Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um einen historischen Roman, angelehnt an Ereignisse, die im Dorfleben der achziger Jahre tatsächlich geschehen konnten. Allerdings ist Winzerdorf frei erfunden. Es liegt nicht in der Nähe von Freiburg und Emmendingen. Auch bei den handelnden Personen wäre jede Namensähnlichkeit der Charaktere mit lebenden oder schon toten, real existierenden Personen rein zufällig.
Es war Sommer. Die weißen Blüten des falschen Jasmin verstömten ihren schweren, süßen Duft über unserem Garten und draußen auf der Straße erklang das scharrende Geräusch von Rollschuhen auf dem Asphalt und Kinderlachen erfüllte die warme Abendluft.
Da stand er in der Tür zum Hof, in einem abgerissenen, nicht ganz sauberen T-Shirt und einer kurzen blauen Sporthose. Auf dem Kopf trug er eine Baseballmütze aus blauem verwaschenem Jeansstoff mit einem Aufdruck, dessen Bedeutung ich erst später erfahren sollte. Die Füße steckten in offenen Badelatschen. Kurz, auf den ersten Blick bot er wirklich keine eindrucksvolle Erscheinung. Nie hätte ich in diesem ersten Augenblick geglaubt, wie viel in diesem Mann steckte.
„Wer ist das denn“, dachte ich bei mir, aber Paul kannte ihn offensichtlich, denn er sagte: „Ach, Herr Hauser, kommen sie doch herein.“
Er betrat unseren Garten und reichte mir die Hand. So begann für mich ein Abenteuer, das ich nicht so schnell vergessen sollte, das sogar mein ganzes Leben veränderte. Die Einzelheiten jenes ersten Gesprächs möchte ich den Lesern ersparen, aber es ging um eine kommunalpolitisch heiß umkämpfte Maßnahme, gegen die etwa die Hälfte des Dorfes Sturm lief.
Paul hatte sich schon immer gerne in der Kommunalpolitik engagiert und so waren die Beiden miteinander bekannt geworden.
Die Politik beschäftigte uns noch manchen langen Abend auf unserer Terrasse in jenem Sommer und so wurden wir mit dem rätselhaften Fremden näher bekannt. Er verstand eine Menge von Kommunalpolitik und half mit alten Flugblättern von Bürgerinitiativen aus. Aus seinen Augen blitzte ein intelligenter Geist, er war witzig, aber in der Sache unerbittlich.
Eines Abends, wir kamen gerade mit einer großen Fuhre Brennholz für unseren Kaminofen nach Hause, stand er wieder in der Tür zum Hof, durch die wir gerade bergeweise gut abgelagerte Äste und Zweige aus dem nahegelegenen Wald schleppten: „Na, sie rechnen wohl mit einem kalten Winter?“
„Man kann nie wissen, außerdem liebt meine Frau die lauschigen Abende am Kaminofen,“ antwortete Paul.
„Kann ich sie mal in einer Herzensangelegenheit sprechen?“ fragte Hauser.
„Aber natürlich, wir haben immer ein offenes Ohr“, antwortete ich, denn wir hatten den klugen Kopf hinter der abgerissenen Fassade inzwischen zu schätzen gelernt. „Nehmen Sie doch Platz“, bot ich ihm an und fragte nach einem Getränkewunsch. Wie immer bat er um eine Limonade, noch nie hatte er sich einem Glas Wein oder Sekt angeschlossen. „Ich bin überzeugter Antialkoholiker geworden“, war seine Begründung.
Da saß er nun und rang sichtlich mit den Worten. Er drehte den Deckel der Limonadenflasche in den Händen und kniebelte der Verschlussrand ab. „Sie wissen, dass wir kommunalpolitisch ähnliche Vorstellungen haben, und es für diese Gemeinde wichtig wäre, einige Weichen neu zu stellen. Und - im nächsten Frühjahr sind doch Bürgermeisterwahlen. Würden Sie meinen Wahlkampf unterstützen, wenn ich antreten würde?“
„Warum nicht?“ antwortete Paul. Mit dem Deckel der Limonadenflasche klopfte sich Hauser an die Zähne. Er zögerte. Dann brach aus ihm heraus: „Nun, bevor sie sich darauf einlassen, sollten sie einige Dinge über meine Vergangenheit erfahren.“
Dieser Satz war der eigentliche Anfang für die hier erzählte, unglaubliche Geschichte, die mir Berge von studierten Akten einbrachte und meinen Glauben in die Gerechtigkeit von Gerichtsprozessen und an die unbedingte Ehrlichkeit von Verwaltungsangestellten und gewählten Volksvertretern tief erschütterte.
Als Götz in den Wirren nach dem 2. Weltkrieg in Freiburg geboren wurde, fühlte sich seine Mutter überfordert. Sie hatte das Kind nicht gewollt und konnte sich auch nicht vorstellen, mit dem Mann, der Götz Vater war, zusammenzuleben. Das Kind war in einer Bombennacht entstanden und jetzt, so kurz nach dem Krieg nur schwer zu versorgen. Außerdem war Götz Vater krankhaft eifersüchtig und unterstellte seiner schönen blonden Frau immer wieder Affären mit Amerikanern, die in dem Restaurant, in dem sie arbeitete, ein und aus gingen.
Immer wieder stritt sie heftig mit Götz Vater und er schlug sie sogar. Das war zuviel und so packte sie ihre Sachen und verließ Sohn und Vater. Letzterer wusste mit einem Bündel Windeln aber auch nichts anzufangen, obwohl er nach Götz Geburt auf das Sorgerecht bestanden hatte. So kam Götz in ein Kinderheim und von dort zu diversen Pflegefamilien. Er war schon als Junge nicht leicht zu haben und schien Unfälle magisch anzuziehen.
Einmal holte er sich beim Schlittenfahren eine schwere Gehirnerschütterung, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Schnee gab es nicht jedes Jahr und wenn einmal genug Schnee lag, dann freuten sich alle Kinder sehr und konnten es kaum erwarten ins Freie zu kommen. In dem Dorf, in dem Götz in diesem Jahr untergekommen war, gab es einen wunderbaren Schlittenhang. Genug Gefälle, um Schwung zu bekommen, den Wind im Gesicht zu spüren und Spaß zu haben. Der einzige Nachteil war, dass sich dirket am Fuß des Hangs die Mauer eines Bauerngehöftes erhob, aber der Bauer war den Kindern wohlgesonnen und wenn man rechtzeitig eine Kurve fuhr, dann stellte die Mauer auch kein Problem dar.
Götz war noch nie zuvor mit dem Schlitten gefahren. Wo er wohnte, gab es entweder keinen Hang oder keinen Schnee. Aber sein Pflegeeltern hatten einen Schlitten und erlaubten dem Jungen damit hinauszugehen. Sie hatten ja keine Ahnung, wie unbedarft der Junge war, denn er war noch nicht lange bei ihnen. Woher sollten sie wissen, dass er keine Ahnung hatte, wie man Schlitten fährt. Sie hatten keine Zeit mit ihm auf den Schlittenhang zu gehen. Außerdem war er doch alt genug alleine draußen zu spielen. So zog Götz seinen Schlitten stolz hinter sich her und erklomm wie alle anderen den Hang. Dann stand er oben und beobachtete das Treiben der anderen Kinder. Die Mauer am Fuß der Abfahrt beunruhigte ihn, aber die anderen Kinder schienen sich nicht an ihr zu stören. Sie sausten munter rechts und links an dem Haus vorbei. Also stieg auch Götz auf seinen Schlitten und stürzte sich die Abfahrt hinunter. Dummerweise machte sein Schlitten keine Kurve, wie er es erwartet hatte, sondern raste direkt auf das Haus zu. Bevor er noch die Notbremse ziehen und sich vom Schlitten werfen konnte, prallte er frontal an die Wand. Erst im Krankenhaus schlug er die Augen wieder auf.
Ein anderes Mal schoß er mit einem Stein einem anderen Kind beinahe das Auge aus. Natürlich nicht mit Absicht, vielmehr war ihm beim flitschen von Steinen an einem Tümpel der Stein unglücklich aus der Hand gerutscht, als er gerade ausholte. Die Eltern des getroffenen Kindes aber machten einen großen Aufstand aus dem blauen Auge ihres Kindes und Götz fühlte sich entsetzlich schuldig. Die Reaktion der Pflegeeltern tat ein Übriges um ihn zu überzeugen, dass er irgendwie ein schlechtes Kind war.
Denn ein Kind, das so gefährliche Dinge tut, war seinen Pflegeeltern zu anstrengend. So hieß es wieder einmal umziehen. Dabei hatte er sich bei dieser Familie wirklich wohl gefühlt. Es wurde viel vorgelesen, besonders Märchen und in Götz Fantasie nahmen die Märchengestalten ganz menschliche Züge an. Außerdem wurde in der großen Küche oft und gerne gekocht und Marmelade und andere Vorräte, bei deren Zubereitung er half, erfüllten den Raum immer mit den köstlichsten Düften.
Oft saß man nach anstrengenden Arbeitstagen lange an dem großen, glatt gescheuerten Massivholztisch in der Küche und erzählte. Die Alterungsflecken auf dem Tisch verwandelten sich in Götz Phantasie oft in die Gestalten aus den Märchen. Dort der bucklige Zwerg aus Rumpelstilzchen, da die Krone eines Königs und hier die roten Verfärbungen sahen aus wie die Krallen an der Hand einer bösen Hexe. Rote Krallen, das war die grundlegende Vorstellung, die Götz von den Händen einer Hexe entwickelt hatte.
Und ausgerechnet eine Frau mit solchen Krallen, beziehungsweise eigentlich nur mit rot lackierten, langen Fingernägeln, hatte sein Vater als nächste Pflegemutter auserkoren.
Man traf sich in einem vornehmen Café, Götz trug einen Matrosenanzug und sein Haar war ordentlich gescheitelt und zurückgekämmt, was bei dem Lockenkopf gar nicht so einfach gewesen war. Sein Vater hatte ihm eingeschärft, brav zu sein und keinen Unsinn anzustellen.
Als er aber die Hände der Frau sah, die ihn mitnehmen sollte, tobte Götz im Café herum, plapperte dazwischen, als sich sein Vater mit der Dame unterhielt und zog sogar die Tischdecke von einem der Nachbartische. Er war fest entschlossen, deutlich zu machen, dass er nicht die Art Kind war, die man haben wollte. Vor seinem inneren Auge stand die Geschichte von Hänsel und Gretel und freiwillig würde er bestimmt nicht mit einer Hexe in ihr Hexenhaus gehen.
Tatsächlich ließ sich die Dame abschrecken und Götz erlebte ein unglaubliches Donnerwetter ob seiner Ungezogenheit.
Insgesamt sechsmal musste Götz in seiner Kindheit die Koffer packen. Immer wieder neue Bezugspersonen ertragen, was natürlich auch den Umgang mit ihm nicht leichter machte. Er wurde einmal evangelisch, ein anderes Mal katholisch erzogen. Dieses Schicksal traf ihn in dieser Zeit zwar nicht alleine, denn viele Kinder seiner Generation teilten es. Aber Götz empfand sein Leben als lieblos, er wünschte sich nichts mehr, als die Rückkehr seiner Mutter. Er glorifizierte sie. Sie musste ein Engel gewesen sein, und irgendwann würde sie sicher zu ihm zurückkommen.
Als Teenager nahm sein Vater ihn endlich doch noch zu sich, angeblich weil er bei keiner Pflegefamilie gut getan hatte. Er wollte aus seinem Sohn trotz allem noch ein nützliches Glied der Gesellschaft machen. Dazu hielt er den jungen Mann extrem kurz. Götz musste seinem Vater den Haushalt führen, für ihn putzen, kochen und einkaufen. Und er wurde in die Kirche geschickt. Dort sollte er als Ministrant Demut lernen.
Um einen harten Mann aus ihm zu machen, beschäftigte der Vater den Jungen auch viel in seinem Garten. Im Winter schickte er ihn gerne, wenn es geschneit hatte los, um Feldsalat zu pflücken. Feldsalat ist heikel und muss mit der Hand geerntet werden. Götz befreite also die entsprechenden Beete vorsichtig mit bloßen Händen vom Schnee, damit er sehen konnte, was er erntete. Dann lief er mit klammen Händen nach Hause, um den Salat zu waschen und das Essen zu bereiten.
Wenn dann der Sand zwischen den Zähnen des Vaters knirschte, wurde dieser cholerisch: „Nicht einmal Salat kannst Du richtig waschen. Ich wusste es. Du bist nur das Kind einer amerikanischen Hure. Wie sollte ich Dein Vater sein, so etwas wie Dich hätte ich wohl kaum gezeugt. Nur aus Menschenliebe habe ich dich bei mir aufgenommen, und wie dankst Du es mir?“
Dann prasselten die Schläge auf Götz nieder.
Götz versuchte daraufhin, es besser zu machen. Er hatte eine wunderbare Idee. Als er das nächste Mal Feldsalat holen musste, ging er damit ins Bad und wusch ihn mit der Dusche.
Aber auch das war dem Vater nicht recht. „Meinst Du Wasser kostet nichts? Wie kannst Du es wagen, soviel davon zu verschwenden?“ Wieder bekam er Schläge.
Einmal nahm er sich ein Herz und fragte: „Kann man den Feldsalat nicht in Reihen pflanzen, dann hätte ich es leichter mit der Ernte?“
Statt der Auforderung: „Versuchs!“ prasselten wieder Schläge auf ihn nieder. Ob seiner vermeintlichen Faulheit.
Wie wunderbar ruhig ging es im Gegensatz zu seinem Heim in der Kirche zu. Bald fühlte er sich dort mehr zu Hause als in der Ein-Zimmer-Wohnung, in der er wohnte. Außerdem wurde dem exzellenten Lateinschüler dort mit Respekt begegnet. Er bekam das Gefühl, doch etwas wert zu sein. Die Anerkennung war ihm wichtig und er gehörte dazu. Er hatte seinen Platz und dafür war er dankbar. Zu Hause hatte er nämlich keinen. Sein Bett, sofern man die Pritsche, auf der man eigentlich zum Essen am Tisch saß, so nennen konnte, stand in der Küche, einen anderen Raum gab es in der väterlichen Bleibe nicht für ihn. Oft litt der Heranwachsende Junge Hunger. Besonders nach der Beichte am Samstag Abend, wenn ihm untersagt war, vor der Messe und Kommunion am Sonntag morgen noch etwas zu essen.
Es fiel ihm schwer, seinem Hunger nicht nachzugeben, besonders, als es bei Hausers Sonntags immer Gulasch gab. Dieses wurde am Samstag gekocht und stand, still vor sich hin duftend in der Küche, direkt neben dem Bett, in dem Götz schlief. Wenn er Glück hatte, war das Fett im Gulasch noch nicht fest, wenn er sich zur Ruhe begab. Dann fischte er vorsichtig, möglichst ohne Spuren zu hinterlassen, einige Fleischstücke aus der Soße, um seinen schlimmsten Hunger zu dämpfen. Einmal war er zu spät dran. Das aus der Soße geholte Fleisch hinterließ eine verräterische Delle in der Oberfläche des Topfinhaltes. Aber es war schon zu spät. Er hatte es verschlungen.
Am nächsten Morgen bemerkte Götz Vater den Diebstahl. Neben der Prügel, die Götz mannhaft über sich ergehen ließ, folgte eine noch viel schlimmere Strafe. Er durfte nicht zur Kommunion gehen. Diese Demütigung vor der ganzen Gemeinde, konnte er seinem Vater nur schwer verzeihen.
Er stahl nie wieder Fleisch. Aber der Hunger ließ ihm keine Ruhe. Deshalb machte er sich über die Marmeladenvorräte seines Vaters her. Diese Marmelade musste er jeden Sommer selbst einkochen. Deshalb sah er sie auch ein wenig als sein Eigentum an. So leerte er in mancher Samstagnacht ein halbes Glas Marmelade pur, mehr vertrug der beste Magen nicht. Den Rest versteckte er auf dem Dachboden über einem Balken. Viele Jahre später, als er nach dem Tod seines Vaters die Wohnung entrümpelte, entdeckte er, dass immer noch ein uraltes Glas, halb gefüllt mit inzwischen verrotteter Marmelade über jenem Dachbalken stand. Unwillkürlich musste er lächeln, er fühlte sich unsagbar frei in diesem Moment.
Als er seinen Schulabschluss in der Tasche hatte, bestand sein Vater darauf, dass er bei der Stadt eine Verwaltungslehre machen sollte. Hier würde er Ordnung und Disziplin lernen. Das waren die wichtigsten Tugenden für den Vater, dessen Beruf der eines Polizisten war.
Götz, der sich immer von seinem Vater unterdrückt gefühlt hatte und die erzkonservativen Ansichten seines alten Herrn hasste, schloss sich der Sozialdemokratie an. Da die katholische Kirche dem jungen Mann seine Fragen nicht beantwortete, sondern nur Gehorsam den Dogmen gegenüber forderte, kehrte er ihr den Rücken. Gehorsam, dass hatte schon sein Vater gefordert, wo er nach Antworten gesucht hatte. Er wurde Gewerkschaftsmitglied und politisch aktiv. Besonders die Bildungspolitik hatte es ihm angetan, weil er fest daran glaubte, bessere Bildung und Information der Menschen täte Not. Er engagierte sich in der Jugendarbeit und kümmerte sich um die Ohnmächtigen. Seine Ausbildung absolvierte er mit guten Ergebnissen.
Nach der Ausbildung wurde er ins Finanzreferat geholt. Er war während seiner Ausbildung durch seine Flexibilität und Kreativität aufgefallen und solche Mitarbeiter wurden gebraucht. (Er bekam die Stellung eines ZBV, also einer Person zur besonderen Verwendung. Das heißt, er bekam Aufträge, für die sonst niemand zuständig war. Wenn die Stadt zum Beispiel ein Gebäude zum Kauf angeboten bekam, wurde Götz gefragt, welche Konsequenzen so ein Kauf hätte. Wofür könnte die Stadt das Gebäude brauchen? Wie sind die Kosten? Welche Auflagen gibt es? Steht das Gebäude unter Denkmalschutz? Wo liegen die Risiken?
Kam die Stadt auf die Idee aus Kostengründen die Müllabfuhr privatisieren zu wollen, musste Hauser das Für und Wider beleuchten.
Sollte ein Vorort eingemeindet werden, war es seine Aufgabe herauszufinden, was dafür und was dagegen sprach, und was die finanziellen Konsequenzen so einer Entscheidung waren. Es war eine harte Schule, weil von Anfang an erwartet wurde, dass er solche Projekte selbständig bearbeitete und selbst heraus fand, was alles zu beachten war. Dadurch gewann er aber auch an Selbstvertrauen. Er lernte, dass ihm diese Arbeitsweise gefiel. Und er war erfolgreich.
Eine der Aufgaben, die er jedes Jahr wieder übertragen bekam, wahrscheinlich, weil niemand sich darum riss war, in der Vorweihnachtszeit eine Erinnerung an alle Mitarbeiter zu schreiben, dass die Annahme von Geschenken oder Vorteilen untersagt war, auch wenn es nur um eine Flasche Wein ging. Dies ging ihm so in Fleisch und Blut über, dass er glaubte, es könne keine korrupten Mitarbeiter in öffentlichen Verwaltungen geben.
Bis 1974 hatte er es immerhin zum Stadtoberinspektor gebracht. Seine Tätigkeit ging von allgemeinen Verwaltungsaufgaben über die organisatorische Vorbereitung von Sitzungen und deren Niederschrift, bis zur Arbeit als Fachbeamter für das Finanzwesen der Stadt. Dazu gehörte zum Beispiel das Aufstellen des Haushaltsplanes der Stadt. Er war als vielseitig interessierter, intelligenter Mitarbeiter geschätzt. Aber auch als Dickschädel gefürchtet.
Als man beim Regionalverband Südlicher Oberrhein einen guten Mann suchte, fiel deshalb auch sein Name, allerdings nur als zweite Wahl, weil er als Mitglied der SDP das falsche Parteibuch hatte. Da aber der Kandidat der Regierungspartei zurück trat, bekam er den Job. Deshalb wechselte er 1974 von der Stadt Freiburg zum Regionalverband. Er hatte inzwischen eine eigene Familie gegründet und obwohl er nicht schlecht verdiente, lebte man bescheiden. Schließlich wollte er nicht ewig mit seiner Familie in einer Mietwohnung leben und sie hatten in Altenreut eine hübsche Eigentumswohnung entdeckt, die man gerne kaufen wollte. Deshalb versuchten Götz und Franziska das Geld zusammen zu halten. Eines Tages bekam Götz eine neue Kollegin. Sie war aus Berlin und erzählte Götz von ihrem Heimweh und ihrer Unsicherheit, ob sie über die Probezeit hinaus in Baden bleiben sollte.
„Deshalb habe ich meine Wohnung in Berlin noch behalten,“ erklärte sie.
„Haben sie die Wohnung denn solange vermietet?“
„Nein, sie steht leer.“
„Was, das ist ja toll. Würden sie mir die Wohnung vielleicht vermieten. Ich wollte schon lange mal nach Berlin und über die Weihnachtsfeiertage wäre mir eine Bleibe dort gerade recht.“
"Meine Wohnung ist aber nichts besonderes."
„Das macht nichts, wir sind nicht so anspruchsvoll. Und ich zahle ihnen für die Zeit die Miete. Das wäre doch auch für sie eine Hilfe.“
So wurde man handelseinig und die Familie packte die Koffer, um den Jahreswechsel in Berlin zu verbringen. Vanessa war gerade 4 Monate alt, Torsten ein munteres Kleinkind.
Als sie in Berlin ankamen und Franziska die Wohnung sah, in der sie jetzt, wenn auch nur kurzfristig leben sollte, traf sie fast der Schlag. Die Wohnung lag im Wedding in einem Hinterhof, also in einer Gegend mit vorwiegend A-Bevölkerung, wie es die Soziologen zu bezeichnen pflegen: Ausländer, Arbeitslose und Arme. Und das mit zwei kleinen Kindern. Außerdem war es eine Studentenbude, winzig und ziemlich verwahrlost. Dazu kam auch noch wirklich bescheidenes Wetter, nass und kalt. Man konnte also nicht viel unternehmen, aber in der engen Wohnung war es unerträglich, deshalb verbrachten Götz und Franziska viel Zeit auf dem Kurfürstendamm.
Dort in einem Schaufenster hing ein Hosenanzug, in den sich Franziska auf den ersten Blick verliebte, für gerade einmal 600 DM. Ein unvorstellbar hoher Preis für ein Kleidungsstück, besonders wenn man zwei Kinder von einem Gehalt großzuziehen hatte. Nach Weihnachten, als die Geschäfte wieder geöffnet hatten, wollte Franziska ihn aber dennoch einmal anprobieren: „Nur einmal rein schlüpfen,“ bat sie und so betraten sie den Laden. Als Franziska aus der Umkleidekabine trat, strahlten ihre Augen. Der Anzug passte wie angegossenen und stand ihr sehr gut. Er bestand aus dunkel bordeauxrotem Samt, der gut mit ihrer dunklen Haarfarbe und dem braunen Teint korrespondierte. Die gerade geschnittene Jacke mit Reißverschluss wurde oben von einem breiten hellbraunen Webpelzkragen gekrönt, der sich zum Rollkragen aufstellen ließ. Ein ebensolcher Besatz schmiegte sich um die Handgelenke. Die Hose hatte die damals moderne Schlagform, der Keil war ebenfalls aus Webpelz zugeschnitten.
Es war also nicht so, dass man sagen konnte: „Das Kostüm steht dir nicht oder passt dir nicht.“
Aber dadurch wurde es nicht bezahlbarer. Mit großem Bedauern gab sie den Anzug an die Verkäuferin zurück. Aber niemand sonst schien sich für den Anzug zu interessieren und nach Silvester fasste sich Franziska ein Herz und betrat den Laden noch einmal: „Sie wissen, dass der Anzug mir gefällt, aber er ist einfach zu teuer.“
„Da kann man wohl nichts machen,“ reagierte die Verkäuferin reserviert.
„Bis jetzt haben sie ihn nicht verkauft, und bald beginnt der Schlussverkauf. Dann wird er doch sowieso reduziert. Ich kann ihn zum regulären Preis nicht kaufen, aber ich wäre stark interessiert, wenn sie ihn reduzierten. Können sie die Reduktion nicht vorziehen?“
So wurde eine Weile verhandelt und siehe da, zum Schluss hatte sie ihr Ziel erreicht. Der Anzug wechselte für knapp 400 DM den Besitzer. Franziska liebte ihn und bewahrte ihn auf, selbst als er ihr nicht mehr passte.
Er sollte noch Grund für Peinlichkeiten in der Familie Hauser sein.
Bei seiner Arbeit beim Regionalverband kam er in vielen Sitzungen mit Bürgermeistern aus der Umgebung zusammen. Viele schienen sich für die behandelten Themen nur am Rande zu interessieren, während sie, wenn es ans Essen und Trinken ging, plötzlich aufwachten, um ja nichts zu verpassen. Hauser verachtete sie und beschloss, sich eine Gemeinde zu suchen, in der er es besser machen wollte. Er hatte feste Vorstellungen, was für eine Gemeinde er suchte. Sie sollte nicht mehr als 9000 Einwohner haben, denn er wollte mit den Bürgern leben, sie kennen lernen. Nichts schien ihm weniger erstrebenswert, als Bürgermeister einer Stadt zu sein, also nur zu verwalten ohne den direkten persönlichen Kontakt zu Jedermann pflegen zu können.
Er wollte die Vereine fördern, die er als wesentliche Hilfe für die Entwicklung eines gesunden Sozialverhaltens ansah, besonders in einer Gesellschaft, in der es immer mehr Einzelkinder und Einzelkämpfer gab. Was er übersah war, dass Dörfer die seinen Kriterien entsprachen, vorsichtig ausgedrückt in der Regel sehr konservativ waren.
Es kam der Tag den Götz Hauser niemals vergessen würde. Im Frühjahr 1977 hatte er an vier Wochenenden seine Frau Franziska und seine beiden Kinder Vanessa und Thorsten ins Auto gepackt, um die Dörfer anzusehen, die für eine Kandidatur als Bürgermeister in Frage kamen: Sinsheim bei Baden-Baden, Ötigheim bei Rastatt, Süßen bei Thamm - und schließlich Winzerdorf.
Winzerdorf im südlichen Baden war der Ort, der ihnen allen am Besten gefallen hatte: Zwei wunderschöne neugotische Kirchen, ein Rathaus mit sinnreichem Spruch über dem Eingang und ein gemütlicher Bach, in dem die Forellen standen und der, entlang der Hauptstraße, durch den gesamten Ort plätscherte. Und, ebenfalls sehr wichtig, kein einziges Hochhaus.
In den 70er Jahren wurden diese oft als Prestigeobjekt gebaut, führten aber, da hier der Wohnraum günstig war, oft zu sozialen Brennpunkten. Dieser Umstand war Hauser wohl bekannt, wohnte er doch selbst viele Jahre mit seinem Vater in einer Sozialwohnung. Das höchste Haus in Winzerdorf war gerade einmal 3 Stockwerke hoch, was Götz toll fand. Hier wollte er wohnen, hier wollte er Bürgermeister werden und irgendwann auch sterben - natürlich hoch geehrt. Dies war seine Heimat, spürte er bereits bei diesem ersten Besuch, hier würde er sich ein Denkmal setzen.
Zwei Wochen später hatte er bei der SDP Winzerdorf angerufen und gefragt, ob sie schon einen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl hätte - oder ob man sich bewerben dürfe. Er hatte gehört, dass sich der alte Bürgermeister, der im Dorf großes Ansehen genoss, aus Altersgründen nicht mehr zur Wahl stellte und rechnete sich deshalb gute Chancen aus, das Dorf für sich zu gewinnen. Der SDP-Fraktionsvorsitzende Richard Fellhauer hatte ihn kurz darauf zurückgerufen und Hauser am folgenden Tag um 11:00 Uhr zu einem Gespräch in die Pizzeria "San Remo" nach Krautheim eingeladen. Mit ihm würden der amtierende Bürgermeister Sperling und der SDP-Ortsvereinsvorsitzende Klaus Hase kommen.
Götz wunderte sich zwar, dass er nicht nach Winzerdorf gebeten wurde, sondern zu einem beinahe konspirativen Treff in einem anderen Ort - aber, meine Güte, mit 32 Jahren ist man bereit, Gesprächspartnern zu vertrauen. Außerdem war ihm klar, dass es schwierig würde, nach 30 Jahren mit ein und demselben Bürgermeister als Ortsfremder neue Akzente zu setzen. Schließlich war dieser Bürgermeister schon im Amt gewesen, als Götz noch in den Windeln lag.
Als er in die Pizzeria kam, saßen nur zwei Gruppen in dem Restaurant: Drei Männer an einem runden Stammtisch, und eine gut aussehende Frau mit ihrer noch besser aussehenden Tochter in einer Nische nicht weit davon entfernt.
Klar, dass die drei Männer seine Gesprächspartner sein mussten. „Guten Tag, meine Herren. Ich bin Götz Hauser!“
Die drei anderen standen auf, einer streckte die Hand aus. „Richard Fellhauer ist mein Name, wir haben miteinander telefoniert. Dies hier ist unser Bürgermeister Ernst Sperling, und unser SDP-Ortsvereinsvorsitzender Klaus Hase.“
„Angenehm.“
Sie schüttelten sich die Hände und setzten sich wieder. Während er sich einen Stuhl an den Tisch heranzog, um sich dazu zu setzen, fiel Götz auf, dass ihn die beiden Frauen intensiv beobachteten. Er hatte zwar irgendwo gelesen, dass Macht auf Frauen eine geradezu sexuelle Anziehungskraft ausüben könnte - doch hätte er sich nicht träumen lassen, dass dies so schnell gehen würde. Er beschloss, die Frauen zu ignorieren, denn hier ging es um Höheres.
Nachdem man ihn auf sogenanntem neutralem Terrain beschnuppert hatte, wurde Götz ganz offiziell zu einem Gespräch mit dem Vorstand der SDP Winzerdorf eingeladen. Dabei ging es um seine politische Grundhaltung und die Vorstellungen, die er mit seiner Kandidatur verband. Besonders gefiel den SDP-lern, dass Hauser seine Aufgabe als Vorsitzender des Gemeinderates darin sah, einen Ausgleich zwischen verschiedenen Meinungen zu schaffen, und als guter Demokrat die Kontrollfunktion des Gemeinderates für wichtig erachtete. Schließlich war bis dahin im Gemeinderat ziemlich autokratisch regiert worden.
Er wurde als fachlich qualifizierte Person erkannt und seine Vorstellungen zur Ortsentwicklung gaben den Mitgliedern den Eindruck, dass er sich wirklich schon erstaunlich intensiv mit Winzerdorf beschäftigt hatte, obwohl noch nicht einmal sicher war, dass ihn die SDP akzeptieren würde. Soviel Begeisterungsfähigkeit und Bereitschaft zum Einsatz für die Sache überzeugte den Vorstand, ihn zu unterstützen.
Seine Kandidatur und die Unterstützung durch die SDP wurden im Freiburger Tagblatt veröffentlicht, zusammen mit einer Aufstellung, was der SDP bei der Suche nach einem Kandidaten wichtig gewesen war und dass diese Kriterien von Hauser in geradezu idealer Weise erfüllt wurden. Eines dieser Kriterien war fachliche Qualifikation, die Hauser in Form seiner Ausbildung vorweisen konnte.
Augenblicklich begann das Gerangel. Die Regierungspartei bestand gegenüber dem Tagblatt auf einer Richtigstellung: „Im Artikel der SDP wird der Eindruck erweckt, die Gemeindeordnung sehe für Bürgermeisterkandidaten eine spezielle Ausbildung vor. Dem ist nicht so. Der Gesetzgeber hat dies mit Absicht nicht getan, weil er auch andere Kandidaten die sich in der kommunalpolitischen Praxis (z.B. als Gemeinderat etc) bewährt haben, den Weg ins Bürgermeisteramt ebnen wollte.“
Was wohl heißen sollte, dass der Kandidat der Regierungspartei kein Verwaltungsfachmann sein würde.
Götz erklärte inzwischen seinen Parteifreunden, wie er sich die Sache mit der Kandidatur vorstellte: „Ich bin zwar SDP Mitglied und wünsche mir Eure Unterstützung bei der Wahl, aber ich will nicht als SDP Kandidat antreten.“
„Warum denn nicht?“
„Ihr wisst genau, dass Winzerdorf parteipolitisch fest in der Hand der Regierungspartei ist. Ich muss, um dagegen anzukommen, nicht nur von SDP Wählern gewählt werden, sondern auch für andere wählbar sein. Wenn ihr mich unterstützt und den Wahlkampf ansonsten mich allein machen lassen würdet, wäre mir am meisten gedient.“
Mit diesem Ansinnen wandte er sich auch an den Landesverantwortlichen der SDP für Bürgermeisterwahlen: „Ich bitte Euch um finanzielle Unterstützung für meinen Wahlkampf ohne explizit Kandidat der SDP zu sein. Denn so rechne ich mir am ehesten Chancen aus, dieses Dorf für uns zu gewinnen.“
„Du weißt aber,“ bekam er zur Antwort, „dass wir die Kosten nur im Falle einer Niederlage übernehmen.“
„Ja, das finde ich auch gut. Wenn ich gewinne, habe ich den Job ja, dann kann ich auch für die Kosten aufkommen. Ich will nur nicht das ganze Risiko allein tragen, ohne jede Absicherung. Ich habe schließlich eine Familie zu versorgen.“
„Dann führe den Wahlkampf wie Du willst, unseren Segen hast Du.“
Auch beim Bundestagsabgeordneten der SDP sprach er vor und bekam die volle Unterstützung. So gestärkt trat er vor die Vollversammlung der SDP Winzerdorf. Mit dem ihm angeborenen Charme gewann er auch hier ohne Probleme die Abstimmung und das Abenteuer Wahlkampf konnte beginnen.
Ein Jahr sollte er dauern, hatte er sich vorgenommen und er wollte, wenn möglich in dieser Zeit jeden Bürger von Winzerdorf persönlich besuchen und kennen lernen. Jeden Abend nach der Arbeit fuhr er für zwei Stunden nach Winzerdorf, „um,“ wie er sagte, „Klinken zu putzen.“
„Guten Tag, ich will mich nur kurz vorstellen. Ich bin der neue Bürgermeister Kandidat, ich komme jetzt öfter her,“
so ging er von Tür zu Tür. Er verteilte an alle Winzerdörfler sein „Kleines Wahllexikon,“ in dem er versuchte, die wichtigsten Punkte, die für ihn sprachen, zusammenzufassen. Da las man unter:
A - Abhängigkeit: Da ich weder familiäre Verflechtungen noch Bindungen an ortsansässige Gruppen habe, werde ich das Amt des Bürgermeisters unabhängig und aufgeschlossen gegenüber jedermann führen können.
H - Heimat: Wie für den Winzerdörfer Uradel, so muss Winzerdorf auch für die neu zugezogenen zu einer liebenswerten und vertrauten Heimat werden. Hierfür müssen da und dort noch Voraussetzungen geschaffen werden.
M - Mitwirkung der Bürger am kommunalen Geschehen ist für mich keine übliche Wahlkampfforderung. Für mich ist die Beteiligung der Bürger an den Entscheidungen gesetzliche Verpflichtung. Hierzu gehört auch freimütige Offenlegung der anstehenden Probleme und Information der Bürger.
O - Das Ohr ist für mich ein wichtiges Kommunikationsmittel. Ein Bürgermeister muss seinen Bürgern auch zuhören können, um zu erfahren, wo sie der Schuh drückt und was er für sie tun kann.
Q - Querelen: In einem offenen partnerschaftlichen Verhältnis zwischen Bürgern und Bürgermeister darf es keine Querelen geben. Wo gegensätzliche Meinungen vorhanden sind, sollten sie in aller Offenheit miteinander besprochen und ausgeräumt werden.
W - Wahlkampf: Sachlichkeit und Objektivität sind die Kriterien, unter denen jede Auseinandersetzung vor einer Wahl zu führen ist. Wer dies im Wahlkampf kann, wird diese Grundsätze auch nach einer Wahl in seiner Amtsführung beachten. Ich hoffe, dass durch den Wahlkampf die Bevölkerung nicht auseinander dividiert wird und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Winzerdörfler keinen Schaden nimmt.
X - Ich lasse mir kein X für ein U vormachen. Wer durch bessere Argumente überzeugen kann oder wer sich in einer Notlage befindet, dem gehört meine Unterstützung.
Y - Zu Y kann ich leider keine kommunalpolitische Aussage machen. Vielleicht können Sie mir helfen?
Z - Vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Bürgern, Gemeinderat, Bürgermeister und Verwaltung ist für mich oberstes Gebot: Hierfür setze ich mich ein. Sollte ich das Vertrauen der Winzerdörfer Bevölkerung erhalten, so können Sie versichert sein, dass ich bemüht sein werde, es nicht zu verspielen, sondern weiter zu stärken.
Diese Auflistung ist natürlich nur ein Auszug aus jenem Lexikon, bei dem Götz Hauser für jeden Buchstaben ein Thema aus der kommunalpolitischen Situation Winzerdorfs behandelte, manchmal auch mehrere. Er äußerte sich zur Altenbetreuung und zur Geschichte, zur Ortskernsanierung und zur Entlastung der Hauptstraße vom Verkehr.
Kein Thema, das die Winzerdörfler interessierte, schien ihm fremd geblieben zu sein. Und er war für absolute Offenheit in allen Fragen, welche die Gemeinde betrafen. Aufgemacht war sein Wahllexikon wie ein DIN A6 Vokabelheft, es erregte die Neugierde der Bürger, die so ein Wahlprogramm noch nie gesehen hatten.
Neben der Neugierde löste es aber auch heftigen Reaktionen aus, die natürlich so nie veröffentlicht wurden, aber die man in ähnlicher Weise hätte formulieren können:
A: Alpträume! Ein Bürgermeister ohne Verflechtungen wäre nur schwer steuerbar.
H: Heimat gehört dem, der seine Wurzeln dort hat und nur wer diese vorweisen kann sollte mitreden dürfen. Zugezogene, also Neugepflanzte brauchen dafür mindestens 10 Jahre, vorher sollten sie froh sein, wenn genug für sie abfällt, um anwachsen zu können.
M: Mitwirkung der Bürger würde doch nur öffentlichen Streit herausfordern. Bis jetzt ging es doch auch ganz gut, indem man alle wichtigen Entscheidungen im stillen Kämmerlein absprach. So wurde Streit vermieden, der Gemeinderat signalisierte Geschlossenheit.
O: Ohr am Bürger? Ohne Frage Zeitverschwendung, der Bürgermeister sollte sich lieber um wichtige Dinge kümmern.
Q: Querelen soll es nicht mehr geben? Vollkommen gegen die Tradition.
W: Wir werden es bestimmt nicht dem Zufall überlassen, wen die Bürger wählen.
X: Wir wollen ihm gar kein X für ein U vormachen, aber wer die besseren Argumente hat, bestimmt immer noch der Gemeinderat.
Z: Vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Bürgern? Das Vertrauen kriegen wir schon klein.
Aber so weit muss es ja gar nicht erst kommen. Jeder Mensch hat irgendwo eine Leiche im Keller. Nach der wurde jetzt fieberhaft gesucht, denn dieser Kandidat erregte so viel Interesse, dass er gefährlich war.
Götz Hauser erfuhr nichts von dem Sprengstoff, der sich in seinem Wahlprospekt verbarg.
Er war doch offen und ehrlich gewesen und hatte alle zum Diskurs aufgefordert. Deshalb machte er unbeeinflusst weiter. Er wollte möglichst viel über die Interessen der Bewohner von Winzerdorf erfahren. Deshalb versäumte er kaum eine größere Veranstaltung. Fast immer nahm er dazu seine gerade dreijährige Tochter auf dem Fahrrad mit.
Leider war er manchmal nicht mehr ganz nüchtern, wenn ihn Freunde, die er dank seiner Ausstrahlung schnell gefunden hatte, nach Hause brachten. Franziska tobte, dass er sich so gehen ließ, wenn Vanessa dabei war.
Götz Hauser war jedoch kein Säufer. Er litt unter einem Gebaren, unter dem viele Politiker in Deutschland zu leiden haben. Wo immer sie auftreten, wird ihnen Wein oder Schnaps angeboten, oft sogar aufgedrängt.
Hauser beschrieb das so: „Wenn ich zu einem achtzigsten Geburtstag kam und der Hausherr schon morgens um 10 Uhr den selbst gemachten Wein auf den Tisch stellte, wagte ich nicht, um ein Wasser zu bitten. Die Leute sind leicht beleidigt, wenn man ihre selbst gemachten Schätze nicht probiert und würdigt.“
So war er auch auf solchen Veranstaltungen als Bürgermeisterkandidat oft das Ziel von wohl gemeint ausgegebenen Drinks, die er nicht abzuschlagen wagte. Es sollte noch Jahre dauern, bis er die innere Größe besaß, nein zu sagen.
Die Aktivitäten von Götz Hauser in Winzerdorf sorgten bei der Regierungspartei für wachsendes Misstrauen, schließlich galt ihr Kandidat Roland Metzger bis jetzt als sicherer Kandidat und damit als zukünftiger Bürgermeister. Und jetzt kam da einer daher gelaufen und brachte mit 32 jährigem, jugendlichem Charme die Leute auf seine Seite. Man wusste nicht so genau, wohin das führen konnte. Jedoch war absolut sicher, dass man dem nicht tatenlos zusehen durfte. Und so wurde die Gerüchteküche angeheizt.
Als erstes sagte man Götz Hauser nach, er sei ein Frauentyp. Vielleicht nicht zu Unrecht, denn er hatte ein gewinnendes Lächeln und behandelte Frauen (abgesehen von ein paar chauvinistischen Anwandlungen, die man leicht bei seiner Frau nachfragen konnte) mit Respekt und Achtung vor ihrer Meinung. Aber das war nicht gemeint:
„Ha, der Hauser steigt doch mit jeder ins Bett.“
So hieß es am Stammtisch, und brachte Familienväter in Rage. Dieses übrigens unbegründete Gerücht - „ich habe bis heute nur mit meiner Frau geschlafen. Noch nicht mal im Puff war ich jemals.“ - sollte ihn später noch in große Schwierigkeiten bringen. Besonders weil er dafür bekannt war, im nicht mehr ganz nüchternen Zustand ein ziemlich loses Mundwerk zu führen.
Die nächste Front wurde in Richtung möglicher katholischer Wähler aufgebaut. Götz Hauser war gläubiger Katholik, ja noch mehr. In seiner Jugend war ihm, wegen seiner schwierigen familiären Verhältnisse, die Kirche zur zweiten Heimat geworden. Er war Ministrant und wollte bis zu seinem 16ten Lebensjahr Priester werden. Er träumte davon, wie seine großen Vorbilder in dieser Zeit in die Mission nach Süd-Amerika zu gehen und sein Leben Gott zu weihen. Erst als er Franziska kennen lernte, veränderten sich seine Lebensziele.
Deshalb war er Sommers wie Winters in der Kirche. Er fühlte sich dort so zu Hause, dass er im Sommer, einer Zeit, zu der er immer barfüßig ging, dies sogar in der Kirche tat.
„Sogar Jesus ging doch fast immer barfuß,“ war seine naive Einschätzung dieses Verhaltens, das nie als Respektlosigkeit gemeint war.
In Winzerdorf wurde es zu einem Stolperstein in seinem Wahlkampf:
„Der Hauser taugt nichts, der ist respektlos und weiß nicht was sich gehört. Er geht sogar barfuß in die Kirche.“
Außerdem hatte Götz als Jugendlicher einen großen Schäferhund, an dem er sehr hing und den er, vielleicht weil seine eigene Erziehung so viel im Argen gelassen hatte, perfekt erziehen wollte. Da die Kirche sein wirkliches zu Hause war, dachte er nichts Böses dabei, den Hund mit vor die Kirche zu nehmen, um ihn abzurichten. Er ließ den Hund also vor der Kirche, sagte:
„Platz!“
ging in die Kirche hinein und just durch den Seitenausgang wieder hinaus, um zu beobachten, was der Hund tat. Bewegte er sich von der Stelle, sauste er durch den Seiteneingang wieder hinein, um den Hund für sein Fehlverhalten zu reglementieren.
Diese Geschichte, um deren Hintergrund die Menschen natürlich nicht wussten, grub irgendein Winzerdörfler aus und verbreitete: „Der Hauser war mit einem Hund in der Kirche.“
„Woher weißt Du denn das?“
„Ha, das weiß ich amtlich.“
Aber das Schlimmste für jeden Katholiken war, dass Hauser öffentlich geäußert hatte: „Bevor der Papst bei den Leuten bettelt, sollte er doch erst mal sein kirchliches Vermögen für die Armen einsetzen.“
Aber selbst das reichte den Verschwörern noch nicht. Weitere Gerüchte und Geschichten aus Hausers Vergangenheit bei der Stadt Freiburg wurden heraus gekramt: „Eigentlich wollte die Stadt Freiburg ihn gar nicht haben. Der Hauser ist damals in kurzen Hosen zum Vorstellungsgespräch angetanzt. Das müssen sie sich mal vorstellen.“
„Ja, und dann ist er bei der Stadt Bademeister gewesen.“
„Ist nicht wahr.“
„Doch, wenn ich es ihnen doch sag, Bademeister.“
So ging es in einem fort und Götz Hauser ahnte gar nicht, was sich da hinter seinem Rücken abspielte. Das erfuhr er erst viel später. Er dachte nichts Böses und begegnete den Menschen offen und immer zum Gespräch, aber auch zum Streit bereit.
Im September 1977 wurde die Wahl in der Hausberg Umschau, dem Orts- und Amtsblättchen der Gemeinde ausgeschrieben. Es bewarben sich 4 Kandidaten. Der schon genannte und favorisierte Roland Metzger für die Regierungspartei, Eberhard Weich von der Gemeindeverwaltung, Götz Hauser und ein weiterer auswärtiger Kandidat, der jedoch keine entscheidende Rolle spielen sollte. Eberhard Weich hatte ein schmales Gesicht mit hoher Stirn, eine lange leicht gebogene Nase und schütteres Haar. Er machte einen eher farblosen Eindruck und sah immer ein wenig melancholisch aus. Ganz anders Roland Metzger. Mit einer gewaltigen Lockenmähne und dem gut dazu passenden Tartarenbart, wirkte er imposanter, als es seiner Statur entsprach.
Wochenlang sorgte die
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2013
ISBN: 978-3-7309-2421-1
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