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Das zufällige Schicksal des Bauern Hrodgar

1342. Herbst. Den Kopf auf einem Bündel Heu ruhend und von einem Schatten spendenden, hellen Strohhut bedeckt, lag Bauer Hrodgar, nach getaner Arbeit rundum zufrieden und mit vollmundigem Wein abgefüllt, in der Sonne. Der Herrgott hatte ihn dieses Jahr mit einer reichen Ernte beschenkt. Der Landvogt würde zufrieden sein, und auch seine Angetraute, die üppige Sieglind, würde sich über die Wintermonate ob der vollen Speisekammer ohne viel Gemecker den häuslichen und, das eine oder andere Mal, vielleicht auch den ehelichen Pflichten widmen. Schon begann er in sehnsuchtsvollen Erinnerungen zu schwelgen, als er plötzlich in weiter Ferne ein Schreien vernahm. Unverkennbar, die Stimme des alten Raginald! Flugs sprang Hrodgar auf die halbtrunkenen Beinen und sah den Greis im Nachthemd quer über die Weide rennen, verfolgt von einem schwarz gekleideten Reiter. Hrodgar hielt die Luft an, nicht weil Herr und Ross so abgrundtief schwarz waren, dass sie das Licht der Sonne zu verschlucken schienen, sondern weil einen Wimpernschlag später ein Aufstoß Hrodgars Rachen entsteigen, neugierig die Welt erblicken und sich, unsicher ob der einzuschlagenden Richtung, in aller Winde Richtungen verlieren sollte. Just in diesem Moment der Fahnenflucht fiel Raginalds Haupt zu Boden. Der von wehenden Leinen bedeckte, gleichsam vom Schwerthieb überraschte Körper Raginalds tat es dem fehlenden Körperteil nach einem kurzen Zögern gleich.

"Was, zum Teufel, ... ?", entfuhr es Hrodgar, als er begriff, dass Raginald ihm die für den Schafkauf geliehenen zwanzig Gulden wohl kaum mehr zurück geben würde. Derweil schritt der schwarze Gaul zum Körper des Enthaupteten und verharrte dort. Sein unheimlicher Gebieter machte keine Anstalten, die Flucht suchen zu wollen. 'Er wartet. Also sind da noch mehr', mutmaßte der Bauer in Gedanken. 'Ich muss den Vogt warnen!'

Um sich blickend suchte Hrodgar Schutz im nahen Wald, und erst als dessen Schatten ihn zur Gänze vereinnahmt hatte, blieb er stehen, um sich zu orientieren.

Ein Rascheln hinter ihm! 'Verdammt. Sie sind hier!'

Er sprang nach vorn, hetzte quer durch die Büsche, immer geradeaus, tiefer und tiefer in den dunklen Dickicht hinein. 'Hier kriegen sie mich mit ihren Pferden nicht.' Sein Herz raste. Plötzlich suchten die Füße erfolglos den Grund. Bauer Hrodgar verlor das Gleichgewicht, fiel einen Abhang hinunter, purzelte durch das feuchte Laub und schlug hart auf einem großen Stein auf.

Die Schulter brannte, und doch zwang sich der Gestrauchelte, keinen Laut von sich zu geben. Eine glückliche Entscheidung, hörte er doch in nächster Nähe die schnaubenden Nüstern eines Pferdes, dessen Hufe das Bett eines kleinen Wasserlaufs durchschritten. 'Ausgerechnet zu Füßen des Mördergauls musste ich landen. Der Zufall spielt ein gemeines Spiel mit mir.'

Lange wartete er, bevor er sich vorsichtig erhob und zögerlich über das Gebüsch blickte. 'Keine Menschenseele! Auf, auf!'

Die fiebrige Flucht und der tiefe Fall hatten ihn gänzlich der Orientierung beraubt, und die dichten Baumkronen verwehrten ihm, vom Stand der Sonne auf seine Position zu schließen. Also bewegte er sich vom Wasser fort, weg von dem Reiter.

Nach einer halben Stunde des Umherirrens kam er zu einer kleinen, von hohen Bäumen umzäunten Lichtung. Hier war es, da eine Hand sich auf seine Schulter legte, er sich blitzschnell umdrehte und, einen Zehennagel vom rechten Augapfel entfernt, eine blutgetränkte Klinge erblickte.

"Tut mir nichts, Herr! Ich flehe euch an!"

"Leise!", herrschte ihn die Gestalt an und legte ihm die Hand auf den Mund. Das helle Gewand des Unbekannten zierte das Wappen des Vogtes, adeligem Rang gleich schmückten zwei Ringe dessen linke Hand, doch anders als bei Rittern waren die Schultern mit Pelzen geschmückt, wie bei einem Waldläufer.

'Gott sei gedankt, ein Freund.' Bauer Hrodgar atmete erleichtert aus.

"Wie kommst du hierher?", flüsterte der Bewaffnete.

Der Bauer hob schweigend die Schultern. "Der Zufall ließ mich Euch finden." Dann, nach einem kurzen Schlucken: "Ich habe gesehen, wie der alte Raginald enthauptet wurde. Auf der Nordsenne. Ich muss dem Herrn berichten."

"Nichts musst du!"

Hrodgar zuckte zusammen.

"Unwissender, nichts weißt du über den, der unseren Tod will. Nicht zum Vogt musst du rennen, sondern an der heiligen Stele vorbei, die unser Land begrenzt."

Dem Bauern schienen die Knie enteilt. "An der Stele vorbei? Aber hinter ihr werde ich von unserer Welt hinunterfallen."

"Dieses Schicksal ist dir vorbestimmt, um unser aller Kinder zu retten", antwortete der Mann.

"Warum ich? Wie kann es Vorhersehung sein, wenn ich nur aus Zufall an diesen Ort gelangt bin?"

"Nichts ist Zufall in dieser Welt. Du sagst, du seist auf der Nordsenne gewesen und nur aus Zufall hier?"

Ein Nicken.

"Dann wisse, dass du dich auf direktem Weg von der Senne zur Stele befindest." Er zeigte zur anderen Seite der kleinen Lichtung. "Du fliehst seit Stunden direkt auf dein Ziel zu. Folge ... " Abrupt unterbrach der Mann seine Worte und hob das Schwert. Erst jetzt bemerkte Hrodgar den Gebückten, der sich hinter leichtem Geäst zu verstecken suchte.

"Komm heraus, Lump!", schrie der Bewaffnete. "Oder ich durchbohre dich, noch bevor du ein letztes, stummes Gebet tun konntest."

Zögernd verließ die Gestalt ihr Versteck.

"Raginald!", entfuhr es Bauer Hrodgar.

Wieder forderte der Waldläufer zur Stille auf, und wiederholte seine Frage, dieses Mal an Raginald gerichtet. "Wie kommst du hierher?"

"Gottes Hand leitete mich an diesen Ort", flüsterte Raginald. Der vom Auftauchen des Totgeglaubten verwirrte Hrodgar stieß ein kurzes Dankgebet aus: Möge der Alte sich in den dunklen Schlund jenseits der Stele stürzen. Dann sprach er leise zum Freund: "Raginald, wie kann das sein? Ich habe deinen Kopf seinen letzten Atemzug tätigen sehen."

"Nicht meiner", hauchte der Alte. "Alberics sündig Haupt wurde getrennt vom Rumpf. Schlaff ist er nun."

"Wie sprichst du von ihm?"

"Wie man von einem Schuft sprechen mag, der sich mit vor Gott geehelichtem Geschlamp anderer im Bett vergnügt, während meiner einer sich auf dem Acker bucklig plagt, so wie es der Herr von uns verlangt." Raginalds schwerer Atem bezeugte die Unmenge Wein, welche den aufgedunsenen Schlund hinuntergewürgt worden war. "Ich habe die Heugabel gepackt und bin ihm hinterher. Bei Gott schwöre ich, hätte ihn wenige Meter später nicht der dunkle Ritter erwischt, wäre Alberic durch meine Hand gestorben."

Ungläubig ob des Berichtes betrachtete Hrodgar den alten Bauern, dessen Hemd von mehr Flicken übersät war als dessen Weib Falten hatte. "Freund, nicht dein Haus grenzt an die Nordsenne, sondern Alberics. Kann es sein, dass deine Sinne weniger scharf waren als der gute Alberic, als du ihn mit dessen eigenem Weib erwischtest?"

 

Raginalds Stirn runzelte sich, dann beugte er sich zu Hrodgar vor, zog mit dem Zeigefinger das schlaffe Lid des rechten Auges herunter und flüsterte: "Du irrst, denn Gottes Wille ließ mich auf der Senne am Leben und Alberic sterben. Also ..." Ein nahes Krachen. Raginalds geweitete Pupille befand sich plötzlich unmittelbar vor Hrodgars Gesicht. Ein Pfeil hatte rücklings den Schädel des Alten durchbohrt und den Augapfel von innen aufgespießt. Der aus der blutigen Augenhöhle hinausragende Sehnerv war gespannt wie die Saite einer Harfe.

"Lauf!", schrie der Bewaffnete. Hrodgar wollte zurück ins nahe Dickicht springen, doch der Schwertträger hielt ihn fest. "Du kannst nicht zurück! Wir müssen über die Lichtung, hin zur Stele! Ich schütze dich."

Schon standen die beiden Rücken an Rücken und der Waldläufer wehrte mit der Klinge die herannahenden Pfeile ab, während er den verängstigten Gefährten quer über die Lichtung schob.

Wenige Meter vor dem rettenden Holz rammte sich ein Pfeil in des Ritters Hals. Der Bauer rettete sich mit einem Sprung und drehte sich zu dem Sterbenden um, der mit letzter Kraft schrie: "Renne weiter, zur Stele. Vertraue mir, der ich für dich starb!" Nach einem kurzen Zögern rannte Hrodgar los, wieder durch dunkle Wälder und dichtes Gestrüpp, sein Körper verfolgt von Häschern, sein Geist gehetzt von Dämonen der Angst. Panisch floh er, rastlos, steinerne Pfade entlang, durch Bäche, über Wiesen, bis er sie schließlich auf einem Hügel sah: die Stele, die das Ende der Welt besiegelte.

Des Bauern Beine waren schwer. Mit jedem Schritt hin zu seinem Ziel näherten sich die Verfolger ihm, zu Pferd, zu Fuß. Der letzte Anstieg. Pfeile bohrten sich in das Erdreich neben dem Fliehenden. Außer Atem erreichte er den von Sagen umwobenen Ort. Und tatsächlich endete dort der Grund. Hrodgars Welt war eine Scheibe, und jenseits das Nichts.

Die Wucht eines sich in den Rücken bohrenden Pfeils ließ den Zaudernden das Gleichgewicht verlieren und in den Abgrund stürzen. Noch im Fallen sah er, der sich vom zufälligen Treffer um die Entscheidung beraubt fühlte, neben der Stele ein helles Licht erscheinen, eine Flammensäule in Form einer wunderschönen Frau, die ihre gewaltige Kraft gegen die Feinde einsetzen und in wenigen Atemzügen jeden von ihnen bei lebendigem Leib verbrennen würde. So starb Bauer Hrodgar, ohne die Natur der Abläufe gekannt zu haben, aber mit der Gewissheit, dass alles den richtigen Weg gegangen war.

 

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"Tausche Bauer mit Dame. Schach, und matt."

"Zufall. Pures Glück. Ich verlange Revanche."

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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2013

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