Kapitel 1
Die Jüngere Dame
Kairo, 2011
Er schaute sie lange an. Versuchte sich zu erinnern, seit wann er diesen Moment herbei gesehnt hatte. Er hatte sie zum ersten Mal auf einem Foto gesehen. In einem Heft. Und nun war er hier mit ihr. Allein. Sie lag vor ihm, mit geschlossenen Lidern. Er konnte es immer noch nicht fassen. Behutsam näherte er sich ihrem Mund, schloss seine Augen, atmete tief durch seine Nase ein. Einen Hauch von ihr entfernt, aber ohne sie zu berühren, glitt sein Kopf ihren Hals entlang. Ihr Geruch verstärkte seine Sinne. Er wollte sie nicht berühren. Keine Spuren von sich auf ihrem Körper hinterlassen. Er hielt kurz inne, atmete dann erneut tief ein. Plötzlich schoss ihm das Gesicht einer anderen Frau durch den Kopf. Eine Frau von unglaublicher Schönheit. Unantastbar, unerreichbar. Obwohl er nur Millimeter von diesem Frauenkörper entfernt war, stellte er sich vor, wie er die andere berührte, sie zärtlich streichelte, wie sie sich liebten. Aber der Duft, den er gerade einatmete, riss ihn in die Gegenwart zurück. Mit jedem Atemzug inhalierte er die Gewissheit, seine große Liebe, von der er so oft träumte, die Schöne, die da kam, niemals zu finden.
Gemächlich glitt sein Kopf zurück. Ohne eine Berührung. Von ihrem Hals über ihre Brust, bis er sich leise auf seinen Stuhl zurückfallen ließ. Nur langsam fanden seine Gedanken zu jener Frau zurück, die vor ihm lag. Mit jeder Sekunde wurde sein Blick klarer, fand er zurück zur Realität. War wieder ganz bei ihr, die sie wartend vor ihm ruhte.
Er schaute sich ihr Gesicht an. Das zeitlose Antlitz einer Frau, die Königin hätte sein können. Kaum über zwanzig Jahre alt war sie gewesen. Ein kahler Kopf. Auf der Rückseite des Schädels ein kleiner hervorstehender Knochen, eine Anomalie. Sein Blick fixierte den zerschmetterten Oberkiefer. Seine Reste befanden sich zusammen mit einigen Zahnstücken tief in der Nasennebenhöhle. Er zog sich seine Handschuhe über. Ihr Gehirn wurde durch ihre Nase gezogen. Kein Gefühl war in ihm, kein Gedanke, kein Ekel. Ihr Kopf war von ledriger Haut überzogen. Ihr hohler Schädel mit getrocknetem Harz gefüllt. Er setzte sich vor sie, um sein Werk zu vollenden. Der Bluterguss im Mund bewies, dass diese Frau lebte, als ihr der Oberkiefer eingeschlagen wurde. Der Brustkorb war aufgerissen. Ein weiterer Bluterguss im Inneren des hohlen Körpers konnte nur andeuten, was diese Frau in den letzten Sekunden ihres Lebens gesehen hatte.
Die Luft war stickig. Für einen Moment drehte sich ihm der Kopf. Ein kurzes Würgen, ein Unwohlsein. Das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er erhob sich leise, verließ den Raum und schloss die Türe hinter sich.
Der Raum lag am Ende eines etwa 15 Meter langen Korridors. Den gesamten Gang entlang befand sich auf der rechten Seite ein zweistöckiges Holzregal, das mit Kisten und Leinenbündeln gefüllt war. Die runde Decke war zweimal von einem schweren, rechteckigen Streben unterbrochen. Die Beleuchtung tauchte das Kellergewölbe in ein helles und steriles Licht. Fast dreitausend Kilometer war er gereist. Dreitausend Kilometer, die an seinen Kräften gezehrt hatten. Sein Weg endete in einem Keller. Er fühlte sich müde. Seit Tagen hatte er nicht mehr ruhig geschlafen. Unbändige Aufregung hatte Besitz von ihm ergriffen. Die Nachricht, zu ihr zu dürfen. Endlich. Und jetzt? Leere.
Er ging zurück in den Raum. Setzte sich vor sie. Sofort spürte er wieder eine unbeschreibbare Erregung. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Eine objektive Distanz zu schaffen. Vor ihm lag keine Frau. Vor ihm lag ein Etwas. Und doch hauchte er ihren Namen, als er sich mit seinen Werkzeugen ihrem Körper näherte. Er wollte sein so lange schon währendes Ziel erreichen.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Er blickte nach rechts auf den alten Schreibtisch. Ein blinkendes Licht am vergilbten Apparat zeigte, dass es sich um ein internes Telefonat handelte. Ein kurzes Zögern, dann legte er das Besteck zur Seite und nahm den Hörer ab.
„Ja, bitte?“
„Herr Starck?“
„Ja, das bin ich. Sie wünschen?“
„Ich bin Doktor Jussuf Harab, Mitarbeiter des Ägyptischen Museums in Kairo. Ich habe gehört, dass Sie bereits seit einigen Tagen in Kairo sind. Ich hoffe, alles lief wie gewünscht. Das Hotel gefällt Ihnen?“
„Sicher, danke. Alles bestens.“
„Sind Sie zufrieden mit der Ausrüstung im Labor und dem Zustand der Jüngeren Dame?“
„Alles bestens, vielen Dank. Der Raum ist hervorragend für meine Zwecke hergerichtet. Und auch die Mumie scheint mir den Transport ohne Schaden überstanden zu haben.“
„Gut. Dann möchte ich Sie nicht weiter stören. Sie haben ja sicher noch viel zu tun. Ich wollte Ihnen auch nur kurz mitteilen, dass Sie die Mumie aus Grab 55 am Donnerstag Morgen untersuchen können. Sie werden sie in demselben Raum vorfinden, in dem Sie sich gerade befinden.“
„Wunderbar. Das passt mir hervorragend. Bis dahin müsste ich mit dieser hier fertig sein. Danke.“
„Gern geschehen, Herr Starck.“
Starck legte den Hörer auf. Mit einer gewissen Vorfreude auf den Leichnam aus Grab 55, aber ohne weitere Gedanken zu verlieren, wandte er sich wieder der Mumie zu, die vor ihm lag. Eine Mumie, die weltweit bekannt war als die Jüngere Dame. Gefunden zusammen mit der Älteren Dame und einem Jungen in einem versteckten Nebenraum des Grabes 35, dem Königsgrab des Amenhotep II. Wenige Meter entfernt von dem Sarkophag des alten Pharao und einem weiteren Nebenraum, gefüllt mit Mumien, von denen sich fast alle als große Pharaonen der damaligen Zeit herausstellten. Thutmosis IV, Amenhotep III, Merenptah, Sethos II, Siptah, Ramses IV, Ramses V und Ramses VI.
Starck nahm seine Brille ab, kniff seine Augen zusammen und rieb sich die Nasenwurzel. Er erinnerte sich daran, wie aufgeregt er war, als er von dieser Entdeckung im Tal der Könige, im Kings Valley, kurz KV, gelesen hatte. Doch jetzt interessierte ihn das legendäre Sammelgrab KV35 nicht.
In diesem Moment interessierte er sich nur für die Jüngere Dame. Vielleicht war sie Kija, die Nebenfrau des Amenhotep IV - besser bekannt als der geheimnisumwitterte Ketzerpharao Echnaton, dessen eigenes Volk aus einem heute unbekannten Grund jedes Andenken an seinen König völlig ausgelöscht hatte. Vielleicht handelte es sich bei ihr aber auch um die sterblichen Überreste der Nofretete, der schönsten aller Königinnen des Ägyptischen Reiches und Frau des Echnaton. Ein Gedanke, der Starck in höchste Erregung versetzte.
Eben dies war der Grund seines jetzigen Aufenthalts in Kairo. Gewissheit über die Identität der Mumie zu erlangen, die vor ihm lag. Die Jüngere Dame war zu Lebzeiten immerhin so wichtig gewesen, dass ihr mumifizierter Körper vor langer Zeit in dasselbe Grab in Sicherheit gebracht worden war, in dem auch einige der größten Pharaonen der Geschichte ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten.
Körperteile
Kairo, 2011
Paul Starck hatte einen Forschungsauftrag am Ägyptologischen Seminar der Universität Berlin. Während seiner Studienzeit hatte er eine Leidenschaft für die 18. Dynastie entwickelt. Außer der Königin Nofretete hatte ihn vor allem die mystische Erscheinung des Pharao Echnaton in seinen Bann gezogen. - Echnaton, ein Herrscher, der in keiner Königsliste dokumentiert war. Dessen Existenz und Wirken sich nur noch aus Scherben und ausgebleichten Bildern zusammensetzen ließ. Alle Wissenschaftler der Welt waren sich einig, dass etwas Unglaubliches unter seiner Herrschaft vorgefallen sein musste. Doch nirgendwo waren in der Vergangenheit Spuren gefunden worden, die hierüber ausführlich berichteten. Nicht eine einzige. Und genau das war das Seltsame. Zu jeder Zeit und überall löschten Pharaonen das Werk der vorhergehenden Generationen aus. Ließen Namen an Bildern ändern, entfernen oder durch den eigenen ersetzen. Ließen bestehende Bauwerke einreißen, um Material für eigene Tempelanlagen zu haben. Ein Pharao hatte schließlich zwei Möglichkeiten, als großer Herrscher in die Geschichte und die Erinnerung seines Reiches einzugehen. Entweder errichtete er ein Andenken, das alles bisher Dagewesene überragte. Oder er ließ all jene alten Andenken zerstören, die größer waren als seine eigenen Werke. In beiden Fällen blieb jedoch etwas von den alten Pharaonen zurück: Spuren.
Aber das Andenken an Echnaton war nahezu vollständig ausgelöscht worden.
Eine komplette Stadt hatte er in nur drei Jahren aus dem Sand entstehen lassen. Achet-Aton, der Horizont des Aton. Doch was einst Staub war, ward wieder zu Staub. Die Stadt des dunklen Fürsten verschwand von einem Tag auf den anderen wie auch er selbst.
Erst im Jahr 1901 wurden Teile Achet-Atons, das heutige Amarna, von dem Engländer William Flinders Petrie aus den Tiefen des Sandes wieder ans Tageslicht geholt. Der deutsche Ägyptologe Ludwig Borchardt führte die Arbeiten ab 1911 fort. Ein Jahr später fand er dort die Büste einer Frau. Der tadellose Zustand der Büste war eine Sensation. Doch noch beeindruckender war das Antlitz dieser Frau. Sie sollte als die schönste aller Königinnen Ägyptens in die Geschichte eingehen.
Starck war elf Jahre alt, als er die Büste der Nofretete zum ersten Mal sah. Zu diesem Zeitpunkt interessierte er sich für die Sterne und das Universum, und konnte sich tatsächlich für den Vorschlag seines Vaters begeistern, sich in einem Museum Gegenstände aus Ägypten anzusehen. Denn gemäß den Schilderungen seines Vaters konnte er dort Bilder dieser seltsamen Gebilde sehen - Pyramiden - die vor Tausenden von Jahren den Sternen entsprechend angelegt worden waren. Dass es sich bei den Pyramiden um Gräber handelte, hatte ihm sein Vater allerdings verschwiegen. Und entsprechend überrascht war Starck, als er an jenem Tag im Museum von einer untergegangenen Kultur erfuhr, die ihre astronomischen Kenntnisse in den Dienst eines Totenkults gestellt hatte.
Am Abend - der Sohn war schon lange im Bett - sprachen seine Eltern über die Ausstellung. Seiner Mutter war aufgefallen, wie lange und bezaubert ihr Sohn die Büste der Königin Nofretete angesehen hatte. Sie erinnerte sich noch einige Tage daran und erzählte es auch noch hier und dort einigen Bekannten beim kurzen Schwätzchen. Dann vergaß sie dieses Vorkommnis wieder. Starck hingegen ließ Nofretete nie wieder los.
Nach einigen Wochen zierten Poster von ihr die Wand des Kinderzimmers. Zwei Jahre später kannte Starck die Geschichte des Neuen Reiches der Pharaonen. Vier Jahre später die Hieroglyphen und die Amarna-Kunst. Vielleicht war es eine fixe Idee, vielleicht Bestimmung. Nach der Schule schrieb er sich an der Fakultät für Ägyptologie der Universität Berlin ein, Schwerpunkt: Neues Reich. Nach einer Vielzahl hervorragend abgeschlossener Prüfungen spezialisierte er sich in aDNA, einem Analyseverfahren für altes DNA. Schnell wurde er dank akribischer Präzision, Fachwissen und Hingabe zu einem international anerkannten Experten.
Keiner seiner Kollegen wusste, was Starck wirklich antrieb. Niemand kannte seinen Traum, den zu erfüllen er sein Leben gewidmet hatte. Gesetzt hatte er sich sein Lebensziel vor vielen Jahren. Es war in eben jenem Moment gewesen, als er als Elfjähriger in einem Museum gestanden und lange auf eine Büste aus Kalkstein und Gips geschaut hatte. Ein kleiner Junge, der sich im ersten Moment gefragt hatte, warum diese Frau an den Schultern aufhörte. Sich dann den Rest des Körpers vorstellte. Ein kleiner Junge, den dieses eine Bild, dieser eine Gedanke nicht mehr loslassen sollte. Nicht in der ersten Nacht und auch in keiner der darauf folgenden Nächte. Bis er eines Tages sein Ziel klar vor Augen hatte. - Er wollte Nofretetes Körper finden.
Die Mumifizierung
Starck kannte jeden einzelnen Schritt der Mumifizierung eines menschlichen Körpers im alten Ägypten. Zunächst wurde die Leiche gewaschen. Die Nasenscheidewand wurde vorsichtig durchschlagen und ein langer Stab mit einem Haken in den Schädel eingeführt, mit dem das Gehirn zu einer dickflüssigen Masse verquirlt und durch die Nasenlöcher aus dem Schädel entfernt wurde. Der hohle Schädel wurde mit etwas Salböl oder flüssigem Harz gefüllt. Danach wurde die Bauchdecke aufgeschnitten und die Eingeweide der Leiche aus dem Körper in kleine Ton- oder Alabasterkrüge, die Kanopen, umgebettet. Nachdem all jene Teile dem Körper entnommen waren, die schnell verfaulten, wurde die Leiche erneut gewaschen und zum kompletten Entwässern anderthalb Mondphasen in Natronsalz gelegt. Nach einer dritten Waschung wurde sie gesalbt, ausgestopft, Haare und Nägel hergerichtet, die Bauchdecke wieder zugenäht und der Körper mit Bandagen umwickelt.
Starcks rechte Hand näherte sich vorsichtig dem eingeschlagenen Brustkorb der Mumie. Auf seiner Stirn war eine helle Lampe befestigt. Seine Hände waren von dünnen Handschuhen umgeben, die ihm nicht seine Sensibilität nahmen, aber die Mumie vor der Säure auf Starcks Haut schützten. Sein Mund war mit einer Maske bedeckt, ähnlich der eines Arztes bei einer Operation. Auch dies zum Schutz der Mumie vor der Feuchtigkeit seines Atmens. In der rechten Hand hielt er eine lange Pinzette, in der linken einen ebenso langen Stab mit einem kleinen Spiegel am Ende. Nach wenigen Zentimetern befanden sich die Instrumente im Brustkorb unter einem großen Bluterguss. Starcks Hände glitten ruhig weiter. Langsam führte er sie von innen unter die trockene Haut, an den porösen Knochen vorbei Richtung Jochbein. Er war jetzt genau unter jener Stelle, an der der Einschnitt zur Entnahme des Eingeweides vorgenommen worden war. Jene Stelle, an der die Mumifizierer das Messer in die Bauchdecke eingeführt und Haut und Muskeln zum Becken hin aufgetrennt hatten. Es schien Starck, als ob er einen kleinen Schatten innen an der Naht sehen würde. Er senkte seinen Kopf. Aus der Lampe floss mehr Licht in den hohlen Körper. Gemächlich näherte er seine Augen der Öffnung im Brustkorb. Ließ sie sich langsam an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnen, um von innen den Schnitt durch die beleuchtete Bauchdecke zu verfolgen. Wieder glaubte er einen dunklen Strich zu sehen, der entlang eines Teils des Einschnitts verlief. Doch die Stelle war zu weit entfernt und zu schlecht beleuchtet, um Gewissheit zu haben.
Langsam führte Starck den Spiegel aus dem Körper heraus, legte ihn neben sich auf ein silbernes Tablett, nahm von selbigem eine dünne Nadel, deren Kopf eine winzige Videokamera enthielt, und führte sie vorsichtig an dieselbe Stelle im Körper. Er drehte seinen Kopf nach rechts zum Monitor, auf dem die Bilder der Kamera übertragen wurden. Per Knopfdruck machte er einige Bildaufnahmen.
Der dunkle Strich ließ in Starck eine Vermutung aufkommen. Langsam führte er seine Hände aus dem Körper heraus und drehte sich dann dem Gesicht der Mumie zu. Er legte die Pinzette neben dem Spiegel auf dem Tablett ab, nahm die Stirnlampe in die linke Hand und führte dann die Kamera langsam durch die Nase in den Schädel hinein. Ruhig hielt er die Lampe vor den Rand des eingeschlagenen Wangenknochens. Licht flutete den Schädel. Die Kamera näherte sich der Naseninnenwand. Starck beobachtete die Aufnahmen direkt auf dem Monitor, führte die Kamera bis zur Innenhaut und drehte sie einmal um die eigene Achse. Aus jeder Richtung machte er jeweils ein Foto der Innenhaut, die die hohle Naseninnenwand überspannte. Während der gesamten Rotation fixierten seine Augen den Monitor. Dann drehte er seinen Kopf wieder der Mumie zu und zog langsam seine rechte Hand mit der Kamera zurück, ohne die Mumie auch nur in irgendeiner Form berührt zu haben.
Danach legte er die Kamera auf das Tablett, schob sich mit seinem Stuhl einen halben Meter nach hinten, betrachtete die Mumie aus dieser Entfernung in ihrem Ganzen und ließ nun seine Gedanken zu. Seine Hände begannen leicht zu zittern, er fühlte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Er blickte auf den Monitor, begutachtete die Bilder. Leise, gehauchte Worte, die sich in sein heftiger werdendes Atmen mischten.
„Das ist unmöglich. Das ist ... - mein Gott ...“
Seine Augen weiteten sich. Ungläubigkeit wich purem Entsetzen. Er vergrößerte die Bilder, wechselte zwischen den Aufnahmen von Bauchdecke und Naseninnenwand hin und her. - Kein Zweifel. Überall entlang der Einschnitte waren Blutergüsse. Das bedeutete, dass das Blut noch rann, als diese Haut aufgetrennt wurde. - Grauen erfüllte Starck bei diesem Gedanken.
Die Frau vor ihm ... wer immer es sein mochte ... war bei lebendigem Leib mumifiziert worden.
Kapitel 2
Drei Worte
Judäa, 33 n. Chr., fünfundzwanzig Tage vor dem Passahfest
„Yehoshua muss sterben.“
Drei Worte. Drei einfache Worte. Mit ruhiger und warmer Stimme ausgesprochen von einem aus ihrer Mitte. Und doch ließen diese Worte ihre Blicke erstarren, ihre Stimmen abrupt verstummen.
Gabriel hatte die Türe hinter sich geschlossen, einen Augenblick gezögert und dann jenen Satz ausgesprochen, den keiner der Anwesenden je hätte vernehmen wollen. Gabriel war ein bärtiger, gebrechlicher, alter Mann um die siebzig mit langem, schütterem, weißem Haar. Seine Bewegungen waren gemächlich, seine Finger knochig, sein langer Körper gebeugt von Jahrzehnte langen, zehrenden Wanderungen durch das trockene Land. Wie die anderen zwei in diesem düsteren Zimmer trug auch er Sandalen und ein einfaches, bis zu den Füßen reichendes Gewand aus weißem Stoff, das er in der Hüfte mit einem geflochtenen Seil zusammengezurrt hatte.
Die anderen beiden, Josef und Elija, saßen auf dem Boden. Mit verschränkten Beinen auf kleinen, abgenutzten Kissen, die einst ein einfacher rötlicher Stoff überzog. Die Farbe war vergilbte Erinnerung, der Stoff notdürftig geflickt. Verschlissen wie die Kleidung der Menschen in diesem Raum. Sie saßen sich gegenüber, inmitten einer kleinen Holzhütte. Der bescheidenen Behausung eines einfachen Menschen, der zu helfen und zu schweigen gelobt hatte. Ohne solche Hilfe konnte ihr Bund nicht bestehen.
Ihnen allen war bewusst, dass die Obrigkeit sie ohne zu zögern sofort hinrichten ließ, würde sie denn jemals von den Plänen dieser drei Männer erfahren. Zu sehr unterschieden sich ihre Vorstellungen einer besseren Welt von dem, was tatsächlich in ihr geschah. So kamen sie zusammen, um zu diskutieren. Zu sinnieren über die Welt, die Vergangenheit, die Zukunft. Sie wollten ihre Welt, ihre Zukunft. Und hierfür waren sie bereit, Dinge zu tun, die jenseits des Vorstellbaren lagen.
Der Eingangstür gegenüber wärmte ein kleines Feuer den staubigen Boden. Das Knistern des Holzes war Zeuge der eisig kalten Nächte, die der heißen Tage spotteten. Der flackernde Lichtschein erzeugte zuckende Schatten auf den Körpern der drei Männer. Sie waren angespannt. Dieben gleich hatten sie Angst vor neugierigen und zweifelnden Blicken, auf der Straße, auf dem Markt. Möglichst unauffällig bewegten sie sich durch die Gassen. Zum Reden zogen sie sich immer in Hütten oder Häuser zurück. Die Angst, dass jemand einem von ihnen gefolgt sein könnte, war immer und überall zugegen. Und so trafen sie sich nie öfter als dreimal in Folge an demselben Ort. Niemals durften sie ihr Wissen preisgeben. Kein Bruchstück davon. Dies war ihr Gelübde, das sie in dieser Gruppe zusammenschweißte. Das Gelübde, das sie zu einem Leben im Schatten und zu ewigem Schweigen verdammte.
Rechts von der Eingangstür saß Josef auf dem Boden. Unmerklich jünger als Gabriel war er dafür aber weltgewandt. Seine Position als angesehener Ratsherr war ihm eine gute Schule, eine Quelle an Geld und Bekanntschaften. Doch ließ sie sein Antlitz auch lange vor seiner Zeit altern.
Ihm gegenüber saß Elija auf dem Boden. Sein Alter ähnelte dem Gabriels, und doch strahlte er ungleich mehr Stärke und Beharrlichkeit aus. Nichts unterschied ihn äußerlich von den anderen beiden, und doch oblag es ihm, bei wichtigen Entscheidungen das letzte Wort zu sprechen. Eine oftmals schwere Bürde, die sein Gesicht mit der Zeit gezeichnet hatte.
Von diesen drei Männern besaß nur Josef ein Haus. Er wohnte in Jerusalem, während Gabriel und Elija ihre Bleibe oft in steter Wachsamkeit wechselten und Josef den Ort ihrer neuen Unterkunft mitteilten.
Nachdem Elija die drei Worte vernommen hatte, hatte sich sein Blick von Gabriel abgewendet und verlor sich vor ihm auf dem Boden. Seine linke Gesichtshälfte wurde durch den Lichtschein diabolisch gekleidet. Ein stiller Mann mit scharfem und gleichsam fast gütigem Blick, hinter welchem sich eines der dunkelsten Geheimnisse der Menschheit verbarg. Er wusste um seine Fähigkeiten, die Menschen in die Irre zu führen, sie mit Worten zu fesseln, sie zu manipulieren. Fließend sprach er Aramäisch, Griechisch, Latein, Persisch und Ägyptisch. All diese Kulturen kannte er, hatte sie studiert und gelebt. Seine Erscheinung und sein Auftreten öffneten ihm Tore und verschafften ihm Gehör bei den Römern und den hiesigen Priestern, den beiden wichtigsten Gruppen, wollte man in dieser Welt überleben. Und Elija wollte überleben.
Drei Worte.
Josef wandte seinen Blick von Gabriel zu Elija. Verwirrt von den eigenen Gedanken wartete Josef auf eine Reaktion. Elijas Blick war auf einen unsichtbaren Punkt gerichtet, der tief in ihm selbst lag. Dann endlich löste er sich aus seiner Starre und schaute Gabriel mit eisigen Augen an.
„Gabriel, was ist der Grund für deine Worte?“
„Die Pharisäer, Elija. Sie wollen seinen Tod. Spott und Hohn widerfuhr ihnen in ihrer eigenen Synagoge. Um ihn anklagen zu können, fragten sie Yehoshua, ob es erlaubt sei, am Sabbat zu heilen. Yehoshua nannte sie Heuchler, und dass es doch wohl richtig sei, Menschen am Sabbat zu helfen, wenn man doch auch Schafen, Ochsen oder Eseln am Sabbat zu Hilfe eilt. Daraufhin gingen die Pharisäer hinaus und berieten sich umgehend mit den Herodianern, wie sie ihn umbringen könnten.“
Elija versuchte sich das Geschehene bildhaft vorzustellen. Yehoshua war dafür bekannt, dass er Menschen gerne reizte, eingefahrene Gewohnheiten in Frage stellte und sie ins Wanken brachte. Es war sein Werk, wenn einfache Bauern plötzlich die Priester mit unbequemen Fragen in Verlegenheit brachten, und diese wiederum durch Schweigen oder Widersprüche ihr Unwissen preisgeben mussten. Auf Unwissen bauten die Obrigen ihre Macht, und Yehoshua tat nichts anderes als dem Volk die Grenzen dieser Wissenden aufzuzeigen. Die Trägheit der Mächtigen hatte dazu geführt, dass sie vergaßen. Es lebte sich zu gut auf der Haut des einfältigen Volkes, als dass man sich täglich aufs neue sein eigenes Weltbild hätte erklären müssen.
Sie vergaßen. Und nun, da Yehoshua sie aufforderte, sich zu erinnern, waren sie hilflos ihrem schwammigen Stückwerk erlogenen Halbwissens ausgeliefert. Das Volk verstand Yehoshuas Worte, sah seine Taten. Es zweifelte, fragte. Die Macht der Herrschenden begann auseinander zu brechen. Yehoshua war eine Gefahr. Eine Gefahr für Religion und Politik, für Pharisäer und Herodianer gleichermaßen. Es war verständlich, dass sie sich schützen wollten. Die Kontrolle und zugleich das Land vor Unruhen bewahren. Elija stimmte den Pharisäern zu. Der Tod des Aufwieglers. Er musste sein.
„Elija, was sagst du?“
Langsam stand Elija auf. Eine fließende Bewegung, katzengleich. Ohne dass jemand seinen Atem hatte vernehmen können, war sein Kopf gleichauf mit Gabriel. Körperlich waren sie sich ähnlich, doch menschlich unterschieden sie sich wie Licht und Schatten. Finster blickte Elija seinen Gefährten an.
„Wir haben jetzt die Möglichkeit, endgültig das Vertrauen der Pharisäer, der Sadduzäer und der Herodianer zu erlangen. Jetzt endlich können wir unsere Geschichte verändern. Unsere Zukunft. So wie wir es uns immer erträumt hatten.“
Er legte seine rechte Hand auf die Schulter Gabriels. Auf seinem alten, zerfurchten Gesicht war ein düsteres Lächeln.
„Gebt mir etwas Zeit zum Nachdenken. Wir werden ihnen zuvorkommen. Nicht die Pharisäer, sondern wir werden Yehoshua von Nazareth töten.“
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2008
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