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In der Bibliothek

Von einem leisen, nach Scharnierfett flehenden Quietschen begleitet, schloss Smiddlethorp die schwere Holztür der Stadtbibliothek hinter sich, nahm die beschlagene Brille ab und putzte sie mit dem Taschentuch. Kaum dass er wieder durch sie hindurchblicken konnte, verschlug ihm der Anblick den Atem: Vor ihm erstreckte sich ein fensterloser Raum von immenser Größe, durchzogen von acht im Quadrat angeordneten, gewaltigen Säulen, die, wie der Boden des Saals, aus mächtigen glatten, dunklen Steinquadern bestand. Spontan fühlte sich der Schüler an eine Kathedrale erinnert, wenn auch dieser Ort ungleich düsterer war. Wohl zum Schutz der Bücher verfügte der Raum über nur eine Lichtquelle; ähnlich dem Pantheon in Rom befand sich in der Mitte des Deckengewölbes ein rundes Loch, durch das das Sonnenlicht einströmte. Mit Hilfe von Spiegeln wurde ein Teil der Strahlen wieder und wieder gebrochen und umgelenkt, bis es schließlich die Lesetische erreichte.

Nun, da sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und dem wirren Labyrinth aus Spiegeln folgten, erkannte Philipp, dass die gesamte Außenwand der Bibliothek von Abertausenden von Büchern bedeckt war.

Linker Hand, keine zehn Meter vom Eingang entfernt, deutete ein großes 'i' auf einen Informationsstand hin. Der Schüler machte einen Schritt auf das Zeichen zu.

Ein lautes Knarren unterbrach die Stille.

Smiddlethorp erstarrte inmitten der Bewegung und lauschte verlegen, wie das von ihm erzeugte Geräusch schier endlos durch den Saal weitergereicht wurde. Der Versuch, einer Schildkröte gleich den knallrot gefärbten Kopf verschwinden zu lassen, scheiterte. Stattdessen musste das an seinem Platz verbliebene Haupt erkennen, dass der gesamte Eingangsbereich der Bibliothek mit potentiell mitteilsamen Dielen ausgelegt war.

Vorsichtig setzte er den Fuß auf, um den zweiten Schritt zu tun, doch so sehr er sich auch mühte, wieder knarrte es laut.

Seine Schultern hoben sich. Die zusammengekniffenen Augen gaben den Eindruck, der Schüler hätte in eine Zitrone gebissen.

Ein dritter Schritt, ausgeführt mit elfenhafter Leichtigkeit, führte zu demselben unüberhörbaren Ergebnis. So wie auch der vierte Schritt, präzise die Fortbewegung einer Landschnecke nachahmend, oder der fünfte, ohne Atmung, auf dem Außenrist abrollend. Stets bezeugte lautes Knarren die von Erfolglosigkeit gesegneten Bemühungen des Jungen. Der Fünfte ließ ihn Fußteile spüren, die er bislang gar nicht zu haben glaubte. Ein schmerzhafter Krampf begleitete das nunmehr gefürchtete Geräusch.

Ein auf dem Boden auffächernder Lichtschein, begleitet von einem frischen Luftzug, bezeugte das geräuschlose Öffnen der Bibliothekstür. Ein kleines, rothaariges Mädchen mit Zöpfen und Zahnklammer ging lautlos an dem erstaunten Jüngling vorbei in den Lesesaal.

Smiddlethorp atmete tief ein und brachte gesenkten Hauptes die letzten Meter hinter sich. Für eine gefühlte Unendlichkeit quietschte und knarzte es, unablässig, den Raum ausfüllend, sich auftürmend, bis zum Gewölbe des Bauwerks hinauf, so eindringlich, als ob sich die Dielen vor Schmerzen unter dem Gewicht des hageren Jungen biegen würden. Dieser Boden war definitiv nicht sein Freund!

An dem großen 'i' angekommen, entdeckte Philipp die ihm wohlbekannten Umrisse eines Bildschirms und hinter selbigem, regungslos, eine fahle, knochige Kreatur. Ihr kahler, magerer Kopf ragte aus einem strengen, dunklen Anzug und beheimatete, in tiefen Höhlen, Augäpfel, die einem von den Ohren gemeldeten, seltsam beharrlichen Geräusch folgend, rechter Hand zur Decke starrten. Auf der Nasenspitze eine Lesebrille, die Bügel verbunden mit einem am Nacken entlang führenden, goldenen Kettchen, das die Hoffnung, in den nächsten Stunden etwas schaukeln zu können, bereits verloren hatte und dementsprechend lustlos herumhing.

Der Schüler räusperte sich kurz. „Entschuldigung, können Sie mir helfen?“

„Ich werde dafür bezahlt, auf diese Frage mit 'Ja' zu antworten“, erwiderte der Bibliothekar, während er seinen Kopf drehte. Dann hob er das Kinn, sah sein Gegenüber durch die kleinen Gläser der Brille an, und ergänzte mit sich selbst sprechend: „selbst wenn ich dies in manchen Fällen von vornherein bezweifle.“

Philipp konnte sich nicht des Gefühls verwehren, von Kopf bis Fuß gemustert zu werden.

„Ich suche einige Bücher.“

Der Mann reagierte gemäß dem Informationsgehalt, den der Satz innerhalb einer Bibliothek hatte. Still wartete er, ob da noch was kam, oder, im günstigsten Fall, es wieder ging. Derweil schluckte der Junge und korrigierte seinen Eindruck: Die Füße musterte sein Gegenüber definitiv nicht.

„Ich suche Bücher eines gewissen Giordano Bruno; sind etwas älter. Kennen Sie den?“

„Der junge Herr interessiert sich für die Opera Haeretici Nola.“

„Für die was?“

„Für die Werke des Ketzers aus Nola.“

„Ach so, äh, ja, eben die meine ich wohl“, murmelte der Schüler. Ein inständiges Gebet erreichte die Himmelspforte, die Ausdrucksweise des Nolaners möge verständlicher sein als die des Bibliothekars.

Der Greis rückte seine Brille zurecht und wandte sich dem Computer zu.

Die nächsten Minuten verbrachte Philipp Smiddlethorp damit, seinem Gegenüber bei der Dateneingabe zuzusehen: Blick zum Bildschirm, Verifizierung der korrekten Position des Cursors, Blick zur Tastatur, Positionieren des rechten Zeigefingers über der Taste mit dem gewünschten Buchstaben, Blick zum Bildschirm, Verifizierung der Unverändertheit der Ausgangssituation, Blick zur Tastatur, Überprüfung der korrekten mechanischen Durchführung des Senkens des Zeigefingers auf die Zieltaste, Blick zum Bildschirm, Verifizierung der Übereinstimmung zwischen Ist-Zustand mit gewünschtem Soll-Zustand. Ein kaum merkliches Nicken.

Der erste Buchstabe des Suchbegriffs war eingegeben: B.

Ein erneutes Zurechtrücken der Brille bekundete den Beginn der Eingabe des Buchstaben R. Blick zum Bildschirm, Verifizierung der korrekten Position des Cursors, Blick zur Tastatur ...

Der junge Bittsteller schaute auf die Uhr. Wie lange konnte der Mann für die Datenbankabfrage benötigen? Wieder pochte ein Gebet an der Himmelspforte, welche sich quietschend öffnete und dem Wunsch Einlass gewährte, der Besuch der Stadtbibliothek möge die zwei Wochen bis zur Abgabe der Hausarbeit nicht überschreiten.

Beim Buchstaben U angekommen machte sich Unruhe in Philipp breit. Sein Blick begann die Weiten der Bibliothek zu durchstreifen, glitt über den festen, stillen Steinboden zu den hölzernen Lesetischen, erklomm die hohen Säulen, streifte weiter, das Gewölbe entlang, bis er schließlich die gewaltigen Buchwänden erreichte.

Nichts bewegte sich, kein Geräusch war zu vernehmen. Das von Menschenhand umgeleitete Sonnenlicht war seines Vermögens beraubt, das Voranschreiten der Zeit zu zeigen. Den Schüler beschlich der seltsame Gedanke, dass es hier und jetzt eigentlich keinen Unterschied machte, ob er einen dreidimensionalen Raum betrachtete oder ein zweidimensionales Bild.

Just in diesem Moment erhob sich nach getaner Arbeit der sehnige Finger von der knochenfarbigen Tastatur.

„Ebene 2, Gang F, Signatur 1472. De l'infinito universo et mondi. Nachdruck. Reich bebildert. Sie haben Glück.“

„Dass Sie das Buch haben?“

„Dass es reich bebildert ist.“

Der Bibliothekar füllte den Leihschein aus, ließ sich das Buch bringen und übergab es dem Schüler.

„Ähm, wenn ich fragen darf“, äußerte Philipp zaghaft, „um was geht es in dem Text?“

Der Greis blickte den Jungen an und ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Um Wahrheit.“

Do ut des

„Hallo, Daniel.“ Vergiles Stimme war zu entnehmen, dass er sich das Schmunzeln nicht verkneifen konnte. „Ich habe die Diskussion im Forum gesehen. Ein überraschender Schachzug, sich mit der mächtigsten Allianz Relictios zu streiten.“

„Streiten?“ Treaghus räusperte sich. „Wann hätte ich bitte gestritten haben sollen? Sie haben mir mit der Sperre doch frühzeitig die Hände gebunden.“

„Schenk der Strafe keine Bedeutung. Du bist nicht der erste, den Achairon sperren lässt. Er meldet jeden Regelverstoß eines Spielers, der sich gegen ihn auflehnt, sei es im Spiel, sei es im Forum. Willst du nicht mehr gesperrt werden, musst du eben schweigen.“

„Das Gegenteil werde ich tun.“

„Ich verstehe dich nicht, Daniel. So sympathisch dein Vorgehen auch ist, der Moderator hat keine Wahl. Er wird dich erneut sperren, wenn du grundlos über die Spieler herziehst.“

„Ich werde einen Grund haben. Heute Nacht, sobald die Sperre endet, erkläre ich den Thorg den Krieg.“

„Bitte, was?“

„Erlaube mir bitte eine kurze Frage, Vergile. Siehst du bei einem Angriff irgendetwas?“

„Was genau meinst du?“

„Bilder, oder Szenen. – Nehmen die Gefechte in deinem Kopf Formen an?“

„Nein“, antwortete Vergile verdutzt. „Und bislang hat mir auch kein Spieler von Ähnlichem erzählt. Warum fragst du?“

Das ist ihr wunder Punkt. Ihnen fehlt nicht nur jeglicher Humor, sie haben auch keine Phantasie. Ich werde im Spiel gegen sie kämpfen und die Schlachten im Forum wortgewaltig beschreiben. Kein Moderator wird mir dies absprechen können.“

„Du wirst wortgewaltig verlieren“, erwiderte Vergile trocken, hatte Daniel ihm doch gerade ungewollt bescheinigt, ebenfalls über mangelnde Phantasie zu verfügen.

„Nein, Vergile, im Gegenteil: Ich kann gar nicht verlieren. Wer nichts hat, dem kann auch nichts genommen werden. Im Spiel haben nur die Thorgs etwas zu verlieren; und im Forum werden sie ihre schmerzhafteste Niederlage erfahren.“

Für einen langen Moment herrschte Stille. Danach sprach Vergile, langsam, mit gedämpfter Stimme: „Die Sache hat einen kleinen Haken: Nur der Anführer einer Allianz kann die Schaltfläche unter dem Wappen einer anderen Allianz betätigen und ihr den Krieg erklären.“

„Weswegen ich die Allianz der Argoyl gegründet habe.“

Wieder herrschte für einen Moment Stille. Diesmal jedoch war es Daniel, der sie unterbrach.

„Aber ich bräuchte deine Hilfe, Vergile.“

„In welcher Form?“

„Ich darf im Spiel keine Niederlage erleiden. Sie würde im Forum zu viel Angriffsfläche bieten. Das bedeutet, ich muss 24 Stunden am Tag online sein, um im Fall eines Angriffs der Thorg rechtzeitig mein Hab und Gut in Sicherheit bringen zu können.“

„Hast du keinen Freund, der dir zeitweise helfen kann?“

Treaghus dachte an den in die Lektüre vertieften Smiddlethorp. Sofort fühlte er die tonnenschwere Last der Hausarbeit auf sich, welche wie das Schwert des Damokles über seinem Haupt hing.

„Es ist nicht der Mangel an Schlaf, der mich beunruhigt“, fuhr Daniel seinen Gedanken fort, „sondern der Mangel an Zeit. Ich werde mich nicht mit der Göttlichen Komödie auseinandersetzen können. Aber genau dies muss ich, und zwar innerhalb der nächsten zehn Tage.“

„Ich sehe dein Dilemma.“ Vergile klang nachdenklich. „Und es ist sicher kein Zufall, dass du es gerade mir mitteilst, einer Person, die du aus einem Forum kennst, welche die Göttliche Komödie zum Hauptthema hat.“

Daniel fühlte sich ertappt.

Die tiefe Stimme aus den Lautsprechern fuhr fort: „Daniel, erlaube mir, dir folgenden Pakt vorzuschlagen: Du schreibst im Forum neun Kriegsberichte, einen am Tag, zu einem von mir vorgegebenen Thema, und im Gegenzug werde ich dir am zehnten Tag mein gesamtes Wissen über Alighieris Höllenkreise zur Verfügung stellen.

Daniels Herz hüpfte vor Freude!

„Abgemacht, Vergile. So soll es sein.“

In den Katakomben von Iath Rinash'thir

37 Stunden waren seit der Landung auf Cylos vergangen. Endloser Regen hatte den Untergrund aufgeweicht. Die Stiefel rutschten auf glitschigem Wurzelwerk ab oder sanken tief in lehmigen Boden ein. Nur mit größter körperlicher Anstrengung und dem gänzlichen Verzicht auf Schlaf konnte der Gejagte hoffen, genügend Vorsprung vor seinen Verfolgern zu haben, um seine Mission zu erfüllen und durch die Katakomben zu entkommen. Doch trotz seiner Erschöpfung war der Geist des Wanderers hellwach; Gor entging keine Regung, kein Laut dessen, was ihn umgab. – Endlich öffnete sich das Geäst; zufrieden sah der An'mon die Spitzen der neun, von hohen Ranken umschlungenen Gebetstürme vor sich.

Ein letztes Stück Wald trennte ihn von seinem Ziel. Keine zwei Kilometer; noch vor Einbruch der Dämmerung würde er das Kloster erreicht haben.

Vorsichtig betrat Gor das Dickicht, versuchte, seine Füße möglichst auf kahlem Erdboden oder Stein aufzusetzen, um das laute Knacken von Ästen zu vermeiden. Noch fünfhundert Meter! Eine Senke, ein umgefallener Baum. Dreihundert! Mit jedem Schritt wurde es dunkler. 'Der Schatten der Klostermauer'. Ein stinkendes Rinnsal, Kot, verfaultes Fleisch. 'Die Entsorgung von Fäkalien und Unrat. Die Stücke sind groß, das bedeutet: Die Mauer muss in unmittelbarer Nähe sein und … jemand war im Kloster, eine Gruppe. Vielleicht hat sie Zuflucht gesucht, als der Regen …' - Plötzlich ein Rascheln. - Gor erstarrte, atmete nicht. 'Was war das?' Er horchte, regungslos, hörte das hohle Pfeifen des umherziehenden Windes, das schrille, entfernte Kreischen der Vögel, und, tief in seinem Inneren, das tumbe Hämmern des Herzens. - Erneutes Rascheln! Lauter. Näher! - Der Gehetzte blickte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, konnte aber nichts erkennen außer dichtem Geäst. Sein Blick wanderte gehetzt, auf der Suche nach einem anderen Weg zum Kloster, fernab jenes dunklen Astgewirrs, aber nur ein Pfad führte weiter, jener, dicht vorbei an der Quelle der möglichen Gefahr.

Er wandte sich um. Umzukehren bedeutete, seinen nahenden Häschern und damit dem sicheren Tod entgegenzueilen. Da! Ein mächtiger Ast reichte bis auf den Erdboden; er war Teil eines wuchtigen, aus dem Geäst herausragenden Baumes, dessen riesige, begehbare Äste in geringer Höhe in jede Himmelsrichtung ragten. Über ihn müsste der Flüchtige diesen Ort unbemerkt verlassen können. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf den schweren Ast. Kein Knarren. Gors Atmung ging hastig und flach. Schritt für Schritt brachte der hölzerne Pfad ihn lautlos höher, bis er schließlich den Stamm erreichte. Neugierig blickte der An'mon hinunter ins Geäst, um die Ursache des Raschelns zu ergründen. Es war dunkel, und so erkannte er nur vage die riesige Spinne, die, vornüber gebeugt, ihre Beute aussaugte. Unter ihrem schwarzen Hinterleib ragte kurz ein verschmutztes Körperteil des Opfers hervor, das Gor trotz der helleren Hautfarbe kaum besser sehen konnte. Und so verwarf er nach kurzem Zögern den Gedanken, es sei ein kleiner Fuß.

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Tag der Veröffentlichung: 31.08.2009

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