus den Fängen meines Entführers entkauft hatte, ausstieg, war die Hoffnung auch schon wieder verflogen. Mit eiskalter Miene kam er auf mich zu, umgeben von einer angsteinflößenden, dunklen Aura. Sein schwarzes Haar wog sich im Wind hin und her und der schwarze Mantel ließ ihn aussehen, wie der Teufel persönlich. Aus gefühlskalten Augen schaute er an mir vorbei, als wäre ich es nicht wert, auch nur eines Blickes gewürdigt zu werden. Wie ein Schraubstock umschloss seine Hand meinen Nacken, scharf zog ich die Luft ein, denn die Kopfschmerzen hatten immer noch nicht nachgelassen. Und auch das Blut aus meiner Nase floss noch in kleinen Bächen über meine Lippen. Mit einem Schlüssel schloss er die Handschellen auf und zog mich am Nacken auf die Füße. Ohne den Griff zu lockern schob er mich in das Innere des Autos. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, und dem Fahrer befahl los zu fahren, änderte sich seine komplette Erscheinung total. Die dunkle Aura, die ihn zuvor umfangen hatte, war verschwunden und nun wirkte er beinahe besorgt. Er ließ er mich augenblicklich los und legte schon fast sanft seine Hände um meine Arme, um sich die Wunden an meinem Handgelenk anzuschauen. Ich zuckte zusammen, denn meine Unterarme waren voller Blutergüsse und Schrammen, außerdem irritierte mich diese Berührung. Vor Kälte zitterte ich am ganzen Körper und meine Beine fühlten sich an wie, nein, ich spürte sie nicht mehr. Ruckartig ließ er meine Hand los. Geschmeidig schälte er sich aus seinem schwarzen Mantel und öffnete anschließend die ersten zwei Knöpfe von dem Hemd, welches er trug. Langsam streifte er sich das Hemd von den Schultern. Auffordernd schaute er mich an. Aus Angst hielt ich die Luft an, wollt er mich etwa jetzt schon vergewaltigen?

 "Jetzt nimm schon. Dir ist doch kalt, nicht mir", knurrte er mit einer wunderbar tiefen Stimmte, die Wärme und Vertrauen verströmte.

 Erst jetzt realisierte ich, dass er Jacke und Hemd zu mir herüber streckte. Zögernd nahm ich die Kleidungsstücke in die Hand, stülpte mir das Hemd über den Kopf und zog die Jacke darüber. Erschrocken stellte ich fest, dass sich mein Blut in die Fasern des Hemdes fraß. Unsicher schaute ich zu ihm herüber, doch er hob nur eine perfekt geschwungene, schwarze Augenbraue und zuckte anschließend leicht mit den Schultern, bevor er seinen Blick abwand. Das Hemd war riesig und noch warm von seinem Körper. Ich schloss die obersten zwei Knöpfe des Hemdes und zog die Jacke enger um meinen Körper. Schnell wand ich meinen Blick ab und sah aus den verdunkelten Scheiben. Das gleichmäßige Holpern des Wagens und die Wärme im Auto umhüllten mich, sodass ich immer müder wurde. Zwanghaft versuchte ich mich wach zu halten, denn wer wusste schon, was der Typ anstellen würde, wenn ich schlief. Doch gegen meinen Willen sank mein Kopf langsam gegen die Glasscheibe und das kühle Glas minderte meine Kopfschmerzen etwas. Ergeben schloss ich die Augen und schlief langsam ein.

*6*

Grob drehte er meine Arme auf meinen Rücken und drückte mich mit dem Gesicht gegen die Wand. Schmerz durchfuhr meinen gesamten Körper.

„Ihr Weibsbilder seid selber schuld. Provoziert es mit eurer Dummheit und Naivität.“

Sein Atem roch widerlich nach ungeputzten Zähnen. Frustriert schnaubte ich auf.

 „Nein, du bist einfach nur krank.“ Wisperte ich kaum hörbar.

 Der Griff um meine Arme wurde stärker und er schleuderte mich gegen die gegenüberliegende Wand.

 

                                                                              ***

 

Schreiend wachte ich auf und schlug die Augen auf. Dieser Traum fühlte sich so wahr an.

 "Herrgott, hast du ein Organ", meinte der Typ neben mir unsensibel.

 Er hob den Arm und ich zuckte heftig zusammen, aus Angst er wolle mich schlagen.

"Ganz ruhig, ich schlage keine Frauen, so tief bin ich auch nicht gesunken", meinte er entrüstet und strecke sich, während er gähnte.

Nach seinen Wörtern entspannte ich mich etwas, doch ihm glauben? Nein, das tat ich nicht. Warum hätte er mich sonst kaufen sollen? Etwa um gut zu mir zu sein? Als ob! Erstaunt stelle ich fest, dass er mich wirklich keinen Zentimeter bewegt hatte, trotzdem traute ich ihm nicht. Die letzten Tage oder Wochen war mein Verstand wie vernebelt vor Schmerzen, doch langsam konnte ich wieder klar denken. Ich vermisste meine Eltern und Geschwister, sogar Harry. Ach Harry, jetzt musstest du den Klienten doch alleine an Land ziehen. Ob er sich wirklich als so ein großer Fisch heraus gestellt hat? Ich werde es wohl nie erfahren. Die Tränen schossen mir augenblicklich in die Augen, doch ich hielt sie zurück, gab mir nicht die Blöße vor diesem Arschloch zu weinen.

 Warum musste es nur solche Menschen geben? Das war doch krank. Frauen zu entführen, sie zu vergewaltigen und zu verkaufen. Einfach nur widerlich. Ekel und Hass stiegen in mir auf. Doch ich durfte diese Gefühle nicht weiter zu lassen, denn blinder Hass führt nur zu unüberlegten Taten und die könnten mir das Leben kosten. Ich hatte schon bei dem anderen Typ versucht zu fliehen, doch ich hatte es nicht geschafft und wurde zur Strafe bewusstlos geschlagen.  Wenn schon fliehen, dann nur mit einem perfekt ausgeklügelten Plan. Der Rest verursachte nur Schmerzen und brachte mir nicht meine Freiheit. Ich könnte auch jetzt versuchen zu fliehen, doch der breitschultrige Braunschopf war sicherlich stärker als ich, so viele Muskeln, wie er hatte. Wäre ich nicht in solch einer Lage, hätte mich sein Körper sicherlich angesprochen, kein Gramm Fett am Körper, pure Muskeln, breite Schultern und einen ausgeprägten V-Rücken. Doch jetzt ekelte mich dieser Körper einfach nur an. Wenn ich ihn auch nur ansah, wurde mir schon übel. Warum musste er mir auch sein Hemd und die Jacke geben und nichts darunter tragen. Die Jacke selbst hätte es auch getan. Beschämt über solche Gedanken wandte ich meinen Blick den Sitzen zu. Ich sollte dankbar sein das er wenigstens etwas nett zu mir war und nicht grob. Der Wagen wurde langsamer und hielt schließlich an. Ich hörte die fordere Wagentür zuschlagen und einen kurzen Augenblick später machte der Chauffeur uns auch schon die Tür auf. Und in Sekundenschnelle schlug die Aura des Mannes neben mir wieder um. Sein Gesichtsausdruck wurde wieder kalt und grob packte er mich abermals  am Nacken. Schmerzhaft zerrte er mich aus dem Auto heraus. Graue Betonwände umgaben uns und ich brauchte nicht lange, um fest zu stellen, dass wir uns in einer Tiefgarage befanden. Denn durch die vielen Autos in den Parklücken war es unschwer zu erkennen. Anstatt mich am Nacken hinter sich her zu ziehen, umfasste er nun mein Handgelenk und drückte schmerhaft auf die Wunden. Nur mühsam konnte ich einen Schrei zurück halten, sodass stattdessen nur ein schweres Keuchen aus meinem Mund entwich. Schnellen Schrittes ging er auf die goldene Fahrstuhltür zu und zog mich ohne Erbarmen hinter sich her. Gelangweilt hielt er seine Hand vor einen viereckigen in die Wand eingelassenen Sensor. Während dieser seine Hand abscannte, wurde sein Griff unmerklich sanfter. Die Fahrstuhltür öffnete sich und wir traten in das Innere des Lifts.  Kaum konnte uns der Fahrer nicht mehr sehen, ließ er mich ganz los und nahm Abstand. Gegen mein Erwarten befanden sich keine Knöpfe im Aufzug. Innen war ebenfalls alles Golden, makellos.  Mit einem Klingeln öffnete sich die Tür und wir traten in einen breiten Eingangsbereich.

 "Wenn du willst, schau dich um, wenn nicht, dann lass es einfach. Aber geh duschen, du stinkst fünfzig Meter gegen Wind. Ich hol mir nur kurz ein neues Hemd und dann bin ich bin weg", damit schob er mich in seine Wohnung aus dem Fahrstuhl raus, und ging selbst den langen Flur entlang bis er in einem Zimmer verschwand. Ich selbst blieb wie angewurzelt stehen. Fast sofort trat er frisch bekleidet aus dem Zimmer, stellte sich in den Fahrstuhl und verschwand. Wie bitte ? Ich wurde nirgends eingesperrt? Ich durfte mich frei bewegen? Mein erster Gedanke galt einem möglichen Weg der mich vielleicht hier raus bringen würde. So schnell meine Beine mich tragen konnten, flog ich durch die Wohnung, durchsuchte Raum für Raum, nur um fest zu stellen, dass es keinen anderen Ausgang, als den Fahrstuhl gab. Und dieser konnte, wie ich ebenfalls frustriert feststellte, von hier oben aus ebenfalls nur mit den richtigen Fingerabdrücken betätigt werden. Verdammte Technik.

 Geschafft ließ ich mich an der weiß getünchten Wand im Flur nieder und schaute wie hypnotisiert auf die goldenen, spiegelnden Türen. Mein verzerrtes Spiegelbild verwirrte mich, und so ließ ich meinen Blick durch den Gang schweifen. Entsetzt von meiner eigenen Dummheit blieben meine Augen an dem Fenster, in der mir gegenüberliegenden Wand, hängen. Wie von der Tarantel gestochen sprang ich auf und stürzte auf das Fenster zu, nur um fest zu stellen das dieses durch eine automatische Riegelung verschlossen war. Ich schlug mit der flachen Hand erschöpft gegen das Fenster und legte meine Stirn an die kühle Scheibe. Beobachtete die Menschen und Autos unter mir wie sie ihr Leben ohne irgendwelche Probleme lebten. Die Sonne ging langsam im Horizont auf. Wir mussten uns mindestens im fünften Stock befinden, denn der Asphalt war viel zu weit weg. Mein Atem kondensierte an dem Glas. In der Wohnung war es absolut still und ein Gefühl des Unwohlseins und der Angst krochen mir wieder den Rücken hoch und setzten sich in meinen Knochen fest. Die Geschehnisse der letzten Zeit, liefen wie ein Film vor meinen Augen. Jede einzelne Vergewaltigung tauchte vor meinem inneren Auge auf und ließen mich am ganzen Körper zittern. Die Tränen rollten über mein Gesicht und tropften von meinem Kinn auf das dunkle Parket unter meinen Füßen. Heftige Muskelkrämpfe schüttelten meinen Körper, und jeder Fleck meiner Haut tat weh. Mein Magen rebellierte immer mehr und der Druck, der auf ihm lastete wurde immer stärker. Blitzartig rannte ich Richtung Bad, ließ die Tür mit einem krachen gegen die Tür fahren und übergab mich über dem Klo.

 Ermattet stütze ich meinen Ellenbogen auf das Klo und legte meine mit Schweißperlen überzogene Stirn in die Handflächen. Ich war gefangen in einer Wohnung, mit einem Mann, den ich nicht kannte. Mit einem Mann, der mich gekauft hatte.  Er hatte mich tatsächlich gekauft.

 Gekauft. Hallte es in meinem Kopf wieder. Der eine hat dich benutzt, der andere gekauft. Du bist nur ein Stück Fleisch, kein Mensch, nichts wert. Eine Welle von Übelkeit überkam mich und ich ergab mich erneut.  Ich spülte mein Erbrochenes, nur bestehend aus ekelerregender Galle, herunter und kroch auf allen vieren über die schwarzen Marmor fließen Richtung Dusche. Dabei schenkte ich der Dusche selbst, ein in Schieferstein eingelassenes, übergansloses und durch Glas geschlossenes Luxusmodel, keinerlei wirkliche Beachtung, denn ich schaffte es gerade noch so das Hemd auszuziehen und die Dusche anzustellen, bevor ich in Unterwäsche unter den Wasserstrahlen zusammensackte. Die Bilder ließen sich einfach nicht vertreiben und die Ungewissheit was mit mir passieren würde fraß mich von innen auf.

 Ich musste hier unbedingt weg. Aber wie nur? Ich hörte das Klingeln des Aufzugs und schreckte hoch. Er war wieder da. Zu der Angst gesellte sich nun noch Panik. Mein Herzschlag wurde immer schneller. Mit Windeseile stellte ich die Dusche ab und stülpte mir das Hemd wieder über den nassen Körper. Die triefend nasse Unterwäsche verdunkelte sofort das helle Blau des Hemdes. Ohne zu Klopfen trat er ins Bad und ich stolperte sogleich zwei Schritte zurück, gegen das reine Glas der Dusche.

 "Ach, hier bist du", war das einzige, was er sagte und schlug dann die Tür, nachdem er das Zimmer verlassen hatte, zu. 

Verwirrt darüber das er das Bad verlassen hatte, verließ ich es ebenfalls. Um ehrlich zu sein hatte ich eher erwartet dass auch er mich jetzt zu seinen Zwecken benutzen würde. Nicht das er mich im Bad hätte stehen lassen. Ich hörte ihn in der Küche laut fluchen und folgte ihm dorthin. Er stand mit seinem breiten Rücken zu mir gewandt und gut zeichneten sich seine angespannten Muskeln unter dem schwarzen Hemd ab, während er aus einem undefinierten Grund einfach weiter, nun aber etwas leiser, fluchte. Die aufgehende Sonne durchflutete den in Braun- und Cremefarben gehaltenen Raum und spiegelte sich in seinen schwarzen Haaren wieder. Durch sie wirkte der Raum lebendig und einladend. Er stand an der aus braunem Holz bestehenden Arbeitsfläche und hackte auf einer Karotte herum, bevor er sie in eine Pfanne schmiss. Diese Prozedur wiederholte er mit dem gesamten Gemüse. Deutlich zeichneten sich seine angespannten Muskeln unter dem schwarzen Hemd ab, während er das Gemüse in der schwarzen Pfanne, welche auf dem neumodischen Herd stand, langsam dünstete.

 "Warum?", fragte ich mit kratziger Stimme, entwöhnt vom Sprechen.

 Er zuckte leicht zusammen, doch drehte sich nicht herum.

"Warum was?", fragte er mich auffordernd, doch als ich nicht antwortete, fing er eben an zu raten. "Warum ich fluche? Oder warum ich dich gekauft habe?" Ich nickte auf seine zweite Frage.

 Doch das schien er nicht zu verstehen, es schien zumindest so.

"Nickst du jetzt auf die erste oder die zweite Frage?"

Ich wusste, dass er extra keine Ja, Nein Frage gestellt hatte, damit ich gezwungen war, ihm zu antworten. Er hatte sehr wohl verstanden was ich meinte, wollte aber, dass ich sprach.

 "Zweitens, brachte ich schlicht heraus.

 Selbstgefällig und zufrieden, dass er mich zum Sprechen gebracht hatte, nickte er leicht mit dem Kopf.

"Sagt dir der Name Tomsen Bersen etwas?",  fragte er mich und drehte sich endlich zu mir um.

*7*

 Ja, der Name sagte mir etwas, und ich hatte wirklich alles erwartet, doch nicht, dass das Ganze hier mit dieser Person zusammen hing. Das war der Name des Mandaten, für den ich in Berlin gewesen war. Er hätte sich unsere Kanzlei eigentlich gar nicht leisten können, doch mich hatte damals sein Fall interessiert und ich hatte ihn mit der lächerlich geringen Bezahlung eines Pflichtverteidigers vertreten. Mit einem anderen Anwalt hätte er bis zu 15 Jahre bekommen. Ich hatte einen Deal ausgehandelt und er bekam fünf und davon vier auf Bewährung. Also nickte ich auf seine Frage.

"Er ist mein Bruder. Als er das von dir gehört hat, hat er mich gebeten, dass ich mich umhöre und herausfinde, wo du dich befindest, Alexandra. Er meinte ich sollte alles tun um dich, wo immer du auch bist, rauszuholen. Aus diesem Grund habe ich dich gekauft. Ich hatte eigentlich noch nie was mit Menschenhandel am Hut und Frauen zum Sex zu zwingen, habe ich nicht nötig", meinte er selbstgefällig.  "Also keine Angst, du bist hier sicher“. Ich zweifelte nicht an seinen Worten, denn erstens hätte er mir sonst längst etwas angetan, und zweitens sah er wirklich verboten gut aus, somit hatte es wie er sagte 'wirklich nicht nötig'. Trotzdem blieb meine Skepsis. "Wieso darf ich dann nicht gehen?" Ein lautes Lachen erfüllte den Raum und er legte das Messer weg, mit welchem er wieder angefangen hatte Karotten zu schneiden.

"Du weißt wohl nicht, wer dich entführt hat. Herr Gott, wenn Julio mitbekommt, dass ich dich hab laufen lassen, bist du tot. Und ich auch. Was denkst du, wie viele Mädchen es schon geschafft hatten zu fliehen?" Er machte eine dramatische Pause. "Viele", beantwortete er seine Frage selbst. "Doch er hat alle umgebracht. Er hat sie eingefangen und umgebracht. Deswegen bleibst du erst einmal hier. Immerhin will ich noch ein bisschen leben, und ich denke, du auch." In diesem Moment hoffte ich wirklich, dass Blicke imstande waren zu töten, denn dann wäre er jetzt auf der Stelle vor meinen Füßen tot umgefallen. Doch er fand das Ganze nur witzig. Daran das ich einfach nur nach Hause wollte und dass ich Julio, den Mann, der mich entführt und vergewaltigt hat, anzeigen will, daran dachte er nicht. Typisch Matcho. Doch ich hatte vorerst nicht die Kraft, um mit ihm zu diskutieren. Also drehte ich  mich um 180° und verließ den Raum. Das in lichtgrau gehaltene, und somit helle, Wohnzimmer passte so gar nicht zu meiner Stimmung, ich konnte einfach nicht verstehen, wie ein Mensch so egoistisch denken konnte. Der kalte dunkle Parkettboden unter meinen Füßen wurde von einem weichen grau-weißen Teppich abgelöst, welcher mich angenehm an den Fußsohlen kitzelte.  Vorsichtig ließ ich mich in die weichen Polster des schwarzen Ledersofas  sinken und blickte aus den bodenlangen Fenstern, die den Raum in warmes Tageslicht hüllten. Das Lichterspiel der Wolken machte mich schläfrig und so ließ ich mich längs auf das Sofa sinken und deckte mich mit einer leichten Decke zu.  Genervt versuchte ich eine bequeme Schlafposition zu finden, doch mittlerweile spürte ich jeden meiner blauen Flecke und all die Schrammen, die sich meinen ganzen Körper entlang reihten. Mein Handgelenk tat höllisch weh und mein Kopf dröhnte. Und mein Gehirn wollte auch nicht so recht abschalten, denn immer noch fragte ich mich, was es mit diesem Typen in der Küche auf sich hatte. Wieso war er so nett? Natürlich war ich dankbar, dass ich hier weder misshandelt noch geschlagen wurde. Trotzdem war ich stutzig wieso. Doch langsam wurden meine Gedanken leiser und meine Augen schwerer, sodass ich trotz der Schmerzen nach einer kleinen Ewigkeit einschlief.

                                                                             ***

Er schlug mir in den Bauch und ich taumelte zurück. Mein Kopf knallte unheilvoll gegen die Wand und ich sackte an ihr zusammen. Er lachte und griff nach mir. Panisch versuchte ich mich zu wehren, doch er war stärker. Er drückte meine Knie auseinander und...

                                                                             ***

… und mit einem lauten Schrei schreckte ich aus dem Schlaf. Ich brauchte eine Weile, bis ich realisierte, wo ich war. Müde fuhr ich mir über die Augen und schaute auf die Digitaluhr, die neben dem Sofa stand. 6:30 Uhr, wir hatten heute den 16. Januar. Erschüttert stellte ich fest, dass es drei Wochen her war, seit ich entführt wurde. Wie ich gestern so nebenbei bemerkt hatte, hatte der Bruder von Tomsen nur Fernseher und Radio, doch weder PC, noch Telefon. Ich könnte also auch  niemanden kontaktieren. Schlafen konnte und wollte ich nicht mehr, also ging ich leise ins Bad. Meine Schritte hallten in der vollkommen stillen Wohnung von den Wänden wieder.  Der kalte, dunkle Parkettboden im Flur ließ Gänsehaut meine Beine empor kriechen. Vorsichtig schloss ich die Bad Tür hinter mir und steuerte auf die große, weiße Badewanne, in welcher sicherlich zwei Personen locker Platz hatten, zu. Ohne viel darüber nach zu denken, ließ  ich mir ein Bad ein, er hatte ja immerhin gesagt, ich solle mich waschen.  Ich entledigte mich seines Hemdes und ließ es auf die schwarzen, warmen Fließen fallen, die  Unterwäsche folgte. Mit dem Gedanken an frische Klamotten legte ich mich langsam ihn das warme Nass. Überall auf meiner Haut brannte das Wasser wie Feuer auf den Schrammen. Denn Schmerz ignorierend lehnte ich meinen Kopf vorsichtig an den hinteren Wannenrand und schloss meine Augen. Verzweifelt öffnete ich sie wieder. Denn sobald ich die Augen auch nur schloss, kamen die Bilder noch deutlicher. Mein Gehirn quälte mich noch mehr, als er es selbst getan hatte. Wieder und wieder musste ich alles selbst ansehen oder eher wieder und wieder seelisch spüren. Tränen der Verzweiflung flossen mir ununterbrochen über die  Wangen. Jetzt konnte ich verstehen, warum Frauen sich nach solchen Erlebnissen umbrachten. Man wurde verrückt, aber ich glaube, man muss so was erst selbst erlebt haben, um es verstehen zu können.  Langsam richtete ich mich auf und griff nach dem Shampoo. Vorsichtig  massierte ich es mir in die Haare, denn meine wunde Kopfhaut brannte wie verrückt.  Ich wusch das Shampoo aus meinen Haaren und erfreute mich an dem Gefühl, dass sie frisch gewaschenen waren. Es gab so viele Dinge, die man für Selbstverständlich hielt, doch eigentlich waren sie es nicht. Man sollte Gott dafür danken, seine Freiheit zu haben, denn ich wusste wie es ist sie nicht zu haben. Wenn ein anderer Mensch über dich bestimmt, ist es dir egal, ob deine Zähne geputzt sind oder nicht. Man will nur dass es aufhört. Es zermartert dir das Hirn und zerstört dich. Immer und immer wieder fragte ich mich, wieso ich mich nicht mehr gewehrt hatte, mehr gekämpft hatte. Die Antwort war einfach, ich hatte einfach Angst. Angst davor umgebracht zu werden, wenn ich nicht gehorchte. Lieber wollte ich Vergewaltigung für Vergewaltigung ertragen als nicht mehr zu Leben. Das war die Funktion der Angst, glaube ich, einen davor zu schützen sich zu wehren, wenn man weiß das der Gegner stärker ist. Schwach stieg ich aus der Badewanne und tupfte mich mit dem Handtuch, das auf dem Boden lag, vorsichtig ab. Anschließend erledigte ich meine Morgentoilette und ging zu dem freihängenden, viereckigen Waschbecken rüber, um meine Zähne zu putzen, wenn es sein musste mit seiner Zahnbürste. Doch ich stockte mitten in meiner Bewegung. Langsam führte ich meine Hand zu meinem blauen Auge und mein Spiegelbild tat es mir gleich. Den Spiegel hatte ich noch gar nicht beachtet, doch jetzt, wo ich mich sah, verschlug es mir die Sprache. Ich war schlimmer zugerichtet, als ich gedacht hatte.  Vorsichtig fuhr ich mir über die gesamte blaue linke Gesichtshälfte und zuckte leicht vor Schmerzen zusammen. Ich entfernte mich etwas von dem Spiegel, sodass ich mich bis zur Hälfte der Oberschenkel sehen konnte. Mein Bauch war blau, auf meinen Brüsten prangten tief lila Blutergüsse und Konturen von Handabdrücken. Die Innenseite meiner Schenkel war ebenfalls von seinen Spuren gezeichnet. Entsetzt schaute ich mir im Spiegel ins Gesicht, das konnte nicht ich sein. Die Augen der Frau vor mir, hatten jeglichen Glanz verloren. Stumm schauten sie mir entgegen und die vollen Lippen, auf welchen normalerweise immer ein leichtes Lächeln lag, waren zu einem schmalen Strich verzogen. Ihre braunen Haare sahen fast schon verfilzt aus und unnatürlich dünn war sie geworden. Sie litt, das sah man ihr an. Das konnte nicht ich sein, das sollte nicht ich sein. Schnell wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab, hob das Handtuch auf und schlang es um meinen Körper. In Windeseile verließ ich das Bad, flüchtete vor mir selbst. Wie Taub setzte mich steif auf das Sofa und starrte einfach nur aus dem rechten der beiden bodenlangen Fenster, die in der Wand mir gegenüber eingelassen waren. Mein Kopf war leer, er war leer und zum ersten Mal in meinem Leben war es das, was ich mir wünschte. Einfach alles zu vergessen.

*8*

Das öffnen seiner Schlafzimmertür ließ mich krass zusammenfahren. Ohne eine Begrüßung ging er mit finsterer Miene an mir vorbei in die Küche. Er war wirklich die größte Frohnatur, die ich kannte. Nach ungefähr fünf Minuten und einem Mordskrach in der Küche, ließ er sich neben mich aufs Sofa fallen und schaltete den Fernseher an. Genüsslich aß er sein Müsli und starrte dabei auf die sich bewegenden Männchen auf dem großen Flatscreen vor uns.

„Lass mich gehen“, flüsterte ich leise.

 Er ließ ein Schnauben hören und entschloss sich anscheinend, mir nicht zu antworten, denn dem pferdeähnlichen Laut fügte er nichts weiter hinzu.

 „Hörst du? Lass mich gehen“, wiederholte ich lauter mit festerer Stimme.

 „ Sag mal“, er stellte seine Müslischale auf den Glastisch vor unseren Füßen,“ hab ich mich gestern undeutlich ausgedrückt oder was? Weißt du, ob er dich umbringt, ist mir egal, ich hab dich da nur raus geholt, weil ich meinem Bruder noch einen Gefallen geschuldet habe, aber mein Leben bedeutet mir was. Und wenn er dich in die Finger bekommt, kriegst nicht nur du Probleme.“ Seine Stimme klang arrogant und gereizt.

„Ich will aber gehen“, gab ich gereizt von mir.

 Er fing an zu lachen. „Ich glaube nicht, dass du in der Lage bist Anforderungen zu stellen, oder doch? Naja, immerhin hab ich dich gekauft. In deiner Welt gibt es so was vielleicht nicht, aber hier giltst du als mein Eigentum. Selbst, wenn du den Fahrstuhl irgendwie knacken würdest, würde dich mein nächster Nachbar wieder ins Haus schleppen. Weil du mir gehörst. Ganz einfach. Also halt einfach die Klappe und reize mich nicht. Sei froh, dass du es hier besser hast, als bei Julio und dass du nicht als verstümmelte, unidentifizierbare Leiche in irgendeinem Waldrand landest. Außerdem suche ich ja schon nach einer Lösung, denn ewig am Hals haben will ich so etwas Nerviges wie dich wirklich nicht. Also bleib geduldig auf deinem knochigen Arsch sitzen, und lass mich machen.“

Schwungvoll stand er auf und nahm seine Müslischüssel vom Tisch. Er kehrte mir den muskulösen, breiten und nackten Rücken zu und verließ mit rauchendem Kopf das Zimmer. Natürlich hatte er sich nichts außer einer Boxershort anziehen können. Nachdem er sein Geschirr weggebracht hatte, lief er wieder in sein Schlafzimmer. Keine fünf Minuten später kam er angezogen wieder raus und ging in den Flur.

Ich hörte noch ein dumpfes „Essen gibts in der Küche“, bevor sich die Fahrstuhltür schloss.

 

So ging das jetzt schon weitere drei Wochen. Jeden Morgen stritten wir, mittlerweile setzte er sich in die Küche um zu essen, und anschließend verließ er das Haus. Abends kam er dann irgendwann wieder. Er und seine Putzfrau, eine alte strenge Dame, waren die einzigen Personen, die ich diese Zeit über sah. Da ihr verboten wurde, mit mir zu reden, woran sie sich auch wirklich hielt, hatte ich niemanden zum Reden. Ab und zu schenkte sie mir ein nettes Lächeln, doch sonst ignorierte sie mich vollkommen. Trotzdem,  ich mochte sie, nicht nur, weil sie mir Kleidung mitgebracht hatte, sie verstrahlte immer eine gutmütige Ruhe, die den ganzen Raum ausfüllte und mir das Gefühl gab, nicht alleine zu sein.  Immer erst, nachdem er das Haus verlassen hatte, aß ich etwas. Doch lange behielt ich das Essen nicht in mir. Denn der Fernseher schaffte es nicht, mich abzulenken und so folterte mich mein Gedächtnis Stunde für Stunde, Minute für Minute. Die Antwort meines Magens darauf war, dass ich mich Übergeben musste. In diesen letzten Wochen hatte ich mindestens zehn weitere Kilo abgenommen. Ich sah aus wie ein Skelett. Wenigstens waren die Blutergüsse fast weg, die Wunden an meinen Armen waren gerade am Verheilen und meine tief dunklen Oberschenkel waren auch nur noch grün, gelb, bis bräunlich verfärbt. Vor einer Woche hatte ich den erschreckenden Gedanke, wie es wohl Frauen gehen musste, die von einer Vergewaltigung schwanger waren. Ich konnte ja nicht einmal meine Brüste ansehen, ohne daran zu denken, was er damit gemacht hatte, geschweige denn dann ein Kind. Zum Glück hatte ich dieses Problem nicht, denn ich konnte keine Kinder bekommen. Als ich mit 16 meine Regel immer noch nicht bekommen hatte, ging meine Mam mit mir zum Arzt und der stellte fest, dass meine Eierstöcke zurückgebildet oder nicht ganz ausgereift waren und ich somit keine Kinder bekommen konnte. Damals hatte mich das sehr getroffen, denn ich wollte immer eigene Kinder haben. Doch jetzt war ich das erste Mal in meinem Leben froh darüber. Vorsichtig stand ich auf, denn mein Kreislauf spielte heute mal wieder nicht mit. Die engen Jeans schlabberten um meine zahnstocherdünnen Beine,  als ich mich auf den Weg in die Küche machte. Ich hatte Hunger, das letzte Mal hatte ich um drei Uhr etwas gegessen und jetzt hatten wir schon fast zehn. Laut schloss sich die massive, silberne Kühlschranktür, nachdem ich Butter und Schinken heraus genommen hatte. Ich hatte gerade ein Messer aus der Schublade geholt, als es anfing mich zu drehen. Keuchend hielt ich mich an der Arbeitsplatte fest. Zuerst verschwamm meine Sicht,  dann wurde mir schwarz vor Augen. Mein Körper sackte zusammen und kam ungehalten auf den Küchenfliesen auf. Kurz spürte ich einen gewaltigen Schmerz in meinem Hinterkopf, und dann war ich weg.

*9*

Wow, tat mein Kopf weh. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, doch ich ließ es gleich wieder bleiben und stöhnte stattdessen der Schmerzen wegen auf. Irgendjemand kniete neben mir, tupfte meine Stirn ab und sprach beruhigend auf mich ein. Der Schmerz in meinem Kopf wurde zu einem dumpfen Dröhnen und zögernd öffnete ich die Augen. Er hatte sich neben mich gesetzt und tupfte mir vorsichtig über die Stirn, während er bedrückt drein schaute. Als er merkte, dass ich wach war, wurden seine Gesichtszüge weicher und ein müdes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Hei, du bist endlich wieder wach. Was machst du denn für Sachen, hmm?! du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt, weißt du?“, er sprach nicht laut, seine Stimme war nur ein raues heiseres Flüstern. Seine schwarzen, seidigen Haare hingen ihm im Gesicht, sie waren länger geworden.

„ Oh, mir tut alles weh“, jammerte ich auch schon drauf los, während ich versuchte mich aufzurichten. Sanft, aber bestimmt, legte er eine Hand auf meine Schulter und drückte mich zurück in die weichen Kissen auf dem Sofa. Zögerlich nahm er seine Hand weg.

„Bleib erst mal liegen.“, wies er mich an, ein leichtes entspanntes Lächeln umspielte seine Lippen.

„Willst du eine Schmerztablette? Dein Kopf hat ziemlich was abbekommen“.

Ich nickte nur auf seine Frage und quittierte die Bewegung meines Kopfes mit einem knatschigen 'Aua', während ich meine Stirn in Falten legte und meine Augen zusammen kniff. Ein leises Lachen entwich seinem Mund. Der tiefe Bass bescherte mir eine leichte Gänsehaut. Er griff auf den Glastisch neben sich und beförderte eine Schmerztablette und ein Glas Wasser zu Tage. Ich wollte mich aufrichten, um die Schmerztablette einzunehmen, doch die Schmerzen in meinem Rücken hielten mich davon ab, um meinen Brustkorb und meinen Bauch war ein Verband angelegt.

„Warte, ich helfe dir.“ Vorsichtig legte er eine Hand unter meinen Hinterkopf, um ihn anzuheben und mit der anderen führte er das Wasser, mit der in sich gelösten Schmerztablette, an meinen Mund und half mir zu Trinken. Etwas skeptisch schaute ich zu ihm auf. Skeptisch, da ich nie im Leben erwartet hätte das er eine solch weiche und nette Seite besaß.

„Die Ärztin hat dir mindestens eine Woche, wenn nicht sogar zwei, Bettruhe verordnet wegen deinem Rücken. Sie meinte, du hättest echt böse Prellungen da hinten“, teilte er mir mit, während ich trank.

Ich zog meinen Kopf zurück und schaute ihn verdutzt an.

„Wieso hast du einen Arzt geholt?“, fragte ich etwas verpeilt.

„Naja, du warst schon ganz bleich und dein Puls so niedrig.  Außerdem waren deine Lippen schon ganz blau und ich wusste nicht, was ich machen sollte. So was konnte ich noch nie. Und es wäre dir sicherlich unangenehm gewesen, wenn ich dir diesen Verband angelegt hätte, wenn ich überhaupt auf die Idee gekommen wäre.“

Sein Gesichtsausdruck unterstrich die Hilflosigkeit, die er mit seinen Worten ausdrückte. Auch das leichte Schulterzucken trug dazu bei, seine Erklärung sinnvoll klingen zu lassen. Ich hatte ihn noch nie so viel an einem Stück reden hören. Er hatte sich wohl wirklich Sorgen gemacht. Er setzte sich auf den Sessel dem Sofa gegenüber und strich sich mit der Hand durch seine schwarze Matte, um sich das Haar in die Stirn zu streichen, welches normalerweise immer verstrubbelt in alle Himmelsrichtungen stand. So viel Rücksicht war ich gar nicht von ihm gewohnt. Es gab wohl doch noch einige Seiten an ihm, die ich nicht kannte. Frustriert stelle ich fest, dass ich ihn aus der Schublade mit den bösen Menschen, in die ich ihn durch voreilige Schlüsse gesteckt hatte, wohl wieder gedanklich herausholen musste.

„Ist es arg schlimm? Soweit ich weiß, brauch man bei Prellungen nämlich keinen Verband“, fragte ich ohne zu zögern und bemerkte dabei peinlich berührt, dass ich mich nicht einmal bedankt hatte.

„Sie meint die Prellungen sind in guten zwei Wochen vollkommen verheilt und der Verband dient sowohl zur Stütze, als auch zum Schutz, damit die aufgetragene Salbe nicht sofort wieder abgeht. Deswegen auch die Bettruhe.“ Er verlagerte sein Gewicht und setzte sich etwas anders hin, stütze die Ellbogen auf seine Knie und legte seinen Kopf auf diesen ab. Ein vorsichtiger Ausdruck trat in seine Augen, ließ mich wachsam werden. „Sie hatte sich um ehrlich zu sein mehr Sorgen um dein Gewicht gemacht. Sag mal, isst du eigentlich was, seit du hier bist? Ich hab dich hier noch nie essen sehen“, gab er mir freiwillig Auskunft und wirkte wirklich interessiert. Ich spürte das leichte Kitzeln meines rausgewachsenen Ponys an der Nase, ignorierte es jedoch.

„Doch ich .. ich esse jeden Tag drei Mal, sobald du aus dem Haus gehst“, verhaspelte ich mich kurz, gebannt von seinen moosgrünen Augen, deren Blick sich in meine eisblauen Augen bohrte.

„Aber du bist viel zu dünn. Du hättest doch eigentlich schon zunehmen sollen“, meinte er skeptisch, doch wand den Blick nicht ab. Ich wusste nicht warum, doch ich erzählte ihm die Wahrheit.

„Denkst du das weiß ich nicht? Jeden Tag, den ich hier verbringe, ist alles so leise. Ich kann hier nichts machen, außer nichtsnutzig herum zu sitzen oder Fernseher zu gucken. Doch das trägt nicht dazu bei, mich abzulenken und so sehe ich die ganze Zeit bildlich vor mir, was er mir angetan hat, wie er es getan hat“, ich stockte kurz und blinzelte die Tränen weg, welche sich in meinen Augen gestaut hatten, „dann wird mir schlecht und ich übergebe mich so lange, bis ich nichts mehr im Magen habe.“

Obwohl ich versuchte, meine Beherrschung zu behalten, bahnten sich die Tränen einen Weg über meine Wange und ich konnte ein Aufschluchzen gerade noch so verhindern. Mit leicht belegter Stimme fuhr ich fort.

„Ich habe Angst zu schlafen und Angst vorm Aufwachen. Denn egal was ich tue, ich habe immer diese Bilder vor Augen. Wie ein schlechter Film, den man nicht ausschalten kann, in dem man gefangen ist, wie in einer Endlosschleife.“

„Warum sagst du dann denn nichts?“, fragte er mich etwas fassungslos, seine Augen waren geweitet.

Na, hätte er sich das denn nicht denken können?

„Du hörst mir ja nie zu, “ gab ich also aufgebracht zur Antwort.

„Na, weil ´Ich will gehen` alles ist, was ich höre“, rechtfertigte er sich und streckte sein Kreuz durch, bevor er seine Arme vor der Brust verschränkte.

 „Will ich auch“, kam es auch schon wie aus der Pistole geschossen aus meinem Mund. „Und das kannst du mir ja auch schlecht verübeln!“. Wütend pustete ich mir die langen, kitzelnden Strähnen aus dem Gesicht.

„Siehst du, statt mir zu sagen: Ben, bitte hilf mir mich irgendwie zu beschäftigen, damit ich keine Vergewaltigungsflashbacks mehr bekomme, maulst du schon wieder rum. Frauen!“

Er war lauter geworden und meine Kopfschmerzen hatten sich trotz Schmerztablette wieder deutlich gemacht. Ich gab ein kleinlautes, aber zickiges „´Tschuldigung“ zur Antwort und schloss erschöpft meine Augen. Er hatte mir seinen Namen verraten. Ein dämliches Grinsen schlich sich auf meine Lippen und ich bekam es auch nicht mehr runter. Seit drei Wochen fragte ich mich, wie dieser Mann vor mir hieß, aber ich wäre nie im Leben auf den Namen Ben gekommen. Er sah eher aus wie ein, ein... ach keine Ahnung. Auf jeden Fall war er nicht so nett, wie der Name Ben in meinen Ohren klang.

„Was grinst du so dämlich?“, fragte Ben und hielt in seiner Bewegung inne. Ich konnte ihm seine Skepsis gut ansehen. 

„Du heißt Ben“, gab ich die wenig kluge Antwort auf seine Frage. Eine seiner perfekt geformten dunklen Augenbrauen hob sich und ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen, welches seine Augen erreichte.

„Wow, das wusste ich gar nicht. Was ist daran jetzt so besonders?“, sichtlich amüsiert über meine Antwort verschränkte er seine Hände vor der Brust.

„Siehst du, wieder was Neues gelernt.“ Bewusst nahm ich Blickkontakt zu ihm aus und versuchte sein Innerstes zu ergründen. „Nein, ich meinte, Ben hört sich so nett und harmlos an. Der Name passt nicht zu dir, nein, du passt nicht zu dem Namen. Du machst seine Wirkung kaputt.“  Kräftig nickend unterstrich ich meine Worte.

„Woher willst du wissen, wie ich bin? Du kennst mich doch gar nicht“, wollte er überlegen wissen und schaute übermütig zu mir herunter.

„Du hast einen Menschen gekauft, ich glaube, das schließt also beide Eigenschaften so ziemlich aus!“, warf ich ihm aufgebracht entgegen und wusste nicht, ob ich weiter dem lockeren Gespräch folgen oder wütend werden sollte.

„Nein, keinen Menschen. Schlimmer. Ich hab dich gekauft. Glaub mir, das ist wirklich schlimmer.“

Ein viel zu großes Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, ließ ich jungenhaft, gar kindlich wirken und brachte seine Augen zum Funkeln. Trotzig zog ich die Decke, welche mich umhüllte, höher und blickte ihn böse an.

„Rede nicht so, ich bin ein Mensch, auch wenn das in dein Spatzenhirn vielleicht nicht rein geht. Und das was ihr da macht, ist nicht richtig. Das ist einfach nur krank, pervers und widerlich.“

„Hey, hey, wo ist denn dein Humor geblieben? Das war nur ein Spaß, natürlich bist du ein Mensch. Und was denkst du eigentlich von mir? Du bist der erste und einzige Mensch, den ich je gekauft hab. Herr Gott, warum hab ich Tomsen bloß diesen absurden Gefallen getan, ich muss wirklich vollkommen bescheuert sein.“

Aufgebracht stand er auf und verschwand, wie so oft, in seinem Schlafzimmer. Erschöpft schloss ich wieder meine Augen. Ich hatte es mir anders überlegt, sollte er doch in dieser verdammten Schublade schmoren, denn das er dort herein gehörte, war nun sicher.

„Danke“, rief ich noch laut und relativ undankbar durch die Wohnung. Ich musste nun mal immer das letzte Wort haben, so war ich nun mal.

„Gern geschehen“, antwortete er mir im gleichen Tonfall.

„Gut“, gab ich zurück.

„Fein, und jetzt halt die Klappe und lass mich in Ruhe“. Es sollte heute wohl doch er das letzte Wort haben, fein!

*10*

Wenig entspannt und total verschwitzt wachte ich aus meinem unruhigen Schlaf auf. Immerhin hatte mich der Streit gestern genug Energie gekostet, um die ganze Nacht durchzuschlafen, die Träume konnte er aber nicht vertreiben.

Langsam versuchte ich mich aufzurichten, doch die Tablette wirkte nicht mehr und so schmerzte mein Rücken höllisch, außerdem juckte der Verband auf meiner schweißnassen Haut. Ein dumpfer Aufschlag und ein ersticktes „Scheiße“ ließen mich hell hörig werden. Ben war wohl auch wach. Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen, dass er Ben hieß. Ich blieb dabei, der Name passte einfach nicht zu ihm. Seine Schlafzimmertür ging schwungvoll auf und ein mies gelaunter Ben trat ins Wohnzimmer, sein altbekanntes, morgendliches Ritual.

„Morgen“, begrüßte er mich griesgrämig.

„Was war das und Herr Gott kannst du dir nicht einfach was anziehen? Ist gar nicht so schwer, glaub mir. Könntest sogar du schaffen“, schnell kniff ich dich Augen zu.

Bei so viel nackter Haut am Morgen konnte ich einfach nicht höflich bleiben.

„Sei froh das ich wenigstens Boxershorts trage und wieso sollte ich mir überhaupt was überziehen, geilt dich mein Anblick so an, oder was?“

Nein, er war doch wirklich süß und so gar nicht eingebildet, ein totaler Ben eben.

„Nix da. Von dem Anblick bekomme ich höchstens Albträume.“ Wenn er wüsste, dass ich ihm gerade die Wahrheit gesagt hatte, würde er nicht so arrogant gucken. Ich bekam davon wirklich Albträume, so viel nackte Haut vertrug ich im Moment einfach nicht.

„Ich bin in der Küche, also kannst du die Augen ruhig wieder auf machen.“ Entnervt stieß ich die Luft aus meinen Lugen aus und öffnete meine Augen.

„Woher willst du wissen, dass ich meine Augen noch zu hatte?“, rief ich ihm angriffslustig hinterher.

„Ach, hattest du nicht?“, stellte er mir die Gegenfrage, nicht weniger provokant.

„Pff,“ war das einzige, was ich von mir gab.

Ich hörte ihn leise lachen. Er hantierte lautstark in der Küche und kam fünf Minuten später mit einem voll beladenen Tablett zurück ins Wohnzimmer, bevor er ins Schlafzimmer ging um sich etwas an zu ziehen. Er hatte Tablett auf dem Glastisch mir gegenüber abgestellt und zog sich einen Sessel, aus der anderen Ecke des Raumes, neben das Sofa.

„Also, was willst du essen?“, durchbrach er die Stille.

„Hä, was?“, fragte ich ihn verwirrt

 „Dr. Maller meinte, ich muss darauf achten, dass du isst. Du musst nämlich wirklich zunehmen, also, was willst du essen?“ Ich wusste nicht was ich essen wollte, wahrscheinlich würde ich gar nichts runter bekommen. 

„Ich hab keinen Hunger.“

„Du wirst aber was essen, glaub mir der Appetit kommt von alleine.“

Er fing an, ein Körnerbrötchen aufzuschneiden und mit Butter zu bestreichen. Trotzig verschränkte ich meine Arme vor der Brust, hörbar atmete ich ein, als ich meine Arme bewegte, die Prellungen waren wirklich schmerzhaft.

„Kann ich eine Schmerztablette haben bitte?“, fragte ich extra lieb.

Verschmitzt grinste er mich an. „Wenn du das Brötchen hier isst, dann ja. Wenn nicht, dann nicht.“ Ungläubig schaute ich ihn an. Er besaß wirklich so viel Dreistigkeit, mich zu erpressen.

„Ben, wir sind hier doch nicht im Kindergarten“, aufgebracht schaute ich ihn an.

„Ich weiß, also benehme dich auch nicht so und esse was.“

 Widerwillig streckte ich die Hand nach dem Brötchen aus.

„Der Klügere gibt nach“, meinte ich nur und biss in das Brötchen.

„Naja, der Dumme bekommt, was er will“, grinste er überlegen und verschwand ins Bad. Wenige Sekunden später kam er wieder mit einer Schmerztablette in einer Hand. Wenigstens hielt er sein Wort. Wohlig seufzte ich auf, nachdem ich die Tablette getrunken hatte.

„Dein Verband sollte gewechselt werden, der sieht ziemlich durchgeschwitzt aus. Außerdem muss noch neue Salbe aufgetragen werden.“

Entnervt schaute ich ihn an. „Und wie soll ich das bitte schön schaffen? Ich kann meine Arme ja kaum bewegen.“

„Na, ich helfe dir, was dachtest du denn.“

Erschrocken riss ich die Augen auf.

„Nein. Das geht schon, ich kann das alleine. Wird ja wohl nicht so schwer sein“, haspelte ich und stand schnell auf. Zu schnell, wie ich bemerkte, als es anfing mich zu drehen. Ich stützte mich an der Sofalehne, um nicht zu fallen.

„Komm schon, mach dich nicht lächerlich. Du kannst ja kaum stehen. Alexandra, du kannst mir vertrauen. Ich mach dir doch nichts, du bist mir viel zu dürr. Komm, ich helfe dir“

Nur zögernd lies ich zu, dass er mir um die Taille fasste, um mich zu stützen. Langsam richtete ich mich gerade auf, lehnte meinen Kopf an seine Schulter und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Atmete seinen Geruch ein, eine Mischung aus Kaffee und Moschus. An der Stelle, wo seine Hand den Verband berührte, gingen Pfeile durch mein Fleisch und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. Doch trotz diesem Gefühl empfand ich weder Angst, noch Panik. Vorsichtig wurde sein Griff fester und wir gingen in Richtung Bad. Ich gestand es mir zwar nur ungern ein, doch ohne seine Hilfe hätte ich nicht einmal fünf Schritte geschafft. Langsam ließ ich mich auf den Rand der Badewanne nieder und zögernd fing er an, den Verband zu lösen. Jede Bahn, die er von meinem Körper nahm, entblößte mehr nackte Haut. Unter ihr stachen unmenschlich Knochen hervor. Gut konnte ich mich im Spiegel gegenüber erkennen, der eingefallene Magen und die drahtigen, kantigen Knochen. Ben hatte Recht, ich war wirklich unbeschreiblich dünn geworden, in letzter Zeit war mir dies nie  bewusst gewesen. Zu sehr war ich beschäftigt, mit dem ganzen Horror der letzten Wochen. Unentschlossen wickelte er zögernd auch noch die letzte  Bahn von meinem nackten Oberkörper. Doch Scham empfand ich nicht, denn zu verhüllen hatte ich nichts, da meine Brüste genauso abgenommen hatten, wie der Rest meines Körpers. Außerdem war hinter seinem Tun keine Forderung und in seinen Augen lag kein Glanz, der Verlangen verriet. Reglos saß ich da und blickte ihm ins Gesicht. Und obwohl ich fast nackt vor ihm saß, nur noch in einer gemütlichen Jogginghose, erwiderte er meinen Blick und ließ ihn nicht mehr los.

„Ich komm gleich“, meinte er leise und verließ den Raum. Vorsichtig stand ich auf und ging wankend auf den Spiegel zu. Ich stemmte meine Hände gegen das Waschbecken, meine Muskeln konnten mich kaum tragen, und lehnte meine Stirn gegen das kühle Glas. Mein Körper war ekelerregend, unfraulich. Durch die herausstehenden Knochen und Gelenke wurde mein Körper kantig und unförmig, ein krasser Gegensatz zu den fraulichen Kurven, die ich einst besaß. Die eingefallene Bauchdecke ließ meinen Oberkörper unendlich leer wirken. Meine Augen waren tief in die Augenhöhlen gesunken und die Farbe meiner Haut betonte stark die eingefallenen Wangen. Die einst so vollen und immer roten Lippen waren nur noch ein rissiger und fahler Krater in dem Gesicht der Frau vor mir. Das sonst so vitale Haar hing ihr schlaff ins Gesicht, ein Zeichen von vielen das für Vitamin- und Nährstoffmangel sprach. Ich war ein fahler, müder und vor allem erschreckend grässlicher Abklatsch meines früheren Selbst geworden. Die so anziehende Aura verloren, der immer fröhliche Glanz zerstört. In meinen Augen sammelten sich die Tränen und nach und nach stahl sich eine nach der anderen heraus. Ich schluchzte auf und aus den einzelnen Tränen wurden kleine Bäche die sich einen Weg meine Wangen hinunter bahnten. Ungehemmt lies ich diese fließen, lies sie den Schmerz und den Kummer aus meinem Körper waschen und meine Seele bereinigen. Vorsichtig sank ich zu Boden. Die Schmerzen, die dabei entstanden, waren mir egal. Ich wusste nicht, wieso ich weinte, doch ich konnte nicht mehr aufhören, und wollte es auch nicht.

„Hei, warum weinst du denn?“, fragte mich Ben sanft, er stand im Türrahmen und schaute zu mir herunter. Es war einfach alles zu viel. Trotz Schmerzen zog ich meine Beine an und schlang meine Arme darum. Kräftige Oberarme umschlungen plötzlich meinen Körper, doch ich kümmerte mich nicht darum. Ben hatte sich zu mir auf den Boden gesetzt, und zog mich jetzt auf seinen Schoß, legte tröstend seine Arme um mich und legte meinen Kopf auf seine Brust. Ich ließ es geschehen, denn er wirkte in diesem Moment so ruhig. Es ging keine Gefahr von ihm aus, sondern einfach nur Ruhe und Wärme. Sie umschlossen Körper und Geist und hüllten mich in Watte. Langsam wiegte er mich hin und her und ich weinte ungehemmt in seinen Armen. Der gesamte Stress, die Panik und der Schmerz der letzten Wochen lösten sich für eine kleine Weile von mir. Hatte ich die letzten Wochen nur wegen der Vergewaltigungen geweint, so weinte ich jetzt für etwas, das ich nicht beschreiben konnte. Es war, als würde mein Verstand erst jetzt realisieren, was ich alles erlebt hatte und als würde er jetzt erst anfangen zu verarbeiten.

Beruhigend strich er in einer wunderbaren Monotonie über meinen Rücken, zeigte, dass er für mich da war, ohne mich mit unnötigen Worten des Trostes zu bedrängen. Eine angenehme Stille hatte sich über uns gelegt, wenn sie auch nur so vor Trauer strotze war sie trotzdem nicht erdrücken. Die Tränen wurden weniger und das Wissen das ich nicht alleine war, mehr.  Schlussendlich versiegten sie und ich schaute wortlos und ohne Scheu oder Scharm zu ihm auf.

Sanft schaute er zu mir herunter und nickte einmal kurz in Richtung der Badewanne.

 Ohne zu zögern folgte ich seiner Aufforderung, stand auf und setzte mit erschöpft auf den Rand. Langsam schraubte er den Deckel von der Tube herunter und drückte eine erbsengroße Portion auf seine Finger, mit der er mir die Muskelregionen in der Nähe der Wirbelsäule vorsichtig einschmierte. Entgegen jeder Erwartung war mir seine Berührung nicht unangenehm. Im Gegenteil, es tat gut. Es tat gut zu wissen, dass sich jemand um mich kümmerte.

*11*

Vorsichtig betrachtete ich die Wände, welche mich langsam Stück für Stück zu erdrücken schienen. Ich musste hier raus, raus aus dieser Enge.

„Gehst du mit mir raus?“, fragte ich gehetzt jedoch leise und unterbrach somit das Schweigen, welches zwischen uns angehalten hatte.

„Wenn du das willst“, antwortete er flüsternd und schaute mit mir mit einem sanftmütigen Blick entgegen. Die Augen auf die Bodenfliesen gerichtet nickte ich wie in Trance. Nachdem er einen neuen Verband angelegt hatte, zu meinem Erstaunen gar nicht so unbeholfen, wie ich gedacht hätte, und mir einen warmen Pulli eine dicke Jacke und Handschuhe, sowie Mütze, Schal und Stiefel aus seinem Schlafzimmer gebracht hatte, stiegen wir in den Aufzug und anschließend in einen blauen Sportwagen mit verdunkelten Scheiben. Durch Knopfdruck öffneten sich die mächtigen Tore der Tiefgarage und schnell bretterte er heraus und die geräumten Straßen entlang. Nachdem wir ein paar Mal abgebogen waren, kam er auf einem Parkplatz nahe einem Waldstück zum Stehen. Er zog den Schlüssel, schnallte sich ab und stieg aus dem Auto. Ich tat es ihm gleich und er kam auf mich zu. Kurz vor mir blieb er stehen

„Kann ich dir vertrauen?“, fragte er ernst, während er mich leicht an den Ellbogen fasste.

„Was meinst du?“,  fragte ich verwirrt.

„Naja, muss ich dich an mich ketten oder kann ich dich frei rumlaufen lassen, ohne dass du abhaust?“ Er biss sich auf seine Unterlippe und schaute mich erwartungsvoll an. Verblüfft schaute ich ihm ins Gesicht. Auf diese Idee war ich nicht einmal gekommen. Aber es wäre absurd, auch nur daran zu denken. Denn ich wusste nicht, wo ich war, es war Winter, ich war verletzt und er war sicherlich um einiges schneller, als ich. Deshalb schaute ich ihm fest in die Augen.

„Ja“. Still nickte er, nahm meinen Arm und hackte ihn bei sich unter. Ohne ein weiteres Wort lief er los, langsam, so dass ich mithalten konnte. Wie eine Süchtige sog ich die frische, kühle  Luft in meine Lungen und genoss die hinreisende Landschaft um uns. Wie zu erwarten im Februar lag auf den Wiesen eine dicke Schicht Schnee . Es fröstelte mich leicht und so zog ich Ben etwas näher, was mir ein leises angenehmes Lachen seinerseits einspielte und auch mich zufrieden Schmunzeln ließ. Meine Angst vor ihm und seinen Berührungen hatte ich vollends verloren. Egal, was das Ekel Julio mir angetan hatte, Ben würde das nie tun. Es war so befreiend hier draußen zu stehen und die Natur zu genießen. Früher hatte ich nie Zeit für solch kleine Freuden im Leben. Es war immer alles hektisch gewesen, immer Zeitdruck und Terminchaos. Doch nun konnte ich mir im Moment nichts Schöneres vorstellen, als hier zu sein. Geheimnisvoll glitzerte der Fluss am anderen Ende der Weide. Die nackten Baumwipfel senkten sich im Wind und die Sonne ließ den Schnee zum Leben erwachen. Es sah aus, als würden weiße Rohdiamanten auf dem Boden liegen. Genießerisch schloss ich die Augen und lauschte dem Wind. Vereinzelt hörte man leise Wintervögel zwitschern und das Knirschen unter meinen Sohlen passte sich dem Rhythmus der Natur an. Mir war kalt, doch ich genoss es. Seit Wochen war es das erste Mal das sich etwas anderes in mir regte, keine Angst, kein Schmerz und keine Verzweiflung. Ich spürte förmlich wie sich die Ruhe der Natur in mich legte. Ich weiß nicht  mehr, wie lange wir so spazieren gegangen waren, doch als wir endlich am Auto angekommen waren, ging die Sonne gerade dem Boden entgegen und ließ den Himmel in den schönsten Rottönen erstrahlen. Nachdem Ben mir ins Auto geholfen hatte und die Wirkung der Paracetamol nachließ, stieg er selbst ein und fuhr los. Laut knurrte mein Magen und ein Grinsen schlich sich auf Ben's Gesicht.

„Du hast wohl Hunger, was?“, stellte er mit Genugtuung fest.

„Da wäre ich jetzt aber nie drauf gekommen“, neckte ich zurück, ob seiner sinnvollen Feststellung. „Wir sind ja gleich daheim, dann können wir was essen.“

Versunken in die vorbeiziehende Landschaft nickte ich nur als Antwort. Verdutzt stellte ich fest, dass sich ein schlichtes Gefühl in mir verbreitete, das ich erstaunt als einen Anflug von Zufriedenheit identifizierte. 

*12*

Nachdem Ben gekocht hatte, das Essen verschlungen war und ich eingekuschelt in drei Decken auf dem Sofa lag, verfolgte ich mit großem Interesse dem Lichterspiel der Sterne am Himmel, während Ben in der Küche stand und abwusch. Ein grelles Schrillen ertönte, welches mich zu tiefst erschreckte. Schnellen Schrittes ging Ben in den Flur, während er die vom abwaschen nassen Hände an der dunklen Jeans, die seinen Hintern so wundervoll umrundeten, trocken wischte. Beschämt stellte ich fest, dass ich nicht einmal mehr in der Lage war, eine Türklingel zu erkennen und das sich meine Türklingen daheim ähnlich angehört hatte, machte das Ganze nicht wirklich besser. Es war deprimierend das mich jedes kleines Geräusch erschreckte.

„Klar, komm hoch und bring die Pakete gleich mit, dürfte alles in den Fahrstuhl passen“, hörte ich Ben im Flur in die Sprechanlage sagen. Er kam ins Wohnzimmer, lächelte mich schief an und ging dann weiter in die Küche. Das Bing der Fahrstuhltüren kündigte seinen Besuch an, welcher auch schon aus dem Fahrstuhl trat. Ein fünfmaliges lautes Poltern war zu vernehmen, schwere Schritte, dann ein stumpfes abstreifen der Schuhe und anschließend bullige, dumpfe Schritte Richtung Wohnzimmer. Ein glatzköpfiger Berg mit miesem Gesichtsausdruck trat ins Wohnzimmer, anschließend kam Ben aus der Küche und das Gesicht des Muskelprotzes erhellte sich. Brüderlich umarmten sie sich und tauschten eine paar Nettigkeiten aus. Wie die Drogengeschäfte liefen, darüber, dass der momentane Preis für Kokain Spitzenwerte erreicht hatte und über eine neue Designerdroge namens Cristal. „Willst du was essen oder ein Bier? Hab noch was übrig“, fragte er Max, dessen Name ich im Laufe des Gespräches aufgefangen hatte. Dieser bejahte das Bier. Mit einem strengen Blick befahl mir Ben stumm, aufzustehen und ins Schlafzimmer zu gehen. Mühselig stand ich auf und folgte wortlos, denn ich wusste, wie barsch er wurde, sobald andere Menschen da waren. Gerade, als ich die Tür hinter mir schließen wollte, schnauzte er mich an: „Herr Gott wie oft muss ich dir noch sagen, dass du diese verdammte Scheißtür nicht hinter dir zu machen sollst, lass sie offen.“

 Arschloch. Also ließ ich dich Tür offen und legte mich auf sein Bett. Es war wunderbar weich, gar kein Vergleich zu dem Sofa, auf welchem ich seit drei Wochen schlief. Gut konnte ich ihr Gespräch mitverfolgen.

„Na, die Kleine muss aber noch viel lernen“, meinte Max schnaubend.

„Ja, aber ich hab sie ja erst vor kurzem bekommen, da erwarte ich auch noch nichts anderes, das kennst du doch. Ich hab etwas länger gebraucht, um ihren Willen zu knacken. Die Kleine war hartnäckiger, als ich dachte.“ Wieder einmal redete er über mich wie über einen Gegenstand und dieses Mal tat es weh.

Ein grunzendes Lachen quittierte seine Worte. „Das bekommst du schon hin. Wenn nicht, dann gibst du sie mir einfach mal in meine Spezialbehandlung. Du weißt ja, was ich meine“, er lachte dreckig. „Ist sie denn sonst wenigstens gut?“, wollte er wissen.

„Die Mühe wert. Aber Max, du weißt doch, ich teile mein Spielzeug nicht gerne und vor allem nicht ein so teures.“ Am liebsten wäre ich wutentbrannt aufgesprungen, ins Wohnzimmer gerannt,  hätte beiden eine geschlagen und dann geschrien "ICH BIN KEIN SPIELZEUG! ICH BIN EIN LEBEWESEN, EIN MENSCH!", doch ich begnügte mich damit, es immer und immer wieder wie ein Mantra in meinem Kopf zu wiederholen.

„Stimmt. Bei Becky und Jessy war es ja das Gleiche, hatte ich vergessen. Irgendwie hast du wohl Pech und erwischt immer die mit dem stärksten Willen.“

 Diese Worte hallten in meinem Kopf nach wie ein Echo. "Ich habe noch nie einen Menschen gekauft", hatte er mir gesagt. Hatte er sehr wohl. Er hatte mich belogen und ich hatte ihm geglaubt, hatte angefangen, ihm zu vertrauen. Wie naiv war ich eigentlich? Dachte ich wirklich, man konnte ihm vertrauen? Gerade ich sollte wiesen, wie schlimm das Leben sein kann. Doch trotzdem hatte er nicht das Recht mich so zu belügen, einfach mein Vertrauen auszunutzen. Tränen stiegen mir in die Augen. Tränen der Wut, denn ich war stink wütend auf ihn. Und auf mich. Ich hätte einfach nur die ganze Zeit daran denken sollen, in was für einem Milieu er tätig war. Drogen und Menschenhandel gehörten dort zum Alltag. Entschlossen strich ich mir die Tränen aus den Augen. Von wegen meinen Willen gebrochen, du würdest noch sehen, was es bedeutet meinen Willen brechen zu wollen, Ben.

*13*

Irgendwann musste ich weinend eingeschlafen sein, doch als ich aufwachte, bekam ich meine Augen nur schwer auf, die Tränen hatten meine Wimpern verklebt. Vorsichtig streckte ich mich und lockerte somit meine zu Stein gewordenen Muskeln. Trotz dem ausreichenden Schlaf fühlte ich mich nicht ausgeruht, sondern als wäre ich von einem gigantischen Monstrum zerkaut und wieder ausgespuckt worden. Die Augen weit geöffnet starrte ich auf einen makellosen, nackten Rücken. Ben hatte sich ernsthaft neben mich gelegt. Er hatte es wirklich gewagt. Wut stieg in mir auf. Trotz meiner Wunde richtete ich mich auf und verließ schnaubend sein Schlafzimmer. Noch nie in meinem Leben hatte mich der Gedanke einen Menschen berührt zu haben, so geekelt, wie bei Ben. Ich konnte seinen Geruch förmlich an mir haften spüren und der Drang mich zu waschen wurde immer stärker. Er würde mich genauso  wie die anderen Mädchen behandeln, versuchen meinen Willen zu brechen und mich benutzen. Wieder sammelten sich Tränen in meinen Augen, doch ich unterdrückte sie, zu viel hatte ich in letzter Zeit geweint. Schnell ging ich ins Bad, um mich zu waschen, bevor er aufwachte. Umständlich zog ich mir meine Kleidung aus und fragte mich währenddessen, wo mein altes Ich nur geblieben war. Sonst hatte ich einen so starken Kampfgeist, wie der eines ausgehungerten Tigers, der dieses verdammte blutige Stück Fleisch haben wollte. Ich besaß Courage und lächelte immer, hatte Selbstvertrauen und Scharfsinn. Ich ließ mir nie etwas vormachen und was mir nicht passte, das änderte ich. Jedes Problem hatte ich gelöst, immer alles geregelt. Wo war diese Frau bloß hin?

Sie war in diesem alten Rattenloch gestorben, schoss es mir durch den Kopf.

Das Echo hallte an meiner Schädeldecke wieder und entfloh meinem Kopf nicht. Innerlich war ich gestorben, nur um körperlich weiterleben zu dürfen. Ich ging zur Dusche und nahm das Shampoo und Duschgel raus, welches Ben für mich gekauft hatte, und stellte es auf den Badewannenrand. Duschen durfte ich noch nicht, deswegen lies ich Wasser in die Badewanne ein. Nur so viel, dass es knapp unter meinem Bauchnabel aufhörte. Vorsichtig setzte ich mich in das Wasser und wartete, bis sich das unangenehme Stechen des zu warmen Wassers auf meiner Haut gelegt hatte.

„Was machst du da?“

Erschrocken fuhr ich zusammen. Ben stand im Türrahmen, ich hatte nicht einmal gemerkt, dass er die Tür geöffnet hatte.

„'Nach was sieht‘s den aus? Ich masturbiere.“

 Eigentlich sagte ich so etwas nicht, doch die Wut in mir machte mich zu einem anderen Menschen. Das war eine Ausrede, und das wusste ich selbst. Ich war ein anderer Mensch.

„Jetzt guck nicht so, als würdest du sehen wie bei einer Frau ein Kind raus kommt, das war ein Spaß. Ich wasche mich, ist das verboten?“

Ich legte alle Kälte in meine Worte, die ich aufbringen konnte, dennoch entspannten sich seine Gesichtszüge augenblicklich.

 „Warum hast du nicht gewartet, bis ich wach bin? Ich hätte dir geholfen.“

Ich verkrampfte meine Hand. Er dachte wirklich, ich hätte das Gespräch gestern nicht mitbekommen.

„Weil ich keine Hilfe von falschen Menschen wie dir brauche“, gab ich ihm patzig zur Antwort und fing an mit dem Schwamm, der zu meiner Rechten lag, meine Beine zu waschen.

„Okay, schieß los. Was habe ich denn schon wieder angestellt, hmm? Habe ich heut Nacht vielleicht im Schlaf gefurtzt? Na los, sag, was ist dein Problem?“

 Wenn er aufbrausend wurde, wurde er widerlich.

„Keine Ahnung was los ist, frag doch Becky und Jessy. Wie wär´s?“

Wütend starrte ich ihn an und versuchte an seinen Blicken zu deuten, was er gerade dachte. Eisern hielt ich ihnen stand. Ich sah, wie seine Kiefer mahlten und seine rechte Augenbraue zuckte unkontrolliert. Wäre ich nicht so wütend gewesen, hätte ich sicherlich über seinen Gesichtsausdruck gelacht.

„Du hast das gestern gehört?“, seine Stimme war deutlich leiser geworden, klang irgendwie resigniert, und ähnelte stark dem flachen Atmen eines Tieres, das auf der Lauer lag.

„Nein, Ben, ich hab die Namen gerade erfunden. Du hast wohl vergessen, dass die Tür offen war. Deine Regeln, dein Pech.“

 Er war leicht bleich geworden und wirkte nun, trotz seiner mächtigen Erscheinung, etwas verloren in dem Raum, der sich durch das heiße Wasser langsam mit Nebelschwaden füllte. Nach schier endlos wirkenden Sekunden, setzte er sich in Bewegung, schloss den Klodeckel und ließ sich darauf fallen, wo er mit seinen großen Händen das Gesicht bedeckte und sich die Augen rieb.

„Es tut mir-“

- „Sag nicht, dass es dir Leid tut, lüg mich nicht noch einmal an.“, sagte ich ruhig, starrte ihn aber weiterhin an.

„Verdammt, Alexandra, das verstehst du nicht, okay? Hätte ich dir erzählt, dass ich schon einmal zwei Mädchen hier hatte, hättest du mir nie im Leben vertraut. Außerdem war es nicht gelogen. Ich habe wirklich vorher noch nie einen Menschen gekauft. Jessy und Becky waren die Mädels von meinem Boss und ich sollte mich um sie kümmern. Später nahm er sie mir wieder ab, weil er sie an ein Bordell weiterverkauft hatte.“

Im Sprechen hatte er den Kopf gehoben und schaute mir nun immer noch fest in die Augen. Doch ich glaubte ihm nicht. Er war nicht der Typ der Mensch, der sich unterordnen konnte und wollte. Er war ein Freigeist, respektlos, wild und rebellisch. So hatte ich ihn zumindest in den letzten Wochen kennen gelernt.

„Wow, sobald du den Mund aufmachst, lügst du. Du und einen Boss haben? Verarschen kannst du jemanden anders. Du lässt dir ja nicht einmal von deinem eigenen Spiegelbild etwas sagen. Und warum hast du dich nicht besser um die Mädchen gekümmert? Du bist doch eine so gute und treue Seele.“

 Meine Worte troffen vor Spott und mein Gesichtsausdruck sprach Bände von Verachtung. Er war wütend geworden, das sah man ihm an.

„’Sie sind verkauft, verstanden? Sie sind weg. Wenn du mich weiter nervst, mach ich mit dir dasselbe.“

Ruckartig stand er auf und verließ das Bad, aber nicht ohne die Tür hinter sich zuknallen zu lassen. Keine fünf Minuten später erklang der Ton des Fahrstuhles und in der Wohnung war es still. So wie es aussah, würden wir wohl wieder unsere alten Gewohnheiten aufnehmen. Fein.

 

*14*

Gerade hatte ich ein Butterbrot gegessen und war daran, eine Schmerztablette hinterher zu kippen, als Ben hektisch in die Küche kam.

„Pack deine Sachen“, zischte er in meine Richtung und ich starrte ihn mit großen Augen an.

„Was ist denn jetzt los?“, fragte ich ihn verwirrt und sofort schossen mir seine Worte von heute Morgen durch den Kopf. Er hatte doch nicht wirklich vor, mich an ein Bordell zu verkaufen.

„Jetzt beweg deinen dürren Arsch, wir müssen Sachen packen und dann nichts wie weg hier. Ich erklär dir alles im Taxi, ja?“

Mitten in seinem Gewusel war er stehen geblieben und guckte mich nun an als, wäre er sich nicht sicher, ob ich genug Gehirnzellen besaß, um seine Worte zu verstehen.

„Schau mich nicht so an, als wäre ich dumm, wie tausend Russen“, fuhr ich ihn an. „Alexandra, Herr Gott, wir haben jetzt keine Zeit zum Diskutieren. Du kannst mich später zusammen scheißen wie du willst, aber bitte pack jetzt, verdammt nochmal, deine Sachen.“

 Er war ehrlich aufgewühlt und schien äußerst beängstigt. Das kannte ich gar nicht, also Ben und Angst. Als er mich scharf ansah, setzte ich mich in Bewegung und fing mechanisch an meine buchstäblich sieben Sachen zu packen. Was war passiert, dass Ben so aus der Fassung brachte? Etwas beunruhigt über die einzigen Antworten, die mir einfielen, schloss ich den kleinen Koffer zu, den Ben mir gegeben hatte, und wollte ihn gerade zum Fahrstuhl tragen, als Ben mich anfuhr: „Alex, sag mal, spinnst du? Stell sofort den Koffer wieder hin, der ist doch viel zu schwer.“

 Wütend über seine geheuchelte Besorgnis starrte ich ihn an.

„Ben, der Koffer wiegt so viel wie Fliegenscheiße, wo ist dein Problem?“

-„Nur weil die Schmerztabletten nimmst und du keine Schmerzen mehr hast, heißt das noch lange nicht, dass es deinen Prellungen gut geht.“

-„Das kann man aber auch anders sagen, oder? Nur weil du grade Stress hast, musst du mich nicht anfahren“, grummelte ich weniger böse zurück.

Schnaubend wand er sich ab und schüttelte den Kopf. Keine fünf Minuten später nahm er seinen und meinen Koffer, warf mir meine Jacke zu, zog sich seine an und wir betraten den Fahrstuhl. Kaum waren die Türen offen, legte Ben ein Tempo ein, bei dem ich nur joggend mithalten konnte. Umständlich stieg ich den Wagen, während Ben die Koffer im Kofferraum verstaute und sich anschließend vorne auf den Nebensitzt fallen ließ.

 „Zum Flughafen“, sagte er gehetzt und schnallte sich an, während der Taxifahrer den Blinker setzte.

 

***

 

Rückblick: Was in der Zwischenzeit geschah - Ben’s Sicht

 

Sein Schweigen machte mich nervös. Der bequeme Sessel schien mir auf einmal nicht mehr so einladend, wie am Anfang des Gespräches, als ich dachte, dass das doch alles noch ohne Reibungen über die Bühne gehen könnte. Toller Optimismus. Nervös rieb ich mir die schweißnassen Handflächen an meiner Jeans ab.

„Nun lass uns erst einmal einen Whiskey trinken und uns in Ruhe darüber unterhalten.“

 Okay, das war eindeutig die falsche Reaktion und glich dem altbekannten Todesstoß. Galant erhob er sich aus seinem  Sessel und strich sich das graue Haar zurück. Trotzdem nickte ich, denn ich wusste dass meine Stimme mich verraten hätte, und folgte ihm durch das lange helle Zimmer mit der schönen gewölbten Decke, welche ich früher immer so bewundert hatte. Laut hallten unsere Schritte auf den dunklen Fließen im Raum wieder. Wir steuerten den alten rustikalen kleinen Tisch in der Mitte des Raumes an und ließen uns auf den zwei alten, breiten Sesseln nieder. Das Licht, das durch die bodenlangen, großen Fenster, welche von dunkelgrünen schweren Vorhängen umrahmt waren, drang, brach in der Kristallkaraffe des Whiskeys. Wie die Ruhe in Person lehnte ich mich zurück und legte die Arme auf den Lehnen ab. In eingeübter Natürlichkeit schenkte er die bernsteinfarbene Flüssigkeit in die zwei daneben stehenden Kristallgläser und schob mir eines zu. Sein eigenes nahm er in die vom Alter gezeichnete Hand mit dem tiefgrünen Smaragd am Ringfinger und führte es zu seinem Mund. Ich verfolgte die Bewegung des Kehlkopfes als er einen Schluck nahm und setzte mein eigenes Glas an die Lippen, um mir ebenfalls einen Schluck zu genehmigen. Meine Hände zitterten leicht und meine lässige Haltung war Fassade, das wusste er.

„Du willst also aussteigen? Das nehme ich persönlich, Ben. Stimmt irgendetwas mit dem Geschäft nicht? Macht dir jemand Probleme?“

 Das Brennen des Whiskeys, welches ich normalerweise als angenehm empfand, schnürte mir in diesem Moment die Kehle ab. Meine Lippen kräuselten sich leicht und meine Stirn zog ich in leichte Falten. Das war sie, die letzte Möglichkeit mich umzuentscheiden. Jede Faser meines Körpers war zum zerreißen gespannt, mein Griff um das Glas wurde stärker, sodass meine Knöchel weiß wurden. Doch ich wollte nicht mehr in dieser Szene tätig sein. Geldwäsche und Drogendealen erfüllten mich nicht mehr so, wie es der Nervenkitzel früher getan hatte. Ich hatte genug gespart, um mir ein gemütliches Leben zu ermöglichen. Außerdem hatte Alex heute Morgen etwas gesagt, was ich selbst schon seit Jahren unterdrückt hatte. Ich war eine willensstarke Person, liebte es, mein eigener Herr zu sein und das tun und lassen zu können, was ich wollte. Viel zu lange war ich Dimitri in den Arsch gekrochen. Mein Bruder hatte es auch geschafft, klar hatte er nicht so tief in der Scheiße drin gesteckt und so viel gewusst, doch trotzdem war es ihm gelungen, lebend aus der Sache raus zu kommen. Und das mit der Justiz hatte Alexandra für ihn geklärt. Also konnte sie mir auch helfen. Nur, ob Dimitri mich so einfach gehen ließ? So wie es aussah, wohl eher nicht. Ich lehnte mich nach vorne und legte mein Hände auf den Schenkeln ab.

„Hör zu Dimitri, das ist wirklich nichts Persönliches. Es ist alles vollkommen okay, nur das Geschäft erfüllt mich nicht mehr. Ich will sauber leben und nicht Angst haben, dass jeden Moment die Bullen anklopfen.“

Offen schaute ich ihm in die Augen, etwas was sich nur wenige Menschen erlauben durften. Schwer atmete er die Luft aus seinen Lungen aus, ganz so, als würde er eine nun getroffene Entscheidung sehr bereuen. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Also würde er mich nicht so davon kommen lassen, eine Tatsache die mir eigentlich von vorne herein hätte klar sein können. Der Baron, wie  Dimitri sich gerne selbst nannte, würde niemals jemanden mit so einem großen Wissen einfach so aussteigen lassen. Somit hieß es ab jetzt ein Rennen gegen die Zeit, ein entfliehen vor den Fängen Dimitris, einem der größten Drogenbaronen Deutschlands. Leicht schüttelte Dimitri seinen Kopf und nahm dann einen weiteren Schluck des guten Whiskeys. Seelenruhig stelle er das Glas auf den dunkel gebeizten Tisch.

„Liegt es an dieser …, dieser Schlampe da, welche du gekauft hast?“, fragte er mit seiner für ihn typischen ruhigen und gar fast sanftmütigen Stimme.

 „Nein, das hat rein gar nichts mit ihr zu tun“, antwortete ich ernst, meine Kiefer spannte sich an.

Sanft lächelte er und nickte verständnisvoll. Das war eine dieser Eigenschaften, die ich immer so an Dimitri bewundert hatte. Sein Pokerface saß perfekt, so perfekt, dass es sogar mich fast täuschen konnte. Doch dabei wusste ich ganz genau, dass er gerade mit dem Dolch hinter mir stand und sich fragte, wie er am besten zustechen sollte, sodass er den größt möglichen Schaden in meinem Fleisch hinterlassen würde.

„Dann geh mein Sohn, es ist schade, dass du die Familie verlässt. Aber denk daran, man sieht sich immer zweimal im Leben, Ben“, sagte er nun ernst und bedeutete mir den Raum zu verlassen.

So galant wie möglich erhob ich mich und leistete seiner Anweisung folge. Gemütlich, als hätte ich alle Zeit der Welt, verließ ich den Raum, das Haus, setzte mich in mein Auto und fuhr davon. Nun war es so weit, ich war vogelfrei für Dimitris Bande.  Also, so gut wie tot.

Gehetzt überlegte ich mir meine nächsten Schritte. Mir war klar, dass Dimitri meinen Wagen hatte verkabeln lassen, also musste ich meine Spur verwischen. Ich machte mich zuerst auf den Weg zu einer Bank, und hob etwas von meinem privaten Konto ab, von welchem der Baron nichts wusste. Anschließend steuerte ich den Bahnhof an, stellte meinen Wagen auf den Parkplatz und wartete zehn Minuten, bis ich wegfuhr. Gott sei Dank hatte Max gestern die gefälschten Papiere für Alexandra gebracht, um welche ich ihn gebeten hatte, ich selbst hatte genug Identitäten. Viele von ihnen kannte nicht einmal Dimitri. Er machte aus solchen Sachen immer gerne ein Katz und Maus-Spiel, doch die Maus war immer schnell gefangen, denn des Barons Armee war nicht nur in Frankfurt vertreten, sondern in ganz Deutschland, teilen Russlands und weiteren Ländern auf der ganzen Welt. Nicht selten war ich die Katze gewesen, in einem Wahn handelnd, den ich mir heute nicht mehr erklären kann. Als nächstes steuerte ich den Busbahnhof an wartete ebenfalls mehrere Minuten und fuhr wieder davon. An den Fähren wiederholte sich das Ganze noch einmal. Doch hier stieg ich aus, bat einem vertrauenserweckenden Mann 80 Euro dafür, mit meinem Auto zur U-Bahn Station zu fahren zehn Minuten zu warten und anschließend mit dem Auto zu einer Nahe gelegen S-bahnstation zu kommen. Währenddessen ging ich zu dem nicht weit entfernten Flughafen, um Tickets zu kaufen. Am besten Inland, denn im Ausland wird er zuerst suchen, nachdem er gemerkt hatte, dass ich geflogen war. Gehetzt eilte ich zum Schalter und ignorierte die anzüglichen Blicke der Angestellten.

„Ein Inlands-Flug, innerhalb der nächsten Stunden, Ziel im Norden gelegen“,  sagte ich barsch und die Blonde schaute mich stutzend an. Ungeduldig hob ich eine Augenbraue, worauf sie anfing nach einem Passenden Flug zu suchen.

„Wie wäre Hamburg? Der Flug geht in vier Stunden“, antwortete sie leicht verschüchtert. Ich nickte, kaufte zwei Flugtickets, beeilte mich zur S-Bahnstation zu kommen und fuhr nach Hause. Auf dem Weg nach oben rief ich bei einem Taxiunternehmen an und beeilte mich in den Aufzug zu kommen. Das Spiel konnte beginnen. Wenn ich Glück hatte, tanzte die Maus bald auf dem Tisch.

 

***

 

„Zum Flughafen?“,  fragte ich irritiert, ich hätte Vieles erwartet, aber nicht, dass wir einen kleinen Kurzurlaub machen würden.

„Hör zu, ich erklär dir alles im Flieger, okay? Es ist wichtig, dass du mir direkt zum Gate folgst und während wir diesen ganzen Sicherheitskram über uns ergehen lassen keinen Aufstand machst. Und halte den Kopf immer gesenkt. Verstanden?“

Ich konnte die irritierten Blicke des Fahrers sehen, während Ben seine Blicke wieder nach vorne richtete. Mit vor Sarkasmus  strotzender Haltung salutierte ich zu einem ‚Jawohl, Sir‘ und wand mich anschließend dem Fester zu, um die Stadt zu betrachten. Welch eine Ironie, dachte ich mir lachend. Ich befand mich in Frankfurt, wie mir ein Werbeplakat verriet, eine Stadt in die mich keine zehn Pferde bekommen hätten. Ich konnte diese Stadt nicht leiden, denn ihr schlechter Ruf eilte ihr voraus und wie man nun sah, das nicht um sonst.

*15*

Quälend langsam kam es mir vor, als wir am Schalter den Bürokratie-Kram über uns ergehen lassen mussten und saßen nun endlich nach ebenso langer Wartezeit im Flugzeug. Mehrere Male hatte ich mir meine schweißnassen Hände an der Hose abwischen müssen, während die komische Frau am Schalter meinen gefälschten Pass mehrere Minuten lang anguckte und prüfte. War ja klar gewesen, dass Ben mir eine neue Identität beschafft hatte und dann auch noch dieser Name. Clair Benett. Und zu allem kam auch noch dazu, dass ich Fliegen hasste, denn es war Stress pur und am Ende einen hatte man, wenn’s blöd kam, auch noch einen Jetlag. Es lohnte sich einfach nicht. Ben saß unruhig neben mir. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Hände verschränkt und sein rechtes Bein war in einen gleichmäßigen Wipp-Rhythmus gefallen. Ich konnte regelrecht spüren, wie sehr er unter Strom stand. Seine Muskeln waren angespannt und er atmete schwerer, als sonst. Alleine dafür, dass ich wusste, wie sich sein Atem normalerweise anhörte, hätte ich mich ohrfeigen können. Wir wurde gerade einmal mehr klar, wie sehr ich in den letzten Wochen gelernt hatte, ihn zu mögen. Doch jede Fassade bröckelt irgendwann, so auch bei ihm. Eigentlich schade, denn einen noblen Retter wünschte sich jede Frau. Doch dann festzustellen zu müssen, dass der Esel auf dem er daher geritten kam, intelligenter war, als sein Reiter, war ein makabrer Schlag in den Magen. Man konnte eben nie sagen, dass man einen Menschen kannte. Selbst, wenn man mit ihm zusammen „lebte“, konnte man doch nicht in seinen Kopf gucken. Obwohl ich mir nicht so sicher war, ob ich auch etwas in seinem Kopf gefunden hätte. Ich meine, welcher Mensch befasste sich heutzutage bitte noch mit Menschenhandel? Vielleicht ein lukratives Geschäft im Mittelalter, doch es gehörte nicht in unsere Zeit.  In meinen Gedanken versunken, bemerkte ich am Rande, wie das Symbol für den Gurt aufleuchtete und ich schnallte mich an, Ben tat es mir gleich. Etwas entspannter lehnte er sich wieder nach hinten und schaute aus dem Fenster. Ich selbst ließ mich tiefer in meinen Sitzt sinken und überschlug meine Beine, ließ meinen Blick durch die Reihen wandern, beobachtete die Menschen um mich herum und musste mir eingestehen, dass ich es ohne Ben nach der Zeit bei Julio nicht weit gebracht hätte. Müde fuhr ich mir über’s Gesicht.  Die Menschenmassen heute waren mir eindeutig zu viel, vor jedem zuckte ich zurück und alles machte mir Angst. Doch ich hatte schmerzlich erkennen müssen, dass Ben eben kein Stück besser war, als Julio. Auf ihn konnte ich mich nicht verlassen, ich musste lernen selber klar zu kommen. Denn woher nahm ich die Gewissheit, dass er mit nicht mal kurzer Hand verkaufen würde, wenn er gerade etwas Geld brauchte?  Das Rollen des Flugzeugs lenkte mich von meinen dunklen Gedanken ab. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Bauch breit und wurde von Minute zu Minute stärker. Als es startete, sackten Herz und Magen gefühlte vier Stockwerke tiefer. Nachdem das Flugzeug in der Luft war und meine Organe wieder auf ihrem Platz, schlossen sich meine Augen flatternd und langsam von der Erschöpfung.

 

Nicht viel später saß ich in einem gemieteten Auto und wartete immer noch darauf, dass Ben mir eine Erklärung lieferte, warum wir jetzt in Hamburg waren und durch das Ampel- und Straßengewirr irrten. Genervt stützte ich meinen Kopf in die Hände und stieß langsam die Luft aus meinen Lungen aus. Im Flugzeug hatte ich ihm durch mein kleines Nickerchen die Möglichkeit genommen und nun fuhr er selig ruhig durch die Innenstad Hamburgs und macht nicht die geringste Anstalt, ein Wort der Erklärung über seine Lippen kommen zu lassen. Meine Kopfhaut juckte und ich sehnte mich nach einer warmen Dusche, die meine vom Flug verspannten Muskeln etwas auflockern würde. Langsam setzte ich mich wieder auf, denn das Stechen in meinem Rücken verriet mir, dass die Wirkung der Schmerztablette abflaute. Ich strich mir mit der rechten Hand durch das Haar, legte meinen Ellenbogen auf einer Erhebung der Tür ab und legte meinen Kopf in die Handfläche. Sie schien ihm ganz recht zu sein, diese Ruhe.  Selbst, als wir bereits aus der Stadt heraus gefahren waren herrschte immer noch eine erdrückende Stille im Auto. Ich war mir sicher, man hätte seine teure, schwarze Armbanduhr ticken hören, wäre der Motor nicht so laut gewesen. Ich platzte schier vor Neugier, das war eben meine Natur. Und fast hätte ich ihn auch gedrängt, mir endlich eine Erklärung zu liefern, wäre mir nicht eingefallen, dass ich ja nicht mehr mit ihm reden wollte. Zumindest so fern es sich vermeiden ließ.   Wir befanden uns gerade auf der Autobahn, A 24, Richtung Lübeck, Berlin und Schwerin, also noch weiter in den Norden hoch. Dort wechselten wir auf die A 1 Richtung Lübeck, Rostock und Barsbüttel, nur um dann auf die A 226 zu fahren die in Richtung einer Stadt führte, von welcher ich wirklich noch nie etwas gehört hatte: Travemünde. Eine, zumindest den Plakaten nach, für ihre gute Schiffverbindungen bekannte Stadt an der Ostsee.

Impressum

Bildmaterialien: welcometotheborderline
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine liebste Alina, weil sie mir Mut macht meine Ideen zu schreiben.

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