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Der Pfad




"Inmitten auf dem Pfade unsres Lebens
fand ich mich wieder in einem dunklen Wald,
dieweil verloren ward der rechte Weg."


Dante Alighieri, Die göttliche Komödie
Die Hölle, I. Gesang




Monte Fatucchio, Toskana, 1409 anno domini

«Auf dem Tisch ein ausgebreitetes, grob gewobenes Tuch, in dessen Mitte: fünf abgetrennte Finger.
Kein Blut. Kein Schmerz. Nur Stille.
Vorsichtig berühre ich die kalte Haut. Totes Fleisch, einstmals Teil einer linken Hand. Neben dem Tuch liegt ein Ring. Ich kenne die Gravur: ein doppeltes 'a'; amor aeternus, ewige Liebe. Lebendigste Erinnerungen überkommen mich. Beatrice! Ich kann sie riechen, fühlen, mich in ihrer jugendlichen Schönheit verlieren. Ihre Präsenz lässt meinen Atem schneller gehen, und das, obwohl ich weiß, dass nichts von dem scheinbar Wahrgenommenen Wirklichkeit ist; - ich bin allein. Erinnerungen, Bilder aus der Vergangenheit, die idealisierte Fleischwerdung einer vergangenen Leidenschaft. Seltsam, wie meine eigenen Sinne mich wieder und wieder hintergehen.»



In Gedanken versunken legt der Kaufmann den Federkiel neben das Blatt Papier, beugt sich zurück, hin zum nahen, weit geöffneten Fenster. Ein tiefes Einatmen. Frische Nachtluft füllt seine Lungen. 'Es ist gut, ins Landesinnere geflohen zu sein, weg von der infernalischen Glut der Sonne, welche seit Beginn des Sommers selbst das Meer verbrennt.'

Hier, in diesem einsamen Gemäuer am Monte Fatucchio, kühlt es nach dem Untergang der Sonne stark ab. Welch Wohltat, eine Decke zum Schlafen zu benötigen! Wenigstens die Nacht erbarmt sich seiner, lindert seinen Schmerz, lässt die letzten Stunden eines Sterbenden erträglich, ja, fast menschenwürdig erscheinen.
Erinnerungen - das ist alles, was seinem Geist in diesen dunklen Stunden bleibt. Nur Erinnerungen, und der Drang, sie aufzuschreiben.

«„Ihr Fuß stirbt ab!“, schloss der Medicus, nachdem er den Druck auf die schwarzen Zehen und den blaugrauen Rücken des linken Fußes erhöht und ich ihm versichert hatte, seine Berührungen in keinster Weise zu spüren.
„Sie sagen, die Taubheit in den Zehen erst vor zwei Tagen bemerkt zu haben?“
Ich nickte.
„Und gestern war der Fuß noch nicht verfärbt?“
„Nein, Signor Medico.“
„So ein Fall ist mir noch nie begegnet, solch eine Veränderung in so kurzer Zeit.“
Der Medicus legte seine Sehhilfe auf den Tisch.
„Ihr Fuß kann nicht mehr gerettet werden. Im Gegenteil: Wir müssen ihn sofort amputieren.“
„Amputieren?“ - Wie eine Faust bohrte sich dieses Wort in meinen Magen, Gedanken schossen mir durch den Kopf, Sorgen ob meiner Lieferungen, meiner Verantwortung, meiner Familie: Den Fuß verlieren? Das war … unmöglich! Es musste eine Alternative geben.
„Was passiert, wenn Sie es nicht tun?“
Der Medicus beugte sich etwas vor und zeigte auf die Verfärbung: „Sehen Sie, der schwarze Teil des Fußes ist bereits tot und vergiftet in diesem Moment Ihren Körper. Berücksichtigen wir Ihre generell sehr gute körperliche Verfassung, würde eine solche Vergiftung in etwa sechs Wochen zum Tod führen. Aber bei Ihrem Krankheitsverlauf ... .“
Endlos scheinende Stille. Im Blick des Medicus meinte ich eine Mischung aus Neugier und Mitleid erkennen zu können.
Dann, endlich, fuhr er mit tiefer, ruhiger Stimme fort: „Es gibt keine Alternative, wir müssen sofort operieren. Und wer weiß, vielleicht können wir mit der Amputation auch das Verfaulen stoppen.“
Stumm blickte ich auf meinen Fuß. Das Urteil des Medicus war endgültig, erbarmungslos, aber das war der Preis, wollte ich weiterleben.»



Hinter dem dichten Geäst einer einsamen, sich vor dem Fenster befindlichen Buche formt der zunehmende Mond eine scharfe Sichel. Das wenige, fahle Licht, das der Trabant zur Erde sendet, lässt die Umgebung nur erahnen. Die Hügel der Toskana wiegen sich in dunklem Gewand; der Monte della Verna ist pechschwarz, kein Stein des nahen Klosters zu erkennen, so, als hätte es niemals existiert, so wie jener Mann am Fenster seiner von der Dunkelheit verschlungenen Bleibe nicht zu existieren scheint.
'Ich brauche mehr Zeit!'


Die Klinge des Beils setzt in der Armbeuge auf. Kalt! Er vernimmt das Kratzen des scharfen Stahls, lässt ihn langsam über den Unterarm hin zum Handgelenk gleiten, bis er die richtige Stelle gefunden hat.
Rhythmisch geht der Gesang der Zikaden, einer Zeremonie gleich. Vereinzelt erklingen die Rufe eines Kauzes, die schrillen Laute eines Fuchses; Unterbrechungen und gleichsam Bereicherungen der monotonen, fast knirschenden Laute der Insekten, die den Wald auch in dieser Sommernacht beherrschen.
Nichts hiervon nimmt der Schlächter wahr.
Der dumpfe Schlag einer in Holz gewuchteten, schweren Klinge, das Bersten von Knochen, von niemandem vernommen.
Stille. Dunkelheit.
Der Mann tastet nach der Feder, tunkt sie wiederholt in den dünnflüssigen Inhalt des Tintenfasses und beginnt zu schreiben.

«„Beten Sie! Nur ein Wunder kann Sie noch retten, ich vermag es nicht. Kein Arzt vermag das, dessen bin ich mir sicher, weder in dieser Stadt, noch in einer anderen. Ihre Krankheit ist nicht von dieser Welt.“ - Dies waren die Worte des Medicus, als ich, nur vier Tage nach der Fußamputation, zu ihm zurückkehrte; mein linker Unterschenkel war ohne Gefühl und ausgetrocknet, schwarz verfärbt, fast als sei er verkohlt. Ich fragte, ob die von ihm vorgeschlagene Amputation des gesamten Beins endgültige Heilung verheißen konnte, doch seine Antwort kam ohne zu Zögern und mit ihr die Forderung nach etwas, dessen ich nicht mächtig bin, nie mächtig war: Beten.

Erst jetzt, hier, an diesem unwirklichen Ort, verstehe ich, wie das Schicksal mir stets zugespielt hat, dich, Beatrice, mir vor so vielen Jahren zur Braut gab, du, die im Übermaß besitzt, was mir zur Gänze fehlt, - als ob alles, was in meinem Leben geschah, nur auf die heutige Nacht ausgerichtet war: Es war dein unbeirrbarer Glaube, deine ungebrochene, glühende Hoffnung, die mich zustimmen ließ, dem Weg jenes Mönches zu folgen, von dem man Wunderdinge berichtet.»



Lächelnd legt der Kaufmann die Feder auf den Tisch und greift erneut zum Beil, diesmal jedoch, um dessen Spitze wieder und wieder in runden Bewegungen über die nahe, steinerne Fensterbank schleifen zu lassen.
Obwohl er nichts sieht, sind seine Lider geöffnet. Sein Blick ist in sich gekehrt. Auch von dem kreischenden Geräusch des den Stein langsam abtragenden Eisens nimmt er nichts wahr. Wie ein blinder Musiker, der unfähig ist, eine Partitur zu lesen, komponiert er einen letzten Liebesschwur in ewigem Stein, eine letzte Symphonie, die er niemals hören wird. Und mit jedem Kreis, den die Klinge tanzt, dringt er tiefer und tiefer in sein Leben ein, im Reigen der Erinnerungen.
Plötzlich gleißendes, loderndes Licht!
Der Mann zuckt zurück. Es ist nicht das erste Mal, dass er diese Vision hat, dennoch rast sein Herz vor Angst.
'Das Feuer der Hölle?'


Die Hand schießt empor und bedeckt die Augen: Kein Schatten, nur grellster Schein.
Jäh, ein Kreischen, gellenden Schreien gleich!
Reflexartig dreht er seinen Kopf. Links, geradeaus, rechts und wieder zurück. - Nichts ändert sich am Klang; der Beweis, dass der Ursprung der Geräusche nicht in dem Raum liegt, der den Kaufmann umgibt, sondern in ihm, dem Wahrnehmenden selbst, welchem der schleichende Tod bereits vor Stunden Augenlicht und Gehör geraubt hat.
'Meine Gedanken sind klar, aber ist mein Geist wirklich noch gänzlich unbeirrt? Das abgetrennte Bein schmerzt, als sei es weiterhin Teil meines Körpers; vergebens versuche ich es zu berühren. Ich vermeine auch den Ring an meinem Finger zu spüren, sein Gewicht, sein Abdruck, ja, ich fühle ihn gewiss in diesem Moment, dabei liegt er vor mir auf dem Tisch, so wie der Finger, an dem ich ihn mein Leben lang trug. Blind und taub, nehme ich Licht und Geräusche wahr. Wie kann das sein? Fast scheint es mir, als entschieden meine Sinne frei, was ich wahrnehme. Stets vertraute ich ihnen, um die Welt zu verstehen, doch kann ich es jetzt noch? Oder deuten mir meine Sinne etwa, bereits eine andere Welt betreten zu haben?'


Vorsichtig legt der Kaufmann das Beil auf den Tisch und berührt sein Gesicht, das Antlitz, welches ihn sein Leben lang begleitet hat. Es scheint unverändert. Dann verlangt es ihm nach einem unumstößlichen Beweis der gegenwärtigen, fassbaren Außenwelt: Tastend gleitet seine Hand über die hölzerne Tischplatte, auf der Suche nach dem Ring; endlich hält der Suchende ihn zwischen den Fingerspitzen, spürt das Kratzen seines Fingernagels an der ihm so vertrauten Gravur. Schließlich bereitet er Papier und Feder vor.

«Auf dem Getreidemarkt erkundigte ich mich nach einem Begleiter für mein Unterfangen. Giacomo, ein junger Händler aus Arezzo, willigte ein, mich für gerechtes Entgelt über den Pilgerpfad zum Kloster des Monte della Verna zu begleiten. Nur meine Krücken sah Giacomo, von der mysteriösen Krankheit berichtete ich ihm nicht, aus Sorge, den gerade gefundenen Gefährten zu verängstigen, zu verlieren.
Giacomo kannte den alten Pfad gut. Eng, steil, oftmals von Geäst versperrt, führte er durch unbefestigte Furten, über unebene Felsen, rutschige Waldhänge und Geröll. Nur zu Fuß konnten wir auf diesem Weg das Kloster erreichen. Neben etwas Verpflegung hatte ich Papier, Federkiel und etwas Tinte in meinen Reisebeutel gepackt. Unmittelbar nach unserer Ankunft wollte ich Beatrice eine Nachricht schicken. - Einzig einen weiteren Gegenstand fügte ich hinzu: ein Beil. Es sollte mir im Fall einer Blutvergiftung die nötige Zeit verschaffen, den Ort der Wunder zu erreichen.
Je mehr Giacomo und ich ins Landesinnere vordrangen, desto unwegsamer und geneigter wurde der Pfad. Der Händler würdigte meine Beharrlichkeit und war überzeugt davon, La Verna binnen zwölf Tagen zu erreichen.
Meine unausgesprochene Hoffnung, bereits das Beschreiten dieses Weges könne meine Heilung einleiten, wurde am Morgen des achten Tages jäh zerschlagen: Ich erwachte, auf dem linken Ohr taub, auf dem linken Auge blind. Auch hiervon sagte ich Giacomo nichts.
Am Abend desselben Tages schlugen wir das Nachtlager nah einer Quelle auf.
„Der Tiber“, sagte Giacomo und zeigte auf einen unscheinbaren Wasserlauf. „Hier entspringt der Fluss, der durch die heilige Stadt Rom fließt.“
In dieser Nacht war es am Händler, die erste Wache zu halten. Ich war erschöpft, benötigte dringend Schlaf, aber die Geißel, die meinen Körper langsam zerstörte, ließ auch meine Gedanken nicht los. Warum ich? Warum diese Krankheit? Ich wusste, es gab keine Antworten, nur eine letzte, schwache Hoffnung: das heilbringende Kloster. Um endlich zu schlafen, hielt ich meine Augen geschlossen, zwang mich, an nichts mehr zu denken.
Lange lag ich wach, still, in mich gekehrt, mein Herz ging ruhig, als ich plötzlich Lichtblitze sah und schrille Klänge hörte. Verängstigt schnellte mein Oberkörper empor, mit hastiger Stimme sprach ich Giacomo auf die Geschehnisse an. Überrascht versicherte er mir, nichts Außergewöhnliches gesehen oder gehört zu haben. Ich nahm an, mich geirrt zu haben, und bezweifelte die reale Existenz des Wahrgenommenen.
Wenig später rissen mich erneut Bilder, die an eine Feuersbrunst erinnerten, und Laute, die Schmerzensschreien glichen, aus der schlaflosen Nachtruhe. Wieder schwor der Händler, nichts vernommen zu haben. Vielleicht waren allein meine Sinne in der Lage zu erkennen, was uns an jenem Ort umgab. Doch was, wenn der Ursprung des Feuers und der Schreie in mir lag?
Der Gedanke begann mich zu quälen. - Glaubensinhalte wie 'Hölle' oder 'Paradies' waren mir fremd. Mein gesamtes Weltbild fußte auf meinen Sinnen und der logischen Verknüpfung des durch sie Erfahrbaren. Und nun zweifelte ich an eben diesen, meinen Sinnen. Es gibt nichts Erschütternderes, als alles, an das man sein Leben lang geglaubt hat, seine eigene Wahrheit, und damit auch Teile des eigenen Selbst, in Frage zu stellen.

Am Morgen des elften Tages – wir hatten den Bergsattel 'Rotta dei Cavalli' hinter uns gebracht und den Buchenwald des Monte Fatucchio erreicht – sollte unsere Pilgerreise ein jähes Ende nehmen: Ich spürte meinen rechten Fuß nicht mehr. Von den Zehen bis zum Spunggelenk: alles schwarz!
Nur mit Mühe schaffte ich es aufzustehen und auf dem toten Fleisch das Gleichgewicht zu halten. Doch es half nichts. Ich musste die Blutvergiftung aufhalten, den Fuß abschlagen. Keinen Meter würde ich mehr gehen können. - Es war unmöglich.
Die Reise, sie war zu Ende.

„Giacomo, ich kann nicht weiter. Mein Fuß ...“
Der Händler näherte sich.
„Was ist … das?“
„Ich bin die Böschung hinuntergefallen, bei der Nachtwache. Es tut höllisch weh. Der Fuß muss gebrochen sein.“
„Das glaube ich nicht; er ist nicht geschwollen.“
Giacomo legte seine Hand auf den Spann. Ich spürte seine Berührung nicht, schrie dennoch auf, um weiter einen Knochenbruch vorzutäuschen.
„Sie können nicht auftreten?“
„Unmöglich. Nicht einen Schritt schaffe ich mehr.“
„Was nun? Ich kann Sie unmöglich bis nach La Verna tragen.“ Besorgt blickte der Händler sich um. „Und hier lassen kann ich Sie auch nicht. In diesem Gebiet wimmelt es von Wölfen.“
Plötzlich nahm er seinen Beutel und schnürte ihn fest an einen hohen Ast.
„Ich überlasse Sie nicht ihrem Schicksal. Ich kenne diese Gegend. Unweit von hier, oberhalb dieses Waldes, befindet sich ein verlassenes Haus. Ich bringe Sie dorthin und hole dann im Kloster Hilfe.“
Während des gesamten Aufstiegs stützte mich der junge Händler. Seine Verpflegung hatte er an jenem Ast zurückgelassen, vor Tieren weitestgehend geschützt, um die Last zu vermindern.
Die Sonne stand noch nicht in ihrem Zenit, als wir das Gemäuer erreichten. Es lag außerhalb des Waldes auf einer Anhöhe, von welcher aus man das Umland sehen konnte.
„Signore, dort ist der Monte della Verna, bei zügigem Schritt keinen Tagesmarsch entfernt. Wenn mich nichts aufhält, erreiche ich heute Nacht das Kloster. Morgen Abend bin ich zurück, mit Helfern und einer Bahre.“
Ich nickte erschöpft.
Der Geruch von Thymian und Minze, die auf der Wiese vor dem Haus wachsen, begleitete uns die letzten Meter. Die unverschlossene Tür führt in ein großes Zimmer mit einer Feuerstelle, vor der wir einen alten Holztisch und zwei Stühle vorfanden, rechts davon eine morsche Treppe, welche zum Dachstuhl führt. Obwohl der dortige Raum noch schmutziger und staubiger war als der untere, beschloss der Händler, ich solle zum eigenen Schutz ebendort verweilen.
Ich wollte die Zeit nutzen, um meiner Frau Beatrice zu schreiben, und so bat ich Giacomo, den Tisch und einen Stuhl aus dem unteren Raum heraufzuschaffen und neben mein Lager zu stellen.
Als wir uns verabschiedeten, drückte ich lange seine Hand.
„Sollte mir etwas zustoßen, versprich mir, Giacomo, dass du meine sterblichen Reste zurück bringst zu meiner Frau. Sie wird dich für deine Mühen entlohnen.“
„Ich verspreche es Ihnen, Signore. Aber seien Sie unbesorgt, morgen Nachmittag werde ich wieder hier sein, mit einer Bahre, und Sie nach La Verna bringen, so wie es abgemacht war. In der Zwischenzeit aber halten Sie die Luke zum Dachstuhl stets verschlossen. Dieses Haus liegt im Jagdrevier der Wölfe!»



Der Kaufmann legt den Federkiel nieder und massiert sich mit Daumen und Fingern die Schläfen. Sein Ziel, La Verna, es ist so nah! Wenige Stunden noch, dann wird Giacomo ihn dorthin bringen. Sicher hat Beatrice Recht und er findet dort Heilung.
Durchs Fenster strömt frische, wohlriechende Nachtluft. Der Atem des Mannes geht ruhig.
Die wenigen Stunden, die er in diesem Haus zugebracht hat, scheinen ihm unwirkliche Erinnerungen: das Abschlagen des Fußes, kurz nach Giacomos Aufbruch; das fast leere Tintenfass, dessen mit etwas Trinkwasser verdünnte Inhalt jedoch für die Zeilen an Beatrice ausreichte; die entfernten, gleichmäßigen Geräusche des Waldes; der Genuss der abkühlenden Abendluft; der Moment, als er Frieden gefunden hatte und begann, die Gravur seines Eherings in die Fensterbank zu ritzen. Stundenlang. Glücklich. - Ein Zauber schien über der Welt und ihren Geschöpfen zu liegen, ein Zauber, der jäh verfliegen sollte, als der Kaufmann mitten in der Nacht erwachte und Panik ihm die Kehle zuschnürte: Er war vollkommen erblindet, sein Gehör ihm gänzlich genommen.
Dunkelheit. Stille. Einsamkeit.

Die Klinge des Beils schleift die Gravur entlang. Langsam und regelmäßig, geführt allein vom Tastsinn der rechten Hand. Die Qualen, die der Kaufmann nach seinem Erwachen erlitten hatte, scheinen ihm in diesem friedvollen Moment Teil einer entfernten Vergangenheit. Der Moment, als er sich von seiner Schlafstätte erheben wollte und seine linke Hand nicht mehr spürte. Taub. Tot. - Schlagartig war seine Verzweiflung in Wut umgeschlagen. 'Was ist der Grund für diesen teuflischen Fluch? Blind, taub, ohne Gefühl. Lebendig begraben im eigenen Körper! Reicht es dir nicht, mich zum Krüppel gemacht zu haben?'

Hatte er die Worte gebrüllt? Er weiß es nicht, konnte er die Laute doch nicht mehr hören, die möglicherweise seinem Hals entsprungen waren.
Nicht mehr seiner Stimme, sondern dem Papier vertraut er nun an, seine Worte zu verkünden.

«Blind und taub zu erwachen, ohne Gefühl in der linken Hand, ließ mich zunächst in tiefste Orientierungslosigkeit stürzen. Verzweifelt fragte ich nach dem Grund. Doch an wen waren meine Worte gerichtet? Ich begriff die Einfältigkeit meines Unterfangens, eine Reise anzutreten, deren Erfolg Glaube erforderte; ich aber bestritt sie, allein weil ich mich an mein irdisches Leben klammerte und keine andere Wahl mehr hatte. Ein ungläubiger Kaufmann in der Hoffnung auf wundersame Heilung. Wie naiv war ich, zu glauben, mit dem Tod feilschen zu können.
Ich schlug die Finger meiner linken Hand ab, hielt die abgehakten Finger in der rechten Hand, während ich sie links, am Stumpen, weiter spürte. Verhöhnte mich die Krankheit? Ich gedachte des lodernden Lichts, das nur ich, und bei geschlossenem Auge, sehen konnte. Warum sollte ich die Hölle sehen, wenn ich nicht an sie glaube?
In die Dunkelheit meines Körpers eingeschlossen, drängte sich mir eine Frage auf, deren Unerträglichkeit in ihrer Gänze nicht in Worte gefasst zu werden vermag: Mein Körper verging, Stück für Stück, aber mein Bewusstsein schien unverändert. Würde es weiter existieren, wenn mein Leib bereits tot war? - Würde ich in Ewigkeit hier eingeschlossen sein?

Ist dies die Hölle?»



Der Mann atmet tief ein. Hatte er bislang mit dem Abtrennen seiner Glieder den Tod hinausgezögert, um La Verna zu erreichen, dient es jetzt dazu, seine Gedanken aufzuschreiben, sie zu ordnen, in der Hoffnung, noch rechtzeitig eine Antwort zu finden auf diese letzte Frage. Ein Wettrennen gegen den Tod, der ihn langsam, fast genüsslich anmutend, verspeist.
Jäh, das Licht!
Wie so oft zuvor, schießt die Hand empor und bedeckt die Augen. Doch etwas ist diesmal anders: Links, sein Gesicht … er fühlt es nicht mehr.

Seine Hand berührt den Hals, die Schulter, den Arm. Nichts! Alles tot!
'Wie ist das möglich, so schnell? Die Krankheit, sie frisst nicht mehr in kleinen Happen, sie verschlingt mich bei lebendigem Leib, den Wölfen gleich! - Hast du etwa Angst, ich könnte dein Geheimnis entdecken?'


Nervös ertastet er den schweren, kalten Stahl.
'Die Knochen sind zu dick. Nur noch den Unterarm kann ich abtrennen. Welchen Sinn hat das alles noch?'


Er hebt das Beil.
'Soll der Tod bekommen, was bereits des Todes ist!'


Mit voller Wucht trifft das Werkzeug sein Ziel. Sehnen schnellen hoch, Knochen zersplittert. Das Beil bleibt stecken, wird mühsam entrissen und wieder und wieder in die Beuge geschlagen, bis es sich endlich ins Holz rammt. Kein Blut, kein Schmerz. Nur Stille.

Es ist vorbei.

Trauer erfüllt das Gemüt des Blinden. Er weint, ohne zu wissen, dass seine Augen seit Tagen nicht mehr fähig sind, Tränen zu erzeugen.
Seine Hand gleitet über die grobe Äderung des Holztisches, zur Fensterbank hinüber, wo seine Finger sich im unendlichen Rund der tiefen Gravur verlieren.
Jäh hält der Gequälte inne. Sein Kopf senkt sich, demütig und jeder Hoffnung beraubt, als erwarte er nur noch das Walten des Henkers.
Für ihn sollte es kein Wunder mehr geben.

Zeit, einstmals wichtig, der Kaufmann lässt sie verstreichen. Reglos.
Plötzlich ein Zucken!
Der Kopf hebt sich.
'Das ist unglaublich!'


Euphorie durchfließt den Körper. Geduldiges Tasten. Mit ruhiger Hand schüttet der Kaufmann etwas Trinkwasser in das Tintenfass, tunkt die Spitze des Federkiels hinein und setzt die Spitze aufs Papier.

«Beatrice, vereinsamt, eingesperrt in jenem dunklen Verlies, der mein Körper jetzt ist, spürte ich - frei von jedem Zweifel! - , wie mein Geist sich von meinem Körper löste. Die ersehnte Antwort, ich habe sie erhalten: Geist und Körper sind zweierlei und trennbar! Es ist so, wie du es stets gesagt hast, Beatrice: Die Seele existiert und überdauert den Tod.
Jetzt erst verstehe ich den Grund der Wanderung: Ich beschritt diesen Pfad einzig um meines Seelenheils Willen. - Das erhoffte Wunder, es ist geschehen!
Jetzt, da ich die Nähe des Todes spüre, weiß ich um meine Freiheit und erwarte mit Neugier zu erkennen, wohin mich meine weitere Reise führt.»



Der Kaufmann gedenkt des Versprechens Giacomos, welches jetzt das wichtigste Gut für ihn darstellt, die Gewähr, dass sein Körper, und mit ihm seine Aufzeichnungen, schon bald zu Beatrice zurückkehren.
Ein letztes Mal tauscht er die Schreibfeder gegen das Beil und vertieft stetig, in Gedanken bei seiner Frau, die Gravur am Fenster. Nichts anderes will er mehr, als allein mit ihr, Beatrice, die ihm noch verbleibende Zeit zu verbringen.

Als die Kraft schwindet und das nahende Ende sich ankündigt, legt der Kaufmann das Beil auf den Tisch und tastet nach dem Ring. Vorsichtig, fast zärtlich, lässt er ihn über den kleinen Finger gleiten. Schließlich greift der Mann seine Aufzeichnungen, beugt sich seitlich zum Boden und gleitet vorsichtig, von seinem Arm gestützt, auf die Schlafstätte hinunter.
Nur noch kurze Zeit und er wird dieses dunkle Grab verlassen, einem Vogel gleich ewigem Licht entgegengleiten.
Wärme und Ruhe erfüllen sein Herz.
Er lächelt, als er spürt, wie sein Geist erneut den Körper verlässt.
Dieses Mal, das weiß er, ist es für immer.

- ( ) -




Der Nachmittag war bereits angebrochen, als sich drei Männer dem abgelegenen Gebäude nähern. Die Gruppe wird von Giacomo geführt, dessen Gesicht von Sorge gezeichnet ist. Erleichterung überkommt ihn, als er aus der Ferne erkennt, dass die Haustür und sämtliche Fenster im Erdgeschoss geschlossen sind; der Unterschlupf befindet sich in demselben Zustand, wie zwei Tage zuvor, als er ihn verlassen hatte.
Ersten freudigen Rufen folgt entmutigende Stille. Keine Antwort aus dem Inneren des Hauses. Die drei Männer betreten den menschenleeren Raum.
Eilig steigt Giacomo die Leiter zum Dachboden empor. Die Luke ist verschlossen. Gut! Kein Wolf ist in der Lage, dieses Hindernis zu überwinden.
Wieder Rufe des Händlers. - Wieder Stille.
Der Händler stemmt den Zugang auf, ahnend, den Weggefährten leblos vorzufinden. Das Bild aber, das sich ihm dort bei beißendem Gestank bietet, erfüllt ihn mit Grauen: Von Fliegen übersät, unter dem Tisch dunkle Körperteile, auf der nahen Ruhestätte der verkohlt anmutende, schwarz verfärbte Körper des Mannes. Übelkeit und Schwindel lassen Giacomo zum geöffneten Fenster schnellen. Das Herz rast! Tief atmet er ein, während seine Helfer die Dachkammer betreten und sich ob des Anblicks und fauligen Geruchs entsetzt bekreuzigen: „Il fuoco dell'Inferno!“
Nach dem ersten Moment des Schreckens und des Ekels kann der Händler wieder klare Gedanken fassen. Zunächst nimmt er an, eine Bestie habe sich durch das offene Fenster Einlass verschafft und den Wehrlosen im Schlaf überrascht. Dann aber sieht er das Beil auf dem Tisch, die abgeschlagenen Finger, den Federkiel, das Tintenfass. Kein Blut. War der Kaufmann in der Stunde seines Todes dem Wahn verfallen?
Giacomos Blick wandert zum Leichnam. Erst jetzt bemerkt er die Blätter, die der Tote an seine Brust zu drücken scheint. Vorsichtig bemächtigt er sich des Papiers: Zwölf Seiten, von denen nur eine beschriftet ist. Aufmerksam betrachtet er die ungleichmäßigen, verblassenden Zeilen, die im Nichts enden; die letzten Gedanken des Kaufmanns, gerichtet an Beatrice, jene Frau, von der er während der Reise so oft erzählt hatte. Die helle Schrift ... - Der Händler wendet sich dem Tisch zu, taucht den Federkiel ins Tintenfass und berührt mit der Spitze kurz das Papier. Nicht der kleinste Schatten eines Punktes ist zu sehen. Wie dunkel mag es in diesem Raum gewesen sein, dass der Kaufmann nicht bemerkte, mit Wasser zu schreiben? Wieder blickt Giacomo zum Toten; was auch immer dieser Mann auf all den Seiten festgehalten haben mag, niemand wird es jemals lesen, wie auch der Grund für die Selbstverstümmelung auf ewig sein Geheimnis bleibt.
Der Händler lässt sich von seinen Begleitern ein Tuch reichen, breitet es neben dem Toten aus und beginnt, ihn für seine letzte Reise vorzubereiten, zurück zu Beatrice, so, wie es dem Kaufmann versprochen worden war.

- ( ) -




Toscana, heute.

«Ich folge dem alten Pilgerpfad, den einst Franziskus von Assisi beschritten hatte, um von Rimini zum etwa achtzig Kilometer entfernt gelegenen Monte della Verna zu gelangen, jenem Ort, an welchem sich der Überlieferung zufolge im Jahr 1224, zwei Jahre vor seinem Tod, auf Händen und Füßen des erblindeten Mönches Wundmale gebildet hatten.
Es ist der fünfte Tag meiner Wanderung. Der stark verwilderte Weg führt durch einen dichten, steil abfallenden Wald. Ich arbeite mich durchs Dickicht, immerzu darauf bedacht, nicht abzurutschen. Doch schon bald wird mir bewusst, vom Pfad weit abgekommen zu sein. Ich steige höher, um mir einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen.
Nach wenigen hundert Metern öffnet sich das Gehölz. Dort ist sie, die erhoffte Anhöhe, die mir freien Blick gewährt. Ich trete in die sengende Mittagssonne hinaus und lächle zufrieden, als ich vor mir den trapezförmigen Monte della Verna sehe. Er ist näher als ich angenommen hatte; von hier aus sind es keine sechs Stunden Fußmarsch bis zu jener Herberge im Tal, in der ich heute Abend einzukehren geplant hatte.Ich habe Zeit und beschließe zu rasten.
Inmitten der Anhöhe erblicke ich eine kleine Buche und hinter ihr die verwitterten Trümmer eines eingefallenen Hauses. Von Pflanzen überwuchertes, breites Mauerwerk aus Naturstein. Neugierig begutachte ich die Ruine, möglicherweise Reste eines uralten Gemäuers. In der Nähe des einstigen Eingangs liegt ein knapp ein Meter breiter, glatt geschliffener Steinblock, auf ihm, zur Hälfte verdeckt, eine alte Gravur, die meine Aufmerksamkeit erregt. Ich entferne Moos und Erde; zum Vorschein kommt eine kreisähnliche Form, die zwei Buchstaben umschließt. Ich lächele ob des Zufalls: Dieselben Lettern befinden sich in dem Ring, den ich trage.
Der wohlige Geruch von Thymian und Minze erfüllt meine Sinne. Ich setze mich aufs Gras und genieße den hiesigen Ausblick auf den Monte della Verna. Welch wundervoller Platz ist dieser hier! Ein Ort der Stille, der Ewigkeit, über ihm der wolkenlose, blaue Himmel und, in mattem Weiß, die scharfe Sichel des zunehmenden Mondes.

Beim Abendessen in der Herberge ziehe ich meinen Ring vom Finger, betrachte die Gravur: War der Fund der Ruine Zufall oder Fügung des Schicksals?
Es ist in diesem Moment, da mir, wie aus dem Nichts, eine Idee für eine Geschichte kommt, so gegenwärtig, als ob sie mir zugeflüstert würde: Die letzte Reise jener Person, die vor vielen Jahrhunderten die Gravur in dem Fensterblock angefertigt hat. Ein Mann ohne Name. Ich beschließe, die nächsten Stunden damit zu verbringen, sie aufzuschreiben. Ob die Reise jenes Mannes in dieser, heutigen Nacht endet, mag im Auge des Betrachters verbleiben.»

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.01.2012

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