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Prolog

Alappi, Indien, 26.April 1920

Das vierte Buch

Der Mann sah alt aus, fand Meena. Alt und irgendwie welk, so wie ein altes Blatt. Er war im letzten Herbst zu ihnen gekommen und ihre Mutter hatte gesagt: "Das ist dein Vater, behandele ihn mit Respekt."

Sie hatte sich hinter der Mutter versteckt, denn der fremde Mann sah unheimlich aus. Er war mager und irgendwie gar nicht so, wie sie sich ihren Vater vorgestellt hatte. Der Mann, den ihre Mutter immer in den höchsten Tönen gelobt hatte, musste viel stattlicher sein, als dieser kranke, hustende, gebeugt laufende Fremde, der nie einen Blick für sie zu haben schien. Mutter war eigentlich noch jung!

"Warum hast du einen so alten Mann geheiratet," fragte Meena.

Ihre Mutter lachte: "Er ist nicht so alt wie du glaubst. Das ist nur die Krankheit, die er sich in England, dem kalten Land der weißen Sahibs zugezogen hat. Wenn er wieder gesund ist, wirst du es sehen."

Aber er wurde nicht wieder gesund. Von Tag zu Tag schien er mehr zusammenzuschrumpfen, wie ein getrockneter Apfel. Er wirkte noch zierlicher als ihre Mutter, wie er da so allein in dem großen eisernen Bett lag.

Der Raum war nicht gut beleuchtet, denn die Familie konnte sich nur einfache Öllampen leisten. Die Lampen flackerten und Meena fühlte sich an einen schlechten Traum erinnert. Auch zur Hitze in diesem Raum trugen sie bei, zumal es sogar für südindische Begriffe in diesem Frühjahr schon erstaunlich heiß war. Die Regenzeit war schlimm gewesen, der Husten des Mannes war immer stärker geworden und die Mutter lief mit verweinten Augen herum. Seit ein paar Wochen konnte er nicht mehr aufstehen, lag den ganzen Tag im Bett herum.

Das Zimmer stank nach den Exkrementen des alt-jungen Mannes im Bett und nach den Erwachsenen, die sich in einem Halbkreis darum geschart hatten.

Darunter ihre zukünftigen Schwiegereltern. Meena war sieben Jahre alt und sehr stolz darauf, dass sie schon einem Jungen versprochen worden war. Rajneesh stammte wie sie selbst aus der Brahmanenkaste, und seine Eltern hatten, wie die ihren, nicht viel Geld. Meena war deshalb sehr ärgerlich über den alt-jungen Mann: Es war seine Pflicht als Vater, sie mit einer Mitgift zu versorgen, damit sie bei der Hochzeit ihrem Ehemann einen angemessenen Hausstand einrichten konnte.

"Die Göttin Namagiri sieht das als einen glücklichen Beginn an, und wird Eurer Ehe sicherlich Wohlstand und eventuell sogar Liebe schenken", hatten ihr die Eltern von Rajneesh erklärt.

Sie hatte Rajneesh sogar schon einige Male gesehen und sollte ihn bald heiraten.

Heute aber waren nur seine Eltern da, denn Kinder hatten eigentlich am Bett eines so kranken Mannes nichts verloren. Meena hatte sich deshalb in einer Ecke des Raumes verkrochen. Keiner sollte sie sehen und wohlmöglich aus dem Zimmer schicken. Die Eltern von Rajneesh machten dem alt-jungen Mann im Bett an diesem Vormittag heftige Vorwürfe: "Du hast, als wir in die Hochzeit deiner Tochter mit unserem Sohn eingewilligt haben, eine großzügige Mitgift versprochen! Wo ist dieses Geld. Deine Frau hat immer mächtig angegeben mit deiner Karriere im Land der weißen Sahibs. Willst du jetzt sagen, dass nichts davon übrig ist?"

"Ihr müsst verstehen, die Ärzte, die Medikamente, das hat alles viel Geld gekostet," antwortete die Mutter für ihn. "Es war eine große Ehre für meinen Mann, von den Sahibs in ihr Land eingeladen worden zu sein. In ihrem Land ist er eine Berühmtheit."

"Ehre kann man nicht essen," erwiderte die Mutter von Rajneesh gehässig.

Beklommen lauschte Meena in ihrem Winkel diesen unfreundlichen Worten. Sie wusste, das konnte nichts Gutes für ihre Zukunft bedeuten.

Bevor der alt-junge Mann zurückgekommen war, sogar noch bevor sie dieses schreckliche Gespräch belauscht hatte, sprachen die Eltern von Rajneesh immer mit höchster Ehrerbietung von dem Mann auf dem Bett. So, als ob er ein reicher Mogul sei, der zu wichtigen Dingen in fernen Ländern weilte. Was diese wichtigen Dinge waren, verstand Meena nicht. Es hatte etwas mit Zahlen zu tun, mit Rechenkunst - und das ferne Land war England, das Land der weißen Sahibs. Berühmt sei er, ein Rechenkünstler ersten Ranges, und die weißen Sahibs würden ihm für sein Wissen viel Geld zahlen. In Indien hatte er immer Geld bekommen, von wohlhabenden Gönnern und Bewunderern seiner Kunst.

Einen dieser Gönner kannte Meena sogar: Onkel Ramachandra Rao hatte versucht, ihr die Rechenkünste ihres Vaters zu erklären. Onkel Rao und andere Gönner des alt-jungen Mannes hatten ihn dann bewegt, in die Fremde zu gehen. Auch die Briefe, die ihre Mutter ihr vorgelesen hatte, sprachen von Geld - aber das war Vergangenheit. Jetzt hieß es nur noch, das ganze Geld sei für Ärzte und Medizin ausgegeben worden, und die Rechenkunst würde wohl doch nicht soviel einbringen. An diesem Morgen hatten die Eltern von Rajneesh dann schrecklich geschimpft und wollten sogar die Verlobung lösen. Das aber hätte Schande über alle gebracht, und nicht einmal für Mitglieder ihrer Kaste war es leicht möglich, eine reiche Braut zu finden wenn man so arm war wie die Eltern von Raneesh. Der alt-junge Mann hatte sich nicht aufgeregt, hatte nur geflüsterte Antworten geben können.

Nachdem die Eltern von Rajneesh fort waren, wandten sich Meenas Gedanken wieder etwas anderem zu. Sie dachte an das Buch, in dem ihr Vater von Zeit zu Zeit schrieb. Ein Buch in das man schrieb, hatte Meena zuvor nir gesehen, nur bei ihrem Vater. Bücher waren zum Lesen da, und wurden in einer Fabrik hergestellt. "Jedenfalls nicht von Hand geschrieben", dachte sie, und musste bei der Vorstellung einer ganzen Halle voll Bücherschreiber kichern. Ein paar der Leute, die noch rund um das Bett versammelt waren, sahen sich böse nach ihr um. Onkel Ramachandra Rao war da und ganz fremde Menschen von der Universität in Kalkutta. Meena wußte, das war so eine Art Schule. Sie sah, dass jetzt Bewegung in die Menschen kam. Der Mann auf dem Bett winkte ihre Mutter zu sich, sie musste sich ganz nahe zu ihm herunterbeugen. Er flüsterte etwas, das Meena nicht verstand. Ihre Mutter richtete sich auf und lief zu dem großen alten Schrank. Sie war eine graziöse Frau und bewegte sich so geschmeidig, dass sie zu schweben schien. Aus dem obersten Fach kramte sie ein Buch ohne Rückenaufdruck, das Buch, so erkannte Meena, in welches er immer schrieb. Die Mutter brachte es dem Mann auf dem Bett und legte es in seine Hände, die zitterten und seltsam verkrümmt aussahen.

Die Gestalt winkte nun Meena zu sich heran, und starrte sie aus rotgeränderten Augen an. "Wie ein 'Bhoot', ein Gespenst", dachte das Mädchen, "nicht einmal Zähne hat er mehr." Der Kranke umklammerte ihre Handgelenke mit erstaunlicher Kraft, zog sie zu sich herunter und flüsterte: "Das ist mein kostbarster Besitz ...". Dann sank er in das Kissen zurück. Meena ekelte sich und weinte ein wenig.

Der Vater von Rajneesh hatte sich auch wieder unter die Besucher gemischt. Sie sah, dass er aus der zweiten Reihe neugierig auf das Buch spähte. Die Menschen im Raum bewegten sich unruhig, Meena wurde vom Bett weggedrängt. Sie hörte, wie ihre Mutter anfing zu weinen.

Meena lief aus dem Zimmer, stolz darauf, dass der Mann im Bett doch noch seine Pflicht erfüllt hatte und ihr etwas Wertvolles gegeben hatte. Meena war auch stolz auf ihre Lesefähigkeiten - sogar die Schrift der weißen Sahibs konnte sie verstehen. Die Mutter hatte ihr das beigebracht, denn eigentlich wollte auch die Mutter gerne in die Fremde gehen. Großmutter Madhu hatte das aber verboten: Ihr war die Göttin Namagiri im Traum erschienen und hatte genaue Instruktionen erteilt. Da die Tradition eine Unterwerfung unter den Willen der Älteren von ihr verlangte, musste die Mutter und mit ihr Meena, in Indien bleiben und auf die Rückkehr des Mannes warten.

Mit dem Buch in den Armen ging Meena ins Nebenzimmer. Die Klagen ihrer Mutter wurden immer lauter, aber Meena versuchte sie zu ignorieren und sich auf den Schatz in ihren Händen zu konzentieren. Das schmale Bändchen in ihren Händen war nicht schwer, darum kroch sie damit in eine Ecke, nahe zu einer der Öllampen. Auf dem Deckel klebte ein schmuddeliger Zettel, auf den mit klarer Schrift der Name ihres Vaters gemalt worden war: 'Srinivasa Ramanujan', und in der Zeile darunter prangte die Zahl vier.

Prolog II

Lhasa, Tibet, 17. März 1959 - der Tag des heiligen St. Patrick

Die Gelben Mönche

Rilpo hatte mit seinen 16 Jahren schon viel erlebt. Er war vor einem Jahrzent als Novize nach Drepung gekommen, dem großen Kloster in Lhasa mit 12 000 Mönchen der gelben Sekte. Er konnte sich gut erinnern, wie er scheu in den Kleidern seiner Eltern versteckt das Kloster betreten hatte. Aber er hatte schon als kleines Kind einen großen Drang zum Gebet gespürt und so wurde der Klostervorsteher auf ihn aufmerksam und hatte seine Eltern gebeten, ihn dem Kloster zur Erziehung anzuvertrauen. Es hatte viele Tränen auf beiden Seiten gegeben, aber seine Eltern konnten ihn sehen, wenn sie zu Festen ins Kloster kamen und sie waren stolz auf seine Fortschritte. Er war ehrgeizig und hoffte, das 25 jährige Studium aller Weisheit mit Erfolg abschließen zu können.

Zwei Jahre später, als er acht Jahre alt war, kamen die Chinesen nach Tibet. Zuerst nur nach Chamdo, Rilpos Geburtsort viele Tagesreisen von Lhasa. Sie vertrieben die kleine tibetische Armee mit Feuerwerkskörpern, eine Schande, von der sie sich nie wieder erholen sollte.

Im Herbst des Jahres, das westliche Staaten als 1951 kennen, kam die 18. Volksbefreiungsarmee auch nach Lhasa: Blasse Gesichter, voll Verachtung für die Tibeter. Voll Verachtung auch für die traditionellen Regeln der gelben Sekte, ohne Verständnis für die spirituellen Bedeutungen, die das Leben der Mönche lenkten. Immerhin aber ließen sie, anders als in Chamdo, die Mönche und Novizen von Lhasa in Ruhe, errichteten Schulen nur für die Kinder der gewöhnlichen Leute. Rilpo hatte gehört, aber nie verstanden, warum die Chinesen gekommen waren. Sie hatten in den Schulen gelehrt, dass Tibet seit 700 Jahren ein Teil von China war. Die Volksbefreiungsarmee war nur gekommen, um die armen Tibeter aus der durch Feudalherrschaft und Bevormundung hervorgerufenen Ignoranz und Sklaverei zu führen. Im Kloster hatte Rilpo etwas anderes gelernt: Das chinesische Reich war vor 700 Jahren von dem großen Mongolenherrscher Kublai Khan erobert worden. Er war von der tibetischen Kultur und Religion so beeindruckt, dass er den Sakya Lama einlud, der oberste Priester von China zu werden. So kam es zu einer engen Verbindung Tibets mit China.

Aber inzwischen war auch in Lhasa alles anders geworden. Der Führer der Chinesen hatte verkündet, die Soldaten müssten die ''feudalistischen Nester der Mönche zerstören''.

Trupps von chinesischen Soldaten, alle gleich gekleidet und gleich aussehend wie Ameisen, waren nach Drepung gekommen und hatten die Mönche aus ihren Zellen gezerrt. Wer nicht gleich weglief, wurde in den großen Innenhof getrieben und musste warten - bis nach drei Stunden ein Offizier kam und ihnen erklärte, sie seien jetzt frei. Sie würden zum Palast des Dalai Lama gebracht, das Kloster aber würde einem nützlichen Zweck zugeführt, es würde jetzt dem Volk gehören.

Es erfüllte Rilpo mit der Scham, die nur ein Junge von sechzehn Jahren empfinden kann, dass viele seiner Landsleute mit den Chinesen gemeinsame Sache machten. Angst trieb sie dazu, oft auch das simple Unwissen, wie mit der chinesischen Aggressivität umzugehen war. Auf einer anderen Ebene aber hatte er Verständnis für die Kollaborateure, denn seine Mentoren erklärten ihm immer wieder, dass er selber Glück gehabt habe. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von jungen Mönchen und Novizen diente er im Norbulingka, dem Sommerpalast des 14. Dalai Lama, seiner Heiligkeit Jetsun Jamphel Ngawang Lobsang Yeshi Tenzin Gyatso, das bedeutet ''Heiliger Herr, Sanfte Glorie, Eloquenz, Bewidmeter, Gelehrter Verteidiger des Glaubens, Ozean der Weisheit''.

Bereits kurz nach der Vertreibung aus Drepung hatte sich hier eine Zelle des Widerstandes, zumindest des zivilen Ungehorsams gebildet. Rilpo und eine kleine Gruppe von Novizen hatten sich ein Jahr nach der Vertreibung, als Bauernjungen verkleidet, zurück in das Kloster gewagt. Tiefes Heimweh ergriff Rilpos Herz, als er von weitem die wie Reiskörner auf den Bergen verstreuten Gebäude des Klosters erblickte.

Als sie dann die Anlage erreichten, ergriff sie tiefes Entsetzen. Aus Rilpos Schlafsaal war inzwischen ein Schweinestall geworden, die heiligen Räume, Bilder und Statuen waren von den chinesischen Truppen geschändet worden. Mit roter Farbe hatten sie die Wände in ihrer seltsamen, barbarischen Schrift beschmiert. Wohin sie blickten, sahen sie zerstörte Statuen und auf den Boden gerissene Wandteppiche. Beim Gang über den großen Hof, vorbei an den doppelstöckigen, überdachten Galerien, wurden sie angerufen. Das Kloster war nicht leer, ein paar chinesische Soldaten waren hier einquartiert. Als die Soldaten sahen, dass es sich nur um ein paar harmlose Burschen zu handeln schien, vertrieben sie die jungen Männer nur.

Rilpo und die anderen machten, dass sie davon kamen. Sie kletterten so schnell sie konnten die steilen Treppen hinunter und eilten zurück nach Lhasa. Erst in den engen, gekrümmten Gassen zwischen den weiß gekalkten Häusern der Altstadt, gönnten sie sich eine Atempause. Soie lehnten sich an die meterdicken Wände der sich zum Himmel verjüngenden Bauten.

"Das war knapp," sagte einer der jüngeren Novizen.

"Gar nicht," meinte Ripo großspurig, "woran sollten sie denn erkennen, dass wir aus dem Kloster kommen."

"Ich hatte trotzdem Angst."

"Ich auch," gab Rilpo zu.

Auch andere heilige Orte waren entwürdigt worden. Aus dem Jokhang-Tempel, einem der Haupttempel des tibetischen Buddhismus, hatten die Chinesen alle Kostbarkeiten gestohlen. Die vergoldeten Gefäße, die kostbaren Brokatstoffe, die über hunderte von Jahren angehäuften Geschenke der Tibeter waren entfernt worden und wo dies nicht ging, systematisch zerstört worden.

Die Nachrichten über die Greueltaten der Chinesen verbreiteten sich wie ein Lauffeuer unter den exilierten Mönchen, und voller Empörung riefen sie die tiefgläubigen Bauern zum Widerstand auf. Tausende drängten sich vor dem ehrwürdigen Kloster, bewaffnet mit Piken, Äxten, Gabeln und Knüppeln.

Zwei chinesische Patrouillen - nur wenige Männer, schlecht ausgerüstet und ausgebildet - wurden von den Bauernhorden in den Gassen von Lhasa in Stücke gehackt. Es war schwer, hier einen Ausweg zu finden, wenn man einmal in die Enge getrieben wurde.

Die Reaktion darauf war heftig: Mit Maschinengewehren ließ die Führung in die protestierenden Menschenmassen feuern, verletzte und tötete viele der Bauern. Niemand wußte genau, wieviele Opfer das Massaker gekostet hatte - vorsichtige Schätzungen der westlichen Geheimdienste sollten später von 87 000 Toten sprechen. Rilpo war mit anderen Mönchen durch die Straßen gehastet, hatte versucht, zu helfen - doch die Chinesen waren oft früher da, zerrten die Toten und Verletzten auf chinesische Lastwagen. Die meisten wurden nie wieder gesehen. Seit dieser Katastrophe vor zwei Jahren herrschte eine Atmosphäre der Feindseligkeit, obwohl die Besatzer offiziell keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Aufstand und der Geistlichkeit kannten.

Im Kloster Drepung wurden nach wie vor Schweine gehalten und in den verlassenen Gebäuden machten sich Ratten breit, die von den Opfergaben immer noch dorthin pilgernder Gläubiger lebten. Den Jokhang-Tempel hatten die Chinesen in 'Gästehaus Nummer 5' umbenannt. Rilpo hatte immer vorgehabt, in Mendzekhang, der jahrhundertealten medizinischen Schule auf dem Chakpori-Hügel außerhalb von Lhasa zu studieren. Seit zwei Jahren von den Chinesen geschlossen, war sie im letzten Sommer abgerissen worden. Eine Truppe von chinesischen Soldaten hatte an ihrer Stelle ein rechteckiges Gebäude aus dem grauen Material errichtet, das die neuen Herren Beton nannten. Auf dem Dach thronte ein Wald von Stäben - sie dienten, so hatte man ihm erklärt, zur Berichterstattung an den 'Großen Vorsitzenden' der Chinesen.

Seit zwei Jahren wurde der Norbulingka ständig bewacht. Mönche im Inneren und chinesische Soldaten außen beäugten sich voll gegenseitigen Misstrauens. Heute aber passierte etwas Anderes: Neue chinesische Soldaten waren gekommen, eine Gruppe von Offizieren voran.

"Lasst uns sofort eintreten und meldet dem Dalai Lama, dass wir mit ihm zu reden haben," polterte der Anführer.

Der ältere Mönch, der den Tordienst versah, antwortete leise und freundlich: "Das ist leider unmöglich. Der Dalai Lama ist in Meditation und darf nicht gestört werden. Wenn die Herren um eine Audienz ersuchen möchten, kann ich ihnen gerne einen Termin in den nächsten Tagen verschaffen. Darf ich fragen, was die Herren zu einem so ungewohnt überstürzten Besuch bewegt?"

Der Dalai Lama hatte nach dem Massaker einen Brief an die chinesische Führung geschrieben und seine frühere Zusammenarbeit aufgekündigt.

"Der Dalai Lama hat sich zur Berichterstattung beim chinesischen Oberbefehlshaber einzufinden. Wir sind hier, um ihn dafür abzuholen," bellte der Offizier jetzt.

"Der Dalai Lama pflegt seine Termine vorauszuplanen. Man kann ihn nicht einfach so mitnehmen, wann es einem passt."

So ging es noch einen Weile hin und her. Währenddessen tönten im Palast die Gongs und hasteten Mönche durch die Säle. Rilpo wurde als bereits bewährter Kundschafter rasch zum Boten befördert und rannte zwischen dem Tor, den Ställen und den Gemächern des Dalai Lama hin und her. Er ahnte seit langem, dass die Unterdrückung durch die Chinesen einem Höhepunkt zustreben würde.

In Lhasa raste die Nachricht von der chinesischen Forderung nach Auslieferung des Dalai Lama durch die Straßen, immer mehr Tibeter strömten auf den Platz vor dem Norbulingka. Wie vor zwei Jahren waren sie mit provisorischen Waffen und Werkzeug ausgerüstet, viele trugen jetzt Fackeln - und viele fürchteten eine Wiederholung des Massakers. Das Staatsorakel hatte schon längst verlangt, dass der Dalai Lama Tibet verlassen solle - und wie viele seiner Brüder glaubte Rilpo, dass es nun zu spät dafür sei.

Dann aber sah er, dass eine Gruppe von drei Männern in der Uniform der tibetischen Armee den Palast zu Fuß durch eine Seitentür verließ. Der letzte der Männer drehte sich kurz um und streifte ihn mit einem unsäglich traurigen Blick. Rilpo erkannte den Dalai Lama und wusste, dass sich die Welt in den frühen Abendstunden des 17. März 1959 geändert hatte.

Die Nachricht von der Abreise führte in Lhasa zu einer Massenflucht. Tausende von Tibetern zogen in einem langen Treck mit ihren struppigen Pferden über die Schotterebene vor der Stadt. Rilpo war einer von ihnen, doch hatte er nicht das Ziel, dem Dalai Lama zu folgen. Er hatte sich vorgenommen, in der Fremde die militärischen Kennisse der Fremden zu lernen, denn er wollte zurückkommen um seine Heimat zu befreien.

Unterwegs spaltete sich der Flüchtlingstreck in viele kleine Gruppen auf - zu viele Reisende auf einem Pfad brachten nicht nur Unglück, sondern verschmutzten Wasserstellen und ließen aus den Bergwegen Matsch werden. Rilpo fand sich schließlich in Gegenwart eines älteren Ehepaares, das mit seiner Tochter und einem einzigen Pferd auf dem Weg nach Indien war. Tagelang reisten sie langsam - marschierten tagsüber und kampierten in der Nacht, teilten ihre mageren Vorräte. Kurz bevor sie nach Indien kamen, sorgte die Begegnung mit einer chinesischen Grenzpatrouille dafür, dass Rilpos Entschlossenheit, sich nicht mit allem abzufinden, deutlich wurde.

Sie passierten einen langgezogenen Sattel, in dem steile Hänge zur Rechten und Linken eine Flucht verhinderten. Schon der Pfad war ein einziges Abenteuer, denn es drohten jederzeit Gerölllawinen von den durchweichten Hängen abzurutschen. Der Pfad war auch mit Geröll übersät und man musste aufpassen, wohin man den Fuß setzte.

Die beiden chinesischen Soldaten, die hier die Grenze bewachten waren schwer bewaffnet und stoppten jede Reisegruppe. Einer hielt sich mit der Waffe im Anschlag im Hintergrund, der zweite untersuchte die Habseligkeiten der Flüchtlinge und stahl alle Wertsachen.

Danzhi, das junge Mädchen, das mit Rilpo und ihren Eltern unterwegs war, erregte die Aufmerksamkeit des Chinesen aus einem anderen Grund. Er fingerte an ihrer Jacke herum, ließ nach ein paar unverständlichen Bemerkungen zu seinem Kumpanen die Waffe fallen und versuchte, sie wegzuführen. Ihre Mutter schrie auf, Dhanzi begann zu schluchzen. Doch Dhanzis Mutter hatte keine Chance einzugreifen. Als sie sich jammernd an das Bein des Soldaten klammerte, stieß sie der zweite Soldat mit seinem Gewehr weg.

Diesen Moment der Unkonzentriertheit nutzte Rilp. Er zog einen rasiermesserscharfen Gurkha-Dolch, den er im Norbulingka mitgenommen hatte, aus seinem Kragen. Er sprang den Soldaten an, der bei der Mutter des Mädchens stand und schnitt ihm mit einer fließenden Bewegung die Kehle durch.

Der andere Soldat schrie und versuchte, seine Waffe wieder aufzunehmen. Aber er stolperte und schon war Rilpo über ihm. Er stand nie wieder auf. In seinem Nacken stak der Dolch, den Rilpo bis ans Heft hineingetrieben hatte.

Die Flüchtlinge standen starr und starrten entsetzt auf die toten Soldaten. Dhanzi schluchzte immer noch leise. Dann sahen sie Rilpo mit einer Entgeisterung an, als ob sie ein fremdartiges Tier betrachteten. Sie sammelten ihre Besitztümer ein und machten dass sie davon kamen. Bis zu ihrer Ankunft in Indien wechselten sie kein Wort mehr mit Rilpo. Sie hatten Angst vor der in ihm vorgegangenen Veränderung. Er hatte getötet.

Buch Eins: Die Krieger

Go West!

6. August 13:30 - 14:11 Uhr  Washington DC

6. August 17:30 - 18:11 Uhr  Greenwich Mean Time (GMT)

7. August 03:30 - 04:11 Uhr Andersen Air Force Base, Guam

Aus großer Höhe hatte die pazifische Insel Guam ausgesprochene Ähnlichkeit mit einem gigantischen Fußabdruck. In der Ferse dieses Fußes lag die Andersen Air Force Base, im militärischen Jargon einfach AAFB genannt - mehr als drei Flugstunden vom nächsten Festland entfernt und nur 13 Breitengrade nördlich des Äquators. Ein paar verstreut liegende flache Gebäude im Nirgendwo, deren staubige Vorplätze keinen besonders einladenden Eindruck machten. Daneben die grün bewachsenen Hügel über den Bunkern der Raketenabschussbasen, die wie Beulen einer Krankheit aus dem Boden des Areals hervorwuchsen. Trotz seiner abgeschiedenen Lage spielte die AAFB eine wesentliche Rolle in der Militärstrategie der Vereinigten Staaten, ermöglichte sie doch der US Air Force die Beherrschung des gesamten pazifischen Luftraumes. Für die gesamte US Air Force begann jeder neue Tag auf dem weitläufigen Areal der AAFB, denn sie war der am weitesten östlich gelegene Punkt ihrer Stationierung.

Die AAFB wurde rund um die Uhr von der 36. Security Forces Squadron bewacht. In deren Aufenthaltsraum war die Luft in den frühen Morgenstunden des 7. August zum Schneiden dick. Die tropische Nacht hatte keine Abkühlung gebracht und der sich träge an der Decke drehende Ventilator schien die Hitze eher wieder zu verteilen, als zu vertreiben. In der von Rauch geschwängerten Luft saß eine Runde von Pokerspielern um einen Tisch, andere Soldaten verfolgten die Live-Übertragung eines NBA-Basketballspiels. Staff Sergeant Herbert George sah auf die Uhr - chinesisches Fabrikat, mit integriertem Zeitplaner und Anschluss an seinen Bürocomputer. Er drückte die Zigarette in den Aschenbecher und legte die Karten mit der Rückseite nach oben auf den Tisch.

"Zeit für die Runde, meine Herren" sagte er und stand auf.

"Hey Mann, das sagst Du nur, weil Du gerade ein mieses Blatt hast und am Verlieren bist," antwortete Private Miller.

Als frisch eingetroffenes Mitglied der Sicherheitstruppe hatte er zwar schon das Privileg, mit seinem Chef während der Wache Karten spielen zu dürfen, aber noch nicht genügend Durchblick, um Dienst von Schnaps zu trennen.

George war ausgesprochen milde gestimmt, denn tatsächlich war sein Blatt sogar fantastisch gut und er hatte die nächste Runde so gut wie in der Tasche.

"Miller, wer glauben Sie, dass Sie sind. Sie werden mir morgen im Boxring Rede und Antwort stehen."

"Ja, Sir."

Nachdem Miller auf diese Weise klar wurde, dass er hier wohl heftig daneben gelangt hatte, standen er und zwei weitere Spieler ohne weitere Randbemerkungen auf und folgten George in die Kontrollzentrale. Dort trafen sie den Offizier vom Dienst, First Lieutenant Lionel Red Beaver, den einzigen Vollblut-Sioux im Offiziersrang der Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Streitkräfte der USA hatten mehr als 100 Jahre nach der Niederlage beim Little Bighorn River ihre Abneigung gegen die Sioux längst überwunden. Die Sioux aber hielten die Erinnerung daran wach, dass vor fast ebenso langer Zeit die Armee bei Wounded Knee mehr als 400 Sioux-Frauen und Kinder getötet hatte. Jeden Tag wurden sie durch den ungeliebten Namen Sioux an ihr Schicksal erinnert, denn dieser Name war ihrem Volk von den Weißen aufgezwungen worden.

Er erinnerte sich jedenfalls deutlich daran, wie sein Vater reagiert hatte, als er die Nachricht vom Eintritt seines Sohnes in die Air Force der Vereinigten Staaten von Amerika gehört hatte. Er hatte wortlos eine Flasche mit billigem Whiskey aus dem Schrank genommen und war aus dem alten, aufgebockten Wohnmobil gestiegen, das der Familie als Wohnung diente. Stunden später hatte ihn der Sheriff gebracht, immer noch wortlos, aber dafür sternhagelvoll mit dem größeren Teil des Inhaltes der Whiskeyflasche. Dabei bot sich für Red Beaver in der Air Force eine bessere Zukunftschance als im Reservat.

Wie oft hatte den Eltern das Geld für Heizung und Strom nicht gereicht? Die Jugendarbeitslosigkeit betrug fast 80 %. Er empfand es als Ehre, seinen Lebensunterhalt als Krieger verdienen zu können und nicht von Sozialhilfe leben zu müssen.

Red Beaver blickte auf die vier Soldaten, die aus dem Metallschrank neben der Ausgangstür ihre Waffen und Helme nahmen und sich stumm für die Patrouillenfahrt rüsteten. Red Beaver und George nickten sich zu, und der Leutnant machte nach einem kurzen Blick auf seine Uhr einen Vermerk im elektronischen Notizbuch, indem er mit einem speziellen Griffel auf den flachen Flüssigkristallbildschirm des Computers tippte.

Die Wand direkt vor ihm war ein großer Projektionsschirm, er zeigte jetzt eine Karte der Basis, mit bunten Markierungen hier und da. Grün war die vorherrschende Farbe, doch alle paar Sekunden wechselte eine andere der grünen Markierungen kurz auf Gelb, wenn das Alarmsystem einen Selbsttest durchführte. Normalerweise wurde eine amerikanische Militärbasis auf befreundetem Territorium mit weniger ausgefeilten Mitteln bewacht. Auf der AAFB aber lagerten die Nuklearwaffen der 13. Air Force, fähig, innerhalb weniger Stunden auf dem asiatischen Festland das Höllenfeuer thermonuklearer Explosionen zu entfachen. Amerikanische Nuklearstreitkräfte waren der Gegend um Guam schon lange verbunden: Gestern vor 60 Jahren hatte ein von der Nachbarinsel Tinian gestarteter Bomber das nukleare Verderben nach Hiroshima getragen.

Zusätzlich zu den elektronischen Sicherungsmaßnahmen fuhren deshalb in unregelmäßigen Abständen Wachsoldaten den Rand des mehr als 6000 Hektar großen Gebietes der AAFB ab. Nur der Offizier vom Dienst und sein Vertreter, der Patrouillenführer, erfuhren vorher vom Zeitpunkt der Kontrolle, während der Ort sogar erst kurz vor Fahrtbeginn durch den Computer geliefert wurde.

"Wohin geht es heute?," fragte George.

"Das nordöstliche Gebiet mit den Abschussbasen. C-17 bis C-33." sagte Red Beaver, und George nickte abermals. Der nordöstliche Teil der AAFB bestand aus einem gewaltigen stillgelegten Flugplatz, der in Richtung auf das Meer von einer Reihe von Abschussbasen gesäumt wurde.

Bei diesen Abschussbasen überkam George immer ein ungutes Gefühl, schlimmer noch als beim Gedanken an das nukleare Arsenal seines Arbeitgebers. Während nämlich die taktischen Nuklearwaffen unter Luftabschluss eingemottet waren, enthielten die Abschussbasen startbereite Cruise Missiles, Marschflugkörper mit einer Reichweite von 6000 km und einer Zielgenauigkeit von zwei Metern in der Endanflugphase. Die Sprengköpfe waren zwar konventionell, aber sie enthielten bis zu einer Tonne Sprengstoff, was ein ganz ansehnliches Loch in den Boden reißen konnte.

Die Notwendigkeit zum raschen Einsatz solcher Waffensysteme mit "chirurgischer" Kapazität, also der Kapazität zum genauen Ausschalten von kleinen Punktzielen, war seit den beiden Kriegen gegen den Irak anerkannte Militärdoktrin in allen Ländern der Erde. Nach 2003 wurde deshalb ein substantieller Anteil der startbereiten strategischen Waffensysteme auf nichtnukleare Sprengköpfe umgerüstet, die Reichweite verdreifacht und die Zielgenauigkeit erhöht. Das ungute Gefühl bei Sergeant George resultierte allerdings viel weniger aus der Gefährlichkeit der Sprengköpfe, als aus der Zielrichtung dieser Waffensysteme. Die meisten von ihnen zeigten nach Nordosten, einige wenige waren nach Norden gerichtet.

Im Nordosten von Guam lag China, der gelbe, langsam aus seinem Schlaf erwachende Riese des pazifischen Raumes. China war selber Nuklearmacht, und das machte George Angst. Die Fähigkeit der USA, von Guam aus, wie mit einem scharfen Skalpell zu operieren, machte die Insel zu einem bevorzugten Ziel aller Lenkwaffen des pazifischen Raumes. Herbert George ging davon aus, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit schon irgendwo auf dem riesigen chinesischen Festland die Guam zugedachte Rakete des Typs 'Dong Feng', das heißt 'Ostwind', stand.

Guam selbst war seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr und mehr amerikanisiert worden. Bis in die Siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts beschränkte sich die ökonomische Existenz der Insel auf das Budget der AAFB und wenige Küstenorte. Das Landesinnere hatte selbst für die eingeborene Bevölkerung so wenig Bedeutung, dass der letzte überlebende Soldat der japanischen Besatzungsmacht des Zweiten Weltkrieges, ein Sergeant Yokoi, tatsächlich bis 1972 einen einsamen Krieg im Dschungel der Insel führte. Bis zu seinem Tod im Herbst 1997 glaubte er, mit diesem Kampf seine Pflicht für Kaiser und Vaterland erfüllt zu haben.

Die vier Soldaten stiegen in den 'Hummer' - das gedrungene Fahrzeug mit der großen Bodenfreiheit, das in den achtziger Jahren den traditionellen Jeep abgelöst hatte. Miller fungierte als Fahrer, er startete und wendete den Wagen, und bald fuhren sie schweigend vor sich hin schwitzend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, zwischen zwei hohen Zaunreihen, deren oberer Rand mit Rollen von rostigem S-Draht verziert war. Während George auf dem Beifahrersitz bemüht war, nicht einzudösen, verfolgten die beiden anderen Soldaten träge den Kegel ihrer Suchscheinwerfer auf dem unteren Bereich des Zaunes. Nach einer Viertelstunde hatten Sie die nördlichste Spitze Guams erreicht, die den Pazifik in den Augen der Menschen vom philippinischen Meer trennt.

Hier am Nordende von Guam wehte ständig ein leichter Wind, der einen die Nähe und Weite des Pazifischen Ozeans nie vergessen ließ. Der Duft der Bougainvilleen, 'Puti TaiNobiu' in der Sprache der Eingeborenen, war deshalb in dieser Nacht nur wie eine ferne Erinnerung zu spüren. Auch Tierlaute waren kaum zu vernehmen, die tropische Morgendämmerung war nicht mehr fern.

Nach einem weiteren Kilometer hatten sie den Kontrollpunkt C-17 erreicht, George schickte eine kurze Bestätigung an Red Beaver. Ohne dass er sich darum kümmern musste, enthielt diese Bestätigung den GPS-Code für die Fahrzeugposition. Red Beaver sah den Hummer als gelben Lichtpunkt auf der gigantischen Projektionswand, der an der Linie der grünen Leuchtmarkierungen auf dem Projektionsschirm entlangkroch.

Ein elektronisch erzeugter Glockenton erklang, und einer der grünen Lichtpunkte im Inneren der Darstellung der Basis begann zu blinken, veränderte nach fünf Sekunden seine Farbe nach Gelb. Diese Zeit brauchte Red Beaver auch, um zu reagieren, denn eigentlich kam so etwas nur während der halbjährlichen Übungen vor. Er drückte die Sprechtaste des Funkgerätes: "Patrol Mama für Patrol Leader. Sergeant George, ich habe eine Warnung an der Abschussrampe C-32, das müsste gerade auf Eurer Höhe sein. Könnt ihr sehen, was da los ist?"

George war schlagartig wach, er ließ den Hummer stoppen und die beiden Scheinwerfer ins Innere der Basis richten. Lange brauchten sie nicht zu suchen: Über einem der niedrigen Bunker - keilförmige Hügel, mit schweren Türen am steilen Ende - ging plötzlich ein grelles rotes Blinklicht an, und eine Sirene ertönte. In dem roten Licht, kombiniert mit dem kalkig weißen der Suchscheinwerfer, sahen die vier Insassen des Hummer, wie die Flügeltüren des Bunkers aufklappten.

Für Lieutenant Lionel Red Beaver zeigte sich dies als hektisch blinkendes rotes Licht an der Stelle, wo kurz vorher noch Gelb geleuchtet hatte. Gleichzeitig verfärbte sich eine ganze Zeile von Kontrolllampen auf seiner Tischplatte rot, seine Computeranzeige wechselte hektisch die Farben und eine Sirene fing an zu heulen. Aus den Monitorlautsprechern hörte man die monoton wiederholten Worte "Abschusswarnung! Abschusswarnung!..."

"George, um Gottes Willen, was treibt Ihr denn da! " schrie er ins Mikrofon, während er nach dem Hauptalarmknopf fummelte und ihn endlich drückte.

"Wir machen gar nichts, Sir" schrie Herbert George zurück. "Aber irgendein Idiot versucht, ein Cruise Missile zu starten!" Diese Vermutung von Sergeant George wurde rasch zur Gewissheit. Auf einem schräg nach unten gerichteten Flammenstrahl reitend erschien ein etwa elf Meter langer Zylinder aus der Öffnung des Bunkers, klappte kurze Flügel aus und stieg weiter schräg in die Höhe.

Wenige Meter über ihnen erlosch die Flamme, die kurze Boosterrakete des Cruise Missile löste sich vom Hauptkörper und fiel auf einer parabolischen Bahn dem Meer entgegen. Der Flugkörper hatte inzwischen sein eigenes Triebwerk gezündet, mit einem Fauchen gewann er weiter an Höhe und verschwand in Richtung Pazifik aus dem Gesichtsfeld der Soldaten. Private Miller, der das Lenkrad des Hummer umklammert hielt wie eine Zange das Wasserrohr, fasste ihrer aller Gedanken in einem Wort zusammen: "Shit!".

Der Generalalarm der Andersen Air Force Base Guam ließ überall die Sirenen heulen, Batterien von Flutlichtern sprangen an. Sergeant George sah auf die Uhr.

"Patrol Leader an Patrol Mama. Kommen!"

"Hier Patrol Mama, was zum Teufel ist da los?"

"Patrol Leader. Es ist gerade 4:11 Uhr, ein Cruise Missile aus dem Bunker C-32 ist soeben in Richtung China gestartet, ich wiederhole, Cruise Missile wurde gerade gestartet. Keine, wiederhole, keine verdächtige Beobachtung auf dem Gelände der Basis. Patrol Leader Ende."

Leutnant Lionel Red Beaver starrte den Lautsprecher an, als ob er einen Geist gesehen hätte. Außer seiner Aufgabe als Wachoffizier dieser Nacht hatte er nämlich noch eine andere Funktion im Sicherheitsnetz der Basis Guam: Als Section Commander des Bereiches Security Forces Operations unterlag die Sicherheit der Abschussrampen seiner persönlichen Aufsicht, und dieser Vorfall bedeutete endlose Untersuchungen, Verhöre, Berichte. Na, und letzten Endes wäre in der Militärhierarchie wie immer ein Verantwortlicher zu finden. Und er hatte das unangenehme Gefühl, dass er dies sein würde.

Command, Control und Maiskolben

7.August 6:18 - 6:45 Uhr Ortszeit Guam

6.August 20:18 - 20:45 Uhr GMT

6.August 16:18 - 16:45 Uhr  Washington DC

Wie schon so oft dachte Kathy McGuire, dass die Gründer Ihres Vaterlandes nicht ganz klar im Kopf gewesen sein konnten. Wer würde denn freiwillig seine Hauptstadt in einer Gegend mit dem Sommerklima von Washington DC anlegen, wenn er die Möglichkeit hätte, Boston als Mittelpunkt des neuen Landes zu wählen? Trotz der Shorts und des nabelfreien T-Shirts schwitzte sie wie ein Bär, während sie die Maiskolben von der Hülle befreite und in den Kochtopf legte.

Sehnsuchtsvoll warf sie einen Blick auf die Gruppe, sich im Schatten einer großen Eiche ausruhenden und schwatzenden Frauen ihrer Abteilungskollegen.

McGuire war bei den Parties ihrer Abteilung immer das fünfte Rad am Wagen, sie stellte sich deshalb lieber an den Grill oder den Gaskocher, als sich mit Fragen der neuesten Beautyrezepte und Boutiquen zu befassen. Aber angesichts der Hitze wäre so ein fauler Spätnachmittag unter Bäumen vielleicht doch besser.

Ihre Sonderstellung in der Abteilung verdankte sie gleich mehreren Besonderheiten. Sie war eine gutaussehende Frau und es gab immer wieder Verdächtigungen, ob sie ihre Karriere wirklich ihrer Intelligenz verdankte oder nicht doch eher irgendwelchen Bettgeschichten. Dass sie dazu auch noch schnippisch und ein wenig zu schnell mit dem Mundwerk war, verbesserte die Situation nicht gerade. Vollends zur Katastrophe wurde ihr Privatleben durch die Tatsache, dass sie aus dem Pentagon in die NSA, die National Security Agency abkommandiert war.

Vor Jahren noch optimistisch und viel zu sehr auf die Arbeit konzentriert, um dies irgendwie bedenklich zu finden, war sie inzwischen weiser geworden. Im Alter von 36 Jahren eine höchstens mittelmäßige Karriere eingetauscht zu haben gegen den Verzicht auf eine Ehe, auf Kinder oder auch nur die dauerhafte Beziehung zu einem anderen Menschen, erschien ihr im Nachhinein als nicht sonderlich klug.

Es war ja nicht so, dass sie nie eine Beziehung gehabt hätte. Sie war in der Collegezeit mit einigen Jungs ausgegangen, aber die Arbeit war ihr immer wichtiger gewesen als der Sex.

Ihre Gedanken wanderten zu dem hübschen Jungen mit den unzähmbaren dunkelblonden Locken, mit dem sie eine ganze Weile befreundet war. Sie erinnerte sich daran, wie er immer durch die in sein Gesicht fallenden Haare von unten herauf hindurchschielte. Die blaugrauen Augen waren schmal, die lange gerade Nase fein geschnitten. Sie hatten gemeinsam gekocht und gelacht und eine Weile hatte Kathy geglaubt, dass er Mr. Richtig sei. Aber dann war alles anders gekommen.

Sie konnte sich noch gut erinnern. Ralph hatte eine phantastische indonesische Reisplatte mit tausend kleinen Töpfchen, gefüllt mit duftenden Zutaten, zubereitet. Sie hatten mit Freunden getafelt und am Ende des Abends hatte er vor ihr niedergekniet und sie mit seinen wunderschönen Augen angestrahlt: "Willst du meine Frau werden?"

Dabei hatte er ihr in einem mit rotem samt ausgeschlagenen Kästchen einen Saphirring entgegengestreckt.

Tausend Ameisen waren ihr die Arme hinauf und hinunter gelaufen und sie war überwältigt von dem Gedanken, mit Ralph ihr Leben zu verbringen: "Ja," hatte sie geflüstert und ihn in ihre Arme gezogen.

Aber dann war sie nur wenige Wochen danach etwas zu früh von der Arbeit nach Hause gekommen und hatte feststellen müssen, dass sie offenbar nicht die einzige war, die seinen Augen nicht widerstehen konnte.

"Das ist doch alles nicht so gemeint," hatte er beteuert. "Das hatte nichts zu bedeuten."

"Du Schwein, wenn du noch nicht einmal vor der Ehe treu sein kannst, wie soll es denn dann erst werden, wenn wir Jahre verheiratet sind und die erste Leidenschaft abgekühlt ist."

"Dann wirst du hoffentlich mehr Zeit für mich haben," war seine Antwort darauf.

"Was willst du damit sagen?"

"Wenn wir erst Kinder haben und du zu Hause bleibst, brauche ich ja nicht mehr..."

Weiter kam er nicht. Kathy schrie: "Das wirst du nicht erleben," warf ihm den Ring an den Kopf und verließ wutschnaubend seine Wohnung.

Das war das Ende ihrer Beziehung gewesen und seither hatte sie nie wieder einen Menschen so dicht an sich herangelassen.

In den seltenen Momenten, in denen Kathy zusammen mit ihrem Kater vor dem Fernseher saß und kalorienarme Chips futterte - ein kleiner Funken Hoffnung war eben doch noch da - bedauerte sie sich selbst, meistens aber rationalisierte sie ihre persönliche Situation.

Ihre Interessenlage machte ihr das ziemlich leicht, denn schon seit ihrem vierzehnten Lebensjahr war sie von der kühlen Welt der Zahlentheorie und Computer fasziniert. Ihre Klassenkameradinnen beschäftigten sich lieber mit der Auswahl ihrer Kleidungsstücke, mit Makeup-Variationen und Jungs, während Kathy knifflige Programmierkunststücke vollbrachte.

Nach dem College war sie auf Empfehlung ihres Vaters, eines pensionierten Majors, zur Air Force gegangen und hatte dann mit einem Stipendium Informatik studiert. Ihre Dissertation hatte die Verschlüsselung von Datenströmen zum Inhalt, und war in der Fachwelt - zugegeben, auf diesem Spezialgebiet war die Fachwelt relativ klein - beifällig aufgenommen worden. Die Frage nach einer Forschungskarriere hatte sich aber nie gestellt, denn Kathy McGuire war zutiefst von der Wichtigkeit ihrer Arbeit im Dienste der Sicherheit ihres Landes überzeugt. Ihre gesamte Familie war dem Militär verbunden, nach ihrem Großonkel war sogar die McGuire Air Force Base in New Jersey benannt.

Sie arbeitete an einem Projekt, dessen Ziel es war, die Kommunikation innerhalb und zwischen den verschiedenen Ebenen der Kommandostruktur auf eine einheitliche Basis zu stellen.

Alle Waffen und Soldaten sollten so miteinander vernetzt werden, dass jederzeit eine aktuelle Computerdarstellung ihrer Position existierte - für den einfachen Soldaten in Form einer jederzeit abrufbaren Karte seiner Umgebung, für den Kommandostab in Form eines digitalen Übersichtsplans des möglichen Kampfgeschehens.

In der Sprache des Pentagon hieß dies C4I: Command, Control, Communications, Computer and Intelligence - wobei das vierte "C" bei der Auflegung des Programms erst wenige Jahre alt war. Sensoren für dieses Informationsnetz sollten in Raketen, Flugzeuge, Kampfpanzer und Minen eingebaut werden - kurz: In alle Geräte und Soldaten mit einem Minimum an elektronischer Ausstattung bis hinunter zu den Transportbehältern für Munition. Die einzelnen Teilstreitkräfte richteten Abteilungen zur Steuerung dieser Entwicklung ein, die auch immense Forschungsaufträge an die Industrie vergeben durften. Für die US Army war die Zuständigkeit im ADO, dem Army Digitization Office konzentriert - mit dem Motto "First on the Digital Battlefield". Für die Air Force existierte das AFCC oder Air Force Communications Command.

Da diese Kommunikation zwischen allen Komponenten digital über Computernetze erfolgen sollte, gab es Sicherheitsprobleme. Jede Art von wichtiger Information musste verschlüsselt übertragen werden. Das Pentagon stellte deshalb zunehmend Experten für Kryptografie ein, unter ihnen Dr. Kathy McGuire. Ein einjähriger Offizierslehrgang bescherte Kathy den Rang eines Lieutenant der Air Force, sie hatte mit militärischen Typen aber ihrer Ansicht nach nicht viel gemeinsam. Es war die kühle Distanz zu anderen Menschen, die ihr das Tragen der blauen Uniform vermittelte, was sie daran faszinierte. Leider, und das war die Quelle ihres Seufzens an manch einsamem Abend, wirkte der durch die Uniform gewonnene Schutzschild in beiden Richtungen.

Die neue militärische Strategie fand auch ihren Niederschlag in einem 'COPERNICUS' genannten Programm, dass den amerikanischen Soldaten im 21ten Jahrhundert  'information dominance' geben sollte. Information ist eine Waffe, gekämpft wird künftig vom 'Information Warrior' in einem 'Network Centric Warfare', Kriegsführung wird netzbasiert.

Für Kathy begann sich eine schwierige Situation zu entwickeln: Der kühle Datenraum, die Liebe ihres Lebens, existierte nicht mehr unabhängig von dem kleinlichen Wirken des Menschen. Dieser abstrakte Raum, der Cyberspace der Science Fiction-Romane des William Gibson, war angreifbar geworden - eine Idee, die Kathy als zutiefst böse empfand. Seit vielen Jahren schon spielen Computerfreaks mit dem Gedanken, Kämpfe der Bits und Bytes auszutragen. Jedes Jahr fand am Massachusetts Institute of Technology, der Hochburg der Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz, der 'Krieg der Kerne', der Core War statt. Dabei ließen die Studenten und Professoren in einem speziellen Computer Programme aufeinander los, die sich mit ausgeklügelten Methoden vermehrten und ihre Gegenspieler ausschalten.

Für Kathy McGuire aber wurde der Core War Realität: Nicht nur studierte sie Möglichkeiten, durch vernetzte Computer schneller, stärker, besser zu sein als der - noch - imaginäre Gegner, sondern erforschte auch die Methoden zum Ausschalten gegnerischer Datennetze. Das Pentagon sah sich wie immer durch die eigenen Forschungen genötigt, einen vergleichbaren Kenntnisstand auch auf der Gegenseite zu fürchten. Man begann deshalb die Netzwerksicherheit des 'Tactical Internet' eng mit der NSA abzustimmen, der National Security Agency in Fort Meade, Maryland. Die Aufgabe der NSA ist seit ihrer Gründung durch ein Dekret des US-Präsidenten Harry S. Truman am 4. November 1952, weltweit die Kommunikation zwischen als Ziel eingestuften Personen oder Organisationen abzuhören, und gleichzeitig die Kommunikation der eigenen Regierungsstellen gegen einen solchen Lauschangriff zu schützen.

Bis 1980 war die NSA als Behörde so geheim, dass sie ihre eigene Existenz leugnete. Mitte der achtziger Jahre aber gewann die internationale Telekommunikation soviel Dynamik, dass es sich nicht mehr verbergen ließ, dass eine eigene Behörde zum Abhören existierte. Ihr damaliger Leiter, General Lew Allen, wurde von einem Kongressausschuss gezwungen, die Existenz und Ziele der NSA offenzulegen. Bis heute war jedoch keine parlamentarische Kontrolle über die NSA möglich, die Höhe ihres Budgets darum nur aus Schätzungen bekannt. Allerdings waren ein paar Fakten bekannt, die Wissenschaftler den Kopf schütteln ließen - so etwa war die NSA der weltweit größte Arbeitgeber von Mathematikern.

Einer der vielen klugen Aussprüche Albert Einsteins war, "dass es eines der Wunder unseres Universums ist, dass man es mit den Mitteln der Mathematik verstehen und erklären kann".

Es mutete deshalb vielen Computer-Experten als reine Blasphemie an, dass der größere Teil der Schaffenskraft der NSA-Mathematiker nicht auf die Mehrung unseres Wissens über dieses Universum gerichtet war, sondern auf den Kampf der Menschen untereinander um die beste Position im Cyberspace. Bei der NSA war darum seit Mitte der achtziger Jahre die dringende Verbesserung des öffentlichen Image angesagt. Sie galt als führend in der Kryptografie, der Verschlüsselung und Entschlüsselung von Daten. Seit 1987 indessen unterstützte sie auch unabhängige Mathematiker mit Interessen in der Kryptografie durch Stipendien. Die Hardliner der amerikanischen Regierung konnten sich allerdings nicht enthalten, in die Vergabebedingungen dieser Stipendien eine Klausel aufzunehmen, nach welcher Forschungsergebnisse mit potentiellem Einfluss auf die nationale Sicherheit der USA nicht veröffentlicht werden durften.

2005 war Keith B. Alexander als Nachfolger von Lieutenant General William Hayden zum NSA-Direktor ernannt worden. Er holte eine kleine Gruppe handverlesener Experten für die militärischen Computer-Netzwerke zur NSA, unter ihnen auch Kathy McGuire. Sieben Jahre hatte sie nun diesen Job, war die Leiter stetig emporgeklettert bis zum Range eines Commander in der Information Assurance Mission der NSA. Sieben Jahre Arbeit, und sie musste dennoch den Grill bedienen, um ihre Sozialkontakte aufrecht zu erhalten.

"Kathy, Telefon!" schrie die Gastgeberin Francine aus der offenen Tür der Küche.

Einer von den pickeligen Jünglingen aus ihrer Abteilung, der mit ein paar anderen ihrer Kollegen das Volleyballnetz strapazierte, rief geistesgegenwärtig über den Rasen: "Keine Sorge, das ist nur der Computer!".

"Ich dachte, der ruft sie immer auf dem Handy an?" witzelte ein anderer zurück.

Ihre Kollegen prusteten los, Kathys Ohren hingegen brannten vor Ärger und sie sah absichtlich nicht hin, wer lachte.

"Ich kann jetzt nicht, sag einfach, ich rufe zurück!"

"Er sagt, er rufe aus dem Weißen Haus an und es sei dringend!"

Kathy ließ die Maiskolben zurück in den Topf fallen - nicht etwa, um schnell ans Telefon zu gelangen, denn sie hielt das Ganze immer noch für einen Scherz. Sie hatte nur wieder einmal die Nase voll von ihren Kollegen, und wusste dennoch, sie würde dies an ihrem nächsten einsamen Abend wieder bereuen. Mit bewusst provozierendem Hüftschwung ging sie an den Volleyballspielern vorbei und sagte zu dem jungen Mann, der gerade die nette Bemerkung gemacht hatte: "Johnson, klauben Sie doch mal die Maiskolben aus dem Topf. Mama muss telefonieren gehen..."

Der Betroffene stand mit offenem Mund da, den Ball in der Hand. Die anderen Spieler brüllten vor Lachen.

In der Küche hielt ihr Francine das Telefon hin. Sie gestattete sich dabei einen fragenden Blick, da sie aber selber im Pentagon arbeitete, zog sie sich höflich in die andere Ecke der Küche zurück.

"Hier spricht Kathy McGuire."

"Dr. McGuire, ich bin Denis McDonough, Sicherheitsberater des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Wir haben schon versucht, Sie auf dem Handy zu erreichen, aber das haben Sie ja offenbar entgegen der Direktive der Erreichbarkeit abgeschaltet."

"Man muss auch mal ein Privatleben haben." Es war tatsächlich so, dass sie nur wirklich Ruhe hatte, wenn sie das Handy abschaltete und das erlaubte sie sich zwar selten, aber von Zeit zu Zeit bewusst.

"Wir benötigen dringend Ihre Hilfe, Sie sind aber nicht daheim und haben Ihr Telefon so manipuliert, dass wir die Nummer des Anschlusses, an den Sie diesen Anruf weiterleiten, nicht herausfinden können. Bitte sagen Sie uns, wo Sie sind. Sie werden so schnell wie möglich abgeholt, bitte stellen Sie sich auf eine längere Abwesenheit ein."

Kathy hatte sich Mühe gegeben bei der Umstellung des Telefons, und musste ein wenig grinsen. "Sie machen aber blöde Witze, Mister!"

"Dr. McGuire, ich versichere Ihnen, dies ist kein Witz. Bitte warten Sie einen Moment..."

Aus dem Hörer kam plötzlich eine Stimme, die Kathy McGuire aus Fernsehansprachen kannte. "Dr. McGuire, hier spricht der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Bitte sagen Sie uns, wo Sie erreichbar sind, meine Leute können Sie hören. Ihr Land braucht Ihre Unterstützung!"

Kathy war käseweiß geworden, ihr Gesicht trotzdem schweißnass, so dass Francine besorgt in ihre Richtung schaute.

"19 Mills Road in College Park, nur zehn Minuten von meinem Haus."

"Danke sehr, Kathy. Alles Weitere erfahren Sie unterwegs."

Der Hörer summte nur noch, Kathy stand mit ziemlich leerem Blick in der Küche.

Francine fragte "Kathy, was ist denn los? Wer war das?"

"Der Präsident," antwortete sie und hing den Hörer auf. "Ich glaube, ich muss sofort verreisen - kannst Du mir was Frisches zum Anziehen leihen?"

Die beiden Frauen gingen ins Obergeschoss, damit sich Kathy umziehen konnte und um ein paar Sachen in eine Reisetasche zu schaufeln - fast schweigend, ihre Bemerkungen nur auf die Sachen bezogen: "Hast Du noch eine Zahnbürste für mich?"

"Wie wäre es mit einem Handtuch?" - Dabei sah Francine immer wieder forschend zu Kathy hin.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte "Du meinst doch nicht etwa, das war Präsident Obama?"

"Doch, genau der!"

"Das ist doch nur ein Scherz?" wollte Francine wissen. In diesem Moment sahen sie aus dem Fenster, dass ein Polizeifahrzeug mit blauem und rotem Blinklicht in die Mills Road einbog, gefolgt von einem dunkelblauen Auto mit Regierungskennzeichen. Beide hielten vor dem Haus, ein Major in Air Force-Uniform stieg aus und ging rasch auf das Haus zu. Kathy und Francine waren die Treppe hinunter geeilt und hatten die Tür bereits geöffnet.

"Dr. McGuire?" fragte der Major und blickte von einer zur anderen, dann auf ein Foto in seiner Hand.

"Ich bin das," sagte Kathy.

"Bitte folgen Sie mir, wir werden Sie unterwegs über alles unterrichten."

"Danke," rief Kathy ihrer Freundin noch über die Schulter zu, dann ging sie wie in Trance über den Rasen vor dem Haus und stieg in das Regierungsauto ein. Als sie anfuhren - wieder eskortiert von dem Polizeifahrzeug - schaute sie noch einmal zurück zum Haus. Es verschaffte ihr erstaunlich wenig Genugtuung, dass alle Gäste der Grillparty neben dem Haus standen. Nicht einmal berührte es sie sonderlich, dass diesmal fast allen der Mund offen stehen blieb.

Dünnes Eis

6. August 16:45 - 19:04 Uhr  Washington DC

6.  August 22:45 - 7. August 01:04 Uhr  Stockholm

6. August 20:45 - 23:04 Uhr GMT

6. August 6:45 - 09:04 Uhr Ortszeit Guam

Während sie auf der Rhode Island Avenue in Richtung Innenstadt Washington rasten, begleitet von mit Blaulicht den Weg räumenden Polizeifahrzeugen, erklärte ihr der Major, dessen Namensschild auf Monihan lautete, die Situation: "Lieutenant, es liegt ein nationaler Notfall vor. Wir bringen Sie jetzt direkt zum Weißen Haus. In der Reisetasche" - er deutete auf den Sitz neben dem Fahrer - "haben wir für Sie ein paar von ihren Kleidungsstücken und eine Uniform eingepackt. Alle weiteren Information sind vorerst geheim, hier in dieser Mappe finden Sie alles Notwendige. Bitte unterschreiben Sie an dieser Stelle".

Ein mulmiges Gefühl machte sich bei dem Gedanken in ihr breit, dass der Mann neben ihr in ihrer Wäsche gewühlt hatte. Aber es blieb ihr keine Wahl.

Sie quittierte mit einem Griffel auf dem berührungsempfindlichen Bildschirm eines hingehaltenen Tablets und nahm die dünne Mappe entgegen. Es waren nur wenige Blätter darin, allesamt Ausdrucke von militärischen Eilnachrichten, die - ein Ergebnis von Kathys Arbeit - beinahe so aussahen wie die elektronischen Nachrichten, die sie mit ihrer lokalen Bankfiliale über das Internet austauschte. Die Zeit der Funksprüche war endgültig vorbei, dies waren computerisierte Nachrichten, Datagramme, weitergereicht über Satellitennetzwerke und Glasfaserkabel. Das oberste Blatt lautete:

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Kathy den Inhalt verstand, und sich die geografische Lage von Guam ins Gedächtnis gerufen hatte. Offenbar hatte jemand ein Cruise Missile (was war bitte ein Mark-04 Sprengkopf?) in Richtung auf das chinesische Festland abgefeuert. Die anderen Blätter enthielten Rückfragen, teils ungläubig, teils alarmiert. Sie sah ihren Begleiter an und wollte ihn gerade über die Sache ausfragen, als er von sich aus sagte: "Commander, ich kann ihnen keine weiteren Informationen geben. Sie müssen sich gedulden bis wir da sind."

 Kathy musterte ihn nachdenklich, und sah dann aus dem Fenster. Sie bogen gerade in die 6th Street ab. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie das weiße Haus erreichten. Am Mt. Vernon Square, rannte eine Gruppe schwarzer Jugendlicher in Schuluniform über die Straße, ohne auf die Eskorte zu achten. Kathy schüttelte den Kopf. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne, wo das Treasury Department und damit der Komplex um das Weiße Haus in Sicht kam.

 Dann waren sie am Seiteneingang des Weißen Hauses angelangt. Das Polizeifahrzeug fuhr geradeaus weiter, während ihre Limousine auf die Rampe zur Tiefgarage einschwenkte. Das Auto passierte mehrere massiv aussehende Sperren, die zum Teil zur Seite gezogen, zum Teil im Boden versenkt wurden und hielt schließlich in einer Art Parkbucht. Dort nahm sie eine Gruppe von Secret Service-Agenten in Empfang und geleitete sie zu einem Lift. Zwei Agenten, ihr Begleiter und Kathy stiegen in die geräumige Liftkabine, der eine Agent murmelte etwas in sein Kehlkopfmikrofon und der Lift setzte sich nach unten in Bewegung. Aus ihrer Erfahrung in den Wolkenkratzern von Chicago folgerte Kathy, dass sie sich in einem Expresslift befanden, der viele Stockwerke nach unten raste. Offenbar war das Ziel ihrer Beinaheentführung einer der speziellen Kommandoräume tief unter dem Weißen Haus. Seit dem Terroranschlag auf das Pentagon und das World Trade Center im Jahre 2001 waren sie so ausgebaut worden, dass sie mit einem Expresslift innerhalb von einer halben Minute erreichbar waren.

 Der Lift bremste ziemlich gewaltsam ab und ihr Begleiter komplimentierte sie heraus. Vor sich sah sie einen langen Gang mit niedriger Decke, aber breit genug für ein Auto. Am Ende des Ganges war eine Art Empfangspult, hinter dem ein Marineinfanterist im Rang eines Leutnants saß. Monihan beugte sich über das Pult und schrieb etwas in ein Buch, welches ihm der Leutnant hinschob. Der Leutnant drückte auf einen verborgenen Knopf, und die Stirnwand des Korridors schob sich langsam zur Seite. Nein, schnell, berichtigte sich Kathy: Die Wand schien aus einem halben Meter dicken massiven Stahlblock zu bestehen - und dafür bewegte sie sich wirklich schnell. Sie traten durch diese monströse Tür.

Nach einer Biegung wurde sie sozusagen an der Spitze ihrer kleinen Eskorte in einen Konferenzraum gespült. An der gebogenen Seite eines halbrunden Tisches saßen mehrere Militärs und Zivilisten, die gegenüberliegende Wand wurde von einer Anordnung überdimensionaler Bildschirme eingenommen. An der Stirnseite des Raumes saß ein weiterer Major der Air Force hinter einem Dreiviertelkreis aus Computerschirmen, Tastaturen und Schaltfeldern. Direkt vor ihr schob der Präsident der Vereinigten Staaten seinen Stuhl zurück und stand auf. Obama ging auf Kathy McGuire zu, blickte ihr direkt ins Gesicht und sagte: "Dr. McGuire, ich darf Sie im National Security Council begrüßen. Meinen Sicherheitsberater McDonough kennen Sie bereits vom Telefon, ein paar der anderen Herren dürften Ihnen auch bekannt sein. Wir befinden uns in einem nationalen Notfall und benötigen die Hilfe eines technischen Experten. Sie sind uns von Ihrem derzeitigen Chef als kompetente Person empfohlen worden, bitte nehmen Sie Platz.

"General, informieren Sie Dr. McGuire!"

Kathy setzte sich auf den ersten freien Stuhl.

Obwohl sie bei Francine schnell Blue Jeans und eine neutrale Bluse übergezogen hatte, fühlte sie sich als Fremdkörper, mehr noch, als sie von den meisten Anwesenden ziemlich unverhohlen angestarrt wurde. Links neben Obama saß der Sicherheitsberater des Präsidenten, Denis McDonough, zur Rechten der Außenminister John Kerry, der Berühmtheit erlangt hatte, als er nach seiner Rückkehr aus Vietnam eine leidenschaftliche Rede gegen den Krieg hielt. Ein älterer Offizier im Rang eines Generals der Air Force stand auf und las von einem Blatt ab. Man hätte im Raum eine Nadel fallen hören können.

"Commander, ich bin General Northman, Chef des Stabes. Heute morgen kurz nach vier Uhr Ortszeit, also kurz nach 14:00 Uhr Washingtoner Zeit wurde von der Andersen Air Force Base auf Guam ein Marschflugkörper gestartet. Wir wissen nicht, von wem, und wir wissen nicht, wohin das Gerät geflogen ist. Es handelt sich um die modernste Waffe dieser Art, eine Tomahawk IV, die mit einem konventionellen Sprengkopf Mark 04 ausgerüstet ist. Es besteht zwar die Möglichkeit, dass irgend jemand das Gerät einfach nur entführt hat, um an die Technik zu gelangen. Wir müssen aber vom Schlimmsten ausgehen, und das wäre in diesem Fall der unmittelbare Einsatz dieser Waffe. Aus diesem Grund haben wir vor wenigen Minuten ThreatCon Delta verhängt. Damit werden alle Einrichtungen der amerikanischen Streitkräfte angewiesen, die stärksten Sicherheitsmaßnahmen gegen Terroristen zu ergreifen.

Mit der gegebenen Ausrüstung hat der Flugkörper eine Reichweite von 6000 Kilometern, speziell konstruiert zur Bekämpfung von Punktzielen über extreme Entfernungen. Innerhalb dieses Radius um Guam liegen diverse Inseln, die Philippinen, Australien und Japan. Was uns aber Sorgen bereitet ist, dass auch China teilweise innerhalb der Reichweite liegt. Es könnte zum Beispiel sein, dass der Flugkörper nach Beijing gelangt. Normalerweise können wir über das Tactical Internet mit der Waffe Kontakt aufnehmen, sie nach ihrem Zustand und ihrem Aufenthaltsort fragen, sie umsteuern oder gar vernichten. Wir kriegen aber keine Verbindung zu der Waffe. Wir können sie auch nicht auf dem Radar sehen - das Ding ist mit Absicht so gebaut worden, dass es alle Radaranlagen unterfliegt.

Eine sofortige Überprüfung der Startrampenelektronik auf Guam hat keine Anzeichen für einen Hardwarefehler ergeben. Der letzte automatische Selbsttest der Waffe ist etwa zwei Stunden vor dem Start gelaufen, und zwar ohne Befund. Feindliche Aktivitäten auf dem Stützpunkt wurden nicht bemerkt. Wir haben allerdings in den Logbuch-Dateien der Basis, soweit wir sie von hier aus einsehen können, einen ziemlich mysteriösen Eintrag gefunden. Major, bitte!"

Der General gab dem Major vor der Bildschirmwand einen Wink, Kathy sah auf einem der Teilbildschirme Schriftzeichen erscheinen. Die Zeichen ergaben erst nach einem Augenblick Sinn:

Der General fuhr fort, er sprach Kathy jetzt direkt an. "Dr. McGuire, Sie gelten als Experte für das militärische Netzwerk. Es ist unbedingt wichtig, dass wir wissen, was hier passiert ist. Können Sie uns das bitte mit kurzen Worten erklären?".

Kathy war geplättet - sie wurde von einer Grillparty abgeholt, und hier einfach ins kalte Wasser geworfen? Innerlich kochte sie, und vergaß dabei ganz, dass ihr die Party eigentlich keinen Spaß gemacht hatte.

Sie studierte die Zeilen auf dem Schirm, und merkte, dass sie dabei kühler wurde. Genauer gesagt, fror sie plötzlich. "Mr. President, Sir, meine Herren, für eine detaillierte Analyse brauche ich natürlich etwas Zeit. Insofern ist das, was ich jetzt sage, ein Schnellschuss - aber auf den ersten Blick kann ich hier doch etwas Seltsames sehen.

Über das Tactical Internet sind zwei verschiedene Dinge hereingekommen. Um 2:23 Uhr Ortszeit auf Guam hat sich zunächst jemand auf korrekte Weise beim Zentralrechner in Guam angemeldet, und dann den Flugkörper mit dieser Identifikationsnummer" - sie machte eine Pause - "Äh, gibt es hier so etwas wie ein Zeigegerät?"

Eine Ordonnanz reichte ihr von der Seite einen Laserpointer, und sie richtete den Laserstrahl auf die Zeichenfolge AAFBZ32CE834 - "kontaktiert und eine Programmsequenz mit neuen Zielkoordinaten angekündigt. Ich nehme mal an, dass es sich dabei um die betreffende Waffe handelt. Als nächstes wurde das Logging abgeschaltet, so dass wir nicht wissen, welche Daten jetzt im Speicher des Cruise Missile sind. Etwa eine Minute später wurde das Logging, also das Mitschreiben aller Verbindungsdaten, wieder aktiviert. Um 4:10:48 Uhr dann erneut die Anmeldung beim Zentralrechner. Dieser empfängt eine Startsequenz für die umprogrammierte Rakete, bestätigt sie mit dem Kommando ACK und führt sie aus. Nach der Ausführung des Startbefehls wird noch eine Bestätigung des erfolgreichen Abschusses geschickt."

Sie blickte jetzt direkt ihren Präsidenten an. "Sir, so leid es mir tut, aber dies ist nichts weniger als der erfolgreiche Versuch, mit Hilfe des militärischen Computernetzwerks die Kontrolle über ein Waffensystem zu übernehmen."

Ein ungemütliches Raunen der meisten Teilnehmer erfüllte den Raum. Präsident Obama hob die Hand, worauf das Murmeln verstummte, und sagte "Bitte erklären Sie uns, wie so etwas möglich sein kann. Ich habe immer gesagt bekommen, in unsere streng überwachten und extrem abgeschotteten Computernetzwerke kann niemand eindringen!".

Er schaute böse den Tisch hinunter. Kathy sah in die gleiche Richtung, auf den gegenwärtigen Direktor der NSA, General Alexander. Neben ihm, doch gerade um räumliche Distanz bemüht, saß die Chefin der allmächtigen Sicherheitsbehörde, Secretary of Homeland Security Janet Napolitano. Diese Behörde war als Reaktion auf die Anschläge vom 11.September 2001 gegründet worden und hatte sich seitdem zu einem Staat im Staate entwickelt - mit mehr Befugnissen, als sie jemals zuvor eine andere Einzelbehörde in den Vereinigten Staaten erhalten hatte.

"Sir," begann sie, "wenn wir von einem militärischen Netzwerk reden, meinen wir zwei Dinge. Zum einen die Hardware: Satelliten im internationalen Bereich, spezielle Glasfaserkabel innerhalb der USA. Alle diese Verbindungen sind redundant, das heißt, mindestens doppelt vorhanden an jedem Anschlusspunkt innerhalb unseres eigenen Territoriums. Die Knotenrechner stellen jeweils fest, welche der mehrfachen Verbindungen die schnellste ist, und benutzen diese, um ihre Datenpakete weiterzusenden. Aus Ersparnisgründen haben wir aber bei Auslandsverbindungen nicht jeden Kanal doppelt ausgelegt."

Einige der Zuhörer nickten beifällig, andere schüttelten den Kopf oder schauten genervt. "Ich meine das mit der Ersparnis nicht in negativem Sinne. Wir haben bei der Einrichtung des militärischen Netzwerkes nämlich auch die Kosteneffizienz berücksichtigt. Eine wichtige Basis wie Guam ist an das Netz über mindestens zwei unterschiedliche Satellitennetzwerke angeschlossen, sie hat zusätzlich wegen der Störanfälligkeit dieser Systeme eine eigene Glasfaserverbindung zu anderen Basen. Soweit ich weiß, ist Guam als Eingangsknoten zu unserem Glasfasernetz in Asien direkt über eine Unterseeleitung mit Hawaii verbunden."

 Sie blickte General Northman an, der zustimmend nickte, und fuhr dann fort. "Diese Glasfaserverbindung kostet enorm viel Geld und ist deshalb nur einfach vorhanden, und nicht einmal diese einfache Verbindung ist ausgelastet. Bei den Auslandsverbindungen haben wir eine zusätzliche Redundanz dadurch erzielt, dass unsere eigenen Knotenrechner, aber nur dann, wenn kein anderer Weg mehr offensteht, die Weiterleitung der Datenpakete über öffentlich zugängliche Netzwerke, bis hin zu Telefonleitungen, vornehmen. Als besonders effizient hat es sich dabei erwiesen, das öffentliche Computernetz zu verwenden."

Ein paar Teilnehmer schauten ungläubig, während Obama keine Reaktion zeigte. Sicherheitsberater McDonough beugte sich zum Präsidenten und flüsterte ihm etwas zu, worauf auch Präsident Obama ziemlich konsterniert schaute "Sie erzählen uns gerade, dass wir geheime militärische Informationen und Befehle über das öffentliche Internet verschicken?"

"Sir, erstens tun wir das nur, wenn unsere eigenen Leitungen nicht funktionieren. Und zweitens werden die übertragenen Informationen natürlich so verschlüsselt, dass niemand außer unseren eigenen Leuten sie wieder lesen kann. Dafür garantiert die NSA!" sprang ihr Direktor Alexander bei.

"Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, das kann man so nicht sagen!" entfuhr es Kathy. Nicht nur Präsident Obama starrte sie an, sie hätte in der Tat ein zweiköpfiges marsianisches Monster sein müssen, um noch mehr Aufmerksamkeit zu genießen.

"Alle Daten, die durch das Internet gehen, können von jedem gelesen werden. Und zwar, wenn es sein muss, weltweit. Das einzige, was wir mit der Verschlüsselung erreichen, ist dass der Zeitaufwand für das Lesen der Daten im Klartext so anwächst, dass sie keinen Wert mehr besitzen, wenn man sie mit Gewalt entschlüsselt hat."

"Commander, wir sind keine Techniker und keine Mathematiker. Können Sie das so darstellen, dass es auch ihr Präsident versteht?" fragte Obama mit einem Grinsen.

Kathy war in ihrem Element. "Ja, Sir. Gibt es hier so etwas wie eine Tafel?"

Ihr Nachbar, ein grauhaariger Gentleman mit dem Aussehen eines Harvard-Professors beugte sich zu ihr und zeigte auf ein schwarzes Rechteck, das vor ihr in die Tischplatte eingelassen war. "Schreiben Sie hier mit diesem Lichtgriffel", sagte er.

Kathy nahm den Lichtgriffel und warf schnell ein paar Zahlen auf das schwarze Rechteck. Sie erschienen dort als weiße Linien, und sie erschienen schwarz auf weiß auf dem riesigen Bildschirm an der Wand. "Sehen Sie, die von uns verwendeten Verschlüsselungsverfahren beruhen auf Primzahlen. Das sind Zahlen, die nur durch Eins und durch sich selbst teilbar sind: 1,3,5,7,11,13,17 sind die ersten Primzahlen, und es gibt unendlich viele von ihnen. Nun kann jede nur vorstellbare ganze Zahl auf genau eine Art und Weise als Produkt von solchen Primzahlen geschrieben werden. 77 etwa lässt sich schreiben als 7 mal 11. Für 77 ist es ganz einfach, die sogenannten Primfaktoren zu erraten. Nehmen sie aber eine längere Zahl, sagen wir acht Stellen lang, dann ist es schon komplizierter, und sogar ein Computer braucht ein paar Mikrosekunden für ihre Zerlegung." Sie schrieb das spezielle Beispiel, das sie seit Jahren für solche Präsentationen parat hatte, auf die schwarze Platte und sah es riesenhaft vergrößert auf der Bildschirmwand:

8147·7523 = 61289881

Sie fuhr fort: "Für die Verschlüsselung militärischer Nachrichten verwenden wir Algorithmen mit etwa 200-stelligen Zahlen. Für deren Zerlegung braucht ein Supercomputer viele Millionen Jahre. Um es kurz zu fassen: Die Sicherheit unserer Kommunikation beruht darauf, dass wir Rechenverfahren anwenden, die in einer Richtung" - sie ersetzte das Gleichheitszeichen durch einen Pfeil:

8147·7523  --> 61289881

"sehr leicht funktionieren. In der anderen Richtung aber" - sie malte noch eine Pfeilspitze dazu:

8147·7523  <--> 61289881

"extrem langwierig sind."

Direktor Alexander unterbrach sie, "Commander, diese technischen Einzelheiten interessieren uns hier weniger. Selbst, wenn jemand unsere Nachrichten mit einigem Zeitaufwand lesen könnte, könnte er sie dennoch nicht verfälschen oder gar in unser Netz einspeisen."

"Sir, das geht doch, wenn man erst einmal die Verschlüsselung knacken kann. Und die Einspeisung in unser Netz ist möglich, denn wir haben darin an bestimmten Stellen Knotenrechner eingebaut, die auf Pakete aus dem Internet lauschen. Wenn sie die richtige Signatur tragen, werden sie in unser militärisches Netz weitergeleitet. Das ist genau das, was wir mit der Nutzung des Internet beabsichtigt haben."

Die Anwesenden versuchten, diese Informationen zu verstehen. Der grauhaarige Mann neben ihr meldete sich zu Wort. "Heißt das, ein Hacker aus dem Internet kann, wenn er nur gut genug ist, einen Nuklearschlag gegen China auslösen?"

Kathy sah unbehaglich drein und blickte zuerst den Präsidenten an, dann aber ihren Chef. Obama folgte ihrem Blick.

"Direktor Alexander, würden Sie diese Frage bitte beantworten?" sagte Denis McDonough in gefährlicher Ruhe.

Alexander sah auf den Tisch vor sich, das Schweigen im Raum war absolut und zog sich über mehrere Sekunden. Schließlich raffte er sich auf. "Sir, im Prinzip ja. Dafür müsste er aber sämtliche Supercomputer der Vereinigten Staaten parallel für tausende von Jahren arbeiten lassen, und zwar ausschließlich für diesen Zweck. Die NSA beschäftigt mehrere tausend Mathematiker, die dafür sorgen, dass wir immer über den aktuellen Stand der Forschung informiert sind. Mehr noch, wir sind dem Rest der Welt immer um mindestens zwei Längen voraus. Die NSA ist die führende Einrichtung auf diesem Gebiet."

"Dr. McGuire, sind die technischen Informationen, die zu dieser Einschätzung führen, vollständig?"

Kathy riskierte einen Seitenblick auf General Alexander, der sich um ein neutrales Gesicht bemühte "Ja, Mr. President. Diese Aussagen sind korrekt".

Sie machte eine kurze Pause, und fuhr dann fort "Jedenfalls, soweit wir wissen."

 Obama blinzelte und schaute hilfesuchend seinen Sicherheitsberater an. Mit beißendem Sarkasmus eröffnete dieser der Runde: "Das heißt also, entweder sind Außerirdische am Werk, oder es gibt etwas im Internet, das die NSA übersehen hat. Ich schlage vor, dass wir sofort auch den zivilen Bedrohungsstatus des Department of Homeland Security auf Grund terroristischer Gefahren von Blau auf Rot erhöhen."

Der Kommunikationsoffizier war unterdessen zu General Northman getreten und hatte ihm einen Ausdruck des Computers vorgelegt. "Sir, wir haben eine neue Entwicklung. Wollen Sie sich das bitte einmal ansehen? Major, legen Sie den Text auf den Schirm". Die Runde las die Nachricht auf dem riesigen Wandbildschirm, und Präsident Obama machte ein besorgtes Gesicht.

Der 'Red Alert' Alarmton des Raumschiffs Enterprise weckte Christian Santer aus tiefem Schlaf. Er hatte seinen Laptop programmiert, ihn mit diesem Ton auf bestimmte einlaufende E-Mails hinzuweisen. Chris hatte am späten Abend einen Job auf die Hochleistungsrechner des Königlichen Technologischen Institutes KTH in Stockholm abgesetzt, der ihm nach seiner eigenen Beendigung automatisch eine solche E-Mail senden würde. Nach den letzten Schätzungen - als er sie angestellt hatte, war er aber auch schon ziemlich weggetreten gewesen - hätte dies ungefähr um 8:00 Uhr morgens sein sollen. Er fluchte laut, als er auf die Uhr sah, denn tatsächlich war es erst kurz nach Mitternacht. Wahrscheinlich war Santers Versuch, die Bewegung eines Clusters von 50 Atomen in einem Magnetfeld auszurechnen, zum dreihundertsten Mal schiefgelaufen.

Mit seiner Doktorarbeit war er deshalb schon ein halbes Jahr im Verzug, und das ging ihm gewaltig auf den Geist. Schließlich war am Jahresende Schluss mit seinem Vertrag, und er wäre gezwungen, neben dem Studium eine geldbringende Arbeit zu suchen oder die Physik an den Nagel zu hängen. Nicht, dass er damit alleine gewesen wäre: Als Naturwissenschaftler war es immer noch eine Frage des Glücks, nicht der persönlichen Begabung, eine feste Anstellung in der Forschung zu finden. Klar, dass nur extreme Enthusiasten sich diese Ochsentour antaten, ohne eine auch nur einigermaßen reale Chance auf eine Zukunft zu haben. Dennoch gab es 2015 so viele Physikstudenten wie nie zuvor. Denn Physiker wurden nicht nur in der Forschung gebraucht, besonders in der Informatik fanden viele ein gutes Auskommen.

Aufgrund der Sparzwänge an den Universitäten gab es dennoch immer weniger feste Stellen, besonders im akademischen Mittelbau, denn Professoren kann man im allgemeinen erst dann einsparen, wenn sie freiwillig in Pension gegangen sind. Insbesondere für die Physik führte das zu einer katastrophalen Lage. Einerseits gab es eine extrem schnelle technische Entwicklung im Bereich der Elektronik und Computertechnik, die immer neue Investitionen in Hardware für Experimente und Berechnungen erforderte. Andererseits wurden die Mittel knapper, es fehlte das Geld für Menschen, um die Maschinen sachkundig am Laufen zu halten.

Naturwissenschaftliche Forschung in Europa, bis 1995 auf dem Weg, die während des kalten Krieges an die USA verlorene Führung wieder zu gewinnen, fiel erneut weit zurück. Die von selbsternannten Umweltexperten immer weiter auf die Spitze getriebene Kritik an Biotechnologie, Nuklear- und Chemieforschung hatte das gesellschaftliche Ansehen der Naturforschung auf ein nie dagewesenes Minimum reduziert.

Während Doktoranden mit industrienahen Themen bequeme Stipendien erhielten, blieb für Leute wie Christian Santer nur eine kümmerliche Drittelstelle, und diese auch nur wegen seiner Verwaltertätigkeit für die Rechner des Königlichen Technologeieinstitutes KTH in Stockholm. Na, und damit musste er sich auch noch das Wochenende um die Ohren schlagen, denn letzte Woche war er bei seinen Eltern in Deutschland gewesen - und in seiner Abwesenheit brannte natürlich wieder alles.

Sein Tag war heute mit genau dieser Tätigkeit so sehr gefüllt gewesen, dass für die Doktorarbeit wieder nur die Abendstunden geblieben waren. Als er um 23:00 Uhr fertig war und seine Rechenbefehle abschickte, hatte er mutlos überlegt, ob er ins Studentenwohnheim zurückgehen sollte. Dort würde jetzt in den Semesterferien wieder die Hölle los sein, mit vielen jungen Leuten aus ganz Europa, die billige Unterkunft für ein paar Tage gefunden hatten. Keiner wäre müde vom Arbeiten und die Musik würde ihn bis in die späte Nacht wachhalten. Chris hatte darum beschlossen, gleich am Schreibtisch einzuschlafen, bequem auf dem großen Kippstuhl.

Mit einem Ruck setzte er sich nun in diesem Stuhl auf, und stellte prompt seinen bestrumpften Fuß in den Pizza-Karton vom Abendessen. Wie es der Teufel wollte, natürlich genau auf das Stück, das er nicht gegessen hatte.

"So ein Mist," entfuhr es ihm, dann puhlte er die Pizza vom Fuß und zog mit angewidertem Gesicht die Socke aus. Der Alarmton war nur auf eine Minute eingestellt und darum längst verstummt, als er endlich den Stuhl näher an den Schreibtisch rückte, um sich die Sache genauer anzusehen.

Chris sah auf den ersten Tastendruck, dass sein Rechenjob immer noch laufen musste. Er hatte den Alarmton nur für seine tägliche Arbeit aktiviert - und für eines seiner Hobbies. Dieses Hobby war im Laufe der Zeit entstanden, aus einer Wette an der Technischen Universität Berlin, wo er studiert hatte. Einer seiner Dozenten hatte behauptet, passend zum Maya Kalender würde spätestens bis zum Jahr 2012 irgendwo in der Welt noch eine nukleare Explosion zu kriegerischen Zwecken stattfinden.

Chris hatte dagegen argumentiert, und spontan hatten sie sich auf eine Wette um eine Flasche Sekt geeinigt. Aus den ersten Recherchen im Netz war aber bei Chris ein echtes Interesse an dem Thema der Proliferation, dem Export von Nukleartechnologie in andere Länder, entstanden. Der Dozent war längst nicht mehr an der Universität, er war in die Computerindustrie abgewandert und leitete irgendwelche Projekte im Flugzeugbau. Chris hatte nur noch seine E-Mail-Adresse bei der EUDAS, der European Defense, Aeronautical and Space Corporation, die auf einer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Peter A. Henning
Bildmaterialien: Jacqueline Henning
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2013
ISBN: 978-3-7309-3605-4

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