Schon von weitem war es zu sehen, dieses Zirkuszelt. Viele Meter hoch ragte es hinauf in den Himmel. Und nur zu gut konnte man erkennen, wie ungewöhnlich dieser Zirkus war. Denn das Zirkuszelt war nicht bunt, sondern schwarz wie die Nacht. Das Einzige was in einer anderen Farbe gestaltet war, war der Name. »Magical Circus«. In großen goldenen Lettern stand er dort direkt über dem Eingang.
Natürlich sorgte ein solcher Zirkus sofort für Gerede. Schon vor zwei Tagen, als der "Magical Circus" eingetroffen war, ging es los. Leah selbst überraschte das recht wenig. Waren doch alle immer froh, wenn etwas passierte in ihrer kleinen Stadt, die von allen anderen vergessen schien. Ein Zirkus stellte die perfekte Ablenkung zu dem sonst so tristen Alltag da. Leah wusste, dass auch sie in eine Vorstellung gehen würde. Allein schon um mit den anderen darüber reden zu können. Denn auch wenn sie es ungern zu gab: Ihr war oft langweilig. Die Stadt jedoch zu verlassen kam für sie nicht in Frage. Zu viel würde sie dafür zurücklassen müssen. Ihre Familie, ihre Freunde, ihr ganzes bisheriges Leben. Davon abgesehen war sie noch nie außerhalb der Stadt gewesen. Und davon abgesehen, alleine reisen war wirklich nicht etwas, was ungefährlich war. Im Gegenteil.
»Leah, sag mal hörst du mir eigentlich zu?«, sprach sie auf einmal jemand an.
Leah zuckte zusammen. Doch es war nur ihre Mutter, die da vor ihr stand und sie vorwurfsvoll anblickte.
»Du hast mir wirklich nicht zu gehört«, stellte diese fest.
»Ich habe nachgedacht«, sagte Leah, was nicht einmal eine Lüge war. Nur, dass sie eben nicht erwähnte worüber genau sie nachgedacht hatte. Aber wahrscheinlich war das auch gar nicht nötig.
»Was ich gesagt habe, ist, dass wir heute in die Abendvorstellung des "Magical Circus" gehen werden«, sagte Leahs Mutter. »Na was hältst du davon?«
»Heute Abend?«, mit großen Augen sah Leah ihre Mutter an. »Aber wie ...?«, sie räusperte sich. »Dir muss wohl entgangen sein, dass man Karten braucht. Für diesen Abend ist schon alles ausverkauft.« Das wusste Leah weil, es Dorian, der Sohn des Bürgermeisters, ihr erzählt hatte. Und was der sagte stimmte. Zugegeben nicht immer, aber doch meistens.
»Da staunst du was?«, geradezu stolz sah Leahs Mutter sie an.
Leah nickte. Abstreiten ließ es sich ohnehin nicht. »Ich frage mal lieber nicht nach, wie du an die Karten gekommen bist.«
»Das ist nett danke«, Leahs Mutter lächelte. »Und jetzt komm mit. Es gibt noch viel zu tun.«
Viel zu tun gab es tatsächlich noch. Denn nicht nur, dass Leah von ihrer Mutter ermahnt wurde, ihr bei der Hausarbeit zu helfen. Nein. Als Leah sich am Abend für die Vorstellung fertig machen wollte, ließen sich ihre Haare einfach nicht bändigen. Es war nicht das erste Mal, wahrscheinlich auch nicht das letzte, dass das so war. Wie so oft beschloss sie daher, zum Missfallen ihrer Mutter, sie dann eben offen zu lassen, so dass sie ihr bis auf die Schulter fielen. Was sicherlich für viele Blicke sorgen würde, selbst wenn die meisten Leute sie kannten. Doch daran war sie inzwischen gewöhnt. Andererseits musste Leah zugeben, dass ihre Erscheinung schon etwas ungewöhnlich war. Denn nicht nur, dass ihre Haare feuerrot waren, nein. Ihre Augen dagegen waren grün. Je nach Lichteinfall und, der Aussage ihrer Mutter nach, Laune mal dunkel oder etwas heller.
Leander lächelte zufrieden, als er hinter dem Vorhang einen kurzen Blick auf das Publikum wagte. Es sah so aus, als wären fast alle dieser kleinen Stadt gekommen. Und vermutlich fragten sich alle der Zuschauer, was sie bei ihrem Besuch im Magical Circus erwartete. Nun, diese Frage würde Leander ihnen nur zu gern und schon in wenigen Minuten beantworten. Ob alle Leute mit der Antwort zufrieden sein würden, stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Doch Leander würde es bestimmt sein. Immerhin waren seine Artisten, die besten. Auch wenn sie nicht immer eine Meinung waren, doch in welcher Familie war das nicht so? Denn genau als das sah Leander seine Leute. Und er wusste, dass beruhte auf Gegenseitigkeit. Doch das war bei ihrem kleinen „Unternehmen" wie Leander es gerne nannte, wohl kein Wunder. Denn es waren gerade mal fünfzehn Leute, inklusive ihm selbst, die dafür sorgten, dass alles reibungslos verlief. Und das tat es auch von Anfang an.
Nun ertönte auch schon der erste Tusch, der Trompete. Leander lächelte. Ja, er war sich sicher. Der Aufenthalt hier konnte nur zu einem Erfolg werden. Alles andere wäre schon sehr ungewöhnlich. Noch einmal zupfte er die Ärmel seines Anzugs zurecht, dann schob er den Vorhang zur Seite und trat in die Manege.
»Meine Damen und Herren, liebe Kinder!«, rief er mit lauter Stimme und sofort galt ihm die Aufmerksamkeit aller. »Mein Name ist Leander, ich bin der Direktor dieses außergewöhnlichen Zirkus und werde heute und auch die folgenden Abende für Sie da sein. Lehnen Sie sich zurück und lassen Sie sich in eine Welt entführen, in der Unmögliches möglich sein wird! Herzlich willkommen im Magical Circus!«
Leander ließ seinen Blick für einen Moment über all die Zuschauer schweifen. Es war wie immer ein Hochgefühl, ja fast wie eine Droge all diese Menschen vor ihm zu sehen, die erwartungsvoll, und ein paar vielleicht auch ängstlich, der Vorstellung entgegen sahen. Was er nur zu gut verstehen konnte. Immerhin waren alle Vorstellungen selbst für ihn einzigartig.
Leander breitete seine Arme in einer weit ausholenden Geste aus. »Na dann, lasst uns endlich anfangen!«
Erneut ertönte ein Tusch, wie um das Gesagte zu unterstreichen, der Vorhang öffnete sich ein weiteres Mal.
Heraus trat ein zierliches Mädchen. Ihr Haar fiel ihr in dunklen Locken bis fast zur Hüfte. Und als sie sich mit einem eleganten Knicks verbeugte, konnte man, wenn man genau zu ihr hinüber blickte, ihre Augen voller Vorfreude, auf das, was kommen würde, aufblitzen sehen.
»Wenn ich vorstellen darf? Mina, unsere unumstrittene Königin der Lüfte«, stellte Leander sie vor. »Lassen wir uns von ihr verzaubern!« Der nächste Tusch war zu hören. Und schon schwang sie sich auch zu einer der Halterungen, die in etwa zwei Meter über ihr hingen. Scheinbar ohne jegliche Mühe griff sie danach. Was ihr den ersten Applaus des Publikums einbrachte.
Leander konnte fühlen wie sich so etwas wie Stolz in ihm breit machte. Natürlich, Mina war erst die erste Artistin, die dem Publikum ihre Künste vorstellte. Doch das spielte keine Rolle. Nicht für ihn. Denn jeder seiner Leute hier war einzigartig. Das galt auch für ihn selbst. Denn Leander kündigte nicht nur jeden Artist an, nein. Er hatte ebenfalls seine eigene Präsentation, die er vorstellte. Wenn auch ganz am Schluss. Doch damit war er eigentlich ganz zufrieden. Auch wenn man natürlich darüber streiten konnte, ob es nun etwas schlechtes oder doch gut war, am Ende nach allen als letzter aufzutreten. Bisher jedoch gab es nichts, worüber er sich beschweren könnte. Daher tat es auch nicht.
Leander lächelte erneut. Mina war gerade dabei einen doppelten Salto vorzuführen. Wie immer ließ sie es aussehen, als gäbe es nichts leichteres. Doch natürlich war das Gegenteil der Fall. Es kostete eine Menge an Arbeit und Disziplin auf dieses Level zu kommen. Hinzu kam, dass im Magical Circus immer ohne Netz gearbeitet wurde. Worauf er jedoch besonders stolz war, dass es, bis auf Dracos kleinen Affen, kein einziges Tier gab. Der Magical Circus brauchte keinen Niedlichkeitsfaktor um zu überzeugen. Diese Aufgabe übernahm einzig das Können eines jeden Einzelnen hier. Und das war auch gut so.
Langsam trat Leander zurück hinter den Vorhang der Manege. Es gab noch jede Menge zu erledigen. Nicht nur für die Artisten, die auf ihren eigenen Auftritt warteten. Sondern auch für ihn selbst. Immerhin hatte er heute noch so einiges vor. Daher war wie bei so manchem die Vorbereitungen der beste Schlüssel zum Erfolg. Außerdem wurde er hier in der Manege ohnehin zur Zeit nicht gebraucht.
***
Leah war so fasziniert von dem Mädchen, welches sich mühelos durch die Lüfte schwang, ja nahezu flog, dass sie ihre Augen nicht einmal von ihr abwenden konnte. Wie hatte der Zirkusdirektor sie bezeichnet? Königin der Lüfte. Eine überaus passende Bezeichnung. Und wenn dieses Mädchen, wenn Leah sich recht erinnerte, wurde sie als Mina vorgestellt, erst die erste Artistin hier war, fragte sie sich ernsthaft, inwieweit sie von den anderen noch übertroffen werden konnte. Leicht würde es sicher nicht. Doch brachte man die besten Künstler nicht immer am Ende? Andererseits, sie wäre nicht überrascht, wenn auch das dieser Zirkus anders machen würde. Denn in so vielen Dingen war er es bereits.
»Einfach unglaublich«, murmelte sie, während sie mit ansah, wie Mina einen vierfachen Salto schlug, nur um sich dann weitere Meter in die Höhe zu schwingen, sich dort zu vorbeugen und dann elegant wie eine Katze wieder auf dem Boden der Manege zu landen.
»Ja«, stimmte Leahs Mutter ihr zu. »Gerade zu faszinierend. Um nicht zu sagen hypnotisch, denkst du nicht?«
Leah konnte nur nicken. Hypnotisch, das traf es wirklich wie die Faust aufs Auge. Doch wenn sich Hypnose so anfühlte, so verzaubernd und beeindruckend, würde sie es nur allzu gerne in Kauf nehmen. »Wundervoll. Einfach nur wundervoll«, flüsterte Leah und merkte nicht einmal, dass sie es laut aussprach. Ja, den Name Magical Circus hatte dieser Zirkus wirklich verdient. Und Leah konnte nicht anders, als sich zu fragen, welche Wunder sie wohl heute Abend noch sehen würde.
»Hatten Sie bisher eine schöne Zeit, bei uns im Magical Circus? Haben wir Ihre Erwartungen erfüllt, oder vielleicht schon übertroffen?«, fragte Leander, der nun wieder zurück in der Manege war. »Dann lasst euch gesagt sein, dass es noch längst nicht alles war!« Er machte eine höfliche, wie elegante Vorbeugung. »Doch genug der vielen Worte: Begrüßen Sie mit mir, unsere Schönheit aus dem Osten. Das Jademädchen!«
Der Vorhang aus schwerem rotem Samt schwang zur Seite und in die Manege trat eine kleine Asiatin. Sie sah zu Leander, lächelte erst ihn und dann das Publikum an. Dann verneigte auch sie sich.
Leander konnte vereinzeltes Gemurmel hören. Er erwiderte ihr Lächeln. »Die Manege gehört ganz dir. Du weißt, was zu tun ist.«
»Ja«, kam ohne Zögern die Antwort. »Selbstverständlich.«
»Sehr gut«, Leander nickte zufrieden. Dann wandte auch sich noch einmal an das Publikum. »Meine Damen und Herren, liebe Kinder. Ich wünsche Ihnen allen erneut viel Spaß. Wir sehen uns nachher noch einmal«, damit verschwand er selbst wieder hinter dem Vorhang. Nur um sich auf die Suche nach Draco zu machen, der als Nächstes dran war.
***
Wie erwartet fand Leander Draco in seinem Wohnwagen, wo er gerade dabei war seinen kleinen Affen zu füttern. Als Leander eintrat, nach kurzem anklopfen, sah Draco auf.
»Ah, Leander, ich habe mir schon gedacht, dass du nochmal kurz vorbei kommst«, begrüßte Draco ihn.
»Wie immer«, bestätigte Leander seinem Freund. »Verläuft alles nach Plan bisher?«
Draco nickte. »Selbstverständlich. Es gibt keinerlei Probleme. Immerhin sind wir alle hier ein eingespieltes Team. Auch wenn jede Stadt natürlich etwas anders ist, als die zuvor.« Er runzelte die Stirn. »Wo wir gerade drüber sprechen, wie lange bleiben wir eigentlich hier?«
»Mindestens zwei Wochen, wahrscheinlich aber eher drei. Es gibt noch ein paar andere Dinge zu erledigen als sonst«, antwortete Leander vage.
Draco zog eine Braue in die Höhe. »Die da wären?«
»Das spielt jetzt keine Rolle«, entgegnete Leander in einem Ton, der klar machte, dass er nicht mehr zu diesem Thema sagen würde. »Wenn ich deine Hilfe benötige, sage ich dir schon Bescheid.«
»Aber dann nicht erst in der letzten Minute, wie du es sonst zu pflegen tust«, murmelte Draco vor sich hin.
Leander sah ihn mit scharfem Blick an. »Du kritisierst mich für meine Vorgehensweise hier?«
Draco schüttelte den Kopf. »Nein, du bist der Boss hier. Es ist schlussendlich dein Zirkus. Auch wenn ich es immer noch bedauere nicht zu wissen, wie du es allein geschafft hast dich durchzusetzen.«
»Nur weil ich Artisten wie euch alle habe, die mich unterstützen«, wich Leander ihm aus, obwohl ihm klar war, dass das nicht war, wovon Draco sprach. Denn das worauf dieser anspielte war, wie Leander zum Zirkus gekommen war. Wie er es geschafft hatte, schon in so jungen Jahren Zirkusdirektor zu werden. Denn darüber hatte Leander noch mit niemandem gesprochen. Und dieser zog vor, dass das so blieb. Denn auch wenn alle dieses Zirkus wie eine Familie für ihn waren: Es gab Dinge, die musste nicht jeder wissen. Die Geschichte seiner Vergangenheit gehörte dazu. Außerdem war es, besonders für das Image, gar nicht so schlecht Geheimnisse zu haben. Zumindest wenn man es richtig anstellte.
»Ich verstehe schon«, Draco seufzte. »Aber gut, wenn du es alles für dich behalten willst, dann sei es so. Pass nur auf, dass es dich irgendwann nicht einholt, was auch immer es ist. Das kann manchmal schneller passieren, als man es erwartet.«
»Sollte es jemals dazu kommen, werde ich vermutlich nicht mehr hier sein«, meinte Leander ernst. »Denn dann habe ich mein Recht auf diesen Zirkus verwirkt.« Er räusperte sich. »Doch nun lass uns von etwas anderem sprechen. Du bist also fertig, ja?«
Draco nickte. »Natürlich.« Obwohl ihm anzusehen war, dass es ihm nicht gefiel, gerade jetzt das Thema zu wechseln. »Und wie sieht es bei dir aus?«
»Ich ebenso.« Leander lächelte. »Und ich bin mehr als gespannt, wie das Finale unserer ersten Vorführung hier sein wird.«
»Da bist du nicht der Einzige«, Draco erwiderte sein Lächeln.
»Gut. Ich warte dann hinten auf dich. Du kannst dich weiter um deinen Affen kümmern. Wie es aussieht, hat der doch noch mehr Hunger.« Leander sah zu dem Kapuzineräffchen, der es sich auf Dracos Schulter bequem gemacht hatte. Sobald er bei diesem war, wirkte Draco nicht mehr ganz so furchteinflößend auf ihn, als ohne ihn. Auch wenn Draco alles andere als gefährlich war. Zumindest meistens. Denn wenn Draco wütend war, oder nur missgelaunt konnte man durchaus Angst bekommen. Allerdings passierte das nur relativ selten. Schließlich waren sie alle ein eingespieltes Team. Zum Glück. Ansonsten würde Leander sich wirklich Sorgen machen müssen. Aus mehreren Gründen.
»Also dann, wir sehen uns in zehn Minuten«, sagte er. »Unser Jademädchen müsste bald durch sein. Ich warte drüben auf dich.«
»Ja, bis gleich«, meinte Draco. »Und in einer Stunde ist dann endlich Feierabend.«
Leander schnaubte. »Für euch vielleicht. Nicht für mich.«
Draco nickte. »Das liegt dann alleine an dir. Keiner verlangt von dir, dass du nach den Vorstellungen die Nächte durch arbeitest.«
Leander zuckte mit den Schultern. »Anders würde der Laden hier aber auch nicht laufen, so viel ist sicher.«
»Wenn du das sagst, Boss.« Draco grinste ihn an.
Leander verdrehte die Augen, hob seine Hand zum Gruß, nur um dann die Wohnwagen von Draco zu verlassen und zurück zum Zelt zu gehen. Er warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. Bis zu seinem eigenen Auftritt hatte er ungefähr vierzig Minuten. Der von Draco, der vor ihm dran war ging ungefähr dreißig Minuten. Leander würde dagegen nur höchstens nur zehn Minuten in der Manege verbringen. Doch er wusste, dass das ausreichen würde, um dem Publikum den letzten Rest zu geben. Und er freute sich schon darauf. Alleine nur daran zu denken, ließ sein Herz vor lauter Vorfreude schneller schlagen.
»Ja«, murmelte er vor sich hin. »Es wird mir eine Freude sein, ihnen die Wunder des Magical Circus zu zeigen.«
Tag der Veröffentlichung: 30.08.2021
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