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Prolog

Sie musste langsam bis zwanzig zählen.
Bis zwei hörte sie ihren Bruder lachend weglaufen.
Bei acht hörte sie ein lautes Knacken in weiter Entfernung.
Bis vierzehn vernahm sie noch Geräusche. Dann war es still. Sie lächelte. Er hatte ein Versteck gefunden. Sie ahnte, wo es war.
Ohne Eile zählte sie laut zu Ende. Bei zwanzig drehte sie sich gemächlich um und schritt durch den Garten.
Die Stimme der Mutter erklang. Das Essen war fertig.
Es war das letzte Spiel. Sie würde es nicht verlieren. Um keinen Preis.
Zwei Minuten später zerriss ein Schrei die Stille.

Das Päckchen

 Östersund, 29. Oktober

Dunkelheit.
Sylvia Bönnemark fühlte den harten Boden unter ihrem Körper. Ihr Kopf schmerzte. Der erste Versuch, die Augen zu öffnen, scheiterte; die Lider waren zu schwer. Wieder versuchte sie es. Ein Blinzeln. Licht durchdrang die Iris, zeigte verschwommene Bilder ihrer Umgebung. Sie erkannte den Ort. Das Wohnzimmer. Der Raum drehte sich, der Fußboden, auf dem ihr Kopf lag, wankte.
Sie atmete tief ein. Ihre Brust schmerzte. Sie konzentrierte sich auf ein Stuhlbein in der Nähe, während der Boden sich langsam einpendelte. Ihr Blick löste sich von dem Möbelstück und glitt durch das Zimmer. An der Wand gegenüber lehnte ein Ölgemälde, mit Leinentuch bedeckt, und neben ihrem Gesicht lag irgendetwas auf dem Boden, umhüllt von eingerissenem Packpapier.
Erst jetzt fühlte die Malerin ein Brennen an der linken Schläfe. Vorsichtig bewegte sie den linken Arm, der vom Aufschlag taub war. Die Finger berührten ihren Kopf. Beißender Schmerz. Sie führte die Hand vor das Gesicht und sah frisches Blut.
Wie kann das sein? Die Erinnerung daran war wie ausgelöscht.
Sylvia versuchte aufzustehen, doch es gelang ihr nicht. Die kraftlosen Arme gaben unter der Schwere ihres Körpers nach. Sie zog die Beine an, um das Gewicht zu verlagern, als sie plötzlich dumpfe Laute vernahm. Bruchstückhafte Worte einer Stimme, die sich schnell näherte.
Kaum hatte Sylvia den Kopf gehoben, wurde ihr übel. Wieder schwankte der Boden. Jemand schob eine Hand unter ihren Nacken, drückte ihre Schultern zurück auf den Boden.
»Nicht aufstehen, Sylvia!«
Ein tiefes Einatmen, um Ruhe zu finden.
»Erkennst du mich?«, sagte die Stimme.
Ein Blinzeln. In ihrem Gedächtnis formte sich ein Name. »Anna«, sagte Sylvia leise keuchend.
»Wie viele Finger siehst du?«
»Vier.« Der Kopf schmerzte. »Vier Finger.«
Die Sekunden verflogen, Sylvias Atmen ging ruhiger. Sie setzte einen Fuß auf, doch die Knie zitterten, drohten nachzugeben. Erneut fühlte sie den festen Griff. Diesmal stützte er sie, gab ihr jene Sicherheit, die ihr die Beine verwehrten.
»Ins Bad.« Sylvias Stimme zitterte.

*

Die kühle, glatte Keramik fühlte sich wohltuend an, das kalte Leitungswasser erfrischte Sylvias wirren Geist. Sie ließ es laufen, hielt einige Male ihr Gesicht hinein, während Anna Lundqvist ein Fläschchen mit destilliertem Wasser aus dem Schränkchen über dem Waschbecken nahm. Vorsichtig tupfte sie Sylvias Schläfe trocken und reinigte die Wunde.
»Hölle, brennt das!« Sylvia biss sich auf die Lippen.
»Ist nicht so schlimm, wie es zuerst ausgesehen hat.«
»Was für ein Glück, die Wohnung mit einer Krankenschwester zu teilen«, scherzte Sylvia mit schmerzverzerrtem Gesicht.
»Einen Moment noch, bin gleich fertig.«
Sylvia verharrte regungslos. Schon bald nahm der Schmerz ab. Die ersten Erinnerungen kamen zurück und gaben ihr Halt – wie jedes Mal, wenn sie durch den Strudel in die Finsternis gestürzt war.


Anna half ihrer Freundin, sich auf einen Küchenstuhl zu setzen.
»Möchtest du etwas trinken?«
»Wasser, bitte.«
Die Ruhe und das frische Getränk nahmen Sylvia den letzten Rest Angst.
»Was ist passiert, Anna?«, fragte sie.
»Das müsstest du eigentlich mir sagen.«
»Ich weiß es nicht. In meinem Kopf ist alles durcheinander. Ich sehe nur verschwommene Bilder.«
»Wir haben hier in der Küche gesessen und über deine geplante Vernissage gesprochen, als es an der Tür geklingelt hat. Erinnerst du dich nicht?«
Sylvia nickte vorsichtig.
»Erzähl weiter.«
»Du hast auf die Uhr geschaut und gemeint, es müsse der Postbote sein, wohl mit einem Einschreiben, weil er sonst nie klingelt. Dann bist du zum Hausflur gegangen und ich bin ins Bad. Ich habe noch gehört, wie die Wohnungstür zuschlug und du gerufen hast, dass ein Päckchen angekommen ist, und dass du neugierig bist, von wem das wohl ist. Als ich in die Küche zurückgekommen bin, warst du nicht da. Also bin ich ins Wohnzimmer und da lagst du blutend auf dem Boden.«
Stille breitete sich aus. Sylvias Blick war konzentriert. Sie schien im Gedächtnis durchzugehen, was Anna gesagt hatte, und mit ihren Erinnerungsfetzen zu vergleichen.
»Kein Postbote«, sagte sie plötzlich.
»Was?«
»Vor der Tür war kein Postbote.«
»Wer hat denn dann geklingelt?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich das Päckchen vom Boden aufgehoben habe. Jemand muss es durch den Türschlitz in den Hausflur geworfen haben.«
»Okay. Aber jetzt sag mir erst mal, warum du im Wohnzimmer umgefallen bist.«
»Keine Ahnung. Ich erinnere mich nur noch, dass ich das Päckchen öffnen wollte. Danach lag ich auf dem Boden, und alles drehte sich. Ich muss ausgerutscht sein und mir den Kopf an irgendeiner Kante gestoßen haben.«
»Passiert dir das öfter? Ich meine, dass du ausrutschst oder umfällst?«
»Eigentlich nicht.«
Eine glatte Lüge. Sylvia wollte diesen dunklen Teil ihres Lebens für sich behalten. Schnell wechselte sie das Thema: »Sag mal, das Päckchen … es müsste doch noch im Wohnzimmer liegen, oder?«
»Wird es wohl. Ich holʹs grad.«
Anna verschwand aus der Küche. Kurz darauf klang ihre Stimme durch den Flur: »Habʹs gefunden. Es lag auf dem Boden.«
Gott sei Dank habe ich Anna. Sylvia trank einen Schluck Wasser, als Anna schon wieder vor ihr stand, in der Hand das Päckchen.
»Du hast dich übrigens an der Schreibtischkante gestoßen«, sagte sie.
»Da ist noch Blut.«
»Der Schreibtisch … ja, stimmt. Ich hab was gesucht, um die Schnüre zu öffnen«, antwortete Sylvia, den Blick starr auf das Päckchen gerichtet, das Anna vor ihr auf den Küchentisch legte. Eine Seite des Packpapiers war aufgerissen und gewährte den Blick auf den Inhalt.
Ein Buch.
Anna hob ein Stück Papier an, das den Umschlag verdeckte. Ihre Augen weiteten sich, als sie den Namen der Autorin las: Sylvia Bönnemark.
»Ich wusste gar nicht, dass du auch schreibst!«, sagte sie verwundert.
Die Sorge war gänzlich aus ihrer Stimme gewichen.
»Um ehrlich zu sein … ich auch nicht«, stammelte die Malerin. Ihre Hand tastete in der Besteckschublade nach einem Messer. Ich bin wegen des Päckchens umgefallen, ich weiß es. Sie hielt ihrer Freundin den Knauf mit zitternden Händen entgegen.
»Könntest du es bitte öffnen, Anna?«
»Sicher.«
Anna entfernte Schnüre und Papier und legte das Buch in die Mitte des Küchentisches. Auf dem dunklen Umschlag stach der in Weiß gedruckte Titel sofort ins Auge: Metamorphose. Erst dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Umschlagbild. Ein aufgedunsener und bläulicher, mit Algen überzogener Kadaver. Eine Wasserleiche. Das Bild war zu großen Teilen unscharf und zeigte kaum Einzelheiten. Nur der linke Fuß des Toten im Vordergrund war gut zu erkennen; den Außenknöchel zierte eine große Tätowierung in Form eines in einem Spinnennetz gefangenen Violinschlüssels. Der Rest des Körpers führte vom Betrachter weg und verschwamm zusehends. Das Gesicht der Leiche war nicht zu sehen.
Anna löste ihren Blick von dem Buch und wollte gerade etwas sagen. Doch die Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie in das Gesicht ihrer Freundin schaute. Sylvia war aschfahl, ihre Augen weit aufgerissen, ihr Blick starr auf das Buch gerichtet.
Sylvias Herz raste. Im ersten Moment versagte ihre Stimme. Doch schließlich gelang es ihr, ein paar Worte zu stammeln.
»Das … ist Mats!«
»Mats? Der Mats?«

*

Anna Lundqvist kam aus Uppsala und kannte Sylvia Bönnemark seit einem halben Jahr. Im April hatte die einunddreißigjährige Krankenschwester eine Anstellung in der Notaufnahme des Krankenhauses von Östersund gefunden und dringend eine Wohnung gesucht. In einem Pub war sie mit der fünfundzwanzigjährigen Malerin ins Gespräch gekommen und zur Untermiete bei ihr eingezogen, in einen viktorianischen Altbau mit Blick auf den Storsjön-See. Der Anblick hatte Anna die Sprache verschlagen. Wie konnte sich eine unbekannte junge Künstlerin so eine Wohnung leisten?
Aus Sylvia war anfänglich kaum ein Wort über ihre Person herauszukriegen. Verschlossen und nachdenklich, schien sie oft der Wirklichkeit zu entfliehen und an einem anderen Ort zu verweilen – ein Ort, den sie in ihren Werken festhielt. Es waren düstere, surreale Bilder einer Schattenwelt. Finstere Ödnis oder nebelige Moorlandschaften, morsche, von Flechten und Moos bewachsene Bäume mit kargem Geäst, missgestaltete, bis auf die Knochen abgemagerte Wesen, verrenkt im Tanz vereint. Anna musste den Gemälden ihrer Mitbewohnerin zwar eine gewisse Anziehungskraft bescheinigen, aber der Anblick von Zerfall und Fäulnis flößte ihr ein ums andere Mal Unwohlsein ein.
Es war bereits Sommer, als Sylvia ihrer Mitbewohnerin schließlich anvertraute, die Tochter des Großindustriellen Gustav Bönnemark zu sein. Umso überraschter war Anna vor drei Wochen gewesen, als Sylvia ihr nach dem Abendessen, bei Kerzenlicht, einer Flasche Rotwein und leicht beschwipst, von einer zärtlichen Affäre mit einem Musiker erzählte.
Mats.
Anna hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Sie wusste nur, dass die Beziehung ein abruptes Ende gefunden hatte. Mats war ohne ein Wort des Abschieds verschwunden. Spurlos. So jedenfalls hatte Sylvia es ihr geschildert.
Jetzt war er anscheinend wieder aufgetaucht. Im wahrsten Sinne des Wortes.

*

Sylvia antwortete nicht. Hilflos musste Anna zusehen, wie ihre Freundin das Gesicht in den Händen vergrub und zu weinen begann. Ein Schock? Wegen eines Buchumschlags?, fragte sie sich, strich der Freundin sanft durchs Haar und wartete.
Schließlich hob Sylvia den Kopf, rang um Fassung.
»Mir geht’s nicht gut. Sei mir nicht böse, Anna. Ich muss mich hinlegen.«
»In dem Zustand lass ich dich nicht allein.«
»Es ist alles in Ordnung!«, sagte Sylvia schroff. »Ich muss mich nur aufs Ohr hauen.«
Ruckartig stand sie auf und stieß dabei den Küchenstuhl um, nur um sofort wieder innezuhalten. Ihr Blick haftete auf dem Buch. Sie schien wie gebannt. Ein kurzes Zögern, dann nahm sie das Buch, verließ forschen Schrittes die Wohnung und warf es vor dem Haus in eine Tonne.
Nacheinander fielen Haus- und Wohnungstür krachend ins Schloss. Sylvia ging an der Küche vorbei in ihr Schlafzimmer und knallte auch dort die Tür hinter sich zu.
Anna hatte die leeren Hände ihrer Freundin gesehen und ahnte, was diese mit dem Buch getan hatte. Sie nahm ihre Jacke. Zeit für ein wenig frische Luft.
Vor dem Mülleimer blieb sie stehen.

*

Kurz darauf kämpfte sich Anna durch die Schneewehen, die in der Stadt tobten und den nahenden Winter ankündigten. Die wenigen Autos, die sich bei dem stürmischen Treiben auf die Straßen wagten, fuhren im Schritttempo; nur mit Mühe hielten die Scheibenwischer die Frontscheiben frei. Die Fußgänger, denen der harsche Wind die Schneeflocken ins Gesicht blies, kämpften mit gesenktem Kopf gegen das Unwetter an.
Anna zog den Mantelkragen mit der rechten Hand zu und schaute sich kurz um. Keine zehn Meter weit konnte sie sehen. Die nahen Häuser verschwanden fast gänzlich hinter einem weißen Vorhang, der ihr unaufhörlich entgegenwehte.
So schnell es der rutschige Boden erlaubte, ging Anna die Straße entlang zu einer kleinen Wirtschaft. Bei jedem Schritt spürte sie den harten Gegenstand, den sie unter ihrem Mantel verborgen hielt.

Die Verzauberung

 Als Anna nach zwei Stunden wieder die Wohnung betrat, saß Sylvia in der Küche bei einer Tasse Tee, in Gedanken versunken. Der mit Schneeflocken bedeckte Mantel landete am Kleiderhaken, der Schal neben dem Herd.
»Anna«, sagte Sylvia mit leiser Stimme, »entschuldige bitte, dass ich dich eben so angefahren habe. Ich weiß, du wolltest mir nur …«
»Ist schon gut«, erwiderte Anna mit ruhiger Stimme. »Geht es dir besser?«
»Ja, geht schon wieder.«
»Soll ich nicht lieber einen Arzt rufen?«
»Nein, nein, schon gut.«
»Okay, wie du willst. Ist noch Tee übrig?«
»Sicher. Er ist noch heiß.«
Anna goss sich Tee ein und setzte sich zu ihrer Freundin an den Tisch. Mit beiden Händen umfasste sie die Tasse, aus der ein aromatischer Dunstschleier stieg.
»Tut das gut! Meine Finger sind fast abgefroren. Draußen stürmt es, die Straßen sind komplett verschneit.«
»Schade, dass kaum etwas davon liegen bleiben wird.« Sylvia führte die Tasse an ihre Lippen, hielt kurz inne und murmelte: »Mein Vater sagte immer: Der Schnee des Schlachtenmonats ist Bote, nicht Gast. Im Wintermonat hingegen kehrt er ein, um zu verweilen.« Sie trank die Tasse leer, stellte sie auf den Tisch und setzte ein breites, sonniges Grinsen auf.
Anna lächelte und nahm ebenfalls einen Schluck. »Ich bin froh, dass es dir besser geht. Darf ich dich etwas fragen?«
»Sicher. Worüber?«
»Mats.«
Sylvias Magen verkrampfte.
»Was genau willst du wissen, Anna?«
»Was bedeutet er dir?«
Sylvia suchte nach Worten. Dann sagte sie leise: »Alles.«


»Wir haben uns bei einem Konzert kennengelernt, vor drei Monaten. Mats stand abseits, eine Gitarrentasche auf dem Rücken. Unmöglich zu übersehen. Er hat mich dabei ertappt, wie ich ihn ansah, und ich hab schnell in eine andere Richtung geguckt. Flirten ist nicht meine Stärke. Nach ein paar Minuten hat er mich angesprochen und gesagt, ich hätte ihn verzaubert.«
Sylvia schenkte sich etwas Tee nach.
»Dann ist er in Richtung Bühne verschwunden. Nach zwanzig Minuten stand er im Rampenlicht. Seine Stimme, der Klang der Gitarre … Ich hatte eine Gänsehaut. Drei Tage später hat er aus Stockholm angerufen. Ich habe mich gefühlt wie eine über beide Ohren verknallte Fünfzehnjährige. Anfang September haben wir uns dann in Stockholm getroffen.«
»Dein Treffen mit dem Kunsthändler …«
»In Wahrheit war ich bei Mats. Ich hätte sofort mit ihm geschlafen, aber es ist nichts passiert. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er wollte mich auf Distanz halten.«
»Ihr habt nicht …?«
»Doch. Aber erst vor zwei Wochen, hier in Östersund. Du hattest Nachtschicht. Es war einfach magisch, fast wie eine Wiedergeburt.«
»Eine Metamorphose«, murmelte Anna.
Sylvia schenkte der Bemerkung keine Beachtung.
»Mats wollte sogar mit mir zusammenziehen. Aber vor neun Tagen … kein Handyanschluss mehr, die Wohnung in Stockholm leer. Er war weg. Wie vom Erdboden verschluckt!«
Anna überlegte. Das machte keinen Sinn. Der Typ Mann, den sie kannte, log vor dem Sex, nicht danach.
»Das ist wirklich seltsam. Vielleicht hat er kalte Füße gekriegt.« Anna biss sich auf die Lippe und hoffte, dass Sylvia die unpassende Bemerkung nicht mitbekommen hatte.
»Wie alt ist er eigentlich?«
»Dreiundzwanzig.«
Ein aufstrebender Musiker verlässt Stockholm, um in Östersund mit einer unbekannten Malerin zusammenzuziehen? Das passte vorne und hinten nicht. Anna war sicher, dass bei der wundersamen Verzauberung des Gitarristen weniger Sylvia eine Rolle gespielt hatte denn ihr Vater. Sein Vermögen, genauer gesagt. Das konnte wirklich verzaubern.
Anna zog die Augenbrauen zusammen. Alles bislang Gehörte stimmte mit dem überein, was sie eben in der Kneipe in dem Buch gelesen hatte.
»Und was ist an dem Tag passiert, an dem Mats verschwunden ist?«, fragte sie.
Sylvias Antwort ließ ein wenig auf sich warten; die Erinnerung schmerzte.
»Mats wollte nach Frösön, zu einem verlassenen Haus an der Ostküste der Insel. Die Straße war menschenleer. Wir haben uns auf dem Grundstück durchs Gestrüpp geschlagen. Irgendwann standen wir dann vor einer alten Buche. Sie sah gespenstisch aus mit ihren gewaltigen, niedrig wachsenden Ästen. Einer ist unter Matsʹ Gewicht zerbrochen. Es hat mir einen solchen Schreck eingejagt, dass ich zusammengeklappt bin und mich übergeben habe. Ich erinnere mich, dass ich dabei Angst hatte zu ertrinken.«
Anna horchte auf. »Du meinst, du hast Angst gehabt zu ersticken
»Nein, ich bin mir sicher: Ich glaubte zu ertrinken. Als ich endlich wieder atmen konnte, habe ich Mats beschimpft. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Dieser verdammte Ausflug! Mir wurde schwarz vor Augen. Ich gab Mats die Schuld, schrie ihn an, er wolle mich …«
Sylvia verstummte abrupt. Die unüberlegten Worte jenes Tages schmerzten noch immer. Warum konnte sie es nicht ungeschehen machen und Mats zurückbekommen?
Anna fragte in die Stille hinein: »Er wolle dich umbringen, nicht wahr? Ist es das, was du zu ihm gesagt hast?«
Die Augen der Malerin weiteten sich vor Verwunderung.
»Woher weißt du das?«
»Es steht hier.« Anna griff unter den Schal, der auf dem Stuhl neben ihr lag, und zog das Buch hervor. »Wortwörtlich.«
Sylvia spürte ihr Herz rasen und atmete flach, den Blick wie gebannt auf das Buch gerichtet.
»Warum?« Die junge Frau rang um Fassung. »Warum hast du es aus der Mülltonne genommen?«
Anna zögerte mit der Antwort.
Sylvias plötzliches Aufbrausen war wie eine Explosion. »Warum, zum Teufel, hast du das Buch gestohlen?«
Anna zuckte zusammen. Entsetzen überkam sie beim Anblick der Freundin. Sylvias Augen waren weit aufgerissen, die Augäpfel, rot von geplatzten Äderchen, traten hervor. Es war das Gesicht einer Wahnsinnigen. Fassungslos erlebte Anna eine bisher unbekannte Seite ihrer Mitbewohnerin.
Sylvias Stimme überschlug sich: »Du hast es absichtlich getan! Du willst mich quälen! Das ist es doch, oder? Gib es zu!«
Anna suchte fieberhaft nach einem Weg, um die Situation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dieses verdammte Buch. Es lässt sie durchdrehen. Das ist doch Wahnsinn! Unvermeidlich drängte sich ihr der Gedanke auf, wozu Sylvia in diesem Moment fähig sein könnte.
Zu einem Mord.

 

 

 

Informationen zum Buch

Jacob Nomus - Aroma des Todes

Digitale Originalausgabe

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

ISBN 978-3-7325-1984-2

Impressum

Texte: Bastei Lübbe AG, Köln
Bildmaterialien: Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Stephan Trinius
Tag der Veröffentlichung: 11.02.2016

Alle Rechte vorbehalten

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